Das Mädchen im Wald - Jennifer McMahon - E-Book

Das Mädchen im Wald E-Book

Jennifer McMahon

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Beschreibung

Tief im Wald hört dich keiner schreien. Nach über zwanzig Jahren kehrt Kate Cypher zum ersten Mal in ihr Heimatdorf in Massachusetts zurück. Kurz darauf geschieht ein Mord an einem jungen Mädchen. Die Umstände der Tat alarmieren Kate: Sie erinnern an den Tod ihrer besten Freundin Del. Ist der Mörder von damals noch auf freiem Fuß? Hat man den Falschen für die grausame Tat büßen lassen? Kate nimmt die Spur des Täters auf. Bald merkt sie, dass sie nicht die Einzige ist. Und im Dorf glaubt man schon lange, dass es Del ist, die Rache für ihren Tod fordert ...

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Seitenzahl: 368

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Jennifer McMahon

Das Mädchen im Wald

Aus dem Englischen von Barbara Ostrop

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Tief im Wald hört dich keiner schreien.

 

Nach über zwanzig Jahren kehrt Kate Cypher zum ersten Mal in ihr Heimatdorf in Massachusetts zurück. Kurz darauf geschieht ein Mord an einem jungen Mädchen. Die Umstände der Tat alarmieren Kate: Sie erinnern an den Tod ihrer besten Freundin Del. Ist der Mörder von damals noch auf freiem Fuß? Hat man den Falschen für die grausame Tat büßen lassen?

 

Kate nimmt die Spur des Täters auf. Bald merkt sie, dass sie nicht die Einzige ist. Und im Dorf glaubt man schon lange, dass es Del ist, die Rache für ihren Tod fordert ...

Über Jennifer McMahon

Jennifer McMahon wuchs in Connecticut auf. Sie hat als Anstreicherin, Farmarbeiterin, Druckvorlagenherstellerin, Pizza-Ausfahrerin und in einem Obdachlosenheim gearbeitet und war in der Betreuung seelisch kranker Kinder und Erwachsener tätig. Die Autorin lebt mit ihrem Freund und der gemeinsamen Tochter in Vermont.

Inhaltsübersicht

Für meine Mutter, ...Prolog7. November 2002 21.30 Uhr17. November 2002 22.20 UhrErster Teil • Damals und heute: Frühjahr 1971, 7.–16. November 2002Erstes Kapitel 1971, Ende AprilZweites Kapitel 7. November 2002Drittes Kapitel 1971, Ende AprilViertes Kapitel 8. November 2002Fünftes Kapitel 1971, Anfang MaiSechstes Kapitel 10.–13. November 2002Siebtes Kapitel 1971, Ende MaiAchtes Kapitel 14. November 2002Neuntes Kapitel 1971, Anfang bis Mitte JuniZehntes Kapitel 15. November 2002Elftes Kapitel 16. Juni 1971 und ein Tag im Herbst 1973Zwölftes Kapitel 15. und 16. November 2003Zweiter Teil • Die letzten Tage: 17. November 2002, 16. Juni 1971Dreizehntes Kapitel 17. November 2002Vierzehntes Kapitel 17. November 2002Fünfzehntes Kapitel 16. Juni 1971Sechzehntes Kapitel 17. November 2002Siebzehntes Kapitel 17. November 2002Achtzehntes Kapitel 17. November 2002Dritter Teil • 24. November 2002Neunzehntes Kapitel 24. November 2002Dank

Für meine Mutter, die mich gelehrt hat, an Geister zu glauben – und meinen Vater, den ewigen Skeptiker

Prolog

7. November 2002 21.30 Uhr

«Als die Kartoffeltrine ermordet wurde, schnitt der Mörder ihr das Herz aus dem Leib. Er vergrub es, aber am nächsten Tag ist sie auferstanden – und zwar genau an der Stelle, wo ihr Herz vergraben lag.» Wie um seine Worte zu bekräftigen, stieß Ryan mit einem Stock ins Lagerfeuer, und eine Fontäne von Funken stob in den Nachthimmel auf.

Opal rückte näher an Ryan heran. Er war fünfzehn und irgendwie süß auf seine Art, Farmersohn durch und durch. Tori behauptete, Ryan sei total in Opal verknallt. Tori war diejenige, die die ganze Sache angeleiert und gesagt hatte, es würde Spaß machen, in den Wald zu gehen und mit den älteren Jungs rumzumachen. Opal war zwölf und hatte noch nie einen Jungen geküsst, aber das würde sie nicht zugeben, nicht einmal gegenüber ihrer besten Freundin.

«Was denn, wie ein Zombie?», fragte Tori. Opal war still – sie hasste die Geschichten von der Kartoffeltrine. Sie hasste sie, weil sie wusste, dass sie wahr waren.

«Genau, sie kehrte von den Toten zurück wie ein Zombie. Das ist wie bei einer Kartoffel: Wenn man sie in Stücke schneidet und eins davon in der Erde vergräbt – und da reicht schon ein winziges Stückchen Schale, wenn Augen daran sind –, dann wächst eine neue Kartoffelpflanze daraus.» Ryan zerbrach den Stock, der wie ein Knochen zersplitterte, und warf ihn ins Feuer.

Opal zitterte. Sie dachte an den Besuch, den sie an diesem Nachmittag erhalten hatte. Aber nein, an so etwas durfte sie nicht denken. Und sie war gescheit genug, den anderen nichts davon zu erzählen. Die würden sie für eine Lügnerin oder eine Verrückte halten – wenn nicht sogar für beides.

«Und sie geht jetzt in den Wäldern hier um», fügte Sam hinzu. «Wisst ihr, woran man merkt, dass sie kommt? Am Geruch. Dieser Geruch nach fauligen Kartoffeln. Den riecht man dreißig Meter weit.»

«Ach, komm schon, hör auf mit dem Scheiß!» Tori verdrehte die Augen. Sam und sie gingen sozusagen miteinander.

«Also, jetzt aber mal Klartext – du glaubst doch nicht wirklich an die Kartoffeltrine?», fragte Ryan ungläubig.

«Ich glaube, dass sie einmal gelebt hat. Das weiß ich sogar. Meine Mom ist mit ihr zur Schule gegangen. Sie war einfach nur ein armes Kind, das ermordet wurde. Und diese ganze Gespensterscheiße? Das ist ein … wie heißt das noch? Ein moderner Mythos.»

«Mein Gott, Tori, hast du etwa vergessen, dass Dan und Chris sie letzte Woche gesehen haben, und zwar genau hier?», warf Opal ein. «Und was ist mit Becky Sheridans kleiner Schwester Janey? Sie sagt, die Kartoffeltrine ist ihr auf dem ehemaligen Griswold-Feld begegnet und hat sie in den Kartoffelkeller gesperrt.»

Und was würdest du erst zu meiner Geschichte sagen, dachte Opal.

«Mensch, seid doch nicht kindisch. Dan und Chris waren wie üblich bekifft. Und Janey hat Unsinn angestellt und ist dabei in die Klemme geraten.» Tori hob die Hände. Was soll das Theater, sagte ihre Geste.

«Klar», erwiderte Opal. «Die Tür war von außen verriegelt, Schlaumeier. Wie soll sie das wohl hingekriegt haben?»

«Ich sag ja nur, dass es Erklärungen gibt.»

«Und ich sag ja nur, dass es für manche Dinge eben keine Erklärungen gibt», gab Opal zurück.

Opal wusste, dass Tori ihr noch immer böse war. Wegen der Jacke. Tori hatte heute Nachmittag vor dem Treffen mit den Jungs herausgefunden, dass Opal sich ihre Windjacke ausgeliehen hatte – ohne vorher zu fragen. Das war allein schon schlimm genug, aber blöderweise hatte Opal die Jacke obendrein getragen, als sie ihre Fahrradkette montierte, und jetzt war Tori wütend wegen der schwarzen Schmiere auf dem linken Ärmel. Opal hatte ihr versprechen müssen, die Jacke in die Reinigung zu bringen und dafür zu zahlen. Und bis das gute Stück zurück war, musste Opal Tori ihre eigene Jacke leihen. Nur gehörte aber Opal diese Jacke genau genommen gar nicht. Es war die älteste Jacke ihrer Mutter, die Lieblingsjacke, und Opal hatte sie schon so oft ausgeliehen, ohne zu fragen, dass ihr das inzwischen ganz streng verboten war. Es war eine rehbraune Wildlederjacke mit Fransen vorn und an den Ärmeln. Sie sah aus, als gehörte sie einem Country- oder Rockstar, und stand, wie Opal zugeben musste, Tori, die ein bisschen älter war und schon weibliche Rundungen hatte, eindeutig besser. Die beiden Mädchen hatten den gleichen Haarschnitt (von Shirley im Friseursalon Hair Today am Stadtrand) und waren beide blond, aber da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf Opal wusste, dass Tori die hübschere war, diejenige, nach der sich die Jungs umschauten. Aber das war ihr, ehrlich gesagt, meistens vollkommen schnuppe. Opal hatte andere Sorgen.

Sie wusste, dass ihre Gewohnheit, sich Sachen auszuleihen, andere Leute nervte und sie selbst vermutlich irgendwann einmal in die Bredouille bringen würde, konnte es aber einfach nicht lassen. Oft passierte es ihr ganz ungewollt. Wie kürzlich, als sie Toris Windjacke angezogen hatte – das hatte sie überhaupt erst gemerkt, als sie schon fast zu Hause angekommen war. Manche Leute rauchten. Manche kauten Fingernägel. Opal lieh sich Sachen aus. Stehlen konnte man das eigentlich nicht nennen. Sie nahm ja nur die Sachen von Leuten, die sie kannte und mochte und denen sie sich nahe fühlte. Und sie gab sich wirklich Mühe, alles unbeschädigt zurückzugeben, bevor überhaupt auffiel, dass etwas fehlte. Irgendwie versetzte ihr das Ausborgen einen Kick. Wenn sie so ein Leihstück bei sich trug, kam es ihr so vor, als wäre sie plötzlich mehr als nur ein zwölfjähriges Mädchen. Diese Sachen waren wie Amulette, Talismane, die irgendwie etwas von der Seele ihrer eigentlichen Besitzer in sich aufgenommen hatten.

***

Die Nacht war kalt. Die vier Jugendlichen saßen dicht beim Feuer, und die Jungs gaben noch mehr Kartoffeltrinen-Geschichten zum Besten. Tori schwieg meistens, rauchte die Camel Lights, die sie von ihrem Dad stibitzt hatte, wobei sie sich gelegentlich das Haar zurückstrich; bei den abwegigsten Storys schnaubte sie verächtlich und schüttelte den Kopf.

Es gab mehr als genug Geschichten, da musste sie nicht auch noch ihren Senf dazugeben. Jedes Kind in New Canaan hatte sein ganzes Leben lang immer wieder gehört, dass die Kartoffeltrine im Wald, wo sie ermordet worden war, herumspukte, auf der Suche nach ihrem Mörder, und dass sie sich dabei an jedem rächte, der ihr über den Weg lief.

«Ich wette, sie geht deswegen um, weil ihr Mörder immer noch unter uns ist. Sie kennt ihn und findet keine Ruhe, bis er tot ist», meinte Ryan.

«Aber sie ist nicht nur auf ihn böse … sondern auf die ganze Scheißstadt. Sie hat die ganze Stadt verflucht», bemerkte Sam.

«Fluch hin oder her, ich muss mal pinkeln. Ich bin gleich wieder da.» Tori stand auf und zog die Wildlederjacke enger um ihren Körper.

«Nimm die Taschenlampe mit», sagte Sam.

«Der Mond scheint. Ich finde mich schon zurecht», erwiderte Tori und trat aus dem Feuerschein ins Dunkle.

«Pass auf! Ich rieche faulige Kartoffeln», rief Sam ihr nach.

«Arschloch!», schrie sie zurück.

Sie lauschten auf ihre Schritte, auf das Rascheln von Laub und morschen Zweigen, das sich immer weiter entfernte und dann ganz verstummte. Einmal hörten sie Tori leise fluchen – wahrscheinlich hatte sie sich mit dem Fuß in einer Ranke verfangen. Das Feuer knisterte. Sie erzählten sich noch ein paar Geschichten.

Nach fünf Minuten sagte Opal, Sam solle Tori suchen. Die Jungs taten das mit der Bemerkung ab, Mädchen brauchten immer ewig zum Pinkeln, und rissen dann Witze darüber, was die immer so lange trieben.

Nach zehn Minuten riefen sie nach Tori, bekamen aber keine Antwort. Die Jungs behaupteten, Tori versuche, ihnen einen Schrecken einzujagen. Das sei einfach nur ein blöder Scherz.

«Okay», sagte Opal schließlich. «Ihr beiden Helden könnt ja hierbleiben. Ich geh sie suchen.» Sie schnappte sich Ryans Taschenlampe und verschwand in der Dunkelheit.

***

Ryan und Sam blieben beim Feuer zurück und amüsierten sich darüber, wie hysterisch die Mädels manchmal reagierten. Waren sie denn nicht genau deswegen hierhergekommen? Genau wie zahllose Jungen vor ihnen? Damit die Mädels sich im Wald ein bisschen ängstigten und man sie trösten musste. War dieser ganze Gespensterquatsch nicht nur ein Vorwand, um in den Wald zu gehen und rumzumachen? Lagen im Wald hinter der ehemaligen Griswold-Farm nicht überall leere Flaschen und gebrauchte Kondome herum? Zurückgeblieben war hier so einiges, aber gewiss nicht der Geist eines gequälten kleinen Mädchens.

Opals Aufschrei riss sie aus ihren Witzeleien. Sie rannten weg vom warmen Feuer, dorthin, wo der schrille Schrei im dunklen Dickicht des Waldes erklungen war. Sie sahen das schwankende Licht der Taschenlampe zwischen den Bäumen und hörten beim Näherkommen Opals Schluchzen.

Ryan war als Erster da – er blieb abrupt stehen und trat einen Schritt zurück.

«Scheiße, was ist das?», stieß er hervor.

Unter einem großen, knorrigen Ahornbaum lag Tori. Sie war nackt und hatte einen Strick um den Hals. An der linken Brust fehlte ein säuberlich herausgeschnittenes, quadratisches Stück Haut. Ihre Kleider lagen sorgfältig zusammengelegt neben ihr auf einem Stapel. Opal stand über Tori gebeugt, hatte die Hand an die Wange gelegt und stieß schreckliche, schluchzende Laute aus. Die Taschenlampe tanzte über Toris blasse Haut hinweg.

«Die verarscht uns», schrie Sam und lachte, ein schrilles, verrückt klingendes Lachen. «Das ist doch totale Scheiße. Komm schon.» Er stieß Tori mit dem Fuß an und schob ihr Gesicht in den Schein der Taschenlampe. Zwischen blau verfärbten Lippen stand die Zunge ein kleines Stück heraus. Die Augen, aufgerissen und glasig wie Puppenaugen, traten aus ihren Höhlen. Sam begann zu schreien.

Ryan war dann derjenige, der den Bann brach, Opal die Taschenlampe aus der Hand nahm und sagte, sie müssten Hilfe holen. Die Jungen rannten los und merkten gar nicht, dass Opal, die ihnen zunächst gefolgt war, noch einmal kehrtmachte.

Das Schluchzen zurückhaltend und fest entschlossen, die Leiche der Freundin nicht anzusehen, ging sie zur Lichtung zurück und dort sofort zum Kleiderstapel. Die Wildlederjacke lag ordentlich gefaltet ganz zuunterst. Sie legte die anderen Kleider zur Seite, und dabei fiel ihr der weiße Spitzenslip auf, der gefaltet zuoberst auf dem Stapel lag und im Mondlicht schimmerte wie eine große Motte.

Sie zog die Jacke an – Toris Körperwärme hing noch darin, und ihr wurde fast schlecht. Sie warf einen letzten Blick auf die Leiche. Das Mädchen lag lang ausgestreckt auf dem Waldboden, leblos wie eine Schaufensterpuppe. Unmöglich, dass das derselbe Mensch war, der sie nur wenige Stunden zuvor wegen der verdreckten Windjacke zusammengestaucht hatte. Das Mädchen, das es ablehnte, an Geister zu glauben.

Opal hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und zwar nicht von dem leeren Blick ihrer toten Freundin, sondern von jemand anderem; etwas anderem. Langsam und widerstrebend drehte sie sich um.

Und dann erhaschte sie einen kurzen Blick darauf: eine kleine, bleiche Gestalt in einem langen Kleid, die sich keine sechs Meter entfernt hinter einem Baum verbarg. Opal sah zu, wie die Gestalt sich zurückzog, wie sie im Zickzack zwischen den Stämmen der Ahornbäume zurückwich, bis das Dunkel des Waldes sie verschluckte.

Opal rannte, so schnell sie konnte, um die Jungs einzuholen, das Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie biss sich auf die Zunge, um nicht zu schreien. Dass sie jetzt die Jacke trug, die Tori den ganzen Abend angehabt hatte, würde den beiden, wie sie inständig hoffte, entgehen. So war es auch. Und sie würde ihnen bestimmt nicht erzählen, was sie gesehen hatte, als sie noch einmal umgekehrt war, um die Jacke zu holen.

Erst einige Stunden später, als die Polizei sie befragt und der Coroner Toris Leiche mitgenommen hatte, wurde Opal klar, was für einen Fehler sie gerade begangen hatte. Sie hatte nicht erklären wollen, warum die Ermordete die Jacke von Opals Mutter getragen hatte, die Opal ja eigentlich nicht mehr ausleihen durfte. Aber war das denn nicht inzwischen scheißegal? Und was war eigentlich mit ihr los, dass sie an so eine blöde Jacke auch nur einen Gedanken verschwendete? Jetzt hatte sie Beweismittel an einem Tatort manipuliert, und das war bestimmt ein Verbrechen. Am besten hängte sie die Jacke wieder in den Schrank und erzählte niemandem etwas von der Sache. Und genau das tat sie dann auch, als ihr auffiel, was an der Jacke fehlte.

Der Stern. Der grauschwarz angelaufene Sheriffstern, den sie erst am Nachmittag angesteckt hatte, war verschwunden.

«Shit», sagte sie, als sie die beiden kleinen Löchlein befühlte, die von der Anstecknadel zurückgeblieben waren.

Der Stern musste irgendwo im Wald abgefallen sein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als noch einmal zurückzugehen und ihn zu suchen. Das musste sie erledigen, bevor sein Fehlen auffiel.

Zum hunderttausendsten Mal sagte sie sich: «Das war’s. Schluss mit dem Ausleihen.» Und sie glaubte wirklich, dass es ihr diesmal Ernst damit war.

17. November 200222.20 Uhr

Ich heiße Kate Cypher und bin einundvierzig Jahre alt.

Heute Nacht habe ich einen Menschen getötet.

Ich habe mich immer für jemanden gehalten, der unfähig ist, einen Mord zu begehen. An Selbstmord habe ich vielleicht ein- oder zweimal gedacht, aber an Mord? Niemals. Ich bin die reinste Friedenstaube. Die auf Friedensmärschen dabei ist und regelmäßig für Amnesty International spendet. Ich arbeite als Gesundheitspflegerin an einer Schule, Herrgott nochmal, und tröste die Kinder mit einem Smiley auf dem Wundpflaster.

Aber all das ändert nichts daran, dass ich, keine andere als ich selbst, den Abzug gedrückt und ein gut gezieltes Loch in das Herz eines anderen Menschen geschossen habe.

Um das alles zu erklären, müsste ich die ganze Geschichte erzählen. Ich müsste nicht nur zu Tori Millers Ermordung im Wald zurückgehen, die jetzt zehn Tage zurückliegt, sondern zu einem Mord, der vor mehr als dreißig Jahren geschah. Zu einem Zeitpunkt also, als ich mit einem Mädchen namens Del Griswold in die fünfte Klasse ging. An diesen Namen erinnert sich hier eigentlich keiner so recht. Gleichzeitig aber hat jeder schon von der Kartoffeltrine gehört. Sie ist zweifellos die bekannteste Einwohnerin New Canaans. Merkwürdig, wenn man bedenkt, dass sie zu Lebzeiten nur ein mageres Kind mit verschorften Knien war, das es, wie man schon auf den ersten Blick sehen konnte, niemals weit bringen würde.

Wie sehr wir uns da doch irrten.

Erster Teil Damals und heute: Frühjahr 1971 7.–16. November 2002

Ein Kartoffel, zwei Kartoffel,

drei Kartoffel, vier,

Sie hat einmal bei uns gelebt –

jetzt ist sie nicht mehr hier

Erstes Kapitel 1971, Ende April

«Fass ihn an», sagte sie.

«Auf gar keinen Fall. Igitt.»

«Los, du Angsthase.»

«Kommt nicht in Frage. O Gott, was ist nur mit den Augen passiert?»

«Ausgehackt, nehme ich an. Oder einfach vertrocknet und rausgefallen.»

«Grässlich.» Ich erschauderte. Zum Teil wegen des kalten Windes, zum Teil beim Gedanken an diese Augen. Es war Frühlingsbeginn. Der Boden war matschig und noch immer halb gefroren. In der Woche davor hatten wir den letzten Schneesturm dieses Winters gehabt, und noch klebten Schneereste am Boden und zerschmolzen zu Lachen und Rinnsalen, die durch die Ackerfurchen liefen.

«Los, Kate, du musst machen, was ich dir sage. Bei mir zu Hause bestimme ich. Schließlich habe ich dich auf unserem Land erwischt. Ich könnte dafür sorgen, dass du eingesperrt wirst. Oder meinen Daddy rufen, damit er mit seinem Gewehr kommt. Und jetzt fass ihn an.»

«Okay, wenn du ihn auch anfasst.»

Dels blasses Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Sie streckte ihre Hand mit den dreckigen Fingernägeln aus und strich dem toten Vogel vom Kopf bis zu den Schwanzfedern. Die Berührung wirkte beinahe zärtlich – als wäre der Vogel ein Wellensittich und ihr Haustier gewesen. Als hätte sie ihm einen Namen gegeben und ihn gefüttert. Als hätte er sein Leben lang für sie gesungen. So ein niedlicher kleiner Tweety, ein Vogel, der Polly-will-Futter sagen kann.

Die halb verweste Krähe baumelte schwer an ihrem Draht. Del gab ihr einen Schubs, sodass sie auf mich zuschwang. Es war, als spielten Del und ich eine perverse Art von Federball. Ich wich zurück. Del warf den Kopf mit dem strähnigen blonden Haar in den Nacken und lachte. Sie riss dabei den Mund auf, und ich bemerkte, dass ihr rechter Schneidezahn angeschlagen war. Es fehlte nur eine kleine Ecke, und es fiel gar nicht auf, wenn man nicht genau hinsah.

Der linke Fuß der Krähe war mit weiß beschichtetem Draht umwickelt, der, wie Del mir erklärte, haltbarer war als Schnur. An diesem Draht baumelte der Vogel etwa einen Meter über dem Boden von einem hohen Holzpfahl herab, der in der Mitte des kleinen, mit unregelmäßigen Reihen von Erbsenpflanzen bestellten Feldes in den Boden getrieben war. Entlang der Reihen bot rostiger, an kleineren Pfählen festgenagelter Maschendraht den jungen Pflänzchen Halt zum Wachsen.

Del sagte, ihr Bruder Nicky habe die Krähe vor zwei Wochen geschossen. Er habe sie beim Aufpicken der noch ungekeimten Erbsensaat erwischt und mit seinem Luftgewehr abgeknallt. Dann hätten Nicky und ihr Daddy die Krähe wie jedes Jahr im Feld aufgehängt, als Warnung für die anderen Krähen.

Ich streckte die Hand aus und berührte die fettigen schwarzen Federn des zerfetzten Flügels. Dort krabbelten Käfer herum, die unter die Federn krochen und sich ins Fleisch hineinbohrten. Metallisch grün glänzende Fliegen legten ihre Eier in die Körperöffnungen des kleinen Kadavers. Der Vogel, obgleich tot, vibrierte von Leben. Er stank wie eine alte Frikadelle, die in der Sonne gelegen hat. Wie der Waschbär, den meine Mutter einmal unter unserer Veranda entdeckt hatte, damals in Massachusetts, ganz weit hinten unter dem Bretterboden, wo man nicht daran kam. Wir mussten ihn liegen lassen, bis er ganz verwest war. Meine Mutter bestreute ihn durch die Ritzen zwischen den Brettern hindurch mit Kalk, den sie wie Weihnachtsschnee auf den aufgequollenen Kadaver rieseln ließ. Wochenlang lag der Gestank über der Veranda, drang durch Fenster und offene Türen ins Haus und blieb in Kleidern, Haut und Haaren haften. Der Geruch des Todes ist unverwechselbar.

Vor diesem Nachmittag, an dem Del mich erwischte und mir die Krähe zeigte, hatte ich schon fast einen Monat lang den Weg über die Felder der Griswolds genommen, wenn ich von der Schule nach Hause ging. Ich hatte gehofft, ihr zufällig zu begegnen. Eigentlich hatte ich gehofft, sie kurz aus der Ferne zu sehen – einen Blick auf sie zu erhaschen, ohne selbst gesehen zu werden. So hätte ich vielleicht in Erfahrung bringen können, ob die Gerüchte stimmten – Gerüchte, dass ihr Daddy in Wirklichkeit ihr Bruder sei, dass in ihrem Bett Hühner schliefen oder dass sie sich nur von rohen Kartoffeln ernähre. Und dann noch das tollste Gerücht von allen: Sie habe ein hinkendes Pony, auf dem man sie, wie einige Kinder behaupteten, schon nackt auf den Feldern hinter dem Haus habe umherreiten sehen.

Ich war klug genug, mich mit einem Mädchen wie Delores Griswold nicht anfreunden zu wollen. Ich wohnte zwar erst seit etwa einem halben Jahr in New Canaan, aber das reichte, um die Regeln zu kennen. Wenn man die fünfte Klasse lebend überstehen wollte, lautete die erste Regel, dass man sich nicht mit der Kartoffeltrine anfreundete. Nicht, wenn man auch mit den anderen Kindern klarkommen wollte. Del war hier der Paria. Das Kind, das von allen mit Begeisterung gehasst wurde. Sie war zu mager und kam in abgetragenen, schmutzigen Kleidern in die Schule, die sie oft von ihren Brüdern geerbt hatte. Sie war zwei Jahre älter als die meisten anderen Fünftklässler, weil sie länger im Kindergarten geblieben war und die vierte Klasse wiederholt hatte.

Der Dreck an ihrem Hals war so dick, dass es aussah, als wäre sie aus der Erde gebuddelt worden wie die Kartoffeln, die ihre Familie anbaute. Bleich genug war sie jedenfalls. Und wenn man in ihre Nähe kam, nahm man einen modrigen Erdgeruch wahr.

Wenn ich damals irgendwelche anderen Freundinnen gehabt hätte, wenn ich schon irgendein Bündnis eingegangen wäre, hätte ich vielleicht, nur vielleicht, nicht die Abkürzung über die gefrorenen Felder genommen, um einen Blick auf die nackt auf dem Pony reitende Del zu erhaschen. Vielleicht wäre ich ihr dann niemals über den Weg gelaufen. Dann hätte sie mir nicht ihr Geheimnis im Kartoffelkeller gezeigt und mich auch nicht gedrängt, die tote Krähe anzufassen.

Aber ich hatte keine Freundinnen und war genau wie Del eine Außenseiterin. Ein New-Hope-Kind, das mit einer Proviantdose voller gekochtem Gemüse, dicken Scheiben selbst gebackenem Vollkornbrot und einem Trockenobstnachtisch in die Schule kam. Wie sehnte ich mich damals danach, eins von den Mädchen zu sein, die Weißbrot mit Mortadella aßen. Oder mir meinetwegen sogar, wie Del, mit den alten Blechmarken, die an die armen Kinder ausgeteilt wurden, täglich ein warmes Mittagessen in der Cafeteria zu holen. Irgendetwas, das mich irgendeiner Gruppe zugehörig machte, damit ich mit anderen Kindern zusammen sein konnte, statt wie eine Aussätzige ganz allein am Tisch zu sitzen, mein Hippie-Essen zu mampfen und jeden dämlich anzulächeln, der vorbeiging.

Die Griswold-Farm lag am Fuße des Bullrush Hill. Oben auf dem Hügel lagen die fünfundvierzig Hektar von New Hope, der Landkommune, der meine Mutter sich im Herbst des Vorjahres mit fliegenden Fahnen angeschlossen hatte. Damals in Worcester, wo meine Mutter als Sekretärin arbeitete und wo ich richtige Freundinnen hatte – Freundinnen, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte und die mir auch für den Rest meines Lebens gereicht hätten –, hatte sie einen Mann namens Lazy Elk kennengelernt. Lazy Elk – dessen richtiger Name Mark Lubofski lautete – nahm sie im Handumdrehen für sich ein und überredete sie, mit ihm nach New Canaan, Vermont, zu ziehen, wo er seit beinahe einem Jahr mehr oder weniger durchgängig lebte. Er erzählte, ein Mann namens Gabriel werde dort etwas Revolutionäres aufziehen: eine utopische Gemeinschaft.

Um die Wahrheit zu sagen, war ich genauso in Lazy Elk und seine Geschichten verliebt wie meine Mutter. Er hatte ein freundliches Gesicht mit tief eingefurchten Falten um Augen und Mund. Da sein Haaransatz immer weiter zurückwich, trug er einen breitkrempigen Lederhut mit einer braun-weiß gestreiften Truthahnfeder. Den Hut nahm er nur zum Schlafengehen ab, und selbst dann lag er oft am Fußende des Bettes, wo manchmal auch eine der Katzen aus der Nachbarschaft nächtigte. Er erklärte mir, die Feder, die er hinter New Hope im Wald gefunden hatte, sei ein Talisman – ein Objekt mit magischer Kraft, das ihm helfe, geistig frei zu bleiben.

Also fuhren wir Freigeister in einem orangefarbenen VW-Bus los und erwarteten, das Paradies zu finden. Stattdessen fanden wir ein paar heruntergekommene Gebäude, einen Brunnen mit rostiger Handpumpe, eine Herde Ziegen, die nichts als Teufeleien im Kopf hatten, und ein Tipi aus Segeltuch, in dem wir viele Jahre leben würden. Diese Details hatte Lazy Elk in seiner Beschreibung von New Hope sorgfältig ausgelassen, doch obwohl meine Mutter und ich unsere anfängliche Enttäuschung nicht verbargen, glaubten wir doch noch, uns wie versprochen ein neues und besseres Leben aufbauen zu können. Entschlossen und hoffnungsvoll legte meine Mutter daher das Tipi mit bunten Webteppichen aus und sorgte für saubere Bettwäsche. Sie putzte die dreckigen Glasaufsätze der Öllampen und brachte Lazy Elk bei, vor dem Eintreten seine verdreckten Stiefel auszuziehen. Unser kleines, rundes Zuhause war zwar bei weitem nicht das Paradies, aber wenigstens sauber und hübsch.

Am Fuß des Bullrush Hill, wo unser Zufahrtsweg in die Railroad Street mündete, die selbst damals schon befestigt war, lag die Farm der Griswolds. Ursprünglich war sie eine Milchfarm gewesen, doch vor einigen Jahren hatte man die Kühe verkauft. Wenn es regnete, roch es aber noch immer nach Kuhdung. Wie der Geruch des Todes bleibt auch Stallgeruch lange haften.

Das Farmhaus der Griswolds war windschief und der weiße Anstrich schon mehr als erneuerungsbedürftig. Am Dach fehlten Schindeln, die kahle Stellen hinterlassen hatten. Unter der Dachkante nisteten Schwalben. Die verblichene rote Scheune mit dem alten Blechdach war vor langer Zeit in sich zusammengefallen, und die Ruine bot Dutzenden von wilden Katzen Unterschlupf. Dort lebten auch mehrere Hunde mit verschiedenen Gebrechen (der eine hatte nur drei Beine, einem anderen fehlte ein Auge, ein dritter war voller Geschwüre). Im Vorgarten, dessen festgetretene Erde nur sehr spärlich mit Gras bewachsen war, hing neben dem großen schwarzen Briefkasten mit dem Namen der Griswolds ein weißes Schild mit einer von Hand aufgemalten roten Beschriftung:

EIER

HEU

SCHWEINE

KARTOFFELEN

Hinter diesem Schild und etwa drei Meter von der Straße entfernt stand ein kleiner, nach vorne offener Holzschuppen mit einem rostigen Blechdach. Dort lagen jeden Tag drei oder vier Dutzend Eier in Eierkartons, und daneben standen ein paar Körbe mit Kartoffeln, Bohnen, Mais oder was man sonst gerade geerntet hatte. Der Preis stand jeweils auf einem mit Reißbrettstiften an die Wand gehefteten Stück Karton, und das Geld konnte man in ein Metallkästchen legen.

NEHMEN SIE SICH IHR WECHSELGELD SELBST – SEIEN SIE EHRLICH! DANKE stand auf einem Zettel, der auf den zerbeulten grauen Metalldeckel geklebt war. Von der Decke hing eine Waage herab, aber als meine Mutter sie einmal benutzen wollte, funktionierte der Zeiger nicht, weil innen die Feder zerbrochen war.

Auf einem anderen Schild stand, man solle im Haus nach Heu, Schweinefleisch, Ferkeln und abzugebenden Kätzchen fragen.

Bevor in New Hope eigene Hühner angeschafft wurden, gingen meine Mutter und ich regelmäßig den Hügel hinunter, um am Stand der Griswolds Eier zu kaufen. Wir begegneten Mr. Griswold selten, sahen ihn aber manchmal in der Ferne auf seinem Traktor sitzen. Seine Frau war, wie wir gehört hatten, vor Jahren an Krebs gestorben und hatte ihm eine ganze Kinderschar zurückgelassen. Oft sahen wir eines seiner Kinder auf dem Hof bei irgendeiner Arbeit, oder wir hörten einen Jugendlichen unter der Motorhaube eines rostigen, auf Hohlblocksteinen aufgebockten Wagens auf Metall herumhämmern. Es waren schrecklich viele Kinder – mit Del acht. Sie war das einzige Mädchen.

***

«Du lebst bei den Hippies, nicht wahr?», fragte mich Del, als wir uns an jenem Tag auf dem Erbsenfeld gegenüberstanden, um uns herum die Erbsenpflanzen, deren zarte, bleiche Ranken in die Höhe strebten, zwischen uns die tote Krähe.

«Ja.»

«Bist du ein Hippie?»

«Nein.»

«Hippies sind blöd», sagte sie.

Ich antwortete nicht, sondern trat nur gegen einen getrockneten Matschklumpen.

«Hippies sind blöd, hab ich gesagt.» Ihre hellen, graublauen Augen funkelten mich böse an.

«Ja, sicher.» Ich trat einen kleinen Schritt zurück, aus Angst, sie könnte mir eine runterhauen.

«Was, ja sicher?»

«Sicher, ich denk schon, dass Hippies blöd sind.»

Del lächelte, was ihren kaputten Zahn zum Vorschein brachte.

«Ich kann dir was zeigen. Ein Geheimnis. Willst du es sehen?»

«Ja, schon», antwortete ich, etwas besorgt, weil sie mir vor ein paar Minuten genau dieselbe Frage gestellt hatte, bevor sie mich zu der verwesten Krähe führte.

Ich folgte Del durch die Reihen junger Erbsenpflanzen und dann über die Beete mit Spinat, Karotten und Rüben. Ich erkannte die Pflanzen wieder, die auch im Gemüsegarten von New Hope wuchsen. Unser Boden war aber dunkler und lockerer als der der Griswolds. Und der Garten war zwar kleiner, wirkte aber gepflegter und ordentlicher, und zwischen den einzelnen Beeten waren mit Sägespänen ausgestreute Pfade angelegt. Die Felder der Griswolds waren mit Steinen, rostigen Pflugscharen und liegen gebliebenen Stacheldrahtrollen übersät, und wir trampelten direkt zwischen den krummen Reihen der Pflänzchen hindurch. Wie eine Ermahnung an alles Lebendige, nur ja nicht zu wachsen, baumelte mittendrin die Krähe mit dem Kopf nach unten an ihrem Draht.

Del und ich kamen an einer kleinen, eingezäunten Weide vorbei, auf der eine große graue Stute stand und Heu fraß. Daneben stand ein geflecktes Pony. Bei unserem Anblick erschrak es und flüchtete hinter den Stall, und da sah ich, dass es leicht hinkte.

«Ist das dein Pony?»

«Ja. Er heißt Spitfire – Giftspritze. Er beißt.»

Unmittelbar hinter der Pferdeweide kam der Schweinepferch, wo sich fünf riesige Schweine zusammen mit etwa einem Dutzend Ferkeln im grauen Matsch suhlten. In der hinteren rechten Ecke des Pferchs war ein Sperrholzverschlag, der wie eine große Hundehütte aussah. Vorne am Zaun standen ein großer Metalltrog mit Wasser und ein Trog mit schleimigen Essensresten.

Ich blieb stehen, stellte mich auf die unterste Strebe und beugte mich über den Zaun, um mir die Ferkel anzuschauen. Meine Nase kribbelte von dem scharfen Gestank des Schweinedrecks. Ich sah in die winzigen Äuglein einer großen Sau mit geschwollenen Zitzen und dachte gerade, dass ich irgendwo einmal gehört hatte, Schweine seien klug, sogar noch klüger als Hunde, als Del sich hinter mich schlich und mir einen Stoß versetzte. Es war ein kräftiger Stoß, nicht so ein kleiner spielerischer Schubser. Ich prallte mit dem Bauch gegen die oberste Strebe, und Kopf und Schultern flogen nach vorn. Beinahe wäre ich über den Zaun und kopfüber in den Dreck gefallen.

«Vorsicht», hänselte mich Del. «Sonst fressen dich die Schweine. Wenn du da reinfällst, bleiben nur ein paar Knochen von dir übrig.»

Ich sprang vom Zaun und fuhr zu Del herum, um ihr eine zu knallen, aber sie lenkte mich schnell ab, und meine Wut verflog.

«Siehst du die Muttersau da?», fragte sie und zeigte auf die Sau, die ich gerade betrachtet hatte. «Letzte Woche hat sie drei von ihren Ferkeln aufgefressen. Schweine sind wilde Bestien.»

Ich öffnete die geballten Fäuste und atmete durch.

Del führte mich hinter das weiße Haus, das auf einer kleinen Anhöhe stand, und beschrieb mir die Szene, wie Mutter Sau ihre Kinder verschlungen hatte.

«Zähne wie Rasierklingen», sagte sie. «Hinterher waren nur noch drei kleine Schwänzchen übrig.»

Knapp zwanzig Meter hinter dem Haus kamen wir zu einer Holztür, die in den Hang eingelassen war. Sie erinnerte mich an die Stahltür, die in unserem alten gemieteten Haus in Massachusetts in den Keller geführt hatte. Del bückte sich, entriegelte die schwere Tür und zog sie auf. Eine grob gezimmerte Holztreppe führte in eine dunkle Grube hinunter, die wie ein Kerker oder ein Luftschutzbunker wirkte.

«Los. Du zuerst. Ich muss die Tür hinter uns zumachen.»

Ich stieg langsam die Treppe hinunter und stellte fest, dass ich mich in einem Kartoffelkeller befand: einem kleinen Raum, gut zwei mal zwei Meter, mit Wänden aus Hohlblocksteinen, die mit Regalen vollgestellt waren. Auf den durchhängenden Regalbrettern standen reihenweise Einmachgläser mit Obst und Gemüse und Körbe voller weicher, gekeimter Kartoffeln, angefaulter Äpfel und schlaffer Karotten. Del schloss die Tür, und es war plötzlich stockdunkel. Ich befürchtete, dass sie mir einen Streich gespielt und mich in diesem feuchten Loch eingesperrt hatte, um mich bei lebendigem Leibe zu begraben. Vielleicht war das hier schließlich doch ein Kerker, eine Art Folterkeller. Ich schnappte nervös nach Luft. Es roch nach feuchter Erde und vergammeltem Gemüse. Genau wie Del.

«Del?»

«Moment noch, ich zünde ein Streichholz an.» Sie streifte mich, dann hörte ich, wie sie auf dem Regal herumtastete, eine Streichholzschachtel schüttelte, ein Streichholz herausnahm und es anstrich. Der kleine Raum schimmerte orangegelb auf. Del holte ein altes Marmeladenglas mit einer Kerze darin vom Regal und zündete die Kerze an. Sie blies das Streichholz aus und beleuchtete mein Gesicht mit dem Kerzenstummel im Glas, als wüsste sie nicht recht, was von mir zu halten sei.

«Okay, wenn ich dir mein Geheimnis zeigen soll, musst du mir versprechen, es niemandem zu verraten. Du musst es mir schwören.» Es war, als blickten ihre hellen Augen durch mich hindurch.

«Einverstanden.»

«Schwörst du es bei deinem Leben?»

«Ja», murmelte ich. Sie nahm die Kerze von meinem Gesicht weg und stellte sie auf das Regal, neben eine Reihe staubbedeckter Weckgläser mit Tomaten.

«Hand aufs Herz und Stein und Bein?»

«Hand aufs Herz und Stein und Bein.»

«Ich hab eine Tätowierung», erzählte sie. Dann knöpfte sie ihre schmutzige gelbe Bluse auf, die mit kleinen Lassos, Hüten und Pferden bestickt war.

Ich wollte sie daran hindern und ihr sagen, dass ich ihr auch glaubte, ohne die Tätowierung zu sehen, doch dafür war es schon zu spät. Die Bluse war herunter. Zu meiner Erleichterung trug sie ein schmuddeliges weißes Baumwollunterhemd mit einer gestickten rosa Blüte in der Mitte des Ausschnitts. Auch das zog sie ohne Zögern aus, und ich schaute verlegen zu Boden und dachte, dass die Geschichten, die ich gehört hatte, womöglich wahr waren – und doch stand ich hier mit der Kartoffeltrine im Keller. Was hatte ich mir dabei eigentlich gedacht? Wenn irgendeiner von meinen Schulkameraden das jemals spitz kriegte … Ich erschauderte und suchte krampfhaft nach einer Entschuldigung, um mich schnell zu verdrücken. Der Geruch von Erde wurde stärker.

«Also, willst du jetzt nicht hinschauen, oder was?»

Langsam hob ich den Blick von der gestampften Erde des Fußbodens zu Dels nacktem Oberkörper.

Del war ein mageres Kind – ich konnte bei ihr praktisch jede einzelne Rippe zählen. Sie sah aus, als wäre alle Farbe aus ihr herausgewaschen worden – selbst die Brustwarzen wirkten blass. Und dort, auf dem knochigen Rippenbogen, über der Stelle, wo ich das Herz vermutete, prangte der Buchstabe M. Ich trat näher, um ihn genauer zu betrachten, und verdrängte so gut wie möglich, dass es die Haut eines fremden Mädchens war, die ich ansah. Und nicht einfach nur Haut, sondern die Stelle, wo später einmal die Brüste sein würden. Ich konnte schon den ersten Ansatz davon erkennen, kleine Schwellungen, die an Dels magerem Körper fehl am Platz wirkten. Doch was mich interessierte, waren nicht Dels sich entwickelnde Brüste und der Unterschied zu meiner eigenen flachen Brust, sondern es war die Tätowierung.

Es war ein großes, zierlich verschnörkeltes M in Kursivschrift. Es war ihr mit schwarzer Tinte in die Haut geritzt worden, und zwar vor so kurzer Zeit, dass die Stelle noch immer rot und geschwollen war. Sie wirkte leicht entzündet, schmerzhaft. Ich zuckte zurück.

Die einzige Tätowierung, die ich bis dahin gesehen hatte, war ein verblasster Anker, den ein ehemaliger Freund meiner Mutter, der bei der Marine gedient hatte, auf dem Unterarm trug. Diesen Anker kannte ich, und dann natürlich Popeye, aber in der Situation, in der ich mich plötzlich befand, zählten Comicfiguren wohl nicht.

Ich bemühte mich, cool zu wirken. Als wäre das nichts Besonderes. Aber eine Tätowierung? Bei einer Fünftklässlerin? Del erschien mir fremdartiger denn je.

«Wofür steht das M?», fragte ich.

«Das darf ich dir nicht sagen.» Sie lächelte, ganz erfüllt von ihrem Geheimnis.

«Wer hat es dir gemacht?»

«Jemand, der mir etwas bedeutet.»

«Hat das denn nicht wehgetan?»

«Eigentlich nicht.»

«Es sieht aber so aus, als würde es jetzt wehtun.»

«Es tut gut weh.»

Ich fragte nicht, wie es denn war, wenn etwas schlecht wehtat. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, überhaupt irgendwas zu fragen, denn plötzlich ging die Holztür auf, und Licht fiel in den Kartoffelkeller. Ich blickte auf und sah oben auf der Treppe die Silhouette eines schlaksigen Jungen.

«Del, was zum Teufel treibst du hier? Und wer ist die andere da? Jesus Maria, macht ihr beiden miteinander rum oder was?» Er hatte eine kratzige Stimme, als hätte er Halsschmerzen und es täte ihm weh, laut zu sprechen.

Del wandte sich hastig ab und streifte ihr Unterhemd über.

«Hau ab, Nicky!», rief sie, ihm den Rücken zugewandt, und mir wurde klar, dass dort der Krähenmörder stand. Ich blinzelte gegen das Licht, um sein Gesicht zu erkennen. Ich sah struppiges, blassblondes Haar und sonderbar lange Arme, die unbeholfen herabhingen. Orang-Utan-Arme. Als meine Augen sich an das Licht gewöhnten, fiel mir auf, dass der Junge so braun gebrannt war wie Del blass. Ein dunkelhäutiger Affenjunge in zerrissenen Jeans und einem weißen T-Shirt. An den riesigen Füßen trug er schwere Arbeitsstiefel.

«Ja, ich hau sofort ab», sagte er mit seiner heiseren Stimme. «Ich hau ins Haus ab und erzähl Daddy, was ich da gerade gesehen hab.»

«Du Scheißkerl», zischte Del zu ihm hinauf.

«Wer ist deine Freundin da?», fragte er mit einem schmallippigen, durchtriebenen Lächeln.

«Geht dich ’nen Dreck an», antwortete Del.

Der Junge lachte mit weiß aufblitzenden Zähnen in seinem gebräunten Gesicht und zog sich dann langsam aus der Tür zurück.

«Mannomann, ich möcht’ nicht in deiner Haut stecken. Jetzt beziehst du aber gehörig Dresche von Daddy.» Damit lief er zum Haus und ließ die Tür des Kartoffelkellers offen.

«Du gehst jetzt besser», wies Del mich an. «Aber komm morgen wieder. Wir treffen uns nach der Schule auf dem Feld. Bei der Krähe. Okay?»

«Okay», antwortete ich.

Sie stürmte die Treppe des Kartoffelkellers hinauf, blieb oben noch einmal stehen und rief zu mir hinunter: «See you later, alligator!» Dann jagte sie hinter ihrem Bruder her ins Haus.

Ich blies die Kerze aus, schlich langsam die Holztreppe hinauf und spähte, an der Tür angekommen, vorsichtig nach rechts und links. Als ich niemanden sah, rannte ich los und wagte nicht, mich noch einmal nach dem Haus und nach Del und Nicky umzuschauen. Ich rannte an den Schweinen mit den rasiermesserscharfen Zähnen und an der Pferdeweide mit dem hinkenden Pony vorbei, über Spinat- und Möhrenbeete und über das Feld mit den jungen Erbsenpflanzen, wo noch immer die Krähe an ihrem Draht baumelte wie eine kaputte Marionette.

Hinter dem letzten Beet begann der Wald, und ich fand den Pfad, der auf den Bullrush Hill hinaufführte, zurück nach New Hope. Ich brauchte nur eine Viertelstunde für den Weg, doch nach diesem Besuch bei Del schien mir mein Zuhause Lichtjahre entfernt. In nicht mehr als einer Stunde hatte Del mir ein vollständiges, weit entferntes Universum mit vollkommen eigenen Regeln und Gefahren gezeigt. Ich brannte darauf zurückzukehren.

Zweites Kapitel 7. November 2002

«Ich kenn dich.»

Das waren die ersten Worte meiner Mutter, als ich heimkehrte, ihre Begrüßung, als ich sie in die Arme nahm. Ihr Körper blieb schlaff und reagierte nicht auf meine Umarmung. Die Arme baumelten kraftlos herunter, und beide Hände waren mit dicken Verbänden umwickelt. Mumienhände. Ich war dreitausend Meilen gereist, um sie zu besuchen, und sie erwiderte nicht einmal meine Umarmung. Ich zog mich mit ungeschickten, mechanischen Bewegungen von ihr zurück. Die Mumie begegnet dem Robotermädchen. Fehlte nur noch Lon Chaney oder Bela Lugosi, dann hätten wir die komplette Besetzung für einen netten, kleinen Horrorstreifen gehabt.

«Schön, dich zu sehen, Ma.» Ich zwang mich zu einem Lächeln.

Sie wiederholte ihre ersten Worte:

«Ich kenn dich.»

Sie stand vor mir, zerzaust und in einem abgetragenen Flanell-Nachthemd. Das Haar – lang, glatt und weiß wie Birkenrinde – hing ihr in wirren, fettigen Strähnen um den Kopf. An den Füßen trug sie Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Auf ihrem Kinn war ein gelber Fleck, vielleicht getrocknetes Eigelb. Ich schluckte die Antwort herunter, die mir auf der Zunge lag: Tja, vielleicht weißt du ja, wer ich bin, aber wer zum Teufel bist eigentlich du?

Ich hatte gerade eine einstündige, wenig erfreuliche Besprechung mit Raven und Gabriel hinter mir, zwei der letzten drei verbliebenen Mitglieder – wenn man meine Mutter nicht mitzählte – von New Hope. Das dritte Mitglied war Ravens zwölfjährige Tochter Opal, die irgendwann in unsere Besprechung hineinplatzte, eine Fahrradkette in der Hand.

«Hey, habt ihr vielleicht so einen großen Schraubenschlüssel gesehen?», fragte sie im Hereinstürmen, warf dabei einen Stuhl um und schlenkerte die fettige Kette in der dreckigen Hand. Sie hatte eine Baseballkappe auf, mit der Krempe nach hinten, und trug eine blau-weiße College-Jacke, auf der der Name eines anderen Mädchens stand.

Opal hatte sich in den zwei Jahren seit unserer letzten Begegnung gerade so weit verändert, dass ich einen Augenblick stutzte. Sie war größer und dünner geworden, und obgleich sie gerade wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen hereingetrampelt war, wirkte sie anmutiger als das kleine Mädchen, an das ich mich so gut erinnerte.

Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf mich, und sie strahlte mich begeistert an. Sie ließ die Kette fallen und schloss mich in ihre ölverschmierten Arme. «Ich dachte, du würdest erst heute Abend kommen», sagte sie. «Mensch, ich muss gerade tausend Sachen auf einmal erledigen – ich muss mein Rad wieder flottkriegen, und dann bin ich mit ein paar Freunden verabredet – aber wir sehen uns später. Morgen! Okay? Morgen. Ich hab so viele neue Tricks dazugelernt. Den Sprung von der Scheune hab ich jetzt voll drauf. Ich kann sogar im Flug noch einen Salto drehen! Und ich hab gerade ein neues Buch über Wingwalking gekriegt, mit tollen Bildern. Das musst du dir ansehen!»

Opal war ein mageres, sommersprossiges Mädchen, das seit seinem siebten Lebensjahr erklärte, dass es später einmal Stuntwoman werden wolle. Bei meinem letzten Besuch hatte sie sich bei einem Sprung vom Heuboden der großen Scheune ziemlich übel den Arm gebrochen.

Raven war damals gerade in Rutland gewesen, um irgendwas zu besorgen, und so war ich mit Opal in die Ambulanz gefahren und hatte dort mit ihr gewartet. Sie hatte sehr erschüttert gewirkt, nicht nur von dem Sturz, sondern von irgendetwas, das unmittelbar vor dem Sprung vom Heuboden passiert war. Sie behauptete, jemand wäre bei ihr in der Scheune gewesen, aber als Gabriel hochstieg und nachsah, fand er nur ein paar verrostete Heugabeln, die an der Wand lehnten, und ein paar Ballen längst verrotteten Heus.

«Wen hast du denn da oben gesehen?», hakte ich nach, bekam aber nie eine Antwort.

Um sie während der endlosen Wartezeit zwischen den Untersuchungen, den Röntgenaufnahmen und dem Anlegen des Gipsverbands abzulenken, bat ich sie, mir von ihren Lieblings-Stunts zu erzählen. Sie antwortete, sie habe Bücher über die Zeit des Barnstorming und über Wingwalking gelesen.

«So hat Charles Lindbergh angefangen», berichtete sie. Aufgeregt und vor Bewunderung übersprudelnd, fing sie dann an, von den Frauen zu erzählen.

«Da war so eine Frau, Gladys Ingle hieß sie, die hat vom oberen Flügel ihrer Curtiss Jenny mit Pfeil und Bogen geschossen.»

«Von ihrer was?», fragte ich.

«Curtiss Jenny. Das ist ein Doppeldecker. Ich habe ein Modell davon im Tipi hängen. Jedenfalls war Gladys Ingle auch berühmt dafür, dass sie mitten im Flug von einem Flugzeug zum anderen sprang. Ist das nicht cool?»

«Ziemlich cool», stimmte ich ihr zu.

«Und dann gibt es noch Bessie Coleman. Ich hab in der Schule ein Referat über sie gehalten. Sie war die erste afroamerikanische Pilotin. Und außerdem auch Wingwalkerin. Ach, und dann noch Lillian Boyer – «Kaiserin der Lüfte» –, die hat ihren Job als Kellnerin geschmissen, um das Wingwalking zu erlernen.»

«Das ist ja beruflich ein ganz schöner Sprung.»

«Von Buffalo Bill hast du bestimmt schon gehört. Aber ich wette, du kennst seine Nichte Mabel Cody nicht. Die hat als erste Frau den Sprung vom Schnellboot aufs Flugzeug geschafft.»