Das Lichtenstein – Modehaus der Träume - Marlene Averbeck - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Lichtenstein – Modehaus der Träume E-Book

Marlene Averbeck

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Farben der Sehnsucht 1913. Berlin ist eine der bedeutendsten Modemetropolen weltweit. Im Herzen der Stadt liegt das Warenhaus Lichtenstein, in dem unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen: Hedi taucht als Ladenmädchen in diese Welt ein und erlebt hautnah, wie Modekollektionen entstehen. Sie freundet sich mit Näherin Thea an, die Hedis Sinn für Formen, Farben und Stoffe entdeckt. Jacob Lichtenstein hat große Pläne, wie er sein Haus gegen die übermächtige Konkurrenz in die Zukunft führen will. Doch sein jüngerer Bruder Ludwig versucht, diese Pläne zu durchkreuzen. Dann geht das Lichtenstein in Flammen auf – und die Existenz aller steht auf dem Spiel ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 537

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

»Behutsam öffnete sie die Tür in den Verkaufsbereich und sah sich um.

Stille und Dämmerlicht.

Hedi stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Abteilungen besser überblicken zu können.

Tatsächlich. Niemand war bisher zugegen. Das Herz des Hauses: Es gehörte ihr allein, für diesen Moment. In seiner Einsamkeit und Schönheit.

Es war wie in diesem Traum, den sie als Kind genossen und immer wieder herbeigesehnt hatte: ein Warenhaus nur für sie, eine ganze Nacht lang. Die Neugier hatte sie vorangetrieben, alles zu erkunden, zu bespielen, zu kosten, an- und auszuprobieren. Es war wundervoll gewesen. Ein Schlaraffenland.«

Auftakt zu einer opulenten Trilogie über eine Epoche, in der Berlin Modegeschichte schrieb

Von Marlene Averbeck ist bei dtv außerdem erschienen:

Das Lichtenstein – Modehaus der Hoffnung (26302)

Figurenübersicht

Hedi Markwardts Vater, ein Beamter, ist früh verstorben. Obwohl er Geld hinterlassen hat, beginnt Hedi im Warenhaus Lichtenstein als sogenanntes »Ladenmädchen«, um die Haushaltskasse aufzubessern. Sie hat Freude an der Arbeit und übernimmt schnell weitere Aufgaben. Die Vorstellungen ihrer Mutter, dass sie nur bis zur Heirat arbeiten wird, ignoriert sie …

Hilde Markwardt ist schon mit Mitte dreißig Witwe geworden. Sie fürchtet, die Hinterlassenschaft ihres Mannes könnte ihre Existenz nicht dauerhaft sichern. Eine erneute Heirat, möglichst mit einem begüterten Mann, ist die Vorstellung ihrer Zukunft. Doch dann entdeckt Hilde das Leben für sich noch einmal neu.

Hannes Hallberg hat bereits als Konfektionär gearbeitet. Er wechselt ins Lichtenstein und möchte dort mehr Pariser Flair in die Damenbekleidung einfließen lassen. Doch sein Vorgesetzter, Ludwig Lichtenstein, scheint anderer Meinung zu sein.

Ella Winkler, Schauspielerin, ist aus dem behäbigen Wien nach Berlin gekommen, da in ihren Augen keine Stadt in Europa auf- und anregender ist, vor allem in beruflicher Hinsicht. Ellas Traum ist es, so berühmt zu werden, dass sich die Maler darum reißen, sie in Öl für die Ewigkeit festzuhalten.

Jacob Lichtenstein verantwortet den Personalbereich des Lichtenstein. Er strebt eine Modernisierung an, um das Geschäft in die Zukunft zu führen. Für ihn zählt, was Kundinnen und Kunden wünschen …

Ludwig Lichtenstein, Jacobs jüngerer Bruder, ist wertkonservativ, mit leichten Zügen zum Despotismus. Er leitet das Atelier, in dem die Kleidung gefertigt wird.

Friedrich Lichtenstein hat das Warenhaus aufgebaut. Er sieht sich als kaisertreuer Preuße. Schwierigkeiten geht er gern aus dem Weg, womit er die Existenzgrundlage aller ins Wanken bringt …

Marianne Lichtenstein hat ihren Mann in jungen Jahren geheiratet. Um mit ihr den Bund fürs Leben schließen zu können, ist er konvertiert, vom Juden- zum Christentum.

Thea Stübner ist Näherin im Atelier des Warenhauses. Sie hat Schneiderin gelernt, hofft aber, einen Mann zu finden, mit dem sie eine Familie gründen kann, ohne weiterhin arbeiten zu müssen.

Agnes und Rudolf Stüber sind Theas Eltern, Lenchen und Gerd ihre jüngeren Geschwister.

Gustav Feinstein ist Galerist, der Prototyp des Berliner Dandys, der als Jude nur lose mit der jüdischen Gemeinde verknüpft ist. Er ist ein Intellektueller durch und durch, der sich mit Begeisterung der Kultur und den langen Berliner Nächten widmet.

Georg Meuser ist Zwischenmeister und beschäftigt zahlreiche Näherinnen in Heimarbeit. Er bemüht sich, akzeptable Arbeitsbedingungen zu bieten.

Helene Schrader, Tochter eines Bankiers, hat Jacobs Herz erobert. Beide träumen davon, irgendwann zu heiraten. Doch Helene zögert, Jacob ihren Eltern, vor allem ihrem Vater vorzustellen …

Albert Karmarker ist ein Schauspielerkollege von Ella Winkler. Er zieht im Rennen um Ellas Herz den Kürzeren und setzt sich nach Wien ab. Doch das ist immer noch nicht weit genug entfernt …

Käthe ist das Dienstmädchen bei den Lichtensteins.

Lore Müller, auch Müllersche genannt, ist die Vorzimmerdame der Herren Lichtenstein.

Grete, ihren Nachnamen kennt kaum einer, ist die Portiersfrau des Lichtenstein, die »Portiersche«, wie die Berliner sagen.

Karl Kiesewetter ist Lagerist im Lichtenstein, wie lange schon, weiß eigentlich niemand mehr.

Josefine Wagner ist die erste Verkäuferin in der Damenbekleidung.

Heiner Hoffmann ist Leiter der statistischen Abteilung.

Cilly gehört zu den Näherinnen des Hauses.

Trude Friedhoff ist Verkäuferin in der Weißwarenabteilung.

Margarete Kaiser ist in der Versandabteilung tätig.

Peter Bernhard ist erster Verkäufer der Krawattenabteilung.

Hausmeister Kühn werkelt immer im Hintergrund des Warenhauses.

Im Anhang finden sich

•ein Glossar,

•ein Verzeichnis realer Personen und Institutionen,

•ein Nachwort zur Berliner Konfektion.

Prolog

Eine Wand aus Rauch. Langsam tastet Jacob sich vorwärts. Seine rechte Hand fährt über den Verkaufstresen. Über das Holz, die gläserne Ablage. Sie fühlt sich warm an. Unter seinen Schuhen knirschen Scherben. Er sieht die Bilder überdeutlich vor sich: Letzte Schubläden werden geschlossen, Ablagen gewischt. Die Glocke hat bereits den Ladenschluss verkündet. Eines der Ladenmädchen ruft zwei Kolleginnen zu, den Abend zu genießen. Genau das werde sie jetzt machen, mit ihrem Liebsten ein wenig über den Ku’damm flanieren, vielleicht im neuen Marmor-Haus einen Film schauen. Gelächter als Antwort. Eine Tür, die eilig zugeschlagen wird.

Irgendwo hier müssen die zwei Frauen gestanden haben, vor wenigen Stunden. Vor der Schaufensterfigur, die mitten im Raum auf einem Podest alles überragt. Den Namen der Figur kennt er.

»Die schöne Frieda«, so nennt sie jeder.

Das Prunkstück des Hauses. Sie ist eines der künstlichen Mannequins von Pierre Imans, von Jacob selbst in Paris ausgewählt. Nahezu unbezahlbar. Nicht aus Holz wie alle Figuren, die sonst im Lichtenstein die Kleider präsentieren. Sie ist filigran aus Wachs gearbeitet, mit glänzenden Augen aus Harz, von echten Wimpern umrahmt, darüber ziehen sich fein geschwungene Augenbrauen. Ein geschminktes, lächelndes Gesicht, um das sich echtes Haar schmiegt.

Die Namen der beiden Frauen, die das Kleid drapieren, wollen ihm nicht einfallen.

Nie wieder wird ihm das passieren.

Wenn er diesen Moment überlebt, schwört er sich, wird er nie wieder die Namen von Angestellten vergessen.

Flammen zerreißen die Wand aus Rauch, tanzen über die Tresen, züngeln um die Regale. Der Lichtschein des Feuers bricht sich im scharlachroten Seidenkrepp des Kleides. Eine Kreation seines Bruders.

Jacob spürt die Hände der Mutter im Rücken, wie sie sich im Stoff des hastig übergeworfenen Hausmantels festkrallen. Er will zurückblicken und sich vergewissern, dass sein Vater und das Dienstmädchen Käthe der Mutter folgen. Doch ein Knacken über ihren Köpfen lässt ihn aufschauen. Vor ihm, wenige Meter entfernt, lösen sich Teile der Deckenverkleidung. Als sie auf dem Boden aufschlagen, erzittern die Dielen. Gleißendes Licht erhellt den Verkaufsraum, dem Blitz eines Gewitters gleich, und lässt das rote Kleid grell aufleuchten. Noch immer steht die schöne Frieda auf dem Podest, als könnte nichts ihr etwas anhaben. Ein majestätischer Anblick, regelrecht dramatisch. Es sind nur zwei, vielleicht drei Meter, die Jacob von ihr und dem Kleid trennen.

Funken regnen durch die Luft, und einer springt auf den Rockteil.

Er landet rechts unten, in der Nähe des Saumes.

Ein kurzes Glühen.

Ein Glimmen.

Dann rasen die Flammen zischend über den Stoff hinweg.

Berlin, 1913

Hedi

Aber sag’s um Himmels willen den Nachbarn nicht.«

Erstaunt betrachtete Hedi ihre Mutter, deren miteinander ringende Hände und den umherspringenden Blick. »Ja, das haben wir doch schon besprochen. Wenn dir das wichtig ist, werde ich es mit keiner Silbe erwähnen.«

Die Mutter verzog das Gesicht. »Ich werde die Unruhe nicht los! Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Ich habe gleich gesagt, es wäre besser, wenn du in einem Kontor arbeiten würdest.«

Ja, in einem dunklen Kabuff, fernab irgendwelcher Menschen den lieben langen Tag auf der Schreibmaschine herumhacken, damit mich nur niemand sieht. Das fändest du gut, dachte Hedi und zog das Messer konzentriert über die Butter, darum bemüht, sich ihren Unwillen nicht anmerken zu lassen. »Du hast selbst dafür gesorgt«, fuhr sie fort, »dass ich die Arbeit aufnehmen kann. Du hast mit deiner Freundin gesprochen, die dann wiederum …« Ein wenig Salz auf die Butter, dann biss Hedi lustlos ins Brot. Nur Hilde nicht anschauen, dachte sie, sonst schreie ich sie an.

»Es war ja auch dein Wunsch. Vielleicht wäre mir noch irgendwer anders eingefallen. Und so eine richtige Freundin ist Marianne Lichtenstein nicht. Nur weil wir beide uns im Sozialverein betätigen, kann ich mich nicht zwangsläufig auf ihre Verschwiegenheit verlassen.« Die eben noch ringenden Hände flogen nun durch die Luft, als wollten sie jedes Argument zerpflücken.

Wer ist diese Frau?, fragte Hedi sich. Ja, Hilde hatte ihren Mann verloren, aber sah sie auch den viel zu früh entrissenen Vater? Weit über ein Jahr lag der Verlust zurück. Niemand konnte Hilde vorschreiben, wie sie mit ihrer Trauer umging, wie lange sie für ihren Abschied brauchte, ob er überhaupt gelang. Ein seltsamer Pragmatismus hatte sie erfasst, es war, als versuchte sie, der Tochter den Vater zu ersetzen und ein ebenso strenges Regiment zu führen. Eines, das sich unerbittlich auch gegen sie selbst richtete. Genau wie der Vater es getan hatte, sprach auch Hilde nicht über Geld, aber die finanzielle Situation schien schwierig zu sein.

»Maman«, sagte Hedi in versöhnlichem Ton und hoffte, Hilde mit der französischen Anrede, die sie so liebte, zu besänftigen. »Das Fräulein aus dem Hinterhaus, im zweiten Stock rechts, ist Stenotypistin. Die mit den drei Kindern aus dem Erdgeschoss näht regelmäßig, und Frau Szymanek unter uns hilft ihrem Mann immer wieder in der Apotheke. Den Nachbarn ist es egal, was ich mache. Es interessiert niemanden.«

»Doch, meine Freundinnen. Ich habe ihnen erzählt, du würdest mir seit dem Abschluss des Lyzeums im Haushalt zur Hand gehen, vermutlich aber bald heiraten.«

Eins, zwei, drei, vier – einatmen, ausatmen. Zum Fenster schauen, befahl Hedi sich. »Wir haben die Wahl«, sagte sie nach einer Weile, »entweder wir vermieten eines der Zimmer unter, oder wir ziehen in eine kleinere Wohnung um. Wenn beides nicht in Betracht kommt, bessere ich einfach unsere Haushaltskasse auf.«

»Ein Zimmer vermieten? Umziehen? Auf was für Ideen kommst du denn? Gott bewahre!«

»Das sage ich doch: Es kann nicht schaden, wenn ich etwas Geld hinzuverdiene.«

»Aber nur so lange, bis ich wieder unter der Haube bin.« Energisch zog Hilde den seidenen Morgenmantel über ihre Schultern. »Oder du. Aber ich befürchte, dich will kein Mann, wenn du … du weißt schon …«

»Arbeitest? Ein ganz einfaches Wort, Maman.«

»Da siehst du es: Du bist ein Querkopf durch und durch.«

»Nein, das bin ich nicht, ich arbeite nur. Das machen viele Frauen.«

»Ja, aber auch nur bis zur Hochzeit. Weil ihre Eltern nicht in der Lage sind, für sie zu sorgen. Und ich möchte nicht, irgendwer könnte denken, dein Vater hätte uns nicht genug Geld hinterlassen. Er hat sein Leben lang gearbeitet …«

Hedi schob den Teller beiseite. »Du weißt, wie sehr ich Vater vermisse, und du hast recht, er wäre nicht begeistert. Aber nun muss ich los.« Während sie sich erhob, schwor sie sich, in die Unterlagen des Vaters zu schauen. Sobald ihre Mutter mal wieder außer Haus war, zu einem Tanztee mit ihren Freundinnen, beim Sozialverein oder anderen Zerstreuungen. Sie musste Gewissheit haben, wie es finanziell um sie beide stand. Auch wenn Hilde und sie nicht in der Beletage lebten, sondern nur im zweiten Stockwerk eines geschmackvollen Großstadthauses, wollten die geräumigen Zimmer doch bezahlt werden.

Es klopfte.

Hedi eilte zur Wohnungstür und konnte durch die milchige Glasscheibe bereits Ellas Silhouette erkennen. Das Zugehmädchen, dachte sie und lächelte. Auf niemanden traf diese Bezeichnung weniger zu. Sie öffnete die Tür, und die Haltung der Freundin ließ keinen Zweifel: Ella kam hierher, weil sie sich dazu herabließ! Sie beehrte Schöneberg mit ihrer Gegenwart.

Wenn auch nicht ganz freiwillig.

Wie immer war ihr Anblick atemberaubend. Und das, obwohl sie eher klein, fast gedrungen aussah, die Augenbrauen zu markant, die Lippen voll, nahezu schmollend. Trotzdem war sie ein Gesamtkunstwerk, an dem nichts dem Zufall überlassen war. Niemals. Auch wenn das Geld, das sie als Schauspielerin verdiente, längst nicht ausreichte, ein würdiges Leben zu führen, kündeten ihre Garderobe, die Haltung der Hände, jede der dunklen Locken, die Kunstblüte am ausladenden Hut von ihrer Überzeugung: Sie, Ella Winkler, würde die nächste große Muse der Berliner Theaterwelt werden.

Hedi schluckte. Wie lange konnte Hilde diesen Zuverdienst für die Freundin noch aufbringen? Sie schob den Gedanken an Vaters Schreibtisch beiseite und damit die Bilder der Schubladen voller Unterlagen und Papiere, die alle Fragen beantworten würden. »So wie du aussiehst, hast du die Nacht nicht für den Schlaf genutzt«, sagte sie, nahm Ella den Umhang ab und hängte ihn im Garderobenschrank auf.

»Ja, so ist es. Aber das musst du nicht betonen, was soll ich machen? Ich lerne und lerne und lerne. Die Premiere für Frau Inger auf Östrot steht bald an, und ich nähe noch immer an meinem Kostüm.«

»Bringe es doch heute Abend vorbei, dann können wir es zusammen fertig machen.«

»Mir fehlen Spitzen und Borte, es ist so gewöhnlich.« Sie trat einen Schritt näher an Hedi heran und senkte die Stimme. »Dieses Stück wird ein Erfolg, sagt mir mein Gefühl. Ich weiß nicht, ob ich es dann noch schaffe, bei deiner Mutter hier … na, eben vorbeizukommen.«

»Du bist unentbehrlich, das weißt du. Wenn du erfolgreich wirst und sie in jedem Zeitungsartikel erwähnst, dann wird sie dir verzeihen.«

»Da hat Hedi recht«, erklang es aus der Wohnstube. Hilde öffnete die Flügeltür und lehnte sich mit verschränkten Armen in den Rahmen. »Da ich euch ohnehin hören kann, dachte ich, ich mische mich mal ein. Wir können in meinem Schrank schauen. Irgendwo habe ich Kleinigkeiten liegen, die als Besatz infrage kämen, und ihr könnt gern die Nähmaschine nutzen.«

»Ja, welch Glück, dass Sie diese wundervolle Maschine Ihr Eigen nennen.«

»Frage nicht, wie lange es gebraucht hat, meinen Mann davon zu überzeugen. Monatelang habe ich erklärt, wie viel günstiger es wäre, wenn ich die Kleider selbst nähe, anstatt sie bei der Schneiderin anfertigen zu lassen. Das merkt euch: Sparsamkeit ist eine Tugend! Was wollte ich sagen? Ach ja: Er war so gutherzig! Ihm war es wichtig, mir nicht unnötige Arbeit aufzubürden.« Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. »Wenn ich ehrlich bin, denke ich, er misstraute meinen Nähkünsten, und – das weiß ich sicher – der Preis dieses Wunderwerks schreckte ihn ab.«

Hedi ging das Herz auf. Manchmal schimmerte all das durch, was ihre Mutter ausgemacht hatte: die Wärme und die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen.

»Aber nun haben Sie eines der schönsten Modelle«, sagte Ella.

»Rate mal, warum? Eines Tages kam unsere Tochter in die Wohnstube, verzog ihre zuckersüße Schnute und sagte, sie wolle gern nähen lernen. So schnell konnte ich nicht Luft holen, da stand das Prachtstück bei uns.«

»Er fehlt …«, sagte Hedi, während sie den Hut aufsetzte.

»Und er wäre stolz, wie zauberhaft du in deinem neuen Kleid aussiehst!« Ellas Hand strich sanft über Hedis Arm. »Aber nun mach nicht so ein Gesicht, das gibt Falten. Erzähl mir lieber, wie deine ersten Tage im Lichtenstein waren, was du den lieben langen Tag da machst.«

»Ich bin als Ladenmädchen tätig. Mal schauen, was mir mehr liegt. Verkauf, Kasse, Kontor. Im Lichtenstein ist der Einsatz des Personals recht flexibel. So kann ich einen Eindruck bekommen.«

»Um Himmels willen, du sollst Konfektioneuse werden! Deine Mutter kennt die Chefin, also nutze deine Kontakte. Irgendwer muss ja meine Kostüme entwerfen, wenn ich die Bühnen der Stadt erobere«, rief Ella aus und stemmte die Hände in die Hüften.

Hedi lachte laut auf. »Danke, Großgütigste, dann werde ich das genau so befolgen.«

Ella grinste. »Ja, hör auf mich: Du kannst wunderbar nähen, du kannst zeichnen und hast ein fabelhaftes Gedächtnis. Und du hast Geschmack. Oder du wirst Moderedakteurin und betonst in deinen Artikeln meinen guten Geschmack. Du könntest auch Modeschöpferin werden. Diese Madame Lanvin aus Paris, die hat als Laufmädchen in einem Schneidersalon angefangen – und heute? Sie ist reich und weit über die Grenzen ihres Landes hinaus bekannt!«

»Moderedakteurin, Modeschöpferin – du bist noch schlimmer als meine Tochter«, fuhr Hilde dazwischen und schob Hedi zur Tür. »Sie hat schon genug Flausen im Kopf mit ihrem Warenhaus.«

»Maman, es ist ein Kaufhaus, wir bieten keine Lebensmittel an.«

»Schnickschnack, Kaufhaus oder Warenhaus – das sind Wortklaubereien. Lenk nicht ab! Darum geht es nicht.« Ella sah erst Hedi, dann Hilde an. »Es ist doch so, Gnädigste, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wenn wir immer nur die Hände in den Schoß legen …«

»Das hat man davon, wenn man sich eine Schauspielerin ins Haus holt. Schluss jetzt! Du wirst nicht die Hände in den Schoß legen, das sage ich dir. Denn dein Weg, Ella, führt jetzt in die Küche. Das Silberbesteck muss geputzt werden, bevor du wieder zur Probe aufbrichst.«

Hedi grinste Ella zum Abschied an, schloss die Tür und überließ die Freundin der zeternden Mutter.

Mit gerecktem Rücken lief sie die Treppenstufen hinab und blickte dabei den Bahnsteig entlang, über die Menschen hinweg, die dort in aller Frühe warteten. Die Bahn fuhr ein, die Türen wurden geöffnet, und Hedi schob sich mit der Menge in den Wagen. Tagelang hatte sie sich vorbereitet, war morgens die Strecke in die Stadt gefahren, um nichts dem Zufall zu überlassen. Wann musste sie die Untergrundbahn nehmen, und wie lange musste sie vom Bahnhof am Hausvogteiplatz bis zur Leipziger Straße laufen?

Hedi blieb im Gang stehen, umfasste eine der Haltestangen und schloss die Augen. Sie spürte das einsetzende Rattern der Drehgestelle, das zu einer gleichmäßigen Vibration des Abteils wurde, und die Wärme der Menschen, die sie dicht gedrängt umstanden. Der Geruch muffiger Wolle lag in der Luft. In einiger Entfernung sprachen zwei Männer in gedämpfter Lautstärke miteinander, ansonsten umgab sie Schweigen. Durch die geschlossenen Lider nahm sie das Wechselspiel von Licht und Dunkelheit wahr, das Vorbeiziehen der Stationen – Kaiserhof, Friedrichstraße, Hausvogteiplatz.

Jetzt musste sie aussteigen. Sie öffnete die Augen und verließ mit mehreren Frauen die Untergrundbahn. Und Ellas Worte hallten in ihr nach, eher als Gefühl denn im Wortlaut: Sie war tatsächlich eine von ihnen, eine der Angestellten, die mit der Monatskarte in der Tasche das Essen für die Pausen umklammerten und aus dem zugigen Schacht die Treppen hinauseilten, dem Licht entgegen.

Da war es wieder: dieses innere Beben, die flackernde Vorfreude, der steigende Stolz. All das, worüber sie mit Hilde nie reden würde. Ja, die Notwendigkeit, die Haushaltskasse aufzubessern, war das eine. Doch die Gründe, sechs Tage in der Woche früh aufzustehen und sich auf den Weg ins Lichtenstein zu machen, reichten für Hedi weiter. Weit über Geld und den von der Mutter sogenannten Zeitvertreib bis zur Ehe hinaus.

Die Sonne blendete. Der blaue Himmel ließ die stuckverzierten Gebäude, die vier bis fünf Geschosse in die Höhe ragten und lange Schatten auf den Platz warfen, noch prachtvoller wirken. Auch hier drängten sich die Menschenmassen, vorbei an Lieferdroschken und Taxametern, die sich bereits jetzt, in aller Frühe, auf dem Platz aneinanderreihten. Mitten im Gewirr stand ein Omnibus und schien nicht vom Fleck zu kommen. Direkt vor Hedi fuhr ein Milchkutscher im Schritttempo vorbei, das Klirren und Klappern der Milchflaschen auf der Ladefläche zerrte an ihren Nerven. Angestrengt wich sie aus, wobei sie fast eine Frau anrempelte.

Und sofort konnte sie es sehen.

Wie bei jeder Frau.

Sie erkannte, nach welchem Schnitt die Figur verlangte, welcher Stoff der Haut schmeichelte und welche Augenfarbe mit welcher Farbe betont werden konnte. Sie wusste, welcher Schnitt Leichtigkeit verlieh, welcher für Ernsthaftigkeit stand, was es bedurfte, lasziv zu wirken.

Schon als Mädchen hatte sie die Haare der Freundinnen geflochten. Mit Mehl puderte sie ihnen die Haut, feuchtete rotes Seidenpapier mit Spucke an, um die sich lösende Farbe auf die Wangen zu schmieren, mit kleinen Kohlesplittern schwärzte sie die Augenbrauen – es gab fast nichts, was sie nicht verfremdeten in ihrem Spiel. Anfangs staffierte sie die Freundinnen aus wie Püppchen, erst später kam sie auf den Gedanken, das zu suchen, was jede von ihnen auszeichnete. Während sie kämmte, bürstete, puderte, spuckte und tupfte, entstand eines Tages die Frage in ihr: Vielleicht ist dieses Geschick eine Gabe? Als Antwort beschuldigte sie sich des Hochmuts und verwarf den Gedanken.

Irgendwann reichten das Frisieren und Schminken nicht mehr, verflog die Angst vor dem Hochmut. Immer öfter schaute sie in den Straßen der einen oder anderen prachtvoll ausstaffierten Frau nach. Jeden Abnäher und Faltenwurf des Kleides, kurzum alle Raffinessen eines Schnittes versuchte sie zu erfassen und in Frauenzeitschriften jede Neuheit der Modewelt zu studieren. Schließlich begann sie mit dem Nähen. Damit war nicht das langweilige Stopfen zerschlissener Stoffe gemeint, das dröge Auslassen eingenähter Säume oder das simple Befestigen von Knöpfen, Kordeln und Spangen. Nein, sie hatte aus alten Stoffresten Neues entstehen lassen. Das waren die Anfänge gewesen, und nun war sie auf dem Weg ins Lichtenstein.

Dicht an dicht prangten die Namen: Edmund Ascher & Co., Sally Fraenkel, Bradt, Hirschfeld & Co., Adolf Ephraim, Büxenstein & Co., Lewinsky & Mayer, ein unendlicher Reigen Modeschaffender, der sich, vom Platz ausgehend, in die Nebenstraßen wie Mohren- oder Kronenstraße ergoss, vorbei am Französischen Dom, hinüber zur Friedrichstraße, hoch bis Unter den Linden und gleichermaßen hinab zur Leipziger Straße, an der sich Warenhaus an Kaufhaus an Maßsalon reihte.

Im Viertel rund um den Hausvogteiplatz schlug es – das Herz der Berliner Konfektion. Hier entstand Mode, die weltweit verkauft wurde.

Wenige Meter entfernt hielt der Milchkutscher nun den Wagen an und schob sich vom Bock, um Holzkisten voller Flaschen in einen Laden zu tragen.

Hedi trat einen Schritt näher an die Scheibe eines Schaufensters heran und gab vor, die Waren zu betrachten. Ella hatte recht: Sie hatte saubere Arbeit geleistet – das Tageskleid war ihr gelungen. Eine gerade, schmale Linie mit leicht erhöhter Taille und bodenlangem Rock, der durch eine oberschenkellange Jacke aufgelockert wurde.

Der Kutscher verließ seinen Kunden. Verabschiedete sich lautstark und warf nun zwei Kisten mit leeren Flaschen polternd auf die Ladefläche.

Du hast Talent, hörte Hedi Ella über den Lärm hinweg noch einmal sagen. Und du bist hübsch.

Der Blick wanderte vom Kleid auf ihr Gesicht, das in der Scheibe nur unscharf zu erkennen war. Der Hut unterstrich die ovale Gesichtsform, ließ einige ihrer Strähnen an den Seiten hervorspringen. Der Rest war wie bei allen: Augen, Nase, Mund.

Plötzlich glaubte sie, Hilde würde sie aus dem Schaufenster heraus tadelnd anschauen. Was machst du dir schon wieder für Gedanken?, schien ihr Blick zu fragen und Ellas Worte wegzuwischen.

Erschrocken zuckte Hedi zusammen, wandte sich ab und stand erneut vor einem Pferd, dieses Mal mit Reiter. Nur wenige Berliner Angestellte konnten es sich leisten, hoch zu Ross zur Arbeit zu kommen. Der Mann war, wenn sie sich richtig erinnerte, im Kontor von Lichtenstein tätig. Was sollte er denken, wenn er sie so sah, wie sie in aller Eitelkeit ihre Toilette bewunderte? Doch er würdigte sie keines Blickes und trabte an ihr vorbei.

Hedi zuckte die Schultern. So weit konnte es mit der Schönheit nicht her sein. Ein Grund mehr, sich im Lichtenstein anzustrengen, dachte sie und lief weiter.

Jacob

Er hatte das Haus noch vor sechs Uhr verlassen und war zügig in der Dämmerung ausgeschritten. Blind war er durch die Straßen gelaufen, wie jeden Morgen, wenn ihn die Schlaflosigkeit vor vielen anderen durch die Stadt trieb. Sein Vater hielt diese Runden für Disziplin. Der Gesundheit gewidmet, um gestärkt ins Kontor zurückzukehren, wo er die kommenden zwölf bis vierzehn Stunden die Geschicke des Kaufhauses mitlenken würde.

Weit gefehlt.

Eine Flucht waren sie, vor den kreisenden Gedanken. Nichts weiter. Wie jeden Morgen hatte Jacob dieselbe Strecke zurückgelegt. Er war die Leipziger Straße entlanggelaufen, in die Friedrichstraße abgebogen, um dann in der Taubenstraße unter Helenes Fenster vorbeizugehen. Sie dort oben schlafend zu wissen, wärmte bei jedem der Spaziergänge sein Herz, bis er sich gedanklich wieder den Themen zuwandte, die ihn um diese Uhrzeit durch die Straßen trieben. Im Tiergarten hatte eine erste herbstliche Kühle der Luft ihn innehalten lassen, das Jagen seiner Gedanken bremsen, es verlangsamen und ordnen können.

Die Bestandsaufnahme, erst hier überhaupt möglich, hatte keine neuen Ergebnisse zutage gefördert. Es blieben die Fakten, die ihm schon seit Jahren Fesseln anlegten:

1.Sein Bruder Ludwig war ein Problem. Vermutlich das größte des Hauses. Seine Selbstsucht war erdrückend.

2.Sein Vater war ein Problem. Ein handhabbares, aber zeitraubendes. Zudem saß Friedrich auf dem Geld.

3.Die Größe der Verkaufsfläche war ebenfalls ein Problem. Sie war zu klein, und aus diesem Grund war das Sortiment nicht breit genug gefächert.

Die Feuchte des aufsteigenden Bodennebels, der über den Wiesen hing, hatte ihn tiefer atmen lassen und die Fähigkeit, den Kopf wieder nutzen zu können, geweckt. Doch die beschauliche Stimmung hatte keine der Schwierigkeiten gelöst.

Und so hatte Jacob den Heimweg angetreten, nicht ohne sich die Morgenausgabe des Berliner Tageblatts vom 10. September zu kaufen. Kurz überflog er die erste Seite. Der erschütternde Absturz eines Marineluftschiffs über Helgoland durch einen Orkan musste warten. Wie immer ging er, bevor er irgendeinen Artikel las, die Zeitung durch, um nach ganzseitigen Reklamen zu schauen. Nachdem das Warenhaus N. Israel die Woche mit einer Reklame für Möbel eröffnet hatte, hatte Wertheim gestern mit einer Seite voller Extrapreise für Kleidung nachgelegt, die bis Donnerstag galten. Heute gab es eine Dreiviertelseite von Wertheim, auf der die Brüder ihre neuesten Bücher anboten. Klassische Werke, von Kleist über Goethe bis hin zu Eichendorff. Leinwandgebunden kostete ein Buch eine Mark, ledergebunden drei Mark. Auch wenn sich die Berliner darüber belustigt hatten – ein Warenhaus, das Bücher verkaufte –, Jacob hielt es für einen klugen Schachzug. Vor allem die Kombination mit dem Modernen Antiquariat und der Leihbibliothek – beides wurde mittig in der Reklame hervorgehoben – rundete das Konzept ab.

Er blieb stehen, um besser blättern zu können. Ganzseitig präsentierte sich heute Jandorf mit einer »68-Pfennig-Woche«, die bis Samstag lief. Kleinteilig pries er einen Reigen an Waren an: diverse Stoffe, unter anderem für Bettwaren, Tüllröcke oder Schürzen. Restbestände von Spitzen und Stickereien, Kragen und Strümpfe aller Art, selbst Handschuhe aus Waschlederimitat waren gelistet. Geschirr stand reichhaltig zur Auswahl, von der Kuchenschale über den Bierseidel bis hin zum Zwölferset Aluminiumlöffel. Glühstrümpfe, Handfeger, Zangen, Feuerhaken, Suppenkellen – es war beeindruckend, wie vielfältig Jandorf die breite Masse mit dem Preis bediente. Sogar ein halbes Pfund Kaffee samt einem halben Pfund Zucker gab es – zusammen für 68 Pfennig.

Kopfschüttelnd klemmte Jacob die Zeitung unter den Arm und bog in die Oberwallstraße ab, überquerte den Hausvogteiplatz, lief ein Stück die Jerusalemer Straße entlang und konnte bereits das Kaufhaus ausmachen.

Ganz gleich, was alle dachten: Es war sein Kaufhaus!

Nichts reichte an dieses Gefühl heran, wenn er ans Lichtenstein dachte.

Nie hatte er etwas anderes kennengelernt, hatte schon seine ersten Schritte zwischen Regalen mit Leinwaren gesetzt, wie seine Mutter gern erzählte. In der Kindheit hatte er lieber Knöpfe sortiert und im Lager zwischen Kartonagen gespielt, als mit Freunden auf der Straße herumzutollen. Auch seinen ersten Kuss hatte er von einem Ladenmädchen erhalten, an einem verregneten Abend, in der Durchfahrt zum Hof. Es gab nichts in seinem Leben, das ohne dieses Kaufhaus denkbar gewesen wäre.

In goldenen Lettern prangte auf schwarz glänzendem Grund der Name »Lichtenstein« über dem Haupteingang. Ein dreigeschossiges Eckgebäude mit Flachdach, von einer steinernen Balustrade gesäumt, auf der in gleichmäßigen Abständen kleine Emporen thronten. Vor den Sprossenfenstern im zweiten Stockwerk waren ebenfalls kleinere Balustraden gezogen, während die Fenster des ersten Stockwerks und des Erdgeschosses aus Rundbögen bestanden, unterbrochen von schlanken Säulen, auf denen Kapitelle ruhten. Ein zeitlos schönes Gebäude, dessen Gleichmaß Ruhe ausstrahlte. Trotzdem, das musste Jacob zugeben, nahm es sich neben den anderen Berliner Prachtbauten, die zum Einkaufen einluden, unauffällig aus. Eher traditionell als modern.

Auch die Inneneinrichtung wirkte – wie die Architektur – ein wenig aus der Zeit gefallen. Der Verkauf fand ausschließlich im Erdgeschoss statt, und so gab es im Lichtenstein keine Rolltreppe, keinen Fahrstuhl mit Liftboy oder einen Paternoster, eben jene neumodischen Spielereien, die Kundinnen und Kunden beeindruckten. Der erste Stock war dem Privatkontor, weiteren Bureaus, dem Offertenraum und dem Atelier vorbehalten. Platz, der fehlte, um Möbel, Automobilbekleidung oder Lebensmittel anzubieten.

Dennoch gab es vieles, was das Herz begehrte: die klassischen Kurz-, Weiß- und Wollwaren, Bettdrilliche sowie Kleider- und Flanellstoffe. Die Sportabteilung glich eher einer Sportecke, und der sogenannte Kunstsalon, in dem Rahmen, Groschenbilder und Gratulationsbriefe erworben werden konnten, bestand lediglich aus zwei Tresen. Aber niemand musste unverrichteter Dinge weiterziehen. Ein Kundinnenmagnet waren die Galanteriewaren mit ihren Flakons, Fächern, Gürteln und anderen Kleinigkeiten. Und selbst wer ausgefallene Dinge verlangte, wie Hufnägel oder Schnupftabak, wurde im Haus fündig.

Wenn Jacob guter Dinge war, nannte er das Lichtenstein gern seine Schatzkammer, in der noch in jedem Winkel Nützliches und Schönes entdeckt werden konnte.

Den Grundstein hatte sein Großvater gelegt, der vor gut fünfzig Jahren den Handel mit Posamentierwaren gewagt hatte – damals noch in Köln. Erst der Vater hatte sich mit seinem Umzug nach Berlin der Bekleidung zugewandt, der Damen- und Herrenbekleidung, und so war dieses Segment das Kerngeschäft des Hauses. Letzthin hatten sie das Angebot um Trikottaillen erweitert. Auf Kinderkleidung verzichteten sie.

Die Sonne erhob sich allmählich über die Dächer, und Jacob schirmte mit der Hand die Augen ab. Sowohl Großvater als auch Vater hatten das Geschäft mit der ihnen eigenen Handschrift geprägt. Doch in den letzten Jahren war es zu einer Stagnation der Umsätze gekommen, die Konkurrenz an der Leipziger Straße war erdrückend, hier befanden sich einige ihrer größten Konkurrenten: Am östlichen Ende, auf Höhe des Spittelmarktes, saß Jandorf mit einem seiner Kaufhäuser. Am anderen Ende, ganz im Westen, am Leipziger Platz stand Wertheims geschmackvoller Konsumtempel, in der Mitte war Hermann Tietz zu finden. Ein Palast, über dessen Eingang Hermes, der Gott der Kaufleute, thronte und eine riesige Weltkugel goldgelb glänzte.

Würde es gelingen, das Lichtenstein auf Kurs zu bringen – vorbei an diesen Schlachtschiffen kaufmännischen Könnens? Oder würde er mit ansehen müssen, wie sein Vater und Bruder das Geschäft an die Wand fuhren?

Während er in Gedanken die einzelnen Rayons durchging, ohne auch nur eine Abteilung des Warenhauses zu vergessen, steuerte Jacob auf die Einfahrt zu, die links des Gebäudes in den Hof zum Lieferanteneingang führte. Auf der anderen Seite des Gebäudes gab es, fernab der Lieferdroschken und des Haupteingangs, ein Treppenhaus für repräsentative Zwecke, das zu den Bureaus und ins Obergeschoss führte. Eines mit Marmortreppe, Bogenlampen und Gemälden, eben alledem, was es brauchte, um geschäftliche und private Gäste zu beeindrucken. Doch er bevorzugte den Eingang vom Hof aus, den Gang vorbei am Lager, die hölzerne Treppe hinauf.

In der von einem Gewölbedach überzogenen Durchfahrt drängten sich bereits mehrere Droschken. Sie kamen, um Frachtsendungen abzuholen, die am Tag zuvor gepackt und noch nicht verschickt worden waren, und um Waren anzuliefern. Der Wagen einer Appreturanstalt reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Im Hof ging es wie im Taubenschlag zu, es wurde eifrig entladen, zahlreiche hölzerne Kisten und Körbe stapelten sich und kündeten von viel Arbeit.

Drei Packjungen schleppten Stoffballen an Karl Kiesewetter vorbei, einem schmalen Mann mit Spitzbart, der, das Klemmbrett in der einen Hand, einen Bleistift in der anderen, jedes einzelne Teil notierte. Seit Jacob denken konnte, wachte dieser Mann über den Wareneingang. Erst wenn er eine Lieferung abgenickt hatte, begannen seine Gehilfen mit dem Auspacken, ordneten den Inhalt dem jeweiligen Lager zu oder ließen sie in die Rayons bringen. Woher Kiesewetter wusste, wann er wo über wie viel Platz verfügen konnte, blieb Jacob ein Rätsel. Denn Andrang herrschte hier unentwegt: Pakete, die per Post eingingen, per Bahn in Berlin ankamen, von Lieferanten gebracht wurden oder sogar vom Zollamt abgeholt werden mussten.

Es musste kurz vor acht Uhr sein. Da ein Großteil der Angestellten erst gegen 8.20 Uhr zur Arbeit erschien, war es am Personaleinlass ruhig. In spätestens zehn Minuten würde eine Traube drängelnder Frauen und Männer darauf warten, schnellstmöglich das Warenhaus zu betreten, um pünktlich zum Dienst zu erscheinen. Jacob passierte den Kontrolleur, warf die Zeitung auf den Stapel alter Ausgaben und eilte hinauf ins Privatkontor. Er betrat das Vorzimmer, von dem linker Hand sein Bureau abging, rechter Hand das seines Vaters. Das Reich seines Bruders war auf der anderen Seite des Flurs gelegen, direkt beim Nähatelier.

Lore Müller war nicht am Platz. Ihre Jacke hing nachlässig an der Garderobe, das Essenspaket lag in Zeitung eingeschlagen auf dem Tisch und glänzte bereits jetzt fettig. Die Schreibmaschine war noch mit einem Tuch abgedeckt, darauf legte die Müllersche, wie ein jeder sie nannte, Wert. Aktenschränke zogen sich durch den Raum, die oberen Fächer konnte sie nur mit einem Tritt erreichen. Der erste Eindruck, den die Vorzimmerdame erweckte, täuschte – sie hatte zwar kein Gespür für Farben, und ihr Haarknoten erinnerte eher an eine gehäutete Zwiebel denn an eine Frisur, doch wenn es um ihre Arbeit ging, war sie unschlagbar.

Jandorfs Anzeige verärgerte Jacob, schwer lag sie ihm im Magen. Immer wieder machte dieser Mann ihm Sorgen. Als der Konkurrent das Kaufhaus des Westens in Charlottenburg eröffnet hatte, waren auch dem Lichtenstein Mitarbeiter abhandengekommen – um ein Haar auch die Müllersche. Tausende Angestellte hatte der Konkurrent damals gesucht und mit sehr guten Löhnen gelockt. Sein Vater Friedrich hatte bei einigen Angestellten noch einmal ordentlich drauflegen müssen, um sie zu halten. Es gingen Gerüchte, allein die Jandorfschen Warenhäuser am Wittenbergplatz und am Kottbusser Damm würden auf gut dreitausend Mitarbeiter kommen, in diese Zahl waren die anderen vier Häuser noch nicht eingerechnet. Da fielen einige Mitarbeiter mehr oder weniger nicht auf. Im Lichtenstein sehr wohl.

Jacob seufzte. Um nichts in der Welt wollte er eine Unternehmung dieser Größenordnung führen, aber wenn das Lichtenstein mithalten wollte, mussten Änderungen greifen, ganz gleich, wie sehr Friedrich und Ludwig sich dagegen sperrten.

Er öffnete die Tür zu seinem Kontor. Er mochte das durch die schweren Vorhänge gedämpfte Licht und den riesigen amerikanischen Schreibtisch aus dunklem Holz, der mitten im Raum stand. Er war ein Bollwerk, hinter dem Jacob sich verschanzen konnte. Die beiden englischen Klubsessel mit dem kleinen Beistelltisch, die vor dem Fenster standen, luden zu vertraulichen Gesprächen ein. Es war nahezu unmöglich, aufrecht in ihnen zu sitzen, der Winkel zwischen Rückenlehne und Sitzfläche ließ keine andere Wahl als sich hineinfallen zu lassen und jegliche Körperspannung aufzugeben.

»Piekfein ist es bei Ihnen«, sagte die Müllersche gern, wenn sie auf dem kunstvoll gedrechselten Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz nahm, um sich Briefe diktieren zu lassen.

Doch was nützte piekfein?

Neben dem Tischtelefon stapelte sich die Post, Hunderte Briefe und Karten, die der Briefträger in seiner ersten Zustellrunde des Tages abgegeben hatte. Inzwischen war es zwei Minuten nach acht Uhr. Gleich würden sein Vater und Bruder erscheinen, die Müllersche im Schlepptau. Sie würden gemeinsam die Post durchgehen, weil sie allein kaum zu bewältigen war und Stunden in Anspruch nähme. Um neun Uhr erwarteten sie den ersten frischen Kaffee von der Müllerschen und Heiner Hoffmann, den Vorsteher der statistischen Abteilung. Genau genommen bestand die Abteilung nur aus ihm, seine Gehaltszahlung am Monatsende erweckte jedoch den Eindruck, er würde ein Heer weiterer Kollegen anleiten. Er ließ es sich auch nicht nehmen, mit dem Pferd zur Arbeit zu kommen. Da er ordentliche Arbeit leistete, stets einen Überblick über Einnahmen und Ausgaben lieferte und den Krankenstand im Blick hatte, nahm Jacob sowohl die monatlich schmerzende Zahlung in Kauf als auch den fürs Pferd im Hof verschwendeten Platz. Lieber einen teuren Statistiker als einen, der bei der Konkurrenz anfing.

Die Tür flog auf, und Ludwig betrat den Raum. Hinter ihm der Vater, das Schlusslicht bildete die Müllersche.

Alles wie immer.

Mit einem Mal fühlte Jacob den fehlenden Schlaf.

Müdigkeit breitete sich in ihm aus.

Hedi

Behutsam öffnete sie die Tür in den Verkaufsbereich und sah sich um.

Stille und Dämmerlicht.

Hedi stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Abteilungen besser überblicken zu können.

Tatsächlich: Niemand war bisher zugegen.

Das Herz des Hauses: Es gehörte ihr allein, für diesen Moment. In seiner Einsamkeit und Schönheit.

Es war wie in diesem Traum, den sie als Kind mehrfach genossen und immer wieder herbeigesehnt hatte: ein Warenhaus nur für sie, eine ganze Nacht lang. Die Neugier hatte sie vorangetrieben, alles zu erkunden, zu bespielen, zu kosten, an- und auszuprobieren – es war wundervoll gewesen. Ein Schlaraffenland.

Und auch wenn sie jetzt kaum Zeit hatte und weit davon entfernt war, irgendetwas anderes zu machen als die Tücher abzunehmen, mit denen die Tresen am Abend zuvor abgedeckt worden waren, durchrollte sie eine Welle des Glücks.

Sie hob den Rock und lief los, rannte fast. Vorbei an der Krawattenabteilung, der sie gleich am ersten Tag zugeordnet worden war und die sie verunsichert hatte, wusste sie doch nichts über Knoten, Einstecktücher, Fliegen und Kontrastkragen. Sicherlich waren die Aufgaben überschaubar und für einen ruhigen Einstieg in den Arbeitsalltag gut geeignet. Obendrein gaben sie Gelegenheit, die männlichen Kunden zu studieren, zu schauen, wie sie ihre Anliegen vorbrachten, welche Farben sie wünschten, welche Stoffe sie favorisierten und ob sie dem Verkäufer und einem Ladenmädchen gegenüber freundlich blieben oder sich herablassend gaben.

Das Gerücht, die Mädchen und Frauen in den Berliner Warenhäusern würden eher nach ihrem Aussehen als nach ihrem Wissen und Können ausgewählt, hatte sich Hedis Erfahrung nach bestätigt. Zumindest die männlichen Kunden schienen so manch fehlende Expertise für einen hübschen Anblick gern in Kauf zu nehmen. Und täglich festigten die Herren, die durchs Haus gockelten und auf die schönsten Mädchen schielten, diese Annahme. Eine, die sich verstärkte, wenn man die vornehmlich jüngeren Kerle durchzählte, die jeden Abend zum Ladenschluss um acht Uhr vor dem Eingangstor warteten, um eine der Angestellten nach Hause zu begleiten.

Hedi ließ die Männerwelt samt ihrer Krawattenabteilung hinter sich, sie konnte warten.

Dieser ungestörte Moment gehörte ihr.

Sie wollte den Arbeitstag heute am schönsten Tresen beginnen: bei den Posamentierwaren.

Schon das Wort klang nach Musik.

Die Ausmaße des Tresens waren gewaltig, bis zu sieben Frauen konnten gleichzeitig an ihm arbeiten, ohne beengt zu stehen. Er barg in seinem Inneren alles, was Ella für ihr Kleid benötigte: Tressen, Spitzen, Borten, Kordeln, Zierbänder, Stickereien, Geflochtenes, allesamt kleine Kunstwerke, eines filigraner als das andere, und jedes eiferte um Aufmerksamkeit. Sie würde eine Auswahl für die Freundin mitnehmen – wozu bekam sie ihren Mitarbeiternachlass?

Sie blickte zum Rayon der Damenbekleidung hinüber. Dorthin hatte sie sich noch nicht vorgewagt, denn gleich am ersten Tag war ihr deutlich signalisiert worden, sie habe die morgendlichen Vorbereitungen nicht in diesem Gebiet vorzunehmen. Hier hatte sie nichts zu suchen. Generell nicht. Weder morgens noch im Verlauf des Tages.

»Gebiet«, ja, das hatte Frau Wagner gesagt, ganz so, als würde sie einen Krieg führen, der das Kaufhaus in feindlich und friedlich gesinnte Gebiete unterteilte. Diese Verkäuferin ließ keinen Zweifel daran: Sie war die Oberrichterin über die Ladenmädchen in ihrem Rayon. Sie trug wie alle weiblichen Angestellten im Verkauf ein kittelartiges blauschwarzes Kleid, über das eine weiße Schürze mit Rüschen gebunden war. Doch die Arroganz legte sie dabei nicht ab. Tag um Tag erschien sie in teuren Kleidern im Personaleingang, die zwar ihre üppigen Rundungen nicht kaschierten, aber Zeugnis ablegten, dass sie erhebliche Provisionen ausgezahlt bekam. Sie wollte nicht schön sein, und sie musste es nicht. Sie wollte offensichtlich nur eines: elegant sein.

Hedi sah an sich herab, auf die altbacken wirkende Schürze: Ihr gab dieses Ding das Gefühl, höchst jämmerlich zu wirken. Von dem wunderbaren Gefühl, das sie in ihrem neuen Kleid spürte, konnte sie wenig erretten, sobald sie in der Umkleide in den Kittel schlüpfte.

Hedi schob die umherflirrenden Gedanken beiseite und sog die Luft ein. So wie im Verkaufsraum roch es nirgends. Ein wenig Parfum mischte sich mit dem Duft frisch gemangelter Leinwaren, durchzogen von einer holzigen Note. Sie musterte die in die Höhe ragenden Regale und die davorstehenden Tresen. Lange Gänge zogen sich zwischen ihnen wie dunkle Bänder hindurch.

Mit einer schwungvollen Bewegung nahm sie das erste Tuch vom Tresen ab, legte es zusammen, um es dann im untersten Fach des dahinterliegenden Regals verschwinden zu lassen. Die gläserne Fläche war sauber, doch eines der Spitzenbänder in der Auslage war nicht richtig aufgerollt. Sie zog die Schublade heraus und strich die feine Klöppelei glatt.

Die Bogenlampen flammten unvermittelt auf. Nun war Grete, die in der Portiersloge saß, anwesend. Sie war die Herrin des Lichts, genau genommen der sechs Schalter, die es brauchte, um das Halbdunkel des Morgens im Verkaufsraum zu vertreiben. Doch Grete war weit mehr als das, sie war ein unentbehrlicher Bestandteil des Informationsflusses im Haus. Wenn Hedi es recht verstanden hatte, gab es die Müllersche im Vorzimmer des Seniors. Sie war der Ausgangspunkt aller Neuigkeiten. Zuerst wussten, was räumlich nahe liegend war, all jene Bescheid, die mit ihr in der ersten Etage arbeiteten.

Dann steckte die Müllersche der Portierschen, was es zu berichten gab, woraufhin diese für die Streuung in ihrem Universum, dem Erdgeschoss, sorgte. Selbstverständlich funktionierte der Informationsfluss auch in die umgekehrte Richtung. Nichts entging ihnen. Wer wann mit wem zur Mittagspause ging und wer wann mit wem wieder zurückkehrte – Grete registrierte auch diese Nebensächlichkeiten, was umso erstaunlicher war, da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch den Personal- und nicht durch den Haupteingang in die Pause entschwanden. Offensichtlich behielt sie auch die Straße im Blick.

Doch da Grete unentwegt gute Laune und ein offenes Ohr für jeden hatte, konnte kaum jemand umhin, sie nicht gern zu haben. Es gingen Gerüchte, verschiedene Kundinnen würden nur ihretwegen vorbeischauen.

Vorbeischauen.

Hedi warf einen Blick auf die Uhr. Es blieben noch rund zehn Minuten, bis die ersten Ladenmädchen und Hausdiener eintrafen, die Verkäufer und Verkäuferinnen würden erst gegen neun Uhr erscheinen.

Vielleicht war dieser Moment genau der, die Damenabteilung im Schnelldurchlauf in Augenschein zu nehmen? Und wie von allein schob die Hand die Schublade zu und setzten die Füße sich in Bewegung.

Zuerst blieb Hedi vor der Wachsfigur stehen und ließ die Finger über den Seidenkrepp des Kleides fahren. Glatt, kühl und fest, auch wenn der Stoff Plisseefalten aufwies. Ein Rot, das sündiger kaum sein konnte und durch seinen dunklen Grundton edel wirkte.

Hedi schaute den Gang entlang. Schräg vor ihr waren auf Holzfiguren weitere Kleider drapiert: ein beigefarbenes Tageskleid aus Baumwolle und ein Sommerensemble aus Serge, mit großem Kragen und Schleife im Dekolleté. Zwei schlichte Modelle, die für das standen, was das Lichtenstein auszeichnete: solide Qualität.

Wieder schaute Hedi ehrfurchtsvoll auf den Seidenkrepp unter ihren Fingern. Umso mehr fiel dieses Kleid auf. Die Seitennaht, sie verlief …

So abrupt, wie vor wenigen Minuten das Licht aufgeflammt war, wurde nun die Tür vom Personalflur geöffnet und zerriss den Kindheitstraum, allein im Warenhaus zu sein. Der schlichten hellgrauen Schürze nach zu urteilen, war die junge Frau eine Näherin. »Du da, du sollst mir helfen, sagt der Senior!«, rief sie, viel zu laut für die Stille des Morgens.

Sofort nahm Hedi die Finger vom Kleid, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und musterte ihr Gegenüber. Und wieder sah sie sofort alles: die Schürze faltig, die Zöpfe schief. Der Blusensaum stark abgestoßen, die Schuhe halbherzig geputzt. Doch trotz des leicht liederlichen Aufzuges hatte die Näherin wohl Zugang zum Senior, zumindest soeben mit ihm gesprochen. Bei Hedi sorgte schon der Gedanke an Friedrich Lichtenstein, dessen Aussehen sie nur von einem Bild aus einer Zeitschrift kannte, für Angstschweiß. Zudem fühlte sie sich ertappt, ohne sagen zu können, wobei. Vielleicht gab es ja wirklich Gebiete in diesem Haus. Heilige Bereiche, die nur vom jeweiligen Personal betreten werden durften und niemals, wirklich niemals von fachfremden Anfängerinnen.

Mit einem Mal war ihr Brustkorb eingeschnürt von Mieder und Kleid, die soeben gepasst hatten und nun zu klein, ja winzig und eng erschienen, zu warm obendrein. »Wer sagt das? Bitte?« Sie hörte die eigene Stimme zittern.

»Was soll denn die Diskutiererei? Herr Lichtenstein selbst hat es gesagt. Der Senior! Habe ich doch schon deutlich ausgedrückt. Kommst du jetzt gefälligst?«

Thea

Thea wusste nicht, ob sie lachen oder den Kopf schütteln sollte. Dieses neue Ladenmädchen war ein Lämmchen. Eindeutig. Jedenfalls schaute und zitterte sie wie eines dieser possierlichen Tierchen.

»Aber ich muss meine Arbeit fertig machen, sonst bekomme ich …«

Nun stemmte Thea die Hände in die Seiten. Ein Lämmchen, das widersprach. »Der Senior!«, rief sie, betonte das O und zog dabei die Augenbrauen zusammen. »Was verstehst du an dem Wort nicht? Wenn der was sagt, ist das Gesetz! Niemand wird dir Ärger machen. Jetzt komm schon!«

Hastig folgte das Lämmchen ihr nun durch das Lager. »Wo gehen wir hin?«, fragte sie, weiterhin mit piepsiger Stimme.

»Na, die Ware vom Zwischenmeister in Empfang nehmen. Du sollst mir helfen. Was denkst du denn, was ich von dir will? Dich fressen?«

»Ich dachte, ich hätte irgendwas … und ich war noch nie beim Senior, also, ich habe …«

Nun musste Thea tatsächlich lachen. Sie winkte ab und lief weiter.

»Sage mal, was ist das, ein Zwischenmeister?«

»Wir geben Aufträge an ihn, Kleidung nach unseren Entwürfen zu nähen. Er bekommt Schnitte und Stoffe, verteilt sie an Näherinnen, die für ihn arbeiten, und am Ende bringt er uns die fertige Ware zurück.«

»Ach, ihr lasst Sachen außer Haus fertigen? Ich dachte immer, Lichtenstein würde die Kleidung komplett selbst nähen?«

Oh, die Neue hatte Ahnung. Thea musterte sie genauer. Anscheinend war sie weniger Lämmchen als vermutet. Tatsächlich sah sie nett aus. Und aufgeweckt. »Ja, neuerdings. Aber das ist nur ein kleiner Teil, alles andere machen wir«, sie tippte sich energisch an die Brust, »mit Geduld und Spucke. Und natürlich viel Können.«

Die Neue grinste.

»Jacob Lichtenstein wollte das gern einmal versuchen mit der Näherei außer Haus. Ich finde, es läuft gut.«

Sie erreichten die Laderampe, und Thea begrüßte freudig den alten Kiesewetter. Zu gern hätte sie ihn wieder am Spitzbart gezupft, wie sie es letzthin auf dem Jahrmarkt gemacht hatte, als eine Gruppe von Lichtensteinern sich dort amüsiert hatte. Aus der Nähe bemerkte Thea, wie sehr die Uniform des Lageristen inzwischen über dem Bauch spannte. Die goldfarbenen Knöpfe waren stumpf, zwei hingen liederlich am Faden und drohten sich zu lösen. Doch der Schriftzug »Lichtenstein« auf dem Band seiner Schirmmütze glänzte, als würde er ihn täglich reinigen.

»Ja, wie jetzt? Heute Morgen sind die Fräulein zuständig?«, erklang die Stimme des Zwischenmeisters.

Thea sah zum Meuser rüber. Georg Meuser. Ein Kraftpaket von einem Mann, der aber, das wusste sie, gegen die Strenge der Frauen nicht ankam. Dafür war er zu gutmütig. »Du weißt genau, dass ich ausgebildete Schneiderin bin«, tadelte sie ihn. »Und wenn wir dir nicht gut genug sind, dann kommst du eben später wieder.«

Das Lämmchen schwieg, machte aber große Augen.

Ja, sollte sie es ruhig wissen: Hinter den Kulissen wehte ein anderer Wind als in ihrem Verkaufspalast.

Meuser sprang vom Bock und tippte mit dem Zeigefinger zum Gruß an seine Mütze. »Ist ja gut, Gnädigste.«

»Schon besser.«

»Da kannst du mal sehen, was wir hier jeden Tag erdulden müssen«, sagte Kiesewetter zum Zwischenmeister, ohne eine Miene zu verziehen. »Und das ist nur eine von vielen.« Er zückte den Stift und schüttelte den Kopf. »Lass uns anfangen. Bestimmt ist dem Herrn Konfektionär heute Morgen etwas dazwischengekommen.«

Während die Männer sich daranmachten, den Wareneingang aufzulisten, beugte sich die Neue vor. Ihre Blässe war verschwunden. »Ist er das auf der Droschke? Der Zwischenmeister?«, flüsterte sie.

»Ja. Seit wann bist du eigentlich hier?«

»Heute ist Tag elf. Ich bin bei den Krawatten.«

»Na denn, ich bin Thea.«

»Hedi. Und wobei kann ich dir jetzt helfen?«

»Unser Konfektionär, er ist … ach, das ist kompliziert. Er ist nicht da, und Georg«, Thea wies auf den Zwischenmeister, »also der feine Herr Meuser kann seine Ware nicht übergeben. Und da wir noch nicht lange mit ihm zusammenarbeiten, ist die direkte Abnahme immer wichtig. Der will seinen Warenabnahme-Stempel, erst wenn er den hat, ist alles erledigt. Aber das war in den letzten Tagen schwierig, das wirst du schon noch mitbekommen.«

Inzwischen schienen die beiden Männer alles notiert zu haben. Meuser wandte sich um, schob seine Mütze in den Nacken und kratzte sich kurz am Kopf. »Dann laden wir aus, und ich komme später noch einmal wieder. Und wenn«, er zeigte auf die Packjungs, »auch nur ein Fädchen gezogen wird oder ein winziges Knöpfchen abreißt, ziehe ich euch die Öhrchen lang.«

Die Neue lauschte neugierig. Peter Bernhard, der in der Krawattenabteilung das Sagen hatte, ließ sie bisher nur im Hintergrund stehen, vermutete Thea. Vielleicht durfte sie bei der Bedienung der Kundinnen und Kunden zusehen, im besten Falle Halsbinden falten und Krawatten einrollen. Besen und Staubwedel, die hatte er ihr garantiert anvertraut. So war es im Lichtenstein: Nur wer die ersten Wochen ohne Klagen überstand, wurde auf die Kundschaft losgelassen.

Aber nun stand die Neue vor einer Warenlieferung des Zwischenmeisters, die ein Vermögen wert sein musste, wenn Thea die Stoffe, die mit Schutzpapier und Tüchern verhüllt waren und dennoch überall hervorblitzten, richtig beurteilte. Selbst ihr Puls hatte sich beschleunigt. »Los, nicht trödeln«, sagte sie, knüllte Rock samt Schürze zusammen, flitzte los und bog in das am Ende des Warenlagers liegende Treppenhaus ein. »Warst du schon mal oben?«

»Nein, also zumindest nicht im Atelier«, sagte Hedi nur und wich einem hageren Packjungen aus, der sich an ihr vorbeidrängte.

»Mensch, pass doch auf«, fuhr Thea ihn an. »Sonst brauchst du morgen gar nicht wiederkommen. Ich sag’s Georg, ja, du hörst richtig – dem Meuser, und dann bist du weg hier.« Sie sah ihm streng nach, um sich dann wieder Hedi zuzuwenden. »Das sind Gelegenheitsarbeiter, sie wechseln häufig und verdienen sich ein paar Groschen hinzu. Viele haben sich ihre Meister ausgesucht und wissen genau, wer wann liefert. Dann lungern sie wie die Hunderudel jeden Morgen im Hof rum. Du glaubst kaum, was es für Keilereien gibt, wenn irgendeiner versucht, dem anderen den Meister abspenstig zu machen.« Sie senkte die Stimme. »Um ehrlich zu sein: Die meisten der Jungs sind echt entzückend, und wir brauchen jede helfende Hand. Wir können froh sein, wenn die nicht nur in den Höfen von N. Israel, Tietz und Wertheim Arbeit suchen, aber das müssen die Kerle ja nicht wissen.« Sie grinste. »Denn momentan bekommen wir viele Waren. Dauernd. Vorhin hab ich einen Wagen gesehen, der Spitze aus Plauen bringt, manchmal kommen sie sogar aus dem Schwarzwald mit den Weißwaren hier bei uns an.«

Sie erreichten den Treppenabsatz, und vor ihnen öffnete sich der Flur mit halb hohen dunklen Holzvertäfelungen, die von hellen Linkrusta-Bordüren mit lieblichen Rankenmustern abgeschlossen wurden. Es war schön im Lichtenstein, selbst hinter den Kulissen. Thea wies auf mehrere Türen, die linker Hand lagen. »Da ist das Privatkontor samt Vorzimmer. Dort sitzen der Senior und Jacob Lichtenstein und vor allem die Müllersche. Daneben ist der Offertenraum, auf der anderen Seite des Flurs liegen das Atelier, das Bureau von Ludwig Lichtenstein und die heiligen Hallen, in denen wir die Stoffe lagern. Eins höher haben es sich Senior Lichtenstein und seine Frau hübsch gemacht. Sie ist sehr freundlich, hält sich aber aus den Geschäften heraus. Auch Jacob lebt hier, der Ludwig wiederum hat eine eigene Wohnung. Irgendwo in Wilmersdorf. Es sollen so acht bis zwölf Zimmer sein, mit warmem und kaltem Wasser, elektrischem Licht und Vakuumreiniger. Bei dem braucht das Dienstmädchen keine Glühstrümpfe mehr zerschlagen, da ist es vornehmer. Vornehmer als bei seinen Eltern. Behaupten jedenfalls einige.«

Thea betrat das Nähatelier und hatte das Gefühl, durch Hedis Anwesenheit ihren Arbeitsplatz noch einmal neu zu erleben. Die Fenster ließen viel Licht in den großen Raum, in dem sich hölzerne Tische aneinanderreihten, aus denen sich Nähmaschinen wie schwarze Ranken, verziert mit goldenen Lettern, erhoben. Im hinteren Bereich standen die Zuschneidetische. Auf dem aus großflächigen Brettern gezimmerten Regal, das neben der Tür begann und sich, bis unter die Decke reichend, über die gesamte Längswand zog, lagerten Dutzende Stoffballen. Herrlichste Farbtöne – von Weiß, Creme über helle Pastellvarianten der Sommerstoffe bis hin zu kräftigen Rot-, Blau- und Grüntönen, die zu jeder Jahreszeit genutzt wurden – lagen neben den gedeckten Farben wie Grau, Braun und Schwarz, die im Herbst und Winter an Bedeutung gewannen. Mehrere Leinenstoffe, Baumwolle, in festeren Varianten, aber auch als leichter Schirting, Wolle, vornehmlich Kaschmir, Mull, den sie häufig für Kragen nutzten, mehrere Seidenarten, Serge de Nîmes und Krepp, Taft, Chiffon, Velours und Flanell waren hier zu finden.

Thea folgte Hedis Blick und sah deren Begeisterung. »Das sind noch längst nicht alle Stoffe, diese brauchen wir nur häufiger. Meine Aufgabe ist es, morgens Meusers Waren auszupacken und eine erste Sichtkontrolle vorzunehmen.« Sie zeigte auf eine schier endlose Wandleiste mit Haken auf der Kopfseite des Raumes. »Dann hänge ich sie dort auf, damit der Chef sie noch einmal prüft. Fehlerhafte Stücke soll ich gleich vorne sammeln. Das ist jedoch noch nie vorgekommen.« Sie hielt inne. »Allerdings weiß ich nicht, wer heute die neuen Kollektionsteile durchgeht. Das muss vermutlich Ludwig Lichtenstein machen. Der Junior ist sozusagen der Chef unseres Chefs, also eine Art Oberkonfektionär, und natürlich dürfen wir uns nicht erwischen lassen, wenn wir die Herren beim Vornamen nennen. Also, von mir hast du das nicht, ja?«

Das Lämmchen wirkt ein wenig erschlagen, dachte Thea und sah zu, wie sie schweigend die Stoffhüllen von den Bügeln nahm und tat, wie ihr befohlen. Thea musterte sie genauer. Aus den ordentlich aufgesteckten Haaren waren an den Seiten gekonnt einige Locken herausgezupft. Unwillkürlich fuhr sie über ihren Kopf. Die Finger verrieten, wie schief der Scheitel saß, was erahnen ließ, dass die Zöpfe wieder einmal verschieden dick geflochten waren.

Für einen Augenblick sah sie die Küche. Die Nähmaschine, die an den Küchentisch stieß, daneben das Nachtlager. Auf dem Boden spielend ihre Schwester, das Lenchen, und Gerd, der Bruder, der mit diabolischem Blick darauf wartete, die Schwester zu kneifen, sobald niemand hinsah. Im Hintergrund, vor dem Fenster, hockte Agnes, die Mutter. Sowie es dämmerte und ein Hauch Licht einfiel, beugte sie sich schon über die Maschine und nähte, bis es dunkelte. Rudolf, der Vater, war längst unterwegs. Ob er Arbeit ergattern würde, wer wusste es schon? Eng war es geworden, seitdem sie die Stube untervermieten und in der Küche hausen mussten. Wenigstens waren die Untermieterinnen, zwei bei Borsig arbeitende Schwestern aus Königs Wusterhausen, selten zugegen.

Wie sollte sich ein Mensch da hübsch zurechtmachen? Zwischen Gören, die gemaßregelt, angezogen und auf die Toilette im Hof gejagt werden mussten? Zwischen Broten, die geschmiert und in kleine Münder gestopft gehörten? Wasser von der Pumpe holen, Bier aus dem Keller hochschleppen, Katzenwäsche, loshetzen.

»Wo ist denn euer Konfektionär? Auf einer Reise nach Paris?«

Die Frage holte Thea aus dem Wedding zurück, worüber sie dankbar war. »Ach, der reist lieber regelmäßig in die Gosse. Zu viele Weiber, zu viel Bier und Breslauer Korn, na, du weißt schon. Das Übliche eben. Heute soll ein Neuer kommen. Mal schauen. Letzthin waren mehrere Herren hier, die wurden rumgeführt. Einer gelackter als der andere, aber einer von denen war ein Leckerbissen. Noch ganz jung, so wie wir. Ich sage dir, wenn der hier anfängt, dann wird das ein Schauspiel unter den Damen im Haus.«

Beide kicherten sie und tauschten einen Blick aus, um einander zu versichern, wie wenig sie von schmachtenden Albernheiten und flötenden Stimmen hielten.

Die Neue zog ein weiteres angegrautes Leintuch von einem der Bügel. Ein dunkelgrünes, fast samtartig wirkendes Wollkleid, bestehend aus geknöpfter Jacke und Rock. »Du bist Näherin?«, fragte sie, während sie ihre Finger über den Stoff laufen ließ.

»Ja, also schon Schneiderin, aber ich mach auch noch so dies und das. Jeder packt an, wo er kann. Es ist wirklich wie in einer Familie, wenn es darauf ankommt …« Thea verstummte kurz, um dann zu fragen: »Was machst du da eigentlich?«

Erschrocken zuckte Hedi zusammen. »Ähm, ich weiß nicht, ich wollte die Kleider nur hübsch aussehen lassen.«

Zu den dunkelgrünen Wollkleidern hatte sie beigefarbene Blusen sortiert, zwei Töne, die hervorragend zueinanderpassten. Daneben hing ein Kostüm aus weichem Cheviot in zartem Lindgrün. Auch diese Farbe harmonierte hervorragend zu den mittig platzierten Blusen. Zwei Seidenkleider aus weinrotem Stoff, von denen Thea soeben selbst welche ausgepackt und übereinandergehängt hatte, waren durch einen frei gebliebenen Haken von den Grüntönen getrennt. Neben dem satten Rot hatte das Lämmchen einen schwarzen Straßenmantel aus wollenem Tuch platziert.

Thea trat einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen und nickte schließlich. »Ja, das ist gut, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Mensch, was machst du im Verkauf? Du solltest zu uns in die Abteilung kommen. Bei uns herrscht gerade Land unter.«

Die Haltung der Neuen änderte sich, wurde wieder weicher. Für einen Moment richtete sich ihr Blick nach innen. Thea ahnte, welche Bilder ihr durch den Kopf gingen: Sie stand vor dem Zuschneidetisch. Ein Maßband lag um ihren Hals, und Ludwig Lichtenstein, den sie vermutlich noch nicht kannte, stand neben ihr. Er hielt eine Skizze in die Luft, natürlich die eines Traumkleides. Während er Details im Schnitt erklärte, wies er auf einen besonders feinen Seidentüll im Stoffregal. Das Surren der Nähmaschinen lag, einer beschwingten Musik gleich, über allem.

Thea kicherte. Ja, so in etwa hatten ihre Ideen ausgesehen, als sie im Atelier begann. Gefolgt waren wochenlanges Fegen und allen über die Schulter schauen, dann hatte sie endlich nähen dürfen. Ludwig. Sein Anblick hatte die Zeit versüßt. Er war schneidig. Ein Prachtkerl, groß und schlank. Das weizenblonde Haar trug er pomadisiert, streng aus dem Gesicht gestrichen. Doch immer wieder weigerte sich eine der Strähnen, sich den Tag über dort zu halten, wo der Junior sie haben wollte, und fiel ihm in die Wange oder tanzte über die Stirn. Wie oft und wie lange hatte sie dieses Spiel zwischen ihm und seinen Strähnen über die Nähmaschine hinweg schon beobachtet?

Zwei weitere Packjungen, eher gestandene Männer, betraten das Atelier und beendeten den Tagtraum. Erschrocken warf Thea einen Blick zur Uhr und schalt sich, heute besonders zerstreut zu sein. Sie wandte sich wieder Hedi zu. »Willst du im Verkauf bleiben? Wenn du das so gut machst wie das da«, sie wies auf die geschmackvoll zusammengestellte Präsentation, »dann sage ich dir großen Erfolg im Haus voraus. Aber vergiss nicht: Mit ein wenig Glück gibt es einen der interessantesten Männer des Hauses bald bei uns.«

Wieder lachten sie miteinander. »Also, die Männer lassen wir mal außen vor. Ansonsten weiß ich nicht so genau, was ich will«, erwiderte Hedi. »Bisher falte ich Einstecktücher und fege.«

Thea fühlte sich wie auf der Kegelbahn: Treffer, versenkt! Es ließ sich nicht leugnen: Das Haus kannte sie inzwischen wie ihre Westentasche.

»Ich dachte, ich schaue mich erst einmal um. Es ist schön im Atelier, schöner als ich dachte, aber das habe ich nicht zu entscheiden.«

»Soll ich mich mal erkundigen?«

Die Neue hob die fein geschwungenen Augenbrauen. Ihrem Blick war die Frage anzusehen: Ob dieses Mädchen mit dem grauen Knitterkittel sich da nicht überschätzte?

»Kannst ja mal drüber nachdenken. Aber ich habe eine Idee: Ich packe aus, und du hängst auf. Mach weiter so, und nimm dir auch mal die Sachen dazu, die ich schon auf den Tisch gelegt habe. Ich bin gespannt, ob es dem Junior auffällt.«

Die Neue wirkte mit einem Mal wieder nervös und zitterig wie zuvor. Anscheinend war sie in ihrem Herzen doch ein Lämmchen.

Ella

Wie du weißt, Ella, mussten wir das Ibsen-Stück leider umbesetzen«, sagte der Regisseur aus dem Dunkel des Zuschauerraumes heraus. »Die Bessonier ist ausgefallen, und wir haben dir die Rolle der Frau Inger anvertraut. Du spielst eine weit ältere Frau, vieles kann die Schminke richten, aber du bist dir bewusst, welche Verantwortung du damit übernimmst.«

Ella nickte und schwieg. Sie wusste – wie jeder an diesem Theater –, dass eine Lüge im Raum stand oder zumindest eine mit Gewalt zurechtgebogene Wahrheit.

Lucien Lefebre, der große Meister selbst, war der Grund für den theaterreif inszenierten Abgang, der sogar die Tageszeitungen füllte.

Denn Berta Bessonier war nicht ausgefallen. Sie hatte sich mit dem sensationssüchtigen Fettsack, der im Parkett in einer der Stuhlreihen saß und daran arbeitete, Klischees über Regisseure zu festigen, gestritten. Am Schluss hatten sie nur noch über Bande gesprochen. Die Bande war der Assistent des Meisters gewesen.

»Es ist grauenvoll, wie sie das Haar in den Nacken wirft, wenn die Szene beginnt. Sage ihr das bitte.« Einer dieser Sätze, die den ganzen Tag durch den Raum gehallt waren, auch dieser so lautstark vorgetragen, dass Berta ihn sehr wohl hatte vernehmen müssen.

Der Assistent hatte sich stets geräuspert, bevor er zum Sprechen ansetzte: »Berta, können wir es anders machen?«

»Warum, was stimmt daran nicht?« Die Frage war ebenfalls überlaut gestellt worden. Trotzdem hatte der Assistent für den Regisseur wiederholt: »Sie möchte wissen, was daran stört.«

Ella hatte Berta bewundert. Sie hatte nicht geschwiegen, sondern gegengehalten. Sie hatte mit zitterndem Leib auf der Bühne gestanden, war in Tränen ausgebrochen und hatte trotzdem die Haltung nie verloren. Und so war die Entscheidung, das Handtuch zu werfen, folgerichtig und konsequent, auch wenn der Zeitpunkt ein Affront gegen Lefebre war. Wenigstens einer, der die Wunden der Schauspielerin heilen würde.

Und ihr, Ella Winkler, die Chance gab, in die erste Reihe vorzutreten. Zumindest wenn sie diesen Augenblick nicht verpatzte.

Konzentrier dich, ermahnte Ella sich.

Wo waren sie stehen geblieben?

Hatte Lefebre schon eine Aufgabe gestellt?

Musste sie etwas tun oder erwidern?

Doch um sie herum war nur Stille, als wäre sie allein im Theatersaal.