Das Lied der Liebe - Chris Fabry - E-Book

Das Lied der Liebe E-Book

Chris Fabry

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Beschreibung

Sein musikalisches Talent hat Jed King von seinem berühmten Vater geerbt. Doch wie so viele Musiker muss er klein anfangen und sich mit Auftritten in Bars und bei Familienfeiern durchschlagen. Beim Erntefest auf einem Weingut begegnet er Rose, der Tochter des Eigentümers, und es ist Liebe auf den ersten Blick. Kurz nach der Hochzeit schreibt Jed für Rose das Liebeslied "The Song", das sich prompt zum Hit entwickelt und ihm den musikalischen Durchbruch bringt. Doch das Leben eines Stars birgt jede Menge Versuchungen und schon bald drohen Jeds Ehe und sein ganzes Leben daran zu zerbrechen ...

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Über den Autor

Chris Fabry hat bereits rund 60 Bücher veröffentlicht, von denen viele mit Preisen ausgezeichnet wurden. Unter anderem wurde er in Deutschland mit „Junikäfer, flieg“ und „Mehr als mein Herz“ bekannt. Chris Fabry ist Vater von neun Kindern und lebt mit seiner Familie in Arizona.

Richard L. Ramsey hat das Drehbuch zum Film „The Song“ verfasst, auf dem dieses Buch basiert.

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Die amerikanische Originalausgabeerschien im Verlag Tyndale House Publishers, Inc.,unter dem Titel „The Song“.© 2014 by City on a Hill Studio, LLC;© der deutschen Ausgabe 2016 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar1. Auflage 2016ISBN 978-3-96122-048-9V001Umschlaggestaltung: Yannick SchneiderUmschlagbild: City on a Hill Studio, LLC/Beth SparkmanSatz: DTP Verlagsservice Apel, Wietzegerth.de

Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist.

Prediger 3,1

Vorwort

Als Pastor habe ich Gelegenheit zum Austausch mit Menschen in den unterschiedlichsten Stadien von Liebesbeziehungen. Leider ist es so, dass ich solchen Menschen viel zu oft dann begegne, wenn sie durcheinander und verletzt sind. Solche Missstimmungen sind nicht selten die Folge der Flut von falschen Botschaften, die in dieser heutigen Zeit in Bezug auf Freundschaften, Sex und Ehe ausgesendet und empfangen werden. Aber was ist denn nun eigentlich wahr? Was hat Gott dazu zu sagen? Immerhin ist er der Schöpfer – der Architekt – der romantischen Liebe.

Vor einigen Jahren habe ich mich intensiv mit dem biblischen Buch Hohelied (auch Lied Salomos genannt) beschäftigt, und dabei habe ich festgestellt, wie wichtig dieses Buch in der heutigen Zeit schnelllebiger Beziehungen ist. Das Hohelied ist in Form eines Gedichts geschrieben und das macht es besonders ansprechend. Doch uns Menschen von heute fällt es häufig schwer, die Aussage dieses biblischen Buches zu verstehen und eine Verbindung mit unseren aktuellen Problemen herzustellen. Und das gilt auch für Pastoren. Viele von ihnen meiden es, weil ihnen die vielen intimen Details der Liebesgeschichte unangenehm sind und es ihnen schwerfällt, darüber zu reden.

Das ist einer der Gründe, weshalb es sich unser Team zur Aufgabe gemacht hat, den Inhalt des Hohelieds in Form von dem Film The Song und diesem vorliegenden Buch in unsere moderne Zeit zu übertragen. Wir wollten Salomos Erkenntnisse einer breiten Leserschaft zugänglich machen – auch den Menschen, die die Bibel vielleicht noch nie gelesen haben.

In diesem Roman finden die Leser Hoffnung und ein Versprechen: „Gib nicht auf. Gib bitte nicht auf. Gott kann auch Scherben wieder zu etwas Wundervollem zusammensetzen. Und das kann er sehr gut.“

Ich bin sehr froh, dass bei diesem Projekt Chris Fabry mit von der Partie ist. Chris hat zutiefst verstanden, was The Song sagen will, und seine Schilderung von Jeds und Roses Geschichte macht sie noch authentischer und tiefer.

Beim Lesen dieses Buches werden Sie viel Zeit mit den beiden Hauptpersonen verbringen und sich sehr intensiv mit ihnen auseinandersetzen, so intensiv, wie das beim Schauen des Films auf der Leinwand gar nicht möglich ist. Und Sie werden in dem Roman auch einige Personen kennenlernen, die im Film gar nicht vorkommen. Es kann durchaus sein, dass Sie sich und Ihren Partner in der Geschichte wiedererkennen und auch Ihre eigenen Kämpfe und Siege.

Ich bin stolz, dass wir jetzt diesen Roman als Teil unseres Gesamtprojektes präsentieren können, und ich hoffe, dass diese Geschichte Sie anspricht und dass sie sowohl Ihren Glauben an Gottes Geschenk der Liebe stärkt als auch die Romantik in Ihrer Beziehung.

Kyle Idleman

Autor von Not a Fan und Pastor der Southeast Christian Church

Prolog

Seine Augen verdrehten sich nach hinten, und er hatte ein seltsam dumpfes Gefühl im Kopf, so als hätte jemand alles Gefühl aus seinem Körper gesaugt. Er umfasste sein Handgelenk und wollte diese Dinger abschütteln, und da war Blut, viel Blut, auch wenn er kaum Schmerzen verspürte. Er lehnte sich zurück und merkte, wie sein Lebenswille schwand.

Wenn das ein Lied wäre, dachte er, dann wäre es nicht wert, gesungen zu werden.

Sein Leben war ein Lied im Dreivierteltakt, das von einer Person gespielt wurde, die ihm zuvorgekommen war. Er schrieb neue Verse zur Melodie eines anderen. Der Refrain war vertraut, hatte ihn aber an einen Ort gebracht, den er lieber meiden wollte, und dieser Ort war hier. Da saß er nun mit verschleiertem Blick auf dem Boden und konnte sich nicht rühren.

Jemand schrie neben ihm. Ein Klagen drang in sein Bewusstsein. Was reimte sich auf Schrei? Hai? Blei? Bye-bye?

Es war Shelby. Ihr langes braunes Haar war zerzaust und ihr Gesicht ungeschminkt. Sie sah ganz anders aus als auf den Hochglanzfotos in den Zeitschriften, und im Augenblick war sie ziemlich hysterisch. So ungestylt strahlte sie etwas ganz anderes aus als die Selbstsicherheit, die ihm anfangs so an ihr gefallen hatte. Sie war jetzt völlig außer sich, aber er konnte nicht reagieren, konnte nichts tun, als sich ihr Schreien anzuhören.

„Nein, nein, nein!“, schrie sie, und ihre Stimme hallte von den Wänden des Badezimmers wider. Wo waren sie überhaupt? In einem Hotel? Seine Erinnerung war wie ausgelöscht.

Sein Leben lang war er auf der Suche gewesen nach dem richtigen Wort, der richtigen Textzeile, und so landete dann oft ein Satz aus einem Gespräch, eine Äußerung seines Sohnes, eine Schlagzeile oder die Frage eines Fans in einem Refrain. Und Worte, die die verbotene Sehnsucht nach ihr einfingen, nach der Frau, die nicht seine Frau war.

Jetzt fand er keine Worte. Es wollten ihm einfach keine einfallen, weil das Gefühl weg war. Sein Atem wurde flach, seine Lunge schmerzte und er hörte nur noch seinen eigenen Herzschlag. Es war, als ballte sich eine große Faust in seiner Brust zusammen. Sein Herzschlag wurde langsamer und gleichzeitig stärker, so als würde sich die Pumpe wie der Motor einer Maschine langsam festfressen. Und irgendwann würde sie dann ganz stehen bleiben.

„Was hast du getan?“, schrie Shelby.

Ja, was hatte er getan? Eine gute Frage. Was war mit all den Chancen, all den Entscheidungen, die er hätte treffen sollen? Was war mit dem Leben, das er eigentlich führen wollte, und der Liebe, die er versprochen hatte? Das musste er unbedingt aufschreiben. Die Liebe, die ich versprochen habe. Doch es gab keinen Grund mehr, noch irgendetwas aufzuschreiben. Es war vorbei. Es war aus mit ihm.

„Jed! Hör mir zu! Jed?! Du musst wach bleiben!“

Sicher, bleib wach, dachte er. Ganz einfach. Leicht. Für alle anderen, nur nicht für mich.

Shelby gab ihm eine Ohrfeige, doch er spürte den Schlag nicht. Er sah nur, wie ihre Hand auf sein Gesicht zukam und wieder zurückzuckte und wie Tränen flossen. „Jed? Sprich mit mir!“

Er wollte es. Wirklich. Aber manchmal kann man etwas einfach nicht, selbst wenn man es gern möchte. Manche Entscheidungen lassen sich nicht rückgängig machen. Worte, die einmal gesagt sind, lassen sich nicht wieder zurückholen. Reime hängen am Ende eines Satzes in der Luft. Die Kluft zwischen einem guten Text und einem kurzen Gedanken, der nur nicht zu Ende gebracht worden ist, ist manchmal so weit wie der Grand Canyon.

Shelby versuchte, die Blutung mit einem weißen Handtuch zum Stillstand zu bringen, aber es war aussichtslos. Jeds Hände verkrampften sich wie die Klauen eines Tieres im Todeskampf. In Gedanken sah er vor sich, wie sich die traurige Nachricht im Netz wie ein Lauffeuer verbreitete. „Jed ist tot! Was für eine Schande. Was für eine Vergeudung.“

Die Kameras der Nachrichtensender würden zeigen, wie sein zugedeckter Leichnam auf einer Bahre zum Krankenwagen gerollt wurde, dessen Blaulicht schon ausgeschaltet war, weil es zu spät war. Sein Leben war vorbei. Die Bilder würden in einer Endlosschleife über den Bildschirm flimmern, bis die Nachricht nicht mehr neu war und von anderen abgelöst würde.

Sinnlos. Sinnlos. Alles ist sinnlos. Ich habe alles gesehen unter der Sonne. Alles ist sinnlos.

„Jed! Jed! Sag doch was!“

Seine Augenlider flatterten wie ein Schmetterling, der sich aus dem Kokon kämpft, und etwas drängte aus seiner Seele nach oben. Ein Wort schlug Wurzeln, wuchs, bis es sich zu seinen aufgesprungenen Lippen hochgekämpft hatte und er es flüsternd aussprach.

„Rose.“

Shelby drehte die Dusche auf, und das Wasser rauschte mit voller Kraft auf ihn herunter. Die Wassertropfen prasselten auf seine Haut, wuschen sein Gesicht und pressten seine Haare an seinen Kopf, und es war ihm egal, ob er am Leben blieb oder starb oder ertrank oder mit dem Wasser fortgeschwemmt wurde. Es war ihm vollkommen egal.

Und dann war er an einem anderen Ort, an einem Ort, der in seiner Erinnerung so lebendig war wie sein Spiegelbild in dem verchromten Wasserhahn. Er stand im strömenden Regen. Dann ein Blitz, und Worte überspülten ihn.

Doch wie schlecht ist der dran, der allein ist und fällt, und keiner ist da, der ihm beim Aufstehen hilft.

Er hatte sein Leben damit verbracht, Menschen um sich zu scharen, die seine Musik mochten. Agenten und Fans und Anhänger, die ihn bewunderten. Doch jetzt war er ganz allein. Shelby hatte sich in ein anderes Zimmer zurückgezogen.

Es klopfte an der Tür, und es waren laute Stimmen auf dem Flur zu hören.

Zwei Männer kamen ins Bad und zogen ihn an den Armen aus der Dusche. Wieder dieses Geschrei. Zwei andere Männer in Uniform hielten Shelby fest und fragten sie, was passiert sei. Jed verlor das Bewusstsein und merkte erst wieder etwas, als er auf einer Bahre lag und zum Krankenwagen geschoben wurde. Doch das Blaulicht blinkte noch. Was hatte das zu bedeuten? Gab es doch noch Hoffnung?

Er blinzelte und merkte, dass er sich jetzt im Krankenwagen befand. Jemand beugte sich über ihn, machte sich an ihm zu schaffen und schaute ihm in die Augen, als flehte er ihn an durchzuhalten. Seltsam. So etwas Ähnliches bekamen vermutlich die Fans zu sehen, wenn er auf der Bühne stand. Sie blickten in das Gesicht eines Menschen, der seinem Handwerk nachging, der genau das tat, wozu er ausgebildet war. Doch jetzt war Jed derjenige, der aufblickte.

Er blinzelte und sah jetzt die Neonleuchten auf dem Krankenhausgang über sich. In Windeseile wurde die Bahre in die Notaufnahme geschoben. Personen in weißen Kitteln rannten herum, stachen ihm Nadeln in die Haut und schoben Schläuche in seinen Körper. Er wollte etwas sagen, wollte irgendwie zum Ausdruck bringen, wie leid es ihm tat, dass er ihnen das alles zumutete. Und in diesem Moment quälte ihn die Frage, ob er wohl jemals die Worte würde aussprechen können, die in seinem Inneren gefangen waren.

Und dann war es, als schlüge eine Woge über ihm zusammen. Die Realität traf ihn mit voller Wucht, genau wie damals, als er als Kind im Meer gestanden und eine Welle ihm den Boden unter den Füßen weggerissen und kopfüber in die Brandung gestürzt hatte. Außer Kontrolle.

Und dann Dunkelheit.

Die Nulllinie auf dem Herzmonitor.

Kein dunkler Tunnel, kein gleißendes Licht – nichts von alle dem. Keine Musik, nein, gar kein Geräusch. Keine Engel oder Dämonen, sondern nichts als Dunkelheit, aus der die Worte nach oben drängten, weiß auf schwarz. Sein Leben in Worten. Und alles war wahr.

… am besten sind die dran, die gar nicht erst geboren wurden. Sie mussten das Böse, das auf der Welt geschieht, auch nicht mit ansehen.

Jed Kings Leben rollte sich auf wie eine Schriftrolle, auf der seine guten und bösen Taten, seine Fehler und Triumphe, seine Gewinne und Verluste verzeichnet waren, und auch alles, was er gern im Verborgenen gehalten hätte. Dunkelheit und Licht. Das Lied, das er mit jedem Herzschlag gesungen hatte.

Teil 1

Kapitel 1

Als Jedidiah King kam er zur Welt und versuchte sein Leben lang, seinem Namen gerecht zu werden. Sein Vater war David King, ein Countrysänger, der durch die Lande zog und zumindest zu Beginn seiner Karriere vor allem für seine Alkoholexzesse und seinen ausschweifenden Lebensstil bekannt war. Die Musik war sein Leben, und Auftritte vor kleinem Publikum waren ihm genauso wichtig wie die Konzerte in den großen Arenen, die er während der letzten Jahre seiner Karriere füllte. Mit seiner Stimme und seinen Texten eroberte er die Herzen seiner Fans auf der ganzen Welt. Männer auf Traktoren im Mittleren Westen sangen seine Lieder mit, und Frauen in Vorstädten schmetterten den Song „Can’t Hold On“. David King war eine Arme Seele, doch er hatte gelernt, seine Nöte und Ängste in Melodien mit einer Botschaft zu verwandeln, die Wege ebneten und Verbindungen knüpften.

Außer seinem Namen gab David King seinem Sohn noch zwei weitere Dinge mit: die Liebe dazu, etwas mit seinen Händen zu gestalten, und den Wunsch, Lieder zu schreiben, die aus dem Herzen kamen. Genau wie sein Vater hatte Jed mit Hammer und Säge hantiert, lange bevor er sich an die Gitarre wagte, aber als er die sechs Saiten erst einmal für sich entdeckt hatte, konnte er nicht mehr davon lassen.

Seit er klein gewesen war, hatte Jed seinem Vater beim Gitarrespielen zugesehen, hatte genau beobachtet, wie er seine Finger auf die Saiten drückte und mit den Fingern der anderen Hand anschlug oder zupfte. Es war, als wäre das Instrument mit dem Mann verwachsen. Er konnte todmüde auf der Couch liegen und dösen, doch wenn ihm die Gitarre in der Ecke ins Auge fiel, stand er auf und nahm sie sich, und seine Augen leuchteten, wenn er an einer neuen Melodie arbeitete oder eine alte überarbeitete.

Für Jed war es immer etwas ganz Besonderes, wenn er bei einer Bandprobe seines Vaters dabei sein durfte, und dieser Prozess der Entstehung von Musik war es, der den Wunsch in ihm weckte, seinem Vater nachzueifern.

Der Inhaber eines Musikgeschäftes in ihrer Stadt, der nichts von Jeds musikalischer Herkunft wusste, hatte im Hinterzimmer seines Ladens eine kirschrote Guild Starfire hängen. Spielen konnte er da eigentlich noch gar nicht, aber er durfte das Instrument wenigstens in die Hand nehmen. Und der Mann erzählte Jed die Geschichte dieser Gitarre – von dem Holz und auch der Handwerkskunst, die sie zu einem einmaligen Instrument machten. Und dann nahm der Mann selbst die Gitarre zur Hand und begann zu spielen, und zwar so gut, dass Jed nur staunen konnte. Der Mann hielt sein Ohr an das Instrument und lauschte und spielte dann aus der Erinnerung ein Lied, dass es Jed den Atem raubte.

„Wie lernt man, so zu spielen?“

„Nimm Gitarrenstunden und lerne die Akkorde und Läufe“, sagte er und hielt die Gitarre hoch. „Aber letztlich ist es nicht das Instrument, das die Musik macht. Die Musik kommt von hier.“ Und dabei tippte er auf seine Brust. „Das kann kein Mensch auf der Welt dir beibringen. Entweder du hast es, oder du hast es nicht. Wenn du es nicht hast, ist es schade. Aber wenn du es hast und nicht nutzt, dann ist das richtig schlimm.“

Er zeigte Jed, wie er G, C und D greifen musste, schenkte ihm eine Grifftabelle und sagte ihm, er solle in einer Woche wiederkommen. Jed rannte nach Hause und schnappte sich die Gitarre seines Vaters, die er von einem ganz besonderen Menschen geschenkt bekommen hatte und auf der vorne eine Krone abgebildet war. Einige seiner größten Songs hatte David King mit ihrer Hilfe komponiert, und er behauptete, sie bringe ihm Glück.

Jed nahm das Instrument zur Hand, griff den D-Dur-Akkord – allerdings war es für ihn leichter, den Ringfinger auf die erste Saite zu legen und nicht den kleinen Finger – und schlug ihn an. Doch es klang noch nicht richtig. Er hatte die Saiten nicht fest genug heruntergedrückt. Dann griff er C-Dur und brauchte mehrere Sekunden, um die richtige Position für seine Finger auf den Saiten und dem Bund zu finden. Wie schafften es die Musiker nur, so schnell die Griffe zu wechseln?

Er wechselte zum D. Nur drei Finger, die auf vier Saiten gelegt werden, aber das war besonders schwierig. Er hatte beobachtet, wie die Gitarristen mit ihren Fingern bis ganz hoch zum Hals der Gitarre wanderten und ihre Finger in einem Barrégriff auf alle Saiten gleichzeitig drückten. Oder sie spielten den Hauptton ganz oben oder griffen zwei Saiten auf einmal. Aber wie machten sie das?

„Ich habe mich schon gefragt, ob du sie wohl jemals in die Hand nehmen würdest“, hörte er die Stimme seines Vaters hinter sich, begleitet vom Klacken der Absätze seiner Cowboystiefel auf dem Holzfußboden, als er durchs Zimmer kam. Jed schluckte und hielt ihm entschuldigend die Gitarre hin.

„Ich habe dich neulich beobachtet, als du mit bei der Probe warst. Möchtest du gern spielen lernen?“

Jed nickte.

„Woher weißt du denn, wie die Akkorde gegriffen werden?“, fragte sein Vater.

„Der Mann aus dem Musikgeschäft hat es mir gezeigt.“

Der Bart seines Vaters war ziemlich lang, und sein Haar fiel ihm lockig auf die Schultern. Er ließ sich auf dem Bett nieder. In Jeans und T-Shirt sah er völlig anders aus als auf der Bühne. Für Jed fühlte es sich gut an. So normal.

„Hat er dir gesagt, dass du für das G den Ringfinger nehmen sollst?“

„Nein, er hat mir erklärt, dass ich den kleinen Finger nehmen soll.“

„Guter Mann. Er hat recht.“

„Aber ich finde es einfacher, wenn ich den Ringfinger nehme.“

Sein Vater lächelte. „So habe ich das früher auch gemacht. Manchmal nehme ich den kleinen Finger dazu und spiele mit dem Ringfinger die zweite Saite hier. Versuch das mal.“

Doch es gelang Jed nicht, sodass sein Vater ihm die Gitarre aus der Hand nahm und ihm den Griff zeigte – nicht ungeduldig, sondern eifrig wie ein Autohändler, der einem Kunden den Motor eines Wagens zeigt.

„Kannst du mir noch mehr beibringen?“, fragte Jed.

„Natürlich.“

Als Jed am nächsten Morgen aufwachte, stand eine Guild-Gitarre am Fußende seines Bettes, und er war gerade dabei, sie auszuprobieren, als sein Vater zum Frühstück herunterkam. „Der Verkäufer im Musikgeschäft hat gesagt, dass dir diese Gitarre in seinem Laden so gefallen hat. Das Instrument braucht jedenfalls keinen Verstärker. Gefällt sie dir?“

„Sie ist toll!“, sagte Jed strahlend.

Sein Vater rieb sich den Schlaf aus den Augen, hustete und goss Milch über sein Müsli. „Lass dir Zeit. Ich schenke dir die Gitarre nicht, weil ich will, dass du in die Fußstapfen deines alten Herrn trittst, denn diese Füße waren an vielen Orten, von denen du dich besser fernhältst.“

„Zum Beispiel?“

„Darüber reden wir ein anderes Mal. Ich will damit nur sagen, dass ich nicht von dir erwarte, dass du die Musik zu deinem Beruf machst. Es sei denn, du willst es selbst. Verstehst du?“

„Ja.“

„Du wärst ziemlich gut, weißt du das? Du hast eine schöne Stimme. Ich habe dich singen gehört.“

„Oh … okay.“

Mehr war gar nicht nötig und Jed war Feuer und Flamme. Seltsam, wie ein paar wenige Worte bei einer Schale Müsli das Leben eines Jungen verändern konnten. Seltsam, was eine gut gestimmte Gitarre bewirken konnte.

Kapitel 2

Manche Dinge kann ein Mann nur von seinem Vater lernen. Dazu gehören Akkordfolgen und Liedaufbau oder auch, wie man einen Rasen in geraden Streifen mäht und wie man einen Reifen wechselt. Dabei ist es gar nicht so, dass einem das nicht auch von einer Mutter beigebracht werden könnte, aber ein Vater vermittelt mehr als nur den einfachen Vorgang.

Nachdem sein Vater erkannt hatte, wie ernst es Jed mit dem Gitarrespielen war und dass er auch Texte schreiben konnte, ließ er sich Jeds Songs vorspielen und hörte auch auf die Zwischentöne.

Jed erinnerte sich an einen Tag am Bootssteg. Er hatte neben seinem Vater auf dem Steg gesessen und eine Melodie auf dem Banjo gezupft. Sein Dad hatte dazu Gitarre gespielt und mit dem Fuß den Takt geklopft, sodass sich das Wasser kräuselte. Selbst die Fische schienen sich an der Musik von Vater und Teenagersohn zu erfreuen. Ein großer Breitmaulbarsch war in der Nähe aufgetaucht und hatte nach einer Fliege geschnappt, die über der Wasseroberfläche tanzte.

Sein Vater hatte gehustet und sich die Hand vor den Mund gehalten, und als er sie wieder wegnahm, war Blut daran gewesen. Er hatte es an seinem Hemd abgewischt und offenbar gedacht, Jed hätte es nicht bemerkt, aber manche Dinge kann man nicht verbergen. Manches lässt sich nicht einfach wegwischen.

Die Diagnose war eindeutig, obwohl es Jed viel Drängen und seine Mutter unglaubliche Anstrengung gekostet hatte, seinen Dad dazu zu bewegen, zum Arzt zu gehen. Und dann hatte der langsame Verfall begonnen.

„Ich dachte immer, ich würde bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen“, sagte sein Vater eines Abends, als er an Schläuche und Monitore angeschlossen in einem Krankenhausbett lag. „Wenn man so stirbt, vergessen einen die Leute nie.“

„Ich werde dich ganz bestimmt nie vergessen“, beteuerte Jed.

Sein Vater lächelte nur kraftlos und sagte: „Es gibt vieles in meinem Leben, das du hoffentlich vergessen wirst, mein Junge.“

Nach einem weiteren Hustenanfall – Jed war froh, dass seine Mutter ihn nicht mitbekam – wischte sich sein Vater über den Mund und beugte sich vor. Er trug immer noch sein Stirnband, obwohl sein Haar inzwischen kurz geschnitten und der Bart abrasiert worden war.

„Ich war so stolz auf dich, als du das Rauchen aufgegeben hast“, sagte Jed.

„Ich wünschte, ich hätte erst gar nicht damit angefangen. Aber das, wovon du als Kind glaubst, dass es dir schon nicht schaden wird, holt dich irgendwann doch ein. Am besten lässt man also von vornherein die Finger davon.“

Jed wartete darauf, dass sein Vater noch mehr sagen würde, aber es kam nur noch Husten und Schweigen. Der Fernseher lief, ein Sender, in dem nur Countrymusik gespielt wurde. Sein Vater griff mit zitternder Hand nach der Fernbedienung und schaltete den Ton aus. Es war, als würde er von einer zentnerschweren Last niedergedrückt.

Seine Hand sank auf die Bettdecke, er machte einen weiteren flachen Atemzug und sagte: „Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht, Jed, aber ich habe meinen Frieden mit Gott gemacht. Ich gehe nach Hause.“

„Gib nicht auf, Dad.“

„Ich gebe nicht auf; ich bin nur bereit. Wenn Gott noch ein Wunder tun will, habe ich nichts dagegen. Aber wenn er will, dass ich nach Hause komme, dann ist es auch gut.“

Jed starrte auf die stummen Fernsehbilder.

„Stell dir einfach vor, ich wäre auf einer langen Konzerttournee, nur dass es ein Dauer-Engagement ist.“

„Wie in Las Vegas“, sagte Jed.

Sein Dad lachte, doch es mündete in einen Hustenanfall, und Jed wünschte, er hätte nicht versucht, einen Witz zu machen. Als sein Dad wieder ein wenig zu Atem gekommen war, soweit das überhaupt noch möglich war, griff er nach Jeds Hand. Seine Hände waren schwielig von der harten Arbeit, die er so liebte, dem Tischlern und dem Gitarrespielen.

„Im Himmel wird es viel schöner sein als in Vegas, mein Junge“, sagte er.

Jed nickte und sein Kinn bebte. Vielleicht konnte er einen Song über den Vergleich zwischen dem Himmel und Vegas schreiben.

„Ich möchte dich dort eines Tages wiedersehen“, sagte sein Vater. „Versprichst du mir, dass wir uns dort wiedersehen?“

Jed nickte erneut, ohne einen Laut von sich zu geben.

„Hör auf Gott, Jed, tu, was er sagt, dann wird alles gut, und aus dir wird ein Mann, wie ich es nie sein konnte.“

Jeds Vater hatte sich gewünscht, dass der vollständige Psalm 23 auf seinem Grabstein stehen sollte. „Damit die Menschen etwas zu lesen haben, das Bestand hat“, hatte er gesagt. Jeds Mutter beugte sich vor und strich mit der Hand über die eingravierte Krone neben den Daten: 17. Dezember 1942 – 10. August 2003.

„Er hätte sich sehr gefreut über das, was du heute gesagt hast“, sagte sie mit zittriger Stimme zu Jed. „Er wäre stolz auf dich gewesen.“

„Ich wünschte nur, ich hätte daraus ein Lied machen und für ihn singen können. Er hätte mir geholfen …“ Seine Stimme erstarb, und seine Mutter stand schwankend auf, nahm ihn in die Arme und weinte. Er drückte sie an sich, bis sie sich schließlich von ihm löste, ihn ansah und sagte:

„Er wollte dir noch so vieles sagen, aber er fand einfach nicht die richtigen Worte.“

„Die hat er alle für seine Musik verbraucht, nicht?“

Sie lächelte unter Tränen und sagte: „Es gibt auch Männer, die nie etwas sagen.“

„Was ist eigentlich zwischen euch beiden passiert, Mom? Ich würde gern mal deine Version der Geschichte hören. Vielleicht ist das jetzt gerade nicht der richtige Zeitpunkt oder der richtige Ort, aber …“

„Ach, der Ort ist genau richtig. Auf Friedhöfen kommt die Wahrheit ans Licht, und er hätte sicher gewollt, dass ich dir alles erzähle, egal wo.“

Und dann erfuhr er die traurige Geschichte. Dabei liefen seiner Mutter die ganze Zeit Tränen übers Gesicht.

„Du hast ja die alten Videos gesehen“, begann sie. „Früher habe ich mit deinem Vater zusammen auf der Bühne gestanden. Mein Mann Bill spielte damals Mandoline in der Band, und ich bin nie wieder jemandem begegnet, der dieses Instrument so gut spielen konnte wie er.“

„Bill ist gestorben, oder? Ich bin im Netz auf alte Berichte darüber gestoßen. War es nicht sogar Selbstmord?“

„Die Familie hat das verschwiegen, aber irgendwann kam es heraus. Ich habe ihn damals gefunden.“

„Lass uns nicht jetzt darüber reden, Mom.“

„Doch. Hör mir bitte zu. Es fällt mir wirklich schwer, über all das zu reden, aber ich möchte, dass du Bescheid weißt und dass du es von mir erfährst.“

„Ich habe das Gerede, das Geflüster und Kopfschütteln bei den Familienfeiern doch mitbekommen.“

„Ja, und dein Vater hat diese Feiern wirklich gehasst. Es war so: Dein Vater und ich hatten eine Affäre. Wir haben Ehebruch begangen, und das war natürlich schrecklich. Als ich schwanger wurde, wollte ich das Baby nicht Bill unterschieben, denn ich wusste genau, dass es nicht von ihm war. Also brachte mich dein Vater in eine … eine Klinik. Das gehört zu den Dingen in meinem Leben, die ich am allermeisten bereue. Und auch er hat das zutiefst bereut.“

Jed starrte auf den Grabstein und versuchte zu begreifen, was er da gerade erfahren hatte.

„Aber Bill fand es heraus“, fuhr seine Mutter fort. „Ich glaube, er hat gewusst, was los war, aber er wollte es nicht wahr haben, und er war so verletzt und so zornig über das, was wir getan hatten, dass er sich das Leben nahm. Ich habe ihn damals erhängt in unserem Haus gefunden. Er hat einen Brief für mich hinterlassen, in dem stand, dass er hoffe, ich sei froh über die Entscheidung, die ich getroffen habe.“

„Das tut mir leid, Mom“, sagte Jed, wartete einen Moment, bis sie sich die Tränen abgewischt hatte, und fragte dann: „Und daran ist auch Dads Familie zerbrochen?“

Sie nickte. „Seine Frau hat ihn mit den Kindern verlassen. Ich habe nie einen so verzweifelten Mann erlebt und dachte wirklich, er würde sich zu Tode trinken. Aber dann hat er sich wieder gefangen.“

„Du hast ihm darüber hinweggeholfen.“

„Wir haben uns gegenseitig geholfen. Er hat versucht, mit seiner Frau wieder ins Reine zu kommen, aber sie hat sich von ihm scheiden lassen und fast alle seine Ersparnisse bekommen. Ich mache ihr keine Vorwürfe deshalb, sondern eher mir. Ich habe gedacht, dass meine Entscheidungen nur mich selbst und David beträfen, und mir war gar nicht klar, dass sie auch Konsequenzen für alle anderen hatten. Ganz besonders für dich.“

„Für mich?“

„Als David und ich heirateten, waren wir zwar glücklich, aber natürlich nicht völlig unbeschwert. Mit dir begann dann ein neuer Lebensabschnitt. Der Tag deiner Geburt war der schönste Tag meines Lebens, und deinem Vater ging es auch so. Aber wir konnten das, was wir getan hatten, nicht einfach abschütteln. Es hat unsere Freude getrübt. Die Schuldgefühle waren immer da und hingen über uns wie eine dunkle Wolke.“

„Du warst aber auch ein wichtiger Grund dafür, dass er gesungen hat“, sagte Jed. „Der Grund, warum er weitergemacht hat.“

„Nein, der Grund, warum er weitergemacht hat, war Gott, der in sein Herz gekommen ist – und auch in meins. Ich habe mich so geschämt für das, was ich getan hatte. Dafür, dass wir uns so von unserer Leidenschaft haben beherrschen lassen. Wir haben dadurch so viele Menschen verletzt, damit mussten wir leben, aber dir wollte dein Vater geben, was seine erste Familie nicht von ihm bekommen hat.“

Sie nahm ein zerfleddertes Tagebuch aus ihrer Tasche und gab es Jed. „Hier steht alles drin. Er hat immer gesagt, dass ein Mann mit seinen Fehlern leben muss, aber er hat gehofft, wenigstens verhindern zu können, dass du die gleichen Fehler machst.“

Später am Abend schlug Jed dann das Tagebuch auf und las, was sein Vater in seiner krakeligen Handschrift aufgeschrieben hatte. Es war wie eine zarte Berührung. Worte, die Leben atmeten. Ein Leben, das der Geschichte, von der er gerade erfahren hatte, einen Sinn gab. David hatte auch große Teile des Buchs der Sprüche von Salomo abgeschrieben, in denen es um die zerstörerischen Folgen des Ehebruchs und vieles mehr ging.

Jed starrte auf die Schrift seines Vaters und dachte an sein eigenes Leben, als die Tür aufging und seine Mutter ins Zimmer kam.

„Er wollte, dass du die hier bekommst“, sagte sie und hielt ihm die Gitarre seines Vaters hin, auf deren Vorderseite die Krone eingraviert war, das Wahrzeichen seiner Karriere.

„Aber die möchtest du doch bestimmt gern behalten“, entgegnete Jed.

Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, sie gehört dir. Er wollte, dass du damit großartige Musik machst. Nichts würde ihm mehr gefallen.“

„Aber ich werde nie auch nur halb so gut sein wie er.“

„Du kannst sogar noch viel besser sein. Lerne aus seinen Fehlern. Lass dir sein Leben eine Lehre sein. Dann hast du alles, was du brauchst, um ein guter Mann und ein guter Musiker zu sein.“

Jed nahm die Gitarre, und es war, als würde ihn ein elektrischer Schlag treffen. Das war das Instrument, auf dem sein Vater unzählige Konzerte gespielt hatte, auf dem er die Melodien komponiert hatte, die jetzt die Menschen im Radio hörten. Auf wie vielen Playlists war diese Gitarre zu hören!

Als er das Instrument jetzt in der Hand hielt, wusste er, dass es mehr war als das Vermächtnis eines Musikers. Diese Gitarre war mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Er hielt einen Katalysator in der Hand, den Herzschlag seines Vaters, der nicht hatte in Worte fassen können, was er sich für seinen Sohn wünschte.

Seine Mutter verließ das Zimmer, und er hörte, wie sich ihre Schritte auf dem Holzfußboden im Flur entfernten. Er griff einen G-Akkord auf der Gitarre seines Vaters, stimmte die A-Saite bis hinunter zum G und spielte die letzten fünf Saiten mit dem kleinen Finger auf dem dritten Bund, genau wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. All der Schmerz tief im Innern, wie ein Damm, der bricht …

Es war nur ein flüchtiger Gedanke. Den ganzen Abend saß er mit der Gitarre seines Vaters in seinem Zimmer, spielte, schrieb, weinte und lachte. Trotz seiner Verzweiflung sprudelte seine innere Quelle, und Jed wusste jetzt, wie er sein Leben gestalten wollte.

Kapitel 3

So lange Rose Jordan denken konnte, hatte sie auf dem Land gelebt und im Weinberg gearbeitet. Der Geruch der reifenden Trauben, die prallvoll und saftig von den Weinstöcken hingen – ein Sinnbild für das Leben –, berauschte sie. Das war der Duft ihrer Kindheit, das, wovon sie jeden Morgen schon beim Aufwachen begrüßt wurde.

Die Wurzeln der Jordans ließen sich bis zu den ersten Siedlern zurückverfolgen, die in den Westen kamen und begeistert waren von dem guten Boden, den sie in Kentucky vorfanden. Das Land war dann von einer Generation an die nächste weitergegeben worden, bis im Jahr 1820 die Stadt Sharon gegründet worden war. Familienstreitigkeiten hatten dazu geführt, dass das Land in zwei Parzellen aufgeteilt wurde.

Das neue Jahrhundert brachte große Veränderungen mit sich, aber der Weinberg blieb, wie er war, und wenn Rose über die langen Reihen der Rebstöcke hinwegblickte, stellte sie sich gern vor, dass ihre Großmutter und deren Mutter und alle Vorfahren bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts dasselbe Bild gesehen hatten.

Die Kindheit auf dem Weingut hatte ihre Brüder fortgetrieben, im Gegensatz zu Rose. Sie war so fest mit ihrer Heimat verwurzelt, dass sie niemals hätte fortgehen können. Die Jungen hatten nur gesehen, wie viel Arbeit in der Weinerzeugung steckte, aber für Rose war diese Arbeit ihr Lebenselixier. Genau wie ihre Mutter arbeitete sie gern, und der Schlaf war nach einem langen Tag harter Arbeit umso süßer.

Ihr Vater, Shep Jordan, war ein bodenständiger Mann, der kein überflüssiges Wort von sich gab, eine Stütze der Gemeinschaft, einer der Eckpfeiler der Stadt. Wenn jemand ein Problem hatte, egal, ob es ein defekter Traktor war oder ein verletztes Pferd oder ein finanzieller Engpass, konnte er zu ihm kommen. Einige der Familien, die auf den angrenzenden Farmen lebten, hatten in Shep einen freundlichen Wohltäter, der manchmal sogar ein Stück Land verschenkte, wenn es ihm richtig schien.

Trotzdem war der Weinberg nicht unumstritten. Es gab Leute in der Stadt, die behaupteten, an den Händen der Jordans klebe nicht nur der Saft der Trauben, sondern auch das Blut zerstörter Leben.

„Mit eurem Wein habt ihr viel Leid über die Menschen gebracht“, hatte Eunice Edwards Shep eines Tages auf ihrer Veranda ins Gesicht gesagt. Dabei hatte sie ihm mit dem Finger der einen Hand vor der Nase herumgefuchtelt, die andere in die ausladende Hüfte gestemmt. Rose war fasziniert gewesen von dem Kleid mit dem Blumenmuster, das die Frau wie eine zweite Haut umspannte. Von der Wohnzimmercouch aus waren die Stimmen durch das Fliegengitterfenster zu ihr gedrungen.

Roses Blick war zum Wagen hinübergewandert, auf dessen Rücksitz Eddie gesessen und mit den Fingern auf dem Rahmen des geöffneten Fensters getrommelt hatte. Er war etwa in ihrem Alter und hatte immer einen Ausdruck, als wüsste er mehr, als es tatsächlich der Fall war.

„Da kann ich dir nicht zustimmen, Eunice“, hatte ihr Vater entgegnet. „Wein ist Gottes Geschenk an uns. Er ist ein Sinnbild für das Leben.“

„Aber es ist doch allgemein bekannt, dass der Alkohol Menschenleben zerstört, Shepherd. Ich verstehe nicht, warum du deinen Lebensunterhalt mit so etwas verdienst.“

„Alles Gute kann auch zum Bösen genutzt werden“, entgegnete er darauf. „Du kannst mit dem Auto da draußen mit deinem Sohn zur Kirche fahren, du kannst damit aber auch eine Bar ansteuern. Der Wagen ist nicht das Problem, sondern die Einstellung des Fahrers.“

„Ein Mensch muss schließlich von einem Ort zum anderen gelangen“, entgegnete sie. „Wein dagegen ist nicht lebensnotwendig.“

„Da hast du natürlich recht. Wein braucht man nicht unbedingt, aber Gott hat ihn uns nun mal geschenkt, und es ist ein Geschenk, das klug genutzt sein will.“

Eunice warf ihm durch die Brille mit dem dicken Rand nur einen verächtlichen Blick zu und sagte: „Ich werde beten, dass Gott dir vergibt und dir deine Sünde aufzeigt, und auch die deiner Vorfahren bis in deine Generation.“

In dem Moment hatte sie durch das Fenster Rose im Wohnzimmer entdeckt. „Da drinnen sitzt dein kleines Mädchen, das keine Mutter mehr hat. Was würdest du wohl denken, wenn sie sich mit Wein trösten würde? Und was würdest du tun, wenn deine Jungen Trunkenbolde würden?“

Der Vater hatte darauf nichts gesagt, aber Rose hätte es zu gern an seiner Stelle getan, hätte der Nachbarin gern ein paar Bibelverse zugerufen, in denen positiv vom Wein gesprochen wurde. Wein sei gut für den Magen, hatte Paulus geschrieben. Ja, es stand auch dort, man solle sich nicht betrinken – das bedeutete ja nicht, dass man gar keinen Wein trinken sollte.

Rose war auf die Veranda getreten und hatte sich neben ihren Vater gestellt, als der Wagen in einer Staubwolke davonbrauste. „Warum sagt die so etwas?“

Ihr Vater hatte sie an sich gezogen. „Ich vermute, es hat mit ihrem Daddy zu tun. Und mit ihrem Mann. Man muss nachsichtig sein mit Menschen, die vom Leben schwer gebeutelt wurden, Rose.“

„Ist sie darum so gemein?“

„Sie ist nicht gemein, sondern nur verletzt. Auch ein sanftes und freundliches Tier knurrt, wenn ihm wehgetan wird. Vergiss das nicht, wenn sich Menschen dir gegenüber gehässig benehmen. In der Regel leiden sie selbst sehr.“

Zehn Jahre später erinnerte sich Rose wieder an diese Begebenheit, als sie dabei war, das alte Puppenhaus aus der Scheune zu holen, wo es seit vielen Jahren stand. Es war sehr schwer und sperrig, und sie schaffte es kaum allein, aber sie wollte ihren Vater nicht um Hilfe bitten. Es würde ihm wehtun zu erfahren, dass sie es weggeben wollte. Ihr Vater und ihre Brüder hatten es vor vielen Jahren in mühsamer Kleinarbeit selbst gebaut, und es war eigentlich eine Schande, es jetzt wegzugeben.

Neun Jahre alt war sie damals geworden, als sie es bekommen hatte, also ein knappes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter. Jeden Tag hatte sie dann mit dem Puppenhaus gespielt, das aus drei Etagen bestand. Im Erdgeschoss befanden sich Küche, Ess- und Wohnzimmer sowie ein hübscher Wäsche- und Hauswirtschaftsraum (eine Hommage an ihre Mutter). Die Schlafzimmer waren im ersten Stock, und im zweiten Stock gab es noch ein kleines Zimmer mit einer Kuppel. Von dort aus konnten die Puppeneltern den Ausblick über die Landschaft und die Sonnenuntergänge genießen. Sie war begeistert gewesen von den vielen liebevollen Details und unglaublich dankbar dafür, dass sie einen Vater und Brüder hatte, die sie so lieb hatten, dass sie ihr etwas ganz Besonderes schenkten, etwas Denkwürdiges, auch wenn sie selbst noch unendlich traurig waren.

„Komm, ich helfe dir“, rief Denise Lawton. Sie war größer als Rose, hatte langes braunes Haar, und wenn sie lächelte, was eigentlich immer der Fall war, strahlten ihre Augen. Denise begeisterte sich fürs Theaterspielen, und in der Schule hatte sie bei allen Theater- und Musicalaufführungen mitgewirkt.

„Moment mal, du willst doch nicht etwa das Puppenhaus weggeben, oder?“, fragte Denise entsetzt. „Das kannst du doch nicht machen, Rose!“

„Aber es steht jetzt schon seit Jahren ungenutzt in der Scheune herum.“

„Wir haben als Kinder doch so oft damit gespielt. Du solltest es für deine Tochter aufbewahren.“

Denise wollte es in die Scheune zurückbringen, aber Rose hielt das Puppenhaus fest. „Nein, bitte hilf mir lieber, es zum Wagen zu tragen.“

„Das geht doch nicht, Rose. Du hast dieses Puppenhaus so geliebt“, sagte Denise.

Rose strich liebevoll mit der Hand über das Dach mit der Kuppel. „Stimmt, ich habe es wirklich sehr geliebt, aber die Zeit ist vorbei. Und ein anderes kleines Mädchen wird sich bestimmt sehr darüber freuen.“

„Rose, so etwas gibt man nicht einfach weg, sondern gibt es an die nächste Generation weiter.“

„Ich möchte in meinem Leben keine Schätze ansammeln, die vergänglich sind“, entgegnete Rose darauf. „Falls ich je Kinder haben sollte, kann ich ihnen doch auch davon erzählen, was mein Dad und meine Brüder Schönes für mich gemacht haben. Aber ich brauche es nicht zu behalten, um mich daran zu erinnern. Ich möchte es loslassen.“

„Ich bin auch dafür, Dinge wegzugeben, die man nicht braucht, aber ich finde, man sollte auch genau überlegen, was man weggibt. Ich glaube, es ist ein Fehler, dich von deinem Puppenhaus zu trennen. Glaub mir, in ein paar Jahren wirst du es bereuen.“

„Okay, warte“, sagte Rose und rannte davon. Denise drohte ihr, sie würde nach Hause fahren, doch als Rose mit ihrer Kamera zurückkam, stand sie immer noch neben dem Puppenhaus.

„Hier, mach ein Foto. Das kann ich dann all den Kindern zeigen, die ich deiner Meinung nach einmal bekommen werde“, sagte Rose.

„Bestimmt ein ganzes Haus voll, Rose. Menschen, die eine tolle Mutter hatten, werden irgendwann auch selbst tolle Mütter.“

„Nett, dass du das sagst. Wenn ich das richtig verstehe, hast du mir gerade ein Kompliment gemacht, oder?“

„Nein, deiner Mom“, widersprach Denise grinsend.

Rose kniete sich lächelnd neben das Puppenhaus und hielt den Küchentisch und einen der Stühle in die Höhe, um zu zeigen, was für eine filigrane Handarbeit die Puppenmöbel waren. Denise machte ein paar Fotos.

„So, jetzt tragen wir es aber zum Wagen.“

„Dein Dad wird bestimmt traurig sein, dass du dich davon trennst.“

„Nein, ich glaube, er wird stolz sein, dass wir der Familie helfen, Geld aufzutreiben.“

„Was ist das überhaupt für eine Familie?“

„Sie gehören zu unserer Kirche, und der Sohn muss operiert werden. Am Wochenende soll es beim Gemeindepicknick einen Wohltätigkeitsflohmarkt zu diesem Zweck geben. Ich bin gespannt, wie viel das Puppenhaus einbringt.“

Gemeinsam hievten sie das gute Stück auf die Ladefläche und schoben es neben das Kinderfahrrad mit Stützrädern. Auf der Ladefläche standen außerdem noch mehrere Säcke mit Kleidung und Büchern und anderen Sachen, die von Leuten aus ihrer Gemeinde gespendet worden waren. Als Rose jetzt das Puppenhaus neben den anderen Sachen stehen sah, wurde ihr ganz schummerig, und ihr blieb beinah die Luft weg. Natürlich konnte man mit dem Kopf eine solche Entscheidung treffen, aber ob das Gefühl dabei auch mitmachte, darauf hatte man wenig Einfluss.

Rose kletterte auf die Ladefläche, setzte sich hin und ließ den Blick über den Weinberg schweifen. Gedankenverloren machte sie die Schlafzimmertür des Puppenhauses zu und hörte, wie sie mit einem leisen Klick ins Schloss fiel. Selbst auf solche Feinheiten hatten ihr Dad und ihre Brüder geachtet.

Sie lächelte und sagte: „Ich kann mich noch an die Musicals erinnern, die du und ich mit dem Puppenhaus aufgeführt haben. Die Jungen saßen gegrätscht auf dem Dachfirst und grölten: ‚Ooooooklahoma!‘“

„Und die Mädchen hörten verträumt zu und warteten darauf, dass Ken nach einem langen Arbeitstag zur Tür hereinkam.“

Rose schloss die Augen und schwelgte in Erinnerungen. „Du hast mir geholfen, wieder lachen zu lernen.“

„Wie meinst du denn das?“

„Na ja, nach Moms Tod und all dem, was danach bei uns zu Hause passierte, wie meine Brüder damit umgingen oder eben nicht … wie sie weiterlebten, als hätten sie nur ein Spiel verloren, und mein Vater so gefasst war und so viel Selbstbeherrschung hatte. Ich war damals die Einzige, die endlos geheult hat, und ich habe mich deswegen schlecht gefühlt. Bei dir konnte ich weinen. Ja, du hast mich sogar dazu ermutigt. Und du warst diejenige, die mir geholfen hat, wieder zu lachen.“

„Ich wollte nur, dass dein altes Ich wieder zum Vorschein kommt.“

„Und es war deine Mom, die im Jahr danach vorgeschlagen hat, meinen Geburtstag zu feiern.“

Denise nickte. „Ich hatte ihr erzählt, wie traurig du warst. Dein Vater hatte dir ja verboten, zu uns zu gehen, und deshalb wolltest du nicht ins Haus kommen, sondern bist die ganze Zeit draußen geblieben, hast auf der Schaukel gesessen und in den Garten geschaut.“

„Du konntest so gut zuhören“, sagte Rose.

„Meine Mom hat erzählt, dass dein Dad geweint hat, als sie vorgeschlagen hat, deinen Geburtstag zu feiern.“

„Wirklich?“

„Sie sagte damals, tief in seinem Inneren hätte er gewusst, dass sie recht hatte, dass du so etwas brauchtest, aber er habe sich nicht dazu durchringen können. Er sagte, deine Mom hätte immer die Geburtstagsfeiern der Kinder geplant und die Geschenke gekauft.“

„Und den Kuchen gebacken, das Haus geschmückt und die Luftballons an den Briefkasten gebunden“, fuhr Rose mit einem tiefen Seufzer fort und ließ wie ein Kind die Beine baumeln. „Ich glaube nicht, dass es das Besorgen der Geschenke oder das Dekorieren war, das ihm so schwerfiel, sondern er konnte einfach den Gedanken nicht ertragen, dass es im Haus wieder fröhlich zuging und gelacht wurde. Für ihn war das wie eine Art Verrat an ihr, wieder zu lachen und das Leben zu feiern.“

„Aber sie hätte doch gewollt, dass ihr wieder fröhlich seid, das ist ja das Verrückte. Und sie hätte auch gewollt, dass du dieses Puppenhaus für ihre Enkelkinder aufbewahrst“, versuchte es Denise noch einmal.

Aber Rose verdrehte nur die Augen und entgegnete: „Ich bin noch nicht so weit, an Kinder zu denken, Denise.“

„Du wirst fünfzehn Kinder bekommen. Alles Jungen.“

Rose lachte. „Und wofür brauche ich dann ein Puppenhaus? Und außerdem – kannst du dir fünfzehn Jungen in einem Haus vorstellen?“

„Du wirst mit einem Bus zum Einkaufen fahren“, spann Denise die Idee weiter.

„Ich glaube, zuerst müsste ich einen Vater für die Kinder finden.“

„Eddie Edwards hat schon immer eine Schwäche für dich gehabt, und außerdem ist der echt süß.“

„Welpen sind süß.“

Denise verdrehte die Augen und sagte kopfschüttelnd: „Du bist ein wirklich hoffnungsloser Fall, Rose. Die Jungen stehen Schlange, um mit dir auszugehen.“

„Ich sehe keinen.“

„Du hast ja keine Ahnung, bei wie vielen Jungen in der Gemeinde du das Thema Nummer eins bist.“

„Über mich zu reden oder mit mir zu reden sind zwei ganz verschiedene Dinge. Und mit dem zweiten haben sie es anscheinend nicht so.“

„Du weißt doch genau, woran das liegt, Rose. Sie haben Angst vor deinem Dad. Du musst zugeben, dass er ziemlich einschüchternd sein kann.“

„Ja, ein bisschen vielleicht.“

„Zu behaupten, dein Dad sei ein bisschen einschüchternd, ist so, als würde man sagen, den Mount Everest zu besteigen sei ein bisschen anstrengend.“ Denise seufzte. „Er liebt dich, auf diese verrückte, etwas zwanghafte Art eines Mannes, der sein Kind beschützen möchte. Aber ich glaube, dass irgendwo da draußen schon dein zukünftiger Mann herumläuft. Aber noch ist es eine Undercoveraktion.“

„Und wie sieht er aus?“

„Also, etwa einen Meter neunzig groß und so stark, dass er dieses Puppenhaus ganz allein tragen kann, wohin du möchtest. Und er hat blaue Augen, vielleicht auch grüne. Und ein freundliches Gesicht. Er trägt weiße T-Shirts und coole Jeans. Und er hat einen kleinen Bart hier unten wie Tim McGraw.“

„Tim wer?“

„Na, der Countrysänger. Komm schon, Rose, du musst deinen Musikgeschmack wirklich mal auf den neusten Stand bringen. Du kannst nicht immer nur diese Oldies hören.“

„Aber ich mag Oldies. Meine Mom hat sie auch gemocht.“

„Na gut, dann wird dieser Typ auch Oldies mögen. Er wird alle großen Hits in seiner Sammlung haben und einen Sender hören, der sie ununterbrochen spielt.“

„Du redest, als hättest du seine Telefonnummer.“

„Ich wünschte, es wäre so. Aber wenn ich einen solchen Mann kennen würde, dann würde ich mich selbst an ihn heranmachen.“

„Du kannst ihn haben. Ich bin fertig mit dem Thema.“

„Du kannst nicht fertig damit sein, wenn du noch gar nicht angefangen hast, Rose. Es sei denn, du zählst Stanley aus der fünften Klasse dazu.“

„Stanley Hinckley?“, fragte sie, und dann brachen sie beide in Gelächter aus und Rose schlug sich die Hand vor den Mund.

„Er hat dir Blumen gebracht, nicht?“

„Ach, er war so süß. Jeden Morgen vor dem Unterricht hat er meinen Bleistift angespitzt und ihn mir dann überreicht, als hätte er einen Drachen getötet. Er war der erste Junge, mit dem ich getanzt habe … der einzige Junge, mit dem ich je getanzt habe.“

„Zu schade, dass er dich wegen einer anderen Frau verlassen hat.“

„Wer war das noch gleich?“

„Debbie aus der Parallelklasse.“

„Ich habe übrigens gehört, dass er abgenommen hat“, sagte Rose, als sie sich von ihrem Lachanfall ein wenig erholt hatte und wieder sprechen konnte. „Ich habe neulich ein Foto von ihm gesehen. Er hat immer noch dieses gewisse Lächeln.“

„Siehst du, du bist gar nicht fertig mit dem Thema, wenn du noch an Stanley denkst.“ Ein Hauch von Besorgnis schwang in Denises Tonfall mit, und als Rose nichts weiter sagte, fragte Denise: „Was hast du vor? Ich meine, du kannst dich doch nicht ewig hier verkriechen, oder?“

„Mein Dad braucht Hilfe, und von meinen Brüdern wird er die nicht bekommen.“

„Aber dein Dad will doch gar nicht, dass du hierbleibst und deine Zukunft opferst.“

„Es ist kein Opfer, wenn man jemanden liebt.“

„Und was ist mit dem, was Gott will?“

„Er will doch, dass ich meinen Dad ehre, oder?“

„Doch, klar. Ich meine ja nur …“

„Dass ich nicht studieren will und im Unterschied zu dir keine großen Visionen für mein Leben habe, heißt doch nicht, dass ich mein Leben verschwende. Man kann auch an unbedeutenden Orten seine Leidenschaft finden, das, wofür das Herz schlägt. Zum Beispiel in der Heimatstadt. Versuch bitte nicht, deine eigenen Träume auf mich zu übertragen, ja? Ich finde es toll, dass du große Pläne hast. Verwirkliche sie. Aber ich bin nicht du.“

Denise zuckte ein wenig zusammen. „Na, da habe ich anscheinend einen Nerv getroffen, was?“

„Nein, du hast ihn mit der Stiefelspitze zerquetscht.“

„Du hast ja recht. Du kannst auch hier dein Glück finden. Und vielleicht wird der Mann deiner Träume ja eines Tages hier auftauchen und sich dir zu Füßen werfen.“

„Wenn Gott jemanden für mich ausgeguckt hat, dann wird er uns auch zusammenbringen.“

„Und genau an dem Punkt irrst du dich, Rose. Du kannst nicht einfach hier herumsitzen und darauf warten, dass das Leben zu dir kommt. Du musst dich auf die Suche machen. Du musst leben.“

„Warst nicht du es, die gerade noch gesagt hat, ich soll mein Puppenhaus behalten?“

„Rose …“

„Ich liebe diesen Ort, Denise. Hier sind meine Träume. Hier sehe ich meine Zukunft. Weder verstecke ich mich, noch finde ich mich einfach mit irgendwas ab, sondern ich lebe.“

Daraufhin schaute Denise sie lange an und sagte schließlich seufzend: „Also gut. Das Puppenhaus verschwindet also?“

„Ja, das Puppenhaus verschwindet“, antwortete Rose lächelnd.

Kapitel 4

Als die Bewerbungsrunde für die neueste Staffel der Casting-Show „American Idol“ angekündigt wurde, bekam Jed den Rat mitzumachen. Doch sein Gefühl sagte ihm, dass das nicht der richtige Weg war, weil er es irgendwie als Verrat an der Kunst empfand. Er wollte es lieber so machen wie sein Vater: einfach seine Songs mit seiner ganzen Leidenschaft singen und sehen, ob sie ankamen. Und genau so machte er es auch, wobei er den Vorteil hatte, der Sohn eines Stars zu sein, sodass ein gewisses Interesse an seinen Auftritten bestand.

Nach einem kleinen Konzert im Süden von Louisville kam eines Abends ein Mann auf ihn zu. Stan Russel war sehr bemüht, jünger zu erscheinen, als er war, was ihm allerdings nicht besonders gut gelang. Sein Haar war schütter, und wenn er nicht aufpasste, würde er irgendwann eine richtige Kugel vor sich herschieben. Er trug einen eleganten Anzug und erweckte den Eindruck, ein Macher zu sein.

„Ich habe dich letzte Woche in dem kleinen Lokal an der Frankfort Avenue gehört und erfahren, dass du heute Abend hier spielst“, sagte er zu Jed.

„Danke, Mr Russel. Ich fühle mich geehrt.“

Stan lächelte über Jeds Höflichkeit und sagte: „Du hast ein einzigartiges Talent. Gute Technik. Deine Stimme trägt, und deine Texte scheinen wirklich tief aus deinem Herzen zu kommen. Das ist eine gute Mischung, mein Junge.“

„Vielen Dank.“