Das Mädchen mit dem Herz aus Gold - Kelly Barnhill - E-Book

Das Mädchen mit dem Herz aus Gold E-Book

Kelly Barnhill

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Beschreibung

Die allerwichtigste Eigenschaft von Märchenprinzessinnen ist es, schön zu sein (was für ein Unsinn!). In dieser Geschichte jedoch ist alles anders. Prinzessin Violet ist vieles: großherzig, mutig und gerecht. Nur schön ist sie nicht. Böse Zungen streuen Zweifel: Kann ein solches Mädchen die rechtmäßige Prinzessin sein? Eines Tages entdeckt Violet im Schloss eine geheime Kammer. Seit ewigen Zeiten schlummert hier ein verbotenes Buch. Wer es liest, weckt ein böses Wesen auf: den Nybbas. Violet kann der Magie des Buches nicht widerstehen und befreit den Nybbas aus seinem Gefängnis. Er bietet der Prinzessin einen Handel an: ewige Schönheit gegen einen klitzekleinen Gefallen. Als ob so etwas jemals gut gegangen wäre …Ein spannendes Abenteuer über die Macht von Geschichten, die Sehnsucht nach einfachen Antworten – und die heilsame Botschaft, dass am Ende trotzdem das Gute triumphiert.Nach »Das Mädchen, das den Mond trank« ein weiteres brillantes Werk von Kelly Barnhill

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Seitenzahl: 326

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Kelly Barnhill

Das Mädchen mit dem Herz aus Gold

Aus dem Amerikanischen von Ilse Layer

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Danksagung

In Erinnerung an Mary Roon,

die von uns gegangen ist.

Geliebt in dieser Welt,

geliebt in jeder Welt.

Kapitel 1

Das Ende meiner Welt begann mit einer Geschichte. Und es begann auch mit einer Geburt.

Prinzessin Violet, die Letzte mit diesem Namen – zugleich die letzte Prinzessin überhaupt, die im Königreich Andulanien geboren wurde –, war kein hübsches Kind. Dem rotgesichtigen Neugeborenen standen die Haare in Büscheln vom Kopf ab, und wenn jemand in seine Wiege spähte, verzog es prompt den Mund. Sein Blick war klug und durchdringend und hinterließ beim Besucher das unheimliche Gefühl, der königliche Spross würde ihn begutachten, seinen Wert taxieren – und ihn für unzulänglich halten. Die Prinzessin gehörte zu den Kindern, die man beeindrucken wollte.

Interessant, ja. Und ganz gewiss klug. Aber nicht gerade hübsch.

Als Violet fünf Tage alt war, überzog sich ihr rundes Gesicht mit einem Ausschlag, der wochenlang nicht verschwand.

Als sie zwölf Wochen alt war, hatte sich das letzte fluffige schwarze Haar verabschiedet, und ihr nahezu kahler Kopf bekam glänzende Stellen. Viel später wuchs ihr eine drahtige, kräuselige rotbraune Mähne, die weder mit Zöpfen, Schleifen oder Bürste zu bändigen war.

Als sie ein Jahr alt war, wurde klar, dass ihr linkes Auge deutlich größer war als das rechte. Nicht nur das, es hatte auch eine andere Farbe. Während das rechte Auge blau war wie das Westmeer am frühen Morgen, war das linke grau wie der Rauch, den die Magier der Ostmauer jeden Abend in den verblassenden Himmel schickten.

Ihre Nase war platt und dick wie eine Knolle, ihre Stirn zu hoch, und schon als Baby war ihre Haut voller Flecken und Verfärbungen, die nicht verschwanden, auch wenn man sie noch so oft in Milch badete oder mit Zitrone abrieb.

Violets Mangel an Schönheit war allgemeines Gesprächsthema, aber nicht zu ändern. Sie war trotzdem eine Prinzessin. Unsere Prinzessin. Und wir liebten sie.

An dem Morgen, als Prinzessin Violet ihrem gespannt wartenden Volk offiziell vorgestellt wurde, war es trüb, windig und bitterkalt. Selbst im Großen Saal, bei zahllosen Kaminfeuern und Menschenleibern, bildete unser Atem Wölkchen in der Luft, und diese verharrten dort einen Moment lang wie Geister, bevor sie sich davonstahlen. Der König und die Königin traten ohne Ankündigung, Fanfare oder Pomp ein und standen still vor uns. Die frierende Menge verstummte. In den Monaten nach Violets Geburt hatten sich Mutter und Kind in Abgeschiedenheit erholt, da die Geburt tückisch gewesen war und wir um ein Haar alle beide an das achtlose Achselzucken des Zufalls verloren hätten.

Die Königin trug ein rotes Wollkleid unter einem schweren grünen Umhang. Sie ließ den Blick durch den Saal schweifen und lächelte. Ohne jeden Zweifel war sie eine schöne Königin: schwarze Haare, schwarze Augen, rosig schimmernde Haut und zwischen ihren regelmäßigen weißen Zähnen ein schmaler Spalt – das Zeichen für ein offenes, aufrichtiges Herz, wie wir alle wissen.

»Mein geliebtes Volk«, sagte sie. Ihre Stimme war von den langen Monaten im Bett geschwächt, aber wir hingen verzweifelt an ihren Lippen, jeder Einzelne von uns.

»Der Schnee türmt sich meterhoch an der Nordwand des Schlosses, und trotz all unserer Bemühungen zwängt sich ein bitterkalter Wind durch die Ritzen und stellt selbst die Besten und Mutigsten unter uns auf die Probe.«

Wir nickten. Es war ein elendiger Winter gewesen, der elendigste seit Menschengedenken. Und er wollte und wollte nicht enden. Dabei hätte das Eis längst schmelzen und die Welt wieder auftauen sollen. Die Menschen kamen in Scharen zum Schloss auf der Suche nach Wärme, Nahrung und Obdach. In unserem Königreich war es Sitte, nie jemanden abzuweisen, und aus diesem Grund gaben wir uns alle mit weniger zufrieden.

»Doch trotz des garstigen, gnadenlosen Windes, trotz Frost und Eis kann ich euch verkünden, geliebtes Volk, dass im Schnee eine Blume erblüht ist: unsere Violet.«

Damit löste sie die Schließe ihres schweren Umhangs und ließ ihn zu Boden gleiten. Mit einem Stück Seide und einer Reihe von geschickten Knoten war ein winziges Wesen um ihren Bauch gebunden. Wir sahen die Haarbüschel auf dem Kopf der neuen Prinzessin und diese großen, ungleichen, klugen Augen.

Prinzessin Violet.

Wie gesagt, kein besonders hübsches Kind.

Aber ein wunderbares Kind, das trotz der vielen im Raum versammelten Menschen die Augen direkt auf mich richtete. Und die winzigen Lippen zu einem Lächeln bog.

Kapitel 2

König Randall wie auch Königin Rose wünschten sich eine große Schar glücklicher Kinder, doch ihre Hoffnungen wurden zunichtegemacht. Jedes Mal, wenn der Bauch der Königin in freudiger Erwartung anschwoll, endete es in Schmerz und Trauer. Violet war ihr einziges Kind, das am Leben blieb.

Tatsächlich war Violets bloße Existenz so etwas wie ein Wunder.

»Ein Wunder!«, jubelten die Bewohner des Königreichs Andulanien jedes Jahr an dem Tag, an dem die Geburt der Prinzessin gefeiert wurde.

»Ein Wunder«, jammerten die Berater und Herrscher über die Berge des Nordens, die Ebenen des Südens, die Wüsten des Ostens und die Inseln im Westen, denn alle hatten die Hoffnung gehegt, der König und die Königin von Andulanien würden keinen Erben hervorbringen. Alle hatten auf die Landkarte gestarrt und sich vorgestellt, wie ihre Grenze zu unserem Land ausradiert würde, wie sie Zugang zu den großen Reichtümern unseres wohlhabenden Landes erhalten und das Beste für sich herauspicken würden.

Doch mit der Geburt der Prinzessin ging das nicht ohne einen Krieg. Und ein Krieg, meine lieben Leser, ist etwas Schreckliches. Deshalb kochten unsere Nachbarn insgeheim vor Wut. Sie sprachen von Wundern, während sie mit den Zähnen knirschten und ihnen giftige Bemerkungen auf der Zunge lagen.

»AH«, zischte ein Wesen in der Ferne, am Spiegel über meiner Welt. »EINE GELEGENHEIT.« Es legte sich einen Plan zurecht, leckte sich die gelben Lippen und verzog sie zu einem Grinsen.

Kapitel 3

Als Violet vier Jahre alt war, hatte sie gelernt, sich auf hundert und aberhundert unterschiedliche Arten den wachsamen Augen der Erwachsenen zu entziehen – der drei strengen Kindermädchen, einer Schar von wichtigtuerischen Lehrern, einer flinken Mutter und eines leicht ablenkbaren Vaters. Jeden Tag lief sie durch die verwinkelten Gänge des Schlosses davon, bis sie zu meinen Räumen gelangte. Ich war ein Geschichtenerzähler – der Geschichtenerzähler des Königreichs Andulanien. Dies war in meiner Welt ein angesehener und respektierter Beruf, den ich bereits lange und (meist) erfolgreich ausübte.

Man gestatte mir die Bemerkung, dass ich ziemlich gut darin war.

Offiziell war jeder Schlossbewohner oder Besucher angehalten, die flüchtige Prinzessin zu fangen und sie schnellstens an eines ihrer Kindermädchen zur raschen Anwendung von Maßregelungen zu übergeben, doch für gewöhnlich hielt sich niemand an diese Regel.

Da bekannt war, wo sie immer hinlief, fand die Königin es viel einfacher, ihre Tochter dort abzuholen.

Zufällig mochte die Königin meine Geschichten ebenfalls.

Als Violet sechs Jahre alt war, fing sie an, eigene Geschichten zu erzählen. Ich war so stolz, meine lieben Leser, dass mir schier das Herz platzte. Wie eitel ich war! Wie erfreut, dass dieses wunderbare Kind mir nacheiferte!

Ach, Stolz ist etwas Schreckliches.

Violets Geschichten gingen bereits damals weit über meine eigenen hinaus. Ganz unbekümmert nahm sie Geschichten – wahre Geschichten, falsche Geschichten und welche mit fragwürdigem Inhalt –, stellte sie auf den Kopf, schüttelte sie durcheinander und setzte sie wieder neu zusammen. Und sie erzählte voller Begeisterung und Überschwang. Sie war wirklich ein Wunder.

»Es war einmal ein Drache«, sagte die junge Violet eines Tages nach dem Abendessen zu einer stummen, entzückten Menge. Ihre ungleichen Augen funkelten im Schein des Feuers, ihr unbändiges Haar schwebte wie Glut um ihren Kopf. »Der größte und klügste und mächtigste Drache in unserer ganzen Spiegelwelt.« Weil ihr nach und nach die Milchzähne ausfielen, sprach sie mit leichtem Lispeln, doch das unterstrich ihren Charme nur noch. »Sein Feuer war heißer als bei allen anderen, er konnte schneller fliegen, und selbst die Große Sonne war neidisch auf seine Schönheit. Aber –«, sie hielt einen Finger in die Luft und wedelte leicht hin und her, »er hatte ein Problem. Dieser Drache verliebte sich in eine Prinzessin. Eine menschliche Prinzessin.«

»Ah!«, rief die versammelte Menge. »Armer Drache! Arme Prinzessin!« Alle bogen sich vor Lachen.

Violet hob die Augenbrauen und sprach weiter. »Die Prinzessin lebte in einem fernen Land, und sie waren sich nie begegnet. Drachen können nämlich die halbe Welt auskundschaften und an einem Tag locker von einem Ende des Spiegelhimmels zum anderen und wieder zurück fliegen. Aber das machen sie eigentlich nie.« Sie schürzte die Lippen. »Drachen sind nämlich schrecklich faul.«

Die Zuhörer kicherten und seufzten. Dieses Kind!, dachten sie. Dieses zauberhafte Kind!

»Aber dieser Drache«, erzählte Violet weiter, »war überhaupt nicht faul. Schließlich war er verliebt. Er fraß und schlief nicht, sondern saß bloß auf einem Berg, hatte den schimmernden Schwanz um den Gipfel gerollt und suchte die Welt mit schwarzen Augen nach seiner Liebsten ab.«

»Die ganze Zeit?«, fragte ich ungläubig. »Er hat doch bestimmt noch andere Hobbys gehabt!«

»Na ja«, räumte Violet ein, »manchmal hat er sich einen Spaß daraus gemacht, dem Bergkönig Schneebälle an den Kopf zu werfen.« Die Zuhörer lachten. Sie neigte verschwörerisch den Kopf und hob eine Augenbraue. »Er traf immer. Und wenn der Drache pupsen musste, richtete er sein Hinterteil immer direkt auf die Gärten des Bergkönigs.« Die Menge brüllte. Violet beugte sich vor und flüsterte: »Es heißt, der Gestank konnte hundert Jahre anhalten!«

»Erzähl uns von der Geliebten des Drachens!«, verlangte ein junger Mann.

»Oh, sie war ein hässliches Ding«, versicherte uns die Prinzessin. »Auf den Wangen hatte sie Warzen wie eine Krötenechse, eine krumme Nase und sogar noch krummere Zähne. Ihr Lächeln war zu groß und ihre Augen zu klein, und ihre Füße waren unterschiedlich lang. Aber der Drache liebte sie trotzdem. Er liebte sie, einfach alles an ihr. Der Drache liebte ihre krummen Zähne und ihre haarigen Handgelenke und ihre wuscheligen krausen Haare.«

Niemand lachte. Verlegenes Schweigen lastete auf der Menge. Keiner konnte Violet ansehen.

(Kein hübsches Kind, dachten alle. Und ach, sie wird jeden Tag hässlicher.)

Violet wartete auf den Beifall, der nicht kam.

Ich versuchte zu vermitteln. »Liebste Violet«, sagte ich hastig, und meine Stimme überschlug sich fast. »Du hast einen Anfängerfehler gemacht. Du hast die Schönheit vergessen. Eine Prinzessin ist nie hässlich. Jeder weiß, dass eine richtige Prinzessin immer schön ist.« Violet rührte sich nicht. Es war, als hätte ich sie in Stein verwandelt. Schließlich richtete sie ihre großen Augen auf mich. Oh, wie gekränkt sie war! Wie verraten sie sich fühlte! Ich schluckte. »In einer Geschichte, meine ich«, fügte ich rasch hinzu, aber es war zu spät. »Natürlich nur in einer Geschichte. Geschichten haben ihre eigenen Regeln, die Zuhörer haben ihre … Erwartungen. Es ist die Aufgabe des Erzählers, den Leuten zu geben, was sie wollen.«

Die Menge nickte. Violet sagte nichts. Ach, meine lieben Leser, wie gern hätte ich dieses Kind in die Arme genommen und ihm gesagt, dass ich es nicht so meinte! Aber der Schaden war angerichtet.

»Du hast recht, lieber Cassian«, sagte sie schließlich leise und mit niedergeschlagenen Augen. »Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Der Drache war natürlich in eine wunderschöne Prinzessin verliebt. Die schönste Prinzessin der Welt, mit ebenmäßiger Haut und winzigen Füßen und Augen, so grün wie Frühlingsgras, und honiggelben Haaren, die ihr dick wie Taue bis zu den Knien fielen.«

Das war ein Satz, den sie aus einer meiner Geschichten gestohlen hatte. Ich ließ es ihr durchgehen. Doch während sie den Faden wieder aufnahm und ihre Geschichte zu Ende erzählte, konnte ich spüren, dass sie mit dem Herzen woanders war, und als sie meinte, sie müsse jetzt ins Bett, lief sie davon, ohne gute Nacht zu sagen.

Von nun an waren die Prinzessinnen in ihren Geschichten schön. Immer.

Kapitel 4

Als Violet sieben Jahre alt war, schloss sie ihre erste Freundschaft. Und auch ihre einzige.

Die Kinder von Königen und Königinnen hatten zum Spielen normalerweise nur ihre Geschwister oder Cousins und Cousinen oder die Kinder von Höflingen. Violet hatte jedoch keine Geschwister, und da es sowohl bei ihrem Vater als auch bei ihrer Mutter genauso gewesen war, hatte sie auch keine Cousins und Cousinen. Und die Höflinge hatten zwar eigene Kinder, aber die waren vom Alter her alle nicht als Spielgefährten geeignet.

Violet brauchte aber einen Freund. Und wie sich herausstellte, wartete schon einer auf sie.

So lernten sie sich kennen:

Violet war ein schrecklich kluges Mädchen und wurde von Privatlehrern unterrichtet, seit sie dreieinhalb war. Mit sieben Jahren konnte sie lesen, rechnen, geschichtliche Fakten aufsagen, analysieren und diskutieren. Außerdem merkte sie sich alles, was sie las, und auch das meiste von dem, was sie hörte. Unglücklicherweise hasste sie den Unterricht, und wenn sie nicht gerade einen Streich ausheckte, entschlüpfte sie ihren sauertöpfischen Lehrern, wann immer sie konnte.

Eines Tages, als der Spiegelhimmel ganz besonders strahlte und die Große und die Kleine Sonne beide um die Wette schienen, beschloss Violet, nicht länger drinnen zu bleiben. Und so ahmte sie die Handschrift ihrer Mutter nach und schrieb eine Mitteilung an ihren Lehrer, seine Klugheit würde im Thronsaal benötigt. Dringend. Der alte Mann errötete und musste kichern. Sogleich befahl er seinem Schützling, intensiv an einer Übersetzung zu arbeiten, bis er wieder da sei. »Endlich, endlich«, murmelte er im Davongehen und schloss die Tür hinter sich. Kaum war er endgültig weg, schlüpfte Violet aus dem Fenster, rutschte am Regenrohr nach unten und stromerte an den Feldern westlich des Schlosses entlang.

Der Tag war so schön, dass sie beschloss zu rennen. Und zu springen. Und zu klettern. Nachdem sie über sechs verschiedene Zäune geklettert und über fünfeinhalb verschiedene Felder gerannt war, stand sie plötzlich mitten auf einer grünen Weide vor einem sehr großen Stier. Sein Fell schimmerte braunweiß und wölbte sich über die breiten Schultern und den Rücken des Tiers. Seine feuchten Nüstern blähten sich und schnaubten.

Violet stand wie versteinert da.

Der Stier starrte das Kind an – die wilden Haare, die schmuddeligen Wangen, ein blutrotes Kleid. Er scharrte mit einem Huf am Boden und senkte die Hörner.

»Hilfe!«, rief Violet mit piepsiger Stimme. »Helft mir!«

Der Stier brüllte und stürzte los. Der Boden bebte unter seinem Gewicht, während er dröhnend auf die Prinzessin zuraste. Violet drehte sich auf dem Absatz um und rannte auf den nächsten Zaun zu.

»Bleib stehen!«, rief eine Stimme. Ihre eigene? Violet wusste es nicht. Sie hob den Kopf, und durch ihre Angst hindurch sah sie, wie jemand über den Zaun kletterte und direkt auf sie zugelaufen kam.

»Nein!«, rief Violet, und vor lauter Panik konnte sie nicht mehr richtig sehen. »Ich kann nicht stehen bleiben!« Doch im selben Moment geriet sie mit dem linken Fuß in ein kleines Loch, stolperte und schlug der Länge nach zu Boden. Schützend legte sie die Arme über den Kopf.

Da sprang leichtfüßig ein Junge über die ängstlich am Boden kauernde Prinzessin und warf sich zwischen sie und den Stier. Violet schloss die Augen in der Erwartung, die Knochen des Jungen unter den Hufen des Ungeheuers splittern zu hören und selbst zertrampelt zu werden, bis nichts mehr von ihr übrig war.

Stattdessen hörte sie die Worte: »Bitte hör auf zu schreien. Du jagst ihm Angst ein.«

Ich schreie nicht!, wollte Violet sagen, aber ihr Mund stand weit offen von dem Schrei, der eigenmächtig aus ihrer Kehle gellte. Für einen kurzen Moment drängte Verlegenheit ihre Angst in den Hintergrund. Sie klappte den Unterkiefer zu und kam auf die Knie hoch.

Zwischen ihr und dem Stier stand ein Junge mit dichten schwarzen Locken. Er war kleiner als Violet und ganz dünn, aber mit mageren sehnigen Muskeln, die sich vom Hals über die Schultern und an seinen Armen hinab zogen.

Will er mit ihm ringen?, fragte sich Violet.

Der Stier stand still da, die Augen auf den schwarzhaarigen Jungen gerichtet.

Der hatte die Hände gehoben, streckte ihm die Innenflächen entgegen und machte ein ganz bestimmtes Geräusch – eine Mischung zwischen dem weichen Schsch! und dem harten Pst! Ein süßer, sanfter, flüsternder Klang. Der Stier rührte sich nicht, hielt den Kopf jedoch gesenkt, die Muskeln angespannt, und seine Augen waren blutunterlaufen vor Zorn. Sie rollten und bebten, als würden sie gleich zerspringen. Trotzdem konnte Violet es nicht glauben.

»Wie könnte ich ihm Angst einjagen?«, fragte sie. »Er ist doch auf mich losgegangen …«

»Dein Kleid«, sagte der Junge leise, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme war empörend ruhig. »Dein Kleid jagt ihm Angst ein. Er kann nichts dafür. Steh auf und geh langsam zum Zaun. Aber rückwärts. Und lass ihn nicht aus den Augen. Er muss merken, dass du ihn ansiehst.«

Violet traute ihren Ohren nicht. »Aber …« Sie verstummte mit offenem Mund. So hatte noch nie jemand mit ihr gesprochen. Und trotz ihrer Angst war sie verblüfft. »Ich bin die Prinzessin. Du hast kein Recht …«

»Möchtest du gern tot sein?« Falls der Junge überhaupt irgendwelche Gefühle hatte, zeigte er sie nicht. Er stellte die Frage so beiläufig, als würde er sich bei der Prinzessin erkundigen, ob sie lieber einen Tupfen Sahne oder einen Löffel Zucker wolle.

»Nein«, gab Violet zu.

»Also?«

Violet rümpft die Nase, stand aber trotzdem auf und bewegte sich rückwärts auf den Zaun zu, ohne den Blick vom Stier zu lösen. Das Tier knurrte und keuchte und schnaubte. Und die dicken Muskeln an seinen Schultern und Flanken bebten erbärmlich. Er hat wirklich Angst, begriff Violet. Und obwohl ihr Bauch vor lauter Angst ein einziger Knoten war, tat ihr der Stier ein wenig leid.

Der Junge hielt Schritt mit ihr, die Hände immer noch erhoben, die Augen auf den Stier gerichtet, während er weiterhin seine beruhigenden Laute ausstieß, bis Violet und er in Sicherheit auf der anderen Seite des Zauns standen. Dort sackte er erschöpft zusammen und atmete tief durch.

Violet trat zappelnd von einem Bein aufs andere. »Ich …«, stammelte sie. »Also, eigentlich … Danke.«

Der Junge sah sie aufgebracht an. »Was hast du dir dabei gedacht?«, herrschte er sie an und machte drohend einen Schritt auf sie zu. »Hast du die Schilder nicht gesehen?«

»Nein. Ich bin gerannt.«

»Schaust du nie nach, warum irgendwo ein Zaun steht? Vielleicht, weil es dahinter gefährlich ist?«

»Nein«, gestand Violet erschrocken. »Das hab ich noch nie gemacht.«

»Wie dumm von dir.« Der Junge trat zurück, fuhr sich durch die Locken und wartete ab. Er kaute nervös auf der Unterlippe, als hätte er noch mehr zu sagen.

»Du hast kein Recht …«, begann Violet hitzig.

»Der Stier hätte dich getötet«, unterbrach sie der Junge. »Und dann hätte man ihn auch getötet, obwohl er bloß Angst hatte. Dann wären zwei Leben verloren gewesen – wegen nichts. Bloß weil du keine Lust hattest, die Augen aufzumachen.« Er kickte gegen einen losen Stein auf dem Boden. »Idiotisch.«

Dem Jungen schossen Tränen in die Augen. Er drehte sich von Violet weg und wischte die Tränen schnell fort, aber sie sah sie trotzdem. Mit zusammengepressten Lippen machte sie einen Schritt auf ihn zu. Sie war den Umgang mit gleichaltrigen Kindern nicht gewohnt und wusste nicht, wie sie anfangen sollte.

»Wie heißt du?«, fragte sie schließlich.

Der Junge sah sie nicht an und antwortete auch nicht.

»Bitte«, flüsterte Violet und legte ihm die Hand auf den Arm. »Sag mir deinen Namen.«

»Demetrius«, erwiderte er schließlich. »Bekomme ich jetzt Ärger?«

Violet schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« Und einen schrecklichen Moment lang sah sie klar vor sich, wie kinderleicht es wäre, ihn oder jeden anderen in Schwierigkeiten zu bringen. Eine Andeutung. Ein Vorwurf. Ein paar geheuchelte Tränen. Sie würde nicht den geringsten Beweis benötigen. Allein schon bei dem Gedanken – beim bloßen Gedanken – wurde ihr schlecht. Sie schüttelte ihn ab und wechselte das Thema. »Wie hast du das gemacht? Mit dem Stier, meine ich.«

Demetrius zuckte die Achseln. »Du könntest das wahrscheinlich auch. Wenn du es gelernt hättest. Man muss einfach mit ihnen mitfühlen.« Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen. »Oder«, überlegte er weiter, »sie müssen das Gefühl haben, dass dir etwas an ihnen liegt. Das können eine Menge Leute. Wenn sie sich Mühe geben. Es ist nicht schwer.«

»Zeigst du es mir?«

Daraufhin führte Demetrius sie zu den Ställen. Er deutete auf das Haus nebenan, wo er mit seinem Vater, dem Stallmeister, wohnte. Den hatte Violet schon oft gesehen. Der König ließ den Stallmeister häufig holen, damit er ihm bei seinen Forschungen behilflich war. Die beiden Männer führten ausschweifende und wichtige Diskussionen über die Geschichte und die Anatomie von Drachen, obwohl keiner der beiden jemals einen zu Gesicht bekommen hatte. Seit hundert Jahren war keiner mehr gesehen worden. Aber Violet hatte nicht gewusst, dass der ruhige, sanfte Mann einen Sohn hatte. Sehr wohl wusste sie jedoch, dass er keine Frau hatte. Oder dass seine Frau vor langer Zeit gestorben war. Das war natürlich kein gutes Gesprächsthema, und doch ging es ihr im Kopf herum.

Als der Stallmeister Prinzessin Violet und seinen Sohn bei einer Lektion in Pferdepflege aufscheuchte, schickte er einen seiner Lehrlinge los mit der Nachricht, die Prinzessin sei gefunden worden und in Sicherheit. Keine Stunde später wurde sie von ihrer Mutter, zwei Kindermädchen und einem ziemlich verlegenen Hauslehrer unter lautem Protest ins Schloss zurückgeschleppt.

Doch mitten in ihrem Heulen und Flehen und Drohen warf sie Demetrius einen Blick zu, und beide grinsten sich kurz und wissend an.

Ich bin bald wieder da, besagte Violets Grinsen.

Ich warte, grinste Demetrius zurück.

Kapitel 5

Von nun an sahen sich Violet und Demetrius fast täglich. Mit immer neuen Listen und Ausflüchten entzogen sie sich dem Unterricht und ihren Aufgaben und stürzten sich in ihre eigenen verrückten Abenteuer.

Sie gaben ein ungewöhnliches Paar ab, aber der König und die Königin hatten moderne Ansichten.

»Es sind schließlich bloß Kinder«, sagte die Königin oft.

»Warum sollten wir sie mit sozialen Unterschieden belasten? Mit diesem Unsinn werden sie sich bald genug beschäftigen müssen«, pflichtete der König bei.

Die königlichen Berater argumentierten gegen die Freundschaft und äußerten Bedenken über gefährliche Präzedenzfälle und die politische Bedeutung sowie über die gebotene Schicklichkeit. Violets Eltern hatten das letzte Wort. »Wir sehen einfach nicht, wie es schaden könnte«, sagten sie. Und damit hatte es sich.

Gemeinsam erkundeten die Kinder fast jeden Winkel des Schlosses. Oder das dachten sie zumindest. Jeden Tag gab das Schloss neue Geheimnisse preis, und jeden Tag hielt es sein größtes Geheimnis geschickt verborgen. Darin sind Schlösser recht einfallsreich. Die beiden durchstreiften auch das Schlossgelände mit seinen Weideflächen und ausgedehnten Gärten und Parks. Sie erkundeten die verwinkelten Straßen der Hauptstadt, folgten der Mauer, die sich schützend um die Stadt schlängelte, und streiften mit den Fingern an den alten Steinen entlang. Später wagten sie sich weiter hinaus in die Felder und Wälder jenseits der Stadt, jenseits der Tore, die sich in die vier Himmelsrichtungen auftaten. Diese Tore ließen die Welt herein. Oder hielten sie draußen. Tore haben manchmal ein Eigenleben.

Violet lernte den Umgang mit Pferden und Ziegen, Falken und Hunden. Demetrius brachte ihr bei, wie man Krankheiten frühzeitig feststellt, wie man einem Tier Ruhe einflößt, wie man auf die Stimme aus seinem Herzen hört. Doch irgendwann fiel Violet auf, dass er ihr nie zeigte, wie man einen wütenden Stier aufhielt, was sie nützlich gefunden hätte. (Demetrius behauptete plötzlich, diese Fähigkeit könne nicht gelehrt werden, man wisse erst im entsprechenden Moment, ob man es könne oder gleich sterben werde. Insgeheim wimmelte es in seinen Träumen von dröhnenden Hufen und spitzen Hörnern und einem Paar wütender, blutunterlaufener Augen.)

Innerhalb des Schlosses, wenn wir uns abends zum Singen, Tanzen und Erzählen versammelten, erwies sich Demetrius als fast so kluger Geschichtenerzähler wie Violet selbst. Und beide zusammen waren noch bemerkenswerter als jeder für sich.

Zusammen waren sie genial.

»Sollen wir uns eine Geschichte ausdenken?«, fragte Violet eines Tages, als die beiden meine Gemächer wieder einmal als Versteck vor den wachsamen Augen der Erwachsenen benutzten. Ich ließ sie gewähren. Warum auch nicht? Schließlich würde bald genug jemand hier sein, um sie zu holen.

»In Ordnung«, sagte ich, goss kochendes Wasser aus dem Kessel in eine Teekanne und rührte die duftenden Blätter um. Es gab keine Geschichte, die durch eine Tasse Tee nicht noch besser wurde. »Erzählt mir eine Geschichte über den Anbeginn der Welt.«

»Welcher Welt?«, fragte Violet. »Im Multiversum gibt es Tausende von Welten.«

»Mehr als Tausende«, meinte Demetrius. »Millionen.«

»Millionen von Tausenden von Millionen«, jauchzte Violet. »Man kann sie gar nicht alle zählen.«

»Hm«, erwiderte ich. »Das ist alles schön und gut, aber was kümmern mich Wunder, die ich nicht sehen kann und auch nie zu Gesicht bekommen werde? Erzählt mir eine Geschichte über unsere Welt, unsere Zwillingssonnen, unseren Spiegelhimmel. Was nützt mir alles andere?«

»Vor langer Zeit, bevor die Alten Götter das Multiversum erschufen«, begann Demetrius, ohne auf meine Bitte einzugehen, »bevor die unendlich vielen Welten hervorsprudelten und schäumten wie ein Meer, gab es nur eine Welt: ein Universum. Und das war ein schrecklicher Ort.«

(Ich könnte erwähnen, dass der Junge mir diese Geschichte gestohlen hatte, aber das wäre schrecklich kleinkariert von mir, deshalb sehe ich darüber hinweg.)

»Alle Götter atmeten dieselbe Luft, gingen dieselben Wege und badeten in denselben Flüssen«, sprach Violet weiter. »Sie versuchten sich an Schöpfungen. Sie schlossen Wetten ab, veranstalteten Wettbewerbe und schufen die unwahrscheinlichsten Geschöpfe und Gestalten. Aber sie waren töricht. Bald sammelten sich Berge von Ideen an, und die Eine Welt geriet durcheinander. Ihre Geschöpfe lebten in Chaos und Elend. Alles begann zu flirren.« Sie wackelte mit den Fingern, und ihre ungleichen Augen strahlten.

Demetrius übernahm. »Eines Tages machte einer der Alten Götter einen Spaziergang. Er sah ein bisschen aus wie ein Zwerg – kurze dicke Beine, kurze dicke Arme und ein fröhliches Lächeln –, aber er war flink und stark. Es machte ihm nicht viel aus, wenn sich der Boden unter seinen Füßen nach oben wölbte und Wellen schlug. Er sprang von Felsbrocken zu Felsbrocken und wich den wackelnden Wesen aus, die wie Schatten mal da waren und mal nicht.«

»Der kleine Gott gefällt mir am besten«, verkündete Violet leidenschaftlich.

»Der gefällt allen am besten«, pflichtete Demetrius bei.

»Der kleine Gott bückte sich, hob eine Handvoll Erde auf und betrachtete sie einen Moment.« Violet hielt sich die Faust vors Gesicht und ahmte den Gesichtsausdruck des Gottes nach. »Er hatte einen langen Weg hinter sich und war müde. Und einsam. Und durchgefroren. Ein Stuhl, dachte er. Und gleichzeitig: ein Freund. Ein Feuer. Alles zur selben Zeit.« Violet hielt die Hände hoch, spreizte die Finger und machte ein Geräusch wie das Tosen eines Feuers, gefolgt von einem mächtigen BUMM!

»Au weia«, sagte Demetrius lachend. »In der Hand eines Gottes kann ein Klumpen Erde … zu allem Möglichen werden. Aber nicht zu drei Dingen auf einmal. Das Gefüge der Einen Welt zitterte noch stärker als sonst, verbog sich und zerriss. Und wo eine Welt gewesen war, waren nun drei: eine Welt mit einem Stuhl, eine Welt mit einem Freund und eine Welt mit einem knisternden Feuer. Der kleine Gott schüttelte den Kopf. ›Nein, das wird den anderen ganz und gar nicht gefallen.‹«

»Das war nicht unsere Welt«, wandte ich ein. Am anderen Ende des Flurs hörte ich eines der Kindermädchen rufen.

»Aber nah dran«, sagte Demetrius. »Wenn man von einem Anfang erzählen will, muss man vor dem Anfang anfangen.«

»Frechdachs!«, schimpfte ich.

»Aber es fehlt noch was, oder? Die Geschichte ist noch nicht fertig«, sagte Violet.

Die Kindermädchen kamen näher. »Was meinst du mit ›nicht fertig‹?«, fragte ich. »Bei Geschichten gibt es so etwas wie fertig nicht. Geschichten sind unendlich. So unendlich wie Welten.«

»Oh, das weiß ich«, meinte Violet. »Aber in einem Buch stand, dass es in der Einen Welt dreizehn Alte Götter gab. Und in den Geschichten, die wir erzählen, gibt es nur zwölf.« Sie zählte sie an den Fingern ab. »Den kleinen Gott, die Göttin aus Weizen, den Gott mit dem Fischschwanz, die blaue Göttin, die Göttin der Schönheit, den Gott der Riesen, die Dunkle Dame, den geflügelten Gott, die Steingöttin, den Gott des Feuers, den Großen Ochsen und den Gott, der eine Spinne war. Was ist mit dem dreizehnten Gott passiert? Ist er verschwunden?«

Danach fragen wir nicht, dachte ich.

»Hat er etwas Böses getan?« Sie ließ nicht locker.

Keine Fragen!, dachte ich. Es gibt Dinge, die wir nicht anzweifeln, Dinge, die wir gar nicht wissen wollen!

Doch ich sagte etwas anderes. »Ich glaube, ich habe noch nie von einem dreizehnten Gott gehört. Vielleicht stand das falsch in dem Buch, das du gelesen hast.« Ich konnte sie nicht ansehen. Mein Atem rasselte in der Brust. Meine Hände zitterten.

Welches Buch?, überlegte ich verzweifelt. Es muss gefunden und vernichtet werden. Ich verbrenne sämtliche Bücher, wenn es nötig ist.

Demetrius’ schwarze Augen funkelten, seine schimmernden Wangen bogen sich zu einem wissenden Grinsen. »Hast du wohl. Du hast ihn gesehen und von ihm gelesen oder hast irgendwann von ihm gehört, aber du willst es uns nicht sagen. Das sehe ich deinen Händen an.«

Ich schnaubte. »So etwas kannst du gar nicht sehen«, widersprach ich hastig und schob rasch meine Hände unter die Knie.

Violet sah ihren Freund an, die Stirn gerunzelt. »Warum will er es uns nicht verraten?«

»Das ist ein Rätsel«, befand Demetrius, dann starrten beide mich an.

Meine Zähne klapperten. »Es gibt nichts zu verraten«, stammelte ich. »Gar nichts. Die Alten Götter waren zwölf an der Zahl, aber das ist so lange her, dass es vollkommen egal ist, ob es zwölf waren oder zwölftausend oder kein Einziger. Wir leben in dieser Welt und dieser Zeit, und alles andere spielt keine Rolle.« Ich holte tief Luft. »Und damit basta.«

Die Kinder blieben lange stumm.

»Lieber Cassian.« Violet verschränkte die Arme über der Brust. »Ich bin überzeugt, dass du lügst und mir etwas verschweigst. Wie schrecklich gemein von dir.«

»Niemals, Prinzessin!«, rief ich. »Ich würde Euch nie anlügen!« Ich lüge, um Euch zu schützen, rief ich insgeheim und glaubte das auch. Hauptsächlich deswegen. Violet und Demetrius sahen sich an, beide hatten die Lippen zu einer schmalen, harten Linie zusammengepresst.

Doch bevor Violet mir weiter zusetzen konnte, stürmten drei Kindermädchen herein und scheuchten die Prinzessin in ihr Schulzimmer zurück.

»Bis zum nächsten Mal, liebes Kind!«, rief ich, dann brach ich auf meinem Stuhl zusammen, schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

Als ich die Hände schließlich löste, stellte ich fest, dass Demetrius dageblieben war. Seine schwarzen Augen spähten erbarmungslos durch die Haare, die ihm in die Stirn fielen, und sein einer Mundwinkel war zu einem schiefen Lächeln verzogen. War ich ihm nur ein halbes Lächeln wert?

»Hast du etwas zu sagen, junger Mann?«, herrschte ich ihn an.

»Nein.« Demetrius war empörend gelassen und betrachtete mich ungerührt.

»Dann ab durch die Mitte!« Ich versuchte, so respekteinflößend wie möglich zu wirken. »Deine Aufgaben warten.« Mir zitterten die Hände, und meine Stimme bebte. Hatte er es gemerkt?

Ganz langsam erlosch sein halbes Lächeln. Er schüttelte den Kopf und ging wortlos davon.

Kapitel 6

Nach diesem Vorfall blieben die Kinder lange fort. Es brach mir schier das Herz, aber das kümmerte sie natürlich nicht. Violet und Demetrius war mein Herz völlig egal – ob es gebrochen, nicht gebrochen oder gar nicht vorhanden war. Es gab ein Schloss zu erkunden. Und das interessierte die beiden brennend.

Seit meinem kleinen Gefühlsausbruch interessierte es sie sogar noch mehr als vorher.

Meine lieben Leser, vermutlich hattet ihr noch nie Gelegenheit, längere Zeit in einem Schloss zu verbringen, deshalb wisst ihr nicht, wie es ist, als Kind durch diese endlosen Gänge bis in die hintersten Ecken und Winkel zu streifen. Da gab es geheime Kammern, vergessene Räume sowie Gänge, die mal da waren und mal nicht. Ein Schloss besteht nicht nur aus Steinen, versteht ihr? Es benötigt auch Magie, dazu Rätsel, Geheimnisse, Festlichkeiten, Intrigen, Leidenschaft, Unfug und Liebe. Würde man eine Liste der vielen Dinge anlegen, die ein Schloss ist, wäre sie wahrscheinlich länger als eine Liste der Dinge, die ein Schloss nicht ist.

Da war zum Beispiel die verlassene Werkstatt eines alten Chocolatiers, die Violet und Demetrius in ihrem jungen Leben nur vier Mal finden konnten, jedes Mal bei abnehmendem Mond und immer in einer der vier äußersten Ecken des Schlosses, beginnend im Westen.

Und da war auch ein Flur, der am Morgen in eine Richtung führte und am Nachmittag in eine ganz andere. Der Grund dafür war unklar, aber allgemein hielt man ihn für schrecklich eitel und immer darauf bedacht, sich im besten Licht zu präsentieren.

Wie ihr seht, ist ein Schloss mehr als die Summe seiner Steine.

Es ist lebendig, meine lieben Leser. Es atmet.

Genau wie man nicht erwarten kann, dass eure Gesichter sich im Lauf der Jahre nicht verändern und eure Körper nie wachsen, so wäre es auch lächerlich anzunehmen, ein Schloss würde immer gleichbleiben.

Stellt euch also Violet und Demetrius vor, die zwischen diesen atmenden Steinen losgelassen werden. Ich bin überzeugt, schon als Kinder lernten sie mehr über das Schloss als jeder andere im Königreich. Und doch umfasste dieses Wissen nur einen Bruchteil seiner Geheimnisse.

Eine besondere Entdeckung war ein Geheimgang. Der Zugang lag in der Speisekammer, und zwar im hintersten Schrank, der nie benutzt wurde. Nachdem sie hineingeklettert waren, mussten sie sich gegen die Rückwand lehnen, bis sie leise aufschwang.

Diesen Geheimgang fand Violet im Alter von sechs Jahren, als sie beinahe dabei ertappt worden wäre, wie sie Süßigkeiten naschte. Er war besonders eigentümlich wegen seiner geringen Höhe (selbst die kleine Violet musste sich ducken und kriechen, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen) und seiner aufwendigen Ausstattung. Auf dem Marmorboden lag ein dicker Teppich aus weicher Wolle, und in Wände und Decke waren Tausende winziger Holzstreifen zu Mustern eingelegt, die nach einer frischen Anwendung von Öl und Wachs im schwachen Licht schimmerten. Der Geheimgang war immer tadellos sauber und roch nie feucht oder modrig.

So gut wie jeder in unserem Land wusste, dass die meisten Häuser über eigene Wege für das Verborgene Volk verfügten, obwohl meines Wissens niemand diese Räume je gesehen oder betreten hatte. Niemand außer Violet und Demetrius.

Irgendwann in den Monaten nach dem Zwischenfall mit dem dreizehnten Gott stießen Violet und Demetrius auf einen Gang, den sie noch nicht kannten. Hier war es nicht ganz so sauber, als wäre den kleinen Bewohnern, die die verborgenen Gänge pflegten, einfach die Zeit oder das Interesse ausgegangen. So etwas kommt vor.

»Wird dieser Gang schmaler?«, fragte Demetrius, obwohl das offensichtlich war. Mit jeder Windung rückten die Wände näher zusammen, bis sie ihre Schultern streiften und sie schließlich zusammendrückten.

»Das bildest du dir nur ein«, widersprach Violet, obwohl ihre Stimme schwankte. Beiden Kindern ging die gleiche Frage durch den Kopf: Was ist, wenn wir steckenbleiben? Bei der Vorstellung juckte und fröstelte es sie. Was ist, wenn wir steckenbleiben? Was dann? Sie verscheuchten den Gedanken.

Zum Glück blieben sie nicht stecken. Irgendwann wurde der Gang ein wenig breiter und weitete sich zu einem Raum, der zwar nicht hoch genug zum Stehen war, in dem man aber bequem aufrecht sitzen konnte. Es gab kleine Stühle und Tische sowie Regale, auf denen sich Hunderte von sehr kleinen Büchern drängten.

Und es war staubig. Furchtbar staubig. Alles war mit einer dicken Schicht Staub bedeckt, der sich in den Ecken zu kleinen Bergen türmte, in flauschigen Bäuschen über den Boden jagte und wie stumpfe Sterne in der Luft hing.

Demetrius musste niesen. »Ich weiß nicht, wie lange ich es hier aushalte.«

»Hier drin ist es hell«, stellte Violet fest. »Wie kann das sein?«

Das stimmte. Decke und Wände waren mit kleinen, runden Löchern versehen, die man mit Glasscheiben abgedichtet hatte, und die Scheiben leuchteten und funkelten – aber alle unterschiedlich, keine zwei waren gleich.

»Wo kommt das Licht her?«, fragte Violet.

»Vermutlich Spiegel«, meinte Demetrius. »Das Licht springt von Spiegel zu Spiegel, bis es hier unten anlangt. Aber schau nicht direkt rein«, fügte er hinzu, als Violet sich vorbeugte. »Es ist zu hell für deine Augen.« Er sah sich um. »Wann war wohl das letzte Mal jemand hier?« Er hustete. Der Staub kroch in seine Brust und hinderte ihn am Atmen.

»Wer weiß?« Violet hustete auch. »Lehrer Rimi hat gesagt, dass das Verborgene Volk zur selben Zeit aus unserer Welt verschwunden ist wie die Drachen. Aber Vater sagt, dass es Drachen immer noch gibt und dass Lehrer Rimi ein aufgeblasener alter Schaumschläger ist.« Sie zog ein Buch aus dem Regal. »Zumindest hat es den Anschein, als wäre schon sehr lange niemand mehr hier gewesen.« Als sie das Buch aufschlug, stieg eine Staubwolke auf. Einzelne Seiten lösten sich und zerfielen, als sie den Boden berührten.

»Was steht drin?«

Behutsam blätterte Violet eine Seite nach der anderen um. »Ich weiß nicht. Diese Buchstaben … Solche habe ich noch nie gesehen.«

»Ich glaube nicht …« Demetrius hustete wieder und konnte gar nicht mehr aufhören.

»Wir gehen gleich.« Violet strich mit den Fingerspitzen über die unbekannten Schriftzeichen. »Was ist das für eine Sprache?« Sie wusste es nicht. Violet war mit den drei wichtigsten Sprachen vertraut, die in unserer Spiegelwelt gesprochen wurden, außerdem mit deren älteren Varianten. Natürlich lernte sie sie erst, aber sie kannte sie gut genug, um zu wissen, dass das hier etwas komplett anderes war.

Sie nahm sich ein anderes Buch. Es war wunderschön und trotz seines Alters noch in tadellosem Zustand. »Sieh mal!«, staunte sie. Es enthielt Symbole, die wieder ganz anders aussahen. Im Grunde waren es mehr Bilder – ein Dreieck, ein Stapel Stäbe, ein mit Stacheln besetzter Kreis, ein Stern, Wellenlinien, eine Hand, ein Auge, eine bauchige Form wie ein Getreidekorn und andere seltsame Zeichen. Violet hatte keine Ahnung, was sie bedeuten mochten.

Aber das Buch wollte, dass sie es wusste. Das spürte sie ganz genau.

Der Band enthielt auch viele Illustrationen, die mit Gold verziert waren. Auf einer Abbildung kniete ein Mann vor einem Gemälde. Oder vielleicht war es ein Spiegel. Und auf einer anderen erhielt derselbe Mann Geschenke, die aus dem Spiegel kamen: ein Schwert, einen Schild, eine Krone und schließlich eine Frau mit Haaren, die sich über den Boden ergossen, sich an den Beinen des Mannes hochschlängelten und um seinen Hals wanden.

»Was ist das für ein Buch?« Demetrius wusste selbst nicht, warum, aber am liebsten hätte er es Violet aus der Hand gerissen und in hohem Bogen weggeworfen. So ein Bedürfnis hatte er noch nie gehabt. Er stopfte die Fäuste in die Taschen und versuchte, den Impuls zu ignorieren.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Violet, während sie die mysteriösen Zeichen anblickte. Vielleicht würde sie sie verstehen, wenn sie sie lange genug anstarrte. »Aber ich möchte es gern wissen. Unbedingt.« Das wünschte sie sich mehr als alles andere, was sie sich bisher in ihrem Leben gewünscht hatte.

Demetrius ging es schlecht. Er hustete und nieste unablässig. »Wir müssen hier weg«, drängte er. »Ich kriege bald keine Luft mehr.«