Das Mädchen aus dem Fahrstuhl - Gabriele Herzog - E-Book

Das Mädchen aus dem Fahrstuhl E-Book

Gabriele Herzog

4,8

Beschreibung

Das ist eine Liebesgeschichte, obwohl es anfangs gar nicht danach aussieht. Das ist die Geschichte von Frank, Frank Behrendt, und Regine, Regine Erdmann. Er hatte sie zum ersten Mal im Fahrstuhl gesehen. Morgens. Irgendwelchen Eindruck machte sie nicht auf ihn. Nie wieder hätte er sich an sie erinnert, hätte er nicht eine Stunde später mit ihr in einem Klassenzimmer gesessen. Sich als neue Mitschülerin vorzustellen war Regine allerdings schwergefallen. Die beiden jungen Leute sind sehr unterschiedlich, Frank ist der King der Klasse, Regine gerät von Anfang an in eine Außenseiterposition, trotzdem wird sie seine Freundin. Allerdings sah es wie gesagt anfangs wirklich nicht danach aus: Schon deshalb, weil sie ein Mädchen war, nach dem sich kein Mensch umdrehte. Sie war unauffällig, unscheinbar, jedenfalls wenn man nicht genauer hinsah. Und wer sieht schon mit sechzehn genau hin? Wenn man sechzehn ist, sind Äußerlichkeiten wichtig. Klamotten und so was. Die Geschichte zwischen Frank und Regine beginnt erst, als Frank während einer Lernkonferenz die Patenschaft über das Mädchen übernimmt – um ihren Schulwechsel überbrücken zu helfen. Während einer der ersten Nachhilfen in Chemie passiert es: Plötzlich fing er an, Regine mit anderen Augen zu sehen. Er fand ihr Haar schön, und ihre Sommersprossen konnte er sich nicht aus ihrem Gesicht wegdenken und überhaupt. Regine entging dies nicht. Sie wurde verlegen. Glücklicherweise war die Colaflasche leer geworden, und er konnte in die Küche. Als er mit Nachschub wiederkam, hatte sich die Situation neutralisiert. Regine hatte ihre Fassung wiedergefunden und er auch. Sie sagte: „Mach dir nichts draus. Was glaubst du, wie viel und wie oft schon über mich gelacht worden ist. Irgendwie übersteht man das. Manchmal besser, manchmal schlechter.“ Nach und nach lernt Frank die schwierige familiäre Situation von Regine kennen und sie besser verstehen, beginnt sich zu ändern und kritische Fragen an die Gesellschaft und das DDR-Bildungssystem zu stellen, schreibt einen schnell wieder entfernten Wandzeitungsartikel und muss damit rechnen, nicht zur EOS zu dürfen. Und was ist mit seiner Liebe zu dem Mädchen aus dem Fahrstuhl? Wird Frank zu ihr halten oder einen bequemeren Weg wählen? Der spannende Roman wurde 1990 in der Regie von Hermann Zschoche von der DEFA verfilmt und hatte am 10. Januar 1991 seine Kino-Premiere – zu spät für einen Paukenschlag. In den Hauptrollen spielten Barbara Sommer (Regine) und Rolf Lukoschek (Frank).

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Impressum

Gabriele Herzog

Das Mädchen aus dem Fahrstuhl

ISBN 978-3-86394-279-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1985 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Er hatte sie zum ersten Mal im Fahrstuhl gesehen. Morgens. Irgendwelchen Eindruck machte sie nicht auf ihn. Nie wieder hätte er sich an sie erinnert, hätte er nicht eine Stunde später mit ihr in einem Klassenzimmer gesessen. Aber das war schon nach dem Appell. Diese Appelle! Er hat sie nur zu gut im Gedächtnis.

Er stand unter der Fahne, neben ihm der Direktor, der stellvertretende Direktor und so fort. Vor ihm seine Mitschüler. In einem schönen Viereck, exakt ausgerichtet. Und brav anzuschauen, jedenfalls von seinem Standort aus. Aber ihm brauchte keiner was zu erzählen! Von wegen „brav“! Trotzdem. Er wollte in diesen Augenblicken nicht tauschen, mit keinem. Denn er war der King. Er, kein anderer. Nur er war wichtig. Die vor ihm standen, aufgereiht, die waren es nicht. Da konnten doch getrost zehn fehlen oder zwanzig.

Solchen Mist hatte er sich eingebildet. Das muss man mal zu Ende denken. Totaler Krampf. Als ob nicht jeder Idiot dem Direktor hätte melden können, dass die Schüler zum Appell angetreten waren.

Er kann nie vergessen, wie super er sich damals fand. Gerade bei diesen Appellen. Er war überzeugt, niemand hätte es besser gekonnt, würdiger. Ob man's glaubt oder nicht. Würdig! Schon dieses Wort. Was ist heutzutage nicht alles würdig? Auch Atmosphären sind mitunter würdig. Unzählige Halstücher, Urkunden, Mitgliedsbücher werden in „würdiger Atmosphäre" übergeben. Was das genau sein soll, kann wahrscheinlich niemand sagen. Vielleicht ist auch würzig gemeint? In würziger Atmosphäre. Geht doch auch. Weihnachten zum Beispiel ist die Atmosphäre würzig, und was das bedeutet, weiß jedes Kind. Nach diesem Appell jedenfalls kam die Pippig mit Regine in die Klasse.

Er war erstaunt, das Mädchen aus dem Fahrstuhl wiederzusehen, und stieß Micha in die Seite. Der lernte gerade seinen hundertsten Schaltplan auswendig, kam also vom Mond. „Die wohnt bei uns im Haus."

Micha setzte seine Brille auf, schaute nach vorn, setzte die Brille wieder ab. „Das hat sie frei."

Und die Pippig sagte: „Wir haben eine neue Mitschülerin bekommen. Ihren Namen wird sie uns gleich selbst verraten."

Herrje! Die Pippig und ihre Eiapopeia-Art. Sah die nicht, dass das Mädchen nur eins wollte, nämlich sich hinsetzen. Aber nein, die Pippig ließ sie da vorn stehen. Natürlich glotzten alle blöd, schließlich waren Sensationen in der Schule nicht häufig. Und dann sollte Regine auch noch ihren Namen sagen. Als ob man so einfach seinen Namen nennen könnte! So wie guten Tag oder Dankeschön. Ihm trocknete die Zunge an, wenn er irgendwo seinen Namen sagen musste. Wobei mit Namen wirklich Name gemeint war. Also der volle, vollständige, so mit Vornamen und Familiennamen. Das schaffte er nie, laut und deutlich, so wie es sich für einen anständigen Menschen gehört: Frank Behrendt. Warum, wusste er selbst nicht. Dabei gab es an dem Namen nichts auszusetzen. Ein Höhepunkt war er gerade nicht, und das war gut so. Enrico Meyer, Yves Blaschke oder Moritz Agamemnon Reinicke (er kannte das arme Schwein persönlich) — das hätte ihn erledigt.

Regine hauchte etwas in die Klasse. Und die Pippig sagte prompt:

„Sie müssen schon etwas lauter sprechen!"

Es hätte ihn maßlos erstaunt, wäre der Satz ausgeblieben.

Vielleicht ließ die Pippig sie auch noch ihren Namen buchstabieren oder an die Tafel schreiben. Regine sagte dann mit ziemlicher Anstrengung: „Regine Erdmann." Die Hälfte der Klasse lachte, warum, würde immer ihr Geheimnis bleiben. Er begriff, das Mädchen da vorn hatte die gleichen Schwierigkeiten beim Namensagen wie er selbst. Irgendwie machte ihn das froh. Knallrot setzte sich Regine auf einen freien Platz. Gern hätte er sich zu ihr umgedreht. Einfach so, zur Aufmunterung, weil er verstand, wie beschissen ihr zumute war. Bloß wer macht so was schon?

Aber die Geschichte zwischen ihm und Regine fing ganz anders an. Keineswegs mit Sympathie, fast mit Krach. Wobei angemerkt werden muss, dass dieser „Krach" nichts weiter war als ein missbilligender Blick, den er von Regine bekam. Er kann sich deshalb daran erinnern, weil dieser Blick ihn ziemlich getroffen hatte und weil er über ihren Mut erstaunt war. Schließlich war er nicht irgendwer in der Klasse. Aber es war kein Mut, sondern die Unfähigkeit Regines gewesen, sich zu verstellen. Ihr Gesicht gab jedem preis, was sie über die Leute dachte. Bloß das konnte er nicht wissen.

Nachdem Regine sich gesetzt hatte, erzählte die Pippig was von einer Fahrt nach Rostock, auf die Werft und so, an der die besten Schüler der Klasse teilnehmen sollten.

Sie sagte: „Ich schlage Frank, Sibylle, Peter, Elke, Heike und Karin vor", und wartete auf Zustimmung.

Diese blieb aus, und die Leute fingen an zu maulen. Die Pippig war irritiert. Ihn ließ die Angelegenheit zunächst völlig kalt. Wenn die Besten fahren sollten, dann mussten die Besten fahren. Insofern war gegen die Vorschläge nichts einzuwenden. Trotzdem reagierte die Klasse sauer. Die Pippig forderte Ruhe und Erklärungen.

„Nicht alle durcheinander. Und wir melden uns!" Natürlich meldete sich niemand.

„Wenn euch meine Vorschläge nicht gefallen, bitte ich um andere. Vielleicht habe ich mich geirrt. Wer gehört denn eurer Meinung nach zu den Besten?"

Denzelmann stand auf. „Sie haben sich nicht geirrt. Das sind schon die Besten. Bloß, warum sie auch fahren sollen, weiß ich nicht."

„Sind immer die gleichen!", brüllte Schulze von hinten. Ihm begann die Sache auf den Docht zu gehen. Hier hatte sich doch keiner vorgedrängelt oder selber vorgeschlagen. Tante Lehrerin, ich will mitfahren. Und überhaupt hatten die sich doch sonst nicht so. Die wahre Pracht war Rostock ja nun auch nicht.

„Enrico, nach welchen Kriterien würden Sie denn die Schüler aussuchen?"

„Vielleicht, wer sich am meisten für so was interessiert", antwortete Denzelmann, „und Ralph sollte mit, weil er zur See will."

Die Klasse bekundete Zustimmung.

Da wurde er sauer. „Jeder hat die Chance, gute Zensuren zu kriegen. Aber du kannst für mich fahren. Ich verzichte."

Danach schwieg die Klasse. Und das Mädchen Regine sah ihn betroffen an. Was wollte die von ihm? Inzwischen forderte die Pippig andere Vorschläge. Nun hatten sie Sendepause. Wie üblich.

Der Gedanke, dass die alle ihre Erfahrungen hatten mit dieser Art Diskussion, war ihm fremd gewesen. Die Leute in seiner Klasse wussten genau, dass sie mit anderen Vorschlägen nicht landen konnten. Deshalb die Sendepause.

Jedenfalls fühlte er die ganze Zeit Regines Augen im Rücken. So stumpf war er nicht, das nicht zu merken. Er fand es impertinent. Eigentlich musste man ihr das sagen. Aber die wusste sicher im Traum nicht, was impertinent war. Damit hatte er sogar den Sportlehrer reingelegt.

Er sah zu Micha, der nicht nur sein Nachbar, sondern auch sein bester Kumpel war. Aber dass Micha sich bei solcherart Streitereien raushielt, hätte ihm klar sein müssen. Micha brütete immer noch in aller Gemütsruhe über seinem Schaltplan. Die Pippig war inzwischen zur Tagesordnung, sprich Unterricht, übergegangen und schickte einen ihrer Erziehungsblicke zu Micha. Der merkte natürlich nichts. Er warnte Micha. Micha steckte beleidigt den Schaltplan in die Tasche und murmelte: „Man kommt zu nichts."

Er hätte sich totlachen können. Wozu Micha schon alles in der Schule gekommen war, war einfach hart. Er konnte davon nur träumen. Er passte nämlich in der Schule auf, besonders wenn was Neues drankam. So, wie es sich gehört. Das war der Unterschied zwischen ihm und Micha. Warum sie trotzdem Freunde waren, konnte keiner so richtig erklären. Wozu auch? Sie waren es. Schließlich gab es noch andere Sachen als Schule. Nun war es nicht so, dass Micha Fünfen hatte. Himmels willen. Aber doch Zweien und Dreien. Und Micha hätte Einsen haben können, das wäre kein Problem gewesen.

Er hatte Einsen, überall, bis auf Singen. Daran waren alle gewöhnt. Er hatte tatsächlich versucht, Micha auch zu Einsen zu überreden. Das muss man mal zu Ende denken! Micha konnte Fernseher bauen, jedes Auto reparieren, jeden Rekorder einschließlich importierter, die Leute holten Micha, wenn die Fahrstühle streikten und, und, und. Kurz, Micha wurde gebraucht. Manchmal kam er sich dagegen ganz schön blöd vor. Er konnte eine Stunde über die Bedeutung des Bauernkrieges referieren, fehlerlos unvollendete und vollendete Aspekte in russischen Sätzen unterbringen und aus dem Hut alle infrage kommenden Verkehrsverbindungen von Berlin nach Kalkutta hersagen. Und ähnlichen Quatsch mehr. Aber zurück zu Regine.

Also, wenn ihm an diesem Tag jemand gesagt hätte, dass Regine seine Freundin werden würde ... Er hätte es nicht mal zum Lachen gefunden. Schon deshalb, weil sie ein Mädchen war, nach dem sich kein Mensch umdrehte. Sie war unauffällig, unscheinbar, jedenfalls wenn man nicht genauer hinsah. Und wer sieht schon mit sechzehn genau hin? Wenn man sechzehn ist, sind Äußerlichkeiten wichtig. Klamotten und so was.

Er war damals, Anfang der zehnten Klasse, in Sibylle verknallt. Sibylle war wahnsinnig braun aus den Sommerferien gekommen, ihre schwarzen Haare glänzten, und an ihren Ohren baumelten kleine goldene Ringe. Zigeunerin, dachte er und konnte nur staunen. Vordem hatte er Sibylle kaum wahrgenommen, einfach keine Antenne gehabt für sie. Anders Sibylle, die, Gerüchten zufolge, selbst Micha hatte davon gehört, schon die gesamte Neunte hindurch „hinter ihm hergewesen" sein sollte.

Nun kehrte sich die Sache um. Denn so schlau war Sibylle allemal, sofort ihre Taktik zu ändern, als sie merkte, was mit ihm passiert war. Kurz gesagt, nun fing er an zu rudern. Und Sibylle, die Zigeunerin, genoss es. Die Klasse amüsierte sich. Aber wohlwollend, ohne Bosheit. Der Prinz kämpft um die Prinzessin. Das war normal. Denn beide gehörten zur sogenannten „Creme". Er war sowieso der Größte und Sibylle die mit Abstand Hübscheste in der Klasse. Und außerdem nicht doof. Alles hatte seine Ordnung oder besser gesagt, die in der Klasse über Jahre gewachsenen fest gefügten Gruppierungen wurden durch diese Beziehung nicht gestört.

Im Fall Regine war das dann eine völlig andere Sache. Ihre Freundschaft wurde nicht ohne Weiteres akzeptiert. Wieso denn der mit der? Das konnte sich keiner erklären. Regine wurde nämlich gleich in der ersten Unterrichtspause „eingestuft", und zwar endgültig. Die Mädchen, allen voran Sibylle, versäumten keine Zeit. Schon während der Stunde wurde getuschelt, gingen Zettelchen von Hand zu Hand. In der Pause dann sagte Sibylle zu ihrer Freundin Karin, aber so laut, dass es die halbe Klasse, vor allem aber die Neue, hören konnte: „Wusstest du, dass Schlag wieder in ist?" Karin: „Keine Ahnung."

Sibylle, nun noch etwas lauter: „Klar. Ganz Paris trägt Schlaghosen, Bedingung: knöchelkurz."

Sibylle und Karin und einige andere Mädchen fingen an zu lachen. Regine, die im Begriff war, das Klassenzimmer zu verlassen, blieb stehen und drehte sich zu Sibylle um. Sie sagte nichts. Sie sah Sibylle nur an. Er konnte in ihrem Gesicht keinen Ärger entdecken, nur diese Betroffenheit, die er schon an ihr kannte. Eine winzige Sekunde war es still im Raum, dann setzte der Pausenlärm wieder ein. Regine ging aus der Klasse. Sibylle zuckte die Schultern und verkündete: „Die kann man voll vergessen."

Es gab keinen Widerspruch. Allenfalls Gleichgültigkeit von einigen. Nur Micha brummte „Weiber" vor sich hin.

Und er war sauer auf Sibylle. Natürlich sagte er ihr das nicht, aber er ging auch nicht zu ihr wie in jeder Pause, um mit ihr zu quatschen. Einverstanden, Regines Hosen waren aus dem vorigen Jahrhundert, komisch genug sah sie damit schon aus. Aber soweit war er nie gegangen, jemand aufgrund einer Hose oder Jacke zu beurteilen. Irgendwie hatte er sich da immer zurückhalten können. Außerdem sollte man dieses Vorrecht den älteren Generationen überlassen. Trotzdem spielte es eine Riesenrolle, mit welchen Sachen man sich behängte. Und leider ist es doch tatsächlich so, wenn einer nicht haargenau das anhat, was man eben so anhaben muss, der ist von vornherein im Aus. Wird wahrscheinlich immer so sein, jedenfalls in dem Alter. Und wenn einer das trägt, was man tragen muss, der muss schon körnig bescheuert sein, um ins Aus zu geraten. Er oder vielmehr die Familie Behrendt hatte damit auch seine Schwierigkeiten. Aber das verkraftete er, das war nicht sein Problem. Daran ging er nicht kaputt.

Und dieses Mädchen Regine? Ging die daran kaputt? Er konnte es sich schlecht vorstellen. Warum sollte jemand kaputtgehen, weil er nicht die richtigen Hosen trug? Erst viel später begriff er, wie sehr Regine durch solche Dinge gequält wurde, wie sehr sie diese Außenseiterposition, in die sie gedrängt wurde, belastete.

„Heute was vor?" Das war Micha, der ihn aus seinen Gedanken riss.

Er überlegte kurz. Irgendwas war. Dann fiel es ihm ein. Natürlich. „Heute ist schlecht. Haushaltsscheiß "

Micha stöhnte und sah wieder in sein Buch.

Er fand es ungerecht, dass Micha stöhnte. Nicht Micha hatte einen Haushalt am Hals. Das erledigte Michas Mutter, die schon außerordentlich glücklich war, wenn die Experimente ihres Sohnes erfolgreich verliefen und ihr nicht die Bude um die Ohren flog. Nein, nein, mit niederen Hausarbeiten wurde Micha nicht belästigt.

Bei ihm sah das anders aus. Er kaufte ein, übernahm grundsätzlich alle Besorgungen, wusch Wäsche (mit der automatischsten Waschmaschine einheimischer Produktion), kümmerte sich um den Abwasch (mit der Spülmaschine) und erklärte zweimal in der Woche der guten Frau Derschau, wo in der Wohnung der Dreck lag. Auf diese Art lebte er äußerst konfliktfrei. Das hatte er schnell begriffen. Mutter Ingrid hatte angeordnet, die Arbeit untereinander aufzuteilen. Untereinander, damit waren er und Reiner gemeint. Diese Anordnung konnte er voll vergessen. Zuerst versuchte er es. Aussichtslos. Sie verstritten so viel Zeit, dass sie keine mehr hatten, auch nur das Geringste zu tun. Und dann gab's Ärger. Den kriegte er, natürlich. Der Ältere, Klügere, Vernünftigere. Wo Eltern das nur herhaben? Wieso ist denn ein Zwölfjähriger dümmer als ein Sechzehnjähriger? In dieser Beziehung jedenfalls nicht. Kein Mensch behauptet ja, alle Sechsunddreißigjährigen seien klüger als alle Zweiunddreißigjährigen. Reiner hielt die Klappe, gerissen, wie er war. So saß er da mit seiner Autorität. Der kleine Bruder blickte zu ihm auf, dem Älteren, Klügeren, Vernünftigeren — wenn die Eltern auf der Szene waren. Und rührte ansonsten keinen Finger.

Er verstand das sogar. Er wusste, er hätte es genauso gemacht wie Reiner. Aber er glaubte, er hätte dazu keine Chance. Auch das hatte er sich allen Ernstes eingebildet. Nichts würde funktionieren, wenn er nicht funktionierte. Kein Essen im Haus, keine sauberen Klamotten et cetera. Als er dann später nicht mehr funktionierte, musste das bei seinen Eltern verschärften Terror auslösen. Was denn sonst? Aber vorher war es etwa wie folgt vor sich gegangen: Mutter Ingrid kam so gegen sechs in die Wohnung geschossen. Während sie Mantel und Schuhe von sich warf, ertönte in der Regel der Ruf: „muss gleich wieder weg."

Meistens hatte sie Versammlungen. Oder sie suchte die Leiter der Zulieferbetriebe heim wegen Ersatzteile. Bestimmt musste sie das als Ökonom gar nicht machen, Fakt war aber, sie hatte immer den größten Erfolg. Am meisten freute sich darüber Vater Jürgen. Logisch. Und deshalb kam auch der Familienfrieden nie so richtig ins Wanken. Kurz bevor sie dann abends wieder ausritt, kam die obligatorische Frage: „Was gibt's Neues?"

Und darauf sollte einer antworten, wenn sie schon die Handtasche unterm Arm hatte und so weiter.

An dem Tag, als Regine gekommen war, sagte er aber doch: „Wir haben eine neue Schülerin bekommen."

Das war ein voller Erfolg. Aber bei der Flöterei der Pippig kein Wunder. Die konnte jeder Blöde nachahmen.

„Und? Ist sie nett?" fragte Mutter Ingrid, immer noch lachend.

Er sah sie an. „Nett? Wieso nett?" Das war eine dieser Fragen, die man sich eigentlich prämieren lassen sollte. Du lieber Himmel. Wen interessierte denn, ob irgendjemand nett war? Nett? Was heißt denn das überhaupt? Nett zu wem? Oder bei welcher Gelegenheit? Oder überhaupt nett, rundum. Zu jedem und zu jeder Gelegenheit. Solche gibt's ja, und es sind die Größten. Aber zu denen gehörte das Mädchen Regine bestimmt nicht, das ahnte er. Wenn Mutter Ingrid schon in der Tür stand, gab sie regelmäßig verschiedene Weisheiten von sich. So was wie: Esst dann, geht nicht so spät schlafen, packt eure Schulsachen abends, putzt euch die Zähne und dergleichen. Für diese Hinweise war er ihr immer dankbar. Aber meist hielt er sich zurück. Sie hatten sowieso selten Gelegenheit, die Sache auszutragen. Was seine Eltern betraf, hatte er einen bemerkenswerten Durchblick. Fakt war, sie taten ihm leid, deshalb sah er ihnen eine Menge nach. Eigentlich hatte er ihnen fast alles nachgesehen, was für einen Sechzehnjährigen eine Leistung, aber insgesamt gesehen sicher ein Fehler gewesen war. Aber warum sollte er auch noch einstimmen in den Chor derjenigen, die wehklagen, dass Eltern nie Zeit für ihre Kinder haben? Ihm war klar, weshalb seine Eltern keine Zeit hatten. Sie steckten bis zum Hals in ihrem Kombinat, das zerrte und zottelte an ihnen Tag und Nacht. Ein Direktor eines Zweitausendmannunternehmens konnte doch nicht einfach blaumachen, um mit seinen Kindern Eis essen zu gehen oder ins Kino.

Mutter Ingrid und Vater Jürgen hätten nur die Chance gehabt, überhaupt nicht irgendeinen Job dieser Größenordnung an sich ranzulassen. Das wäre gegangen. Das war wirklich die einzige Chance, die sie gehabt hatten. Als sie die nicht nutzten, lief alles von allein. So sieht er es heute. Damals waren sie für ihn vollkommen unschuldig, unschuldig ihm und Reiner gegenüber. Schließlich hatten sie sich ja nicht in Kneipen herumgetrieben! Und das Vorteilhafte an der Sache war, er wusste schon in dem Alter, wie man dem ganzen Alltagskram, vor dem nicht wenige Leute ihr halbes Leben kapitulieren, beikommen konnte. Nur ist leicht auszurechnen, dass er von entscheidenderen Dingen, Mädchen zum Beispiel, kaum einen blassen Schimmer hatte. Das machte ihm in Sachen Regine ziemlich zu schaffen.

Aber der Reihe nach. Richtig losgegangen war es mit Regine erst nach oder eigentlich während einer dieser Lernkonferenzen.

Da war Regine schon über einen Monat in seiner Klasse. Doch allen schien es so, als ob sie nicht anwesend wäre. Regine vermied Kontakte, gar Freundschaften, ebenso Reibungen. Sie gab niemandem die Chance, an sie heranzukommen. Auch er fand keinen Mut, ihre selbst gewählte Isolation zu durchbrechen. Im übrigen ist „richtig losgegangen" die völlig unzulässige Beschreibung für den Tatbestand, dass er sich seit diesem Zeitpunkt sozusagen freiwillig-weisungsgemäß mit seiner Mitschülerin Regine beschäftigen sollte. Unterrichtsmäßig gesehen natürlich. Selbstverständlich hielt er Lernkonferenzen für notwendig, nützlich, sinnvoll ... Weiß der Teufel.

Zu dieser kam er zu spät, schuld daran war Mutter Ingrid. Dass er sich daran noch erinnerte, hing wahrscheinlich mit seinem Unvermögen zusammen, selbst die kleinsten Disziplinverstöße und Unregelmäßigkeiten zu verkraften.

Mutter Ingrid rief an und predigte: „Bei dem Wetter geht ihr nicht mehr so! Zieht eure Kutten an. Und Stiefel!"

Na klar, sie hatte recht. Es pladderte wie wahnsinnig. Aus dem Fenster erkannte man gerade noch das Nachbarhaus. Aber Stiefel und Kutte bedeuteten achtzehn Stock runter mit dem Fahrstuhl! Fünfhundert Türen auf- und zuschließen und den Koffer mit den Wintersachen aus der Abstellkammer holen. Achtzehn Stock wieder hoch. Koffer auf, Klamotten raus. Selbstverständlich kriegte die Familie Behrendt ihre Sachen nicht in der Wohnung unter. Mutter Ingrid hatte allein zwei Schränke für sich. Drei gingen überhaupt nur in die Wohnung, wollte man noch was anderes reinstellen.

Völlig geschafft stand er nach dieser Prozedur dann wieder im Fahrstuhl. Er hatte nur einen einzigen Gedanken: Hoffentlich hält das Ding bis unten nicht, dann schaffe ich es noch. Aber sofort wurde die Fahrt langsamer, die automatischen Türen öffneten sich. Und Regine stieg ein. Komischerweise trafen sie sich oft im Fahrstuhl. Regine, das Fahrstuhlmädchen.

Er war dann außerordentlich schnell in der Schule gewesen. Er war gerannt wie 'n Idiot, weil er nicht unbedingt mit Regine zusammen ankommen wollte. Mit der Erdmann nicht, schon Sibylles wegen. Die hätte gleich wieder sonst was gedacht. Im übrigen fand er es bescheuert, dass sich in der Klasse alle mit dem Nachnamen anredeten. Schon weil Nachnamen länger sind. Aber er machte es natürlich nicht anders. Nur zu Micha und Sibylle sagte er Micha und Sibylle, sonst statt Elke, Enrico oder Peter immer Lebrecht, Denzelmann und Weißfinger. Sie hätten sich mit Fräulein Lebrecht und Herr Weißfinger betiteln sollen. Das wäre wenigstens stilvoll gewesen: Fräulein Lebrecht, würden Sie so freundlich sein, einen Blick in Ihre Russischübersetzung zu gestatten? O bitte sehr. Es wird mir jederzeit ein besonderes Vergnügen bereiten.

Man hatte auf ihn gewartet. Die Klasse samt der Pippig. So richtig anfangen konnte es ohne ihn nicht. Er setzte sich zwischen Lebrecht und Denzelmann ins Präsidium.

Natürlich gab es ein Präsidium. Zu einer Versammlung gehört schließlich ein Präsidium. Und wenn es nur zwei zusammengestellte Schultische waren! Als Regine dann auf ihrem Platz saß, ging die Sache los.

Er musste sich mit dem Rechenschaftsbericht abstrampeln, wer sonst? Er war ja der Boss, und so was gehörte zu seinem Amt. Einen halben Nachmittag hatte ihn das Ding gekostet. Zuerst wollten sie's zusammen machen, kollektiv — die Leitung. So was geht bekanntlich meist in die Hosen! Aber es gibt überall Leute, die das ums Verrecken nicht begreifen wollen. Er las und las an diesem Bericht. Und die Klasse machte es sich bequem. Jeder weiß doch, wie lange so was dauert. Man schrieb sich Zettelchen, einige holten Bücher oder Zeitungen hervor. Nur Sibylle hatte Mitleid mit ihm und schenkte ihm ab und zu einen schönen Blick. Das fand er wirklich kumplig. Aber auf die anderen war er stinksauer. Wenigstens zuhören konnten sie ja! In solchen Augenblicken fühlte er etwas wie Solidarität mit den Lehrern. Die standen auch manchmal vor der Klasse und erzählten und erzählten, und kein Schwein interessierte sich dafür. Aber er hatte sich was ausgedacht, um die Szene zu beleben. In seinem Bericht haute er Schulz, Tauber und die König an. Die versauten der Klasse in den verschiedensten Fächern regelmäßig den Durchschnitt. Er sagte beziehungsweise verlas zum Schluss folgendes: „Wir fordern die Genannten auf, vor dem Klassenkollektiv zu ihren Leistungen Stellung zu nehmen."

Die Belebung der Szene, die er sich versprach, fand zunächst nicht statt. Man schwieg einmütig, vor allem die Betroffenen. Er wartete eine Weile, dann wurde er wütend. „Hat es euch die Sprache verschlagen oder was?"

Der dicken König standen Schweißperlen auf dem Gesicht. Sie quälte sich. Er sah sie an und wartete. Die Lebrecht kam der König zu Hilfe. „Sie ist besser geworden, seit wir zusammen üben."

Na gut, Schwein gehabt, dachte er und sah zu Schulz und Tauber. Die grinsten. Es ärgerte ihn maßlos. Er griff sie direkt an: „Wie ihr eure Leistungen verbessern wollt, möchten wir wissen."

In der Klasse wurde es unruhig, denn die meisten wollten das gar nicht wissen. Sie wollten die Sache zu Ende bringen und nach Hause gehen. Was denn sonst? Aber er konnte nun nicht mehr zurück: „Vielleicht kriegt ihr 'ne Antwort zusammen?“

Schulz und Tauber spielten Überraschung: „Meinst du uns?"

Er sah sie nur an.

Schulz stieß Tauber in die Seite. „Du, der meint uns!"