Das Maven-Projekt - Daniel Wehnhardt - E-Book

Das Maven-Projekt E-Book

Daniel Wehnhardt

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Beschreibung

In den Bergen Gran Canarias erholt sich André Jäger von seinem letzten Einsatz. Als auf einem Hotelgelände eine Leiche gefunden wird, ist es mit der Ruhe jedoch vorbei, denn Jäger erkennt das Opfer. Der ehemalige Verfassungsschützer glaubt nicht an einen tragischen Unfall. Er beginnt zu recherchieren und fliegt deshalb zurück in seine Heimatstadt Kassel. Die Stimmung vor Ort ist aufgeheizt. Bei einer Demonstration gegen den Verkauf von Drohnen an die Bundeswehr kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Gibt es etwa eine Verbindung zu dem mysteriösen Todesfall auf den Kanaren? Jäger enthüllt weitere schockierende Details. Dabei gerät er selbst zunehmend in Gefahr und bemerkt nicht, dass die Schlinge um seinen Hals immer enger wird …

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Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8437-5

Daniel WehnhardtDas Maven-Projekt

„Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension. Sie ist wie ein Messer. Wenn man es einem Chirurgen und einem Mörder gibt, gebraucht es jeder auf seine Weise.“(Wernher von Braun)

PROLOG

Er ließ sie nicht aus den Augen. Seit einer gefühlten Ewigkeit kreiste er nun schon über ihnen. Ein weit entfernter, leise surrender Punkt. Unermüdlich zog er seine Schleifen, als würde er liegende Achten in den Himmel malen.

Adnan blieb stehen und blinzelte in die Sonne. Der Achtjährige hatte schon viele von ihnen gesehen. Von den grauen Vögeln, wie er sie nannte.

Hier, in seiner Heimat, gehörten sie zum Alltag. Aus den Erzählungen seines Vaters wusste Adnan, wie alles begonnen hatte. Damals hatten die Menschen noch nach den grauen Vögeln geschaut und sich ängstlich vor ihnen verkrochen. Heute nahmen sie sie nur noch zur Kenntnis. Wie ein natürliches Phänomen, gegen das sie zwar machtlos waren, vor dem sie jedoch niemals den Respekt verloren. Für Adnan hatten die grauen Vögel hingegen von Anfang an dazugehört, er war mit ihnen aufgewachsen. Die Vorstellung, dass sie vielleicht eines Tages nicht mehr da sein, dass sie nicht mehr über seinem Kopf kreisen würden, kam ihm merkwürdig vor.

Doch nicht nur er war von ihnen fasziniert. Auch sein bester Freund Omran schaute jedes Mal staunend zum Himmel, wenn sie einen von ihnen erspähten. Wann immer sie konnten, schlichen Ad­nan und er sich an die Steinmauer heran, die den Stützpunkt umschloss, und beobachteten die grauen Vögel mit leuchtenden Augen. Solange, bis eine Patrouille auf sie aufmerksam wurde und sie von dem Gelände verscheuchte. Weil sie zu jung waren, waren sie bisher noch nie dabei festgenommen worden. Trotzdem bekamen sie dafür jedes Mal zuhause mächtig Ärger. Omran sogar noch mehr, weil seine Mutter besonders große Angst um ihn hatte und deshalb sehr streng mit ihm war. Adnan hingegen hatte Glück. Bisher hatte sein Vater ihm nur ein paar halbherzige Standpauken gehalten. Nichts, das ihn davon abgehalten hätte, es wieder zu tun.

Bei diesem Gedanken schaute Adnan nach oben.

Komisch, dachte er, dieser graue Vogel war irgendwie anders als die, die er kannte.

Vor allem war er größer. Aber auch gewaltiger. Rätselhafter.

Außerdem: Warum kreiste er überhaupt so lange über ihnen? Wofür interessierte er sich? Was war so spannend an Adnan und seiner Familie? Was war schon dabei, dass sie sich gerade auf dem Heimweg befanden?

Es war die Idee seines Vaters gewesen, mal wieder etwas Zeit zusammen zu verbringen. Ein paar Tage lang hatten sie hin und her überlegt und sich schließlich für ein gemeinsames Picknick entschieden. Dann, am frühen Nachmittag, waren sie zum Fluss Kabul aufgebrochen und hatten sich dort ein gemütliches Plätzchen gesucht.

Sie bauten ihre mitgebrachten Sonnenschirme auf und machten es sich auf bunten Decken bequem. Sie teilten alles, was ihre Mutter für sie gekocht hatte. Während die anderen über Mantu, die kleinen Teigtaschen mit Kichererbsen, herfielen, verdrückte Ad­nan sein Lieblingsessen: Kabuli Palau, ein Reisgericht mit Lamm, Rosinen, Möhren und verschiedenen Gewürzen. Sie unterhielten sich, lachten, und als Überraschung holte ihr Vater ein Kartenspiel heraus, das er auf dem Markt ergattert hatte. Stunden, die sich friedlich anfühlten, und still, als verdrängten sie alles, womit sie als Familie tagtäglich kämpften.

Die Stimme seines Vaters holte Adnan zurück in die Gegenwart. In die trockene, bergige und steinige Landschaft, die ihn umschloss und sich bis zum Horizont erstreckte. Es war sein Zuhause.

„Nun komm schon, Junge“, rief sein Vater erneut aus der Ferne, „wir wollen weiter!“ Sein hellgrauer Kaftan flatterte sanft im Wind. „Was guckst du so in die Luft?“

Trotz der Entfernung, die sie trennte, glaubte Adnan den für seinen Vater so typischen Ausdruck in seinem Gesicht zu erkennen: eine Mischung aus Verärgerung, dass sie schon wieder auf ihn warten mussten, und Verständnis für die träumerische Art seines Sohnes, mit der er ihm doch so sehr ähnelte. Schon oft hatte sein Vater ihn in Schutz genommen, wenn seine Mutter einmal mehr wegen seiner Trödeleien mit ihm geschimpft hatte. Hinterher hatte Adnan sich dann immer bei ihm bedankt. Sein Vater hatte daraufhin nur gelächelt und ihm durchs Haar gewuschelt. Sie hatten schon immer eine enge Beziehung zueinander gehabt, und manchmal, wenn sein Vater ihn ansah, glaubte Adnan, dass er ihn von seinen Kindern besonders liebte. Auch wenn er immer sagte, dass jeder von ihnen einen gleich großen Anteil in seinem Herz einnahm.

Schließlich setzte Adnan sich wieder in Bewegung. Vor lauter Staunen über diesen neuen grauen Vogel hatte er seine Familie völlig aus den Augen verloren, und das hatte er nun davon. Mit Sicherheit würde er sich deshalb von seinen Geschwistern wieder etwas anhören müssen. Vor allem von seinen beiden großen Brüdern, die ohnehin bereits während des Picknicks darauf gedrängt hatten, endlich nach Hause zu gehen. Adnan rechnete damit, dass sie ihm zur Strafe in einem unbeobachteten Moment gegen die Schulter boxen würden. So, wie sie es immer taten, um die Dinge unter sich zu regeln. Wann immer Adnan das seinen Eltern erzählte, bekam er hinterher gleich wieder ein paar Schläge verpasst. Wahre Geschwisterliebe eben.

Dann plötzlich ein Zischen.

Adnan zuckte zusammen. Was war das nur für ein Geräusch?

Erneut sah er nach oben.

War das etwa … ein Pfeil? Ein langer, dünner Strich rauschte vom wolkenlosen Himmel herab. Direkt auf den Hügel zu, an dem Adnans Familie auf ihn wartete.

In den Augen seines Vaters funkelte mit einem Mal nacktes Entsetzen. Er rollte seine Hände zusammen und legte sie an seinen Mund.

„Junge, geh in –“, konnte er gerade noch rufen.

Adnan sah, wie der Pfeil direkt vor seinen Füßen einschlug.

EINS Der Fund

1

Erfolg ist kein Glück

Sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen

Das Leben zahlt alles mal zurück

Es kommt nur ganz darauf an, was du bist

… rappte David das Lied mit, das aus den Lautsprechern seines Laptops dröhnte. Kontra K, der Titel: Erfolg ist kein Glück. Währenddessen überprüfte er zum hoffentlich letzten Mal seine Liste. Auf ihr hatte er alle Dinge notiert, die er für die nächsten zweieinhalb Wochen brauchen würde.

Nicht nur seine Lautsprecher stellte David mit diesem Song vor eine Herausforderung. Wenn seine Uni-Freunde von früher schon damals gewusst hätten, dass er heute die Lieder des Deutsch-Rappers aus Berlin hoch und runter hörte, hätten sie ihm wahrscheinlich nahegelegt, den Studiengang zu wechseln. Und wenn sie dann auch noch gewusst hätten, dass er heute sogar Listen fürs Kofferpacken schrieb, hätten sie womöglich auf dem Campus für seine sofortige Exmatrikulation demonstriert. Denn Listen zu schreiben galt in den Kreisen, in denen er sich damals bewegte, als faschistoid. Das betraf natürlich vor allem Anwesenheitslisten in Seminaren, jedoch auch Listen im Allgemeinen.

Bei diesem Gedanken musste David schmunzeln. Dabei setzte er einen Haken hinter den letzten Punkt – den schönsten von allen, nämlich die kurzen Hosen – und ging sicherheitshalber auch noch einmal die übrigen Punkte durch. Schließlich würde er eine ganze Weile weg sein, sogar so lange wie seit dem Ende seines Studiums nicht mehr, und deshalb war es ihm besonders wichtig, nichts zu vergessen.

Geschlagene sieben Jahre war es nun bereits her, dass er der Uni den Rücken gekehrt und bei der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen angeheuert hatte. Sieben fucking Jahre. In einer Psychologie-Zeitschrift hatte er gelesen, dass die Persönlichkeit eines Menschen sich angeblich genau in diesem Intervall veränderte.

Auf David traf das unzweifelhaft zu. Dass er seit seinem Abschluss einen Wandel durchlebt hatte, ließ sich nicht bestreiten. Dieser zeigte sich auch äußerlich, denn im Gegensatz zu früher, als er seine langen, dunklen Haare noch zusammengebunden in einem hochgesteckten Dutt trug, sah seine heutige Frisur um Lichtjahre konventioneller aus. Kurz geschnitten, meistens um die acht Millimeter lang, und mit etwas Gel zum Seitenscheitel frisiert. Zudem hatte David angefangen, ein bisschen Sport zu treiben, wenn auch widerwillig und eigentlich nur, um bei Dieter Naumann, seinem Ressortleiter, ein paar Sympathiepunkte zu sammeln. Doch inzwischen genoss er es sogar, ein wenig zumindest. Das Joggen am frühen Morgen verschaffte ihm ein vitaleres Lebensgefühl. Wenn auch zu einem hohen Preis, denn anstrengend blieb es allemal, um diese Uhrzeit bereits die Laufschuhe zu schnüren.

Auch Davids Weltbild hatte seitdem ein paar Risse bekommen. Früher, vor allem jedoch während des Studiums, war er noch ein überzeugter Kämpfer für die Interessen der so genannten Arbeiterklasse gewesen. Bei den Wahlen zum Hochschulparlament hatte er sein Kreuz bei der sozialistischsten Gruppe gesetzt, die er auf dem Zettel fand. Auch heute betrachtete er sich selbst noch als links, was auch sonst. Aber ein Mao, wie dieser Stinkstiefel Borowski ihn damals während seines Praktikums stets genannt hatte, war David auf keinen Fall mehr. Denn heute hegte er ernsthafte Zweifel daran, dass die Welt sich tatsächlich in Gut und Böse, in Arbeiter und Kapitalisten, einteilen ließ. Das Älterwerden hatte ihm gezeigt, dass die einfachen Antworten meistens vor allem eins waren: falsch. Dieser Erkenntniswandel war alles andere als reibungslos verlaufen, denn an nichts hielten die Menschen so eisern fest wie an ihren Weltbildern, und David stellte in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Es verhielt sich wie mit Kindern: Die eigenen waren immer die schönsten. Doch entweder man fühlte sich einer Ideologie verpflichtet, oder eben der Suche nach der Wahrheit. Für David galt zweifelsohne Letzteres, dafür hatte er sich irgendwann entschieden, und so fragte er sich heute manchmal, wie kurzsichtig und unreflektiert er zentrale Fragen des Lebens früher beantwortet hatte. Ob das seiner Sozialisation geschuldet gewesen war? Ein Ergebnis der Umstände, unter denen er aufgewachsen war?

Davids Motivation hatte sich hingegen nicht verändert. Der Grund, warum er es liebte, als Journalist zu arbeiten, war immer noch derselbe. Immer war es seine Absicht gewesen, die Welt zu verändern, zum Besseren natürlich. Damals, während er seine ersten Schritte als Redakteur gemacht hatte, hatte er auch noch eine Vorstellung davon gehabt, wie dieses besser genau aussehen sollte. Heute war diese Vision jedoch verschwommen, als sei sie vor seinen Augen zerlaufen wie ein verwässertes Aquarell. Wäre die Welt, wie er sie sich früher vorgestellt hatte, wirklich eine bessere? Besser für wen? Wollten die Menschen überhaupt, dass sich die Dinge in diese Richtung veränderten? Lauter Fragen, auf die es bei genauer Betrachtung keine schnellen und schon gar keine einfachen Antworten gab.

Dann riss ihn plötzlich ein Klingelton aus seinen Gedanken. Erschrocken drehte David sich zu seinem Laptop herum. Auf dem Bildschirm ploppte das Videokonferenz-Programm auf. Dazu ein gesichtsloser Ava­tar mitsamt Benutzername: The Wife.

Irritiert verzog David das Gesicht. Deutete der Name darauf hin, dass es sich bei dem Anrufer womöglich um eine Frau handelte? Untergekommen war er David jedenfalls noch nie. Abgesehen davon, dass die Liste seiner Kontakte kürzer war als die zum Kofferpacken, kannte David auch alle Personen darauf. Er benutzte das Programm ausschließlich für dienstliche Zwecke, vor allem fürs Arbeiten im Homeoffice, und somit zählten auch nur jene Menschen, mit denen er beruflich zu tun hatte, zu seinen Kontakten. Vor allem natürlich seine Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion.

David legte Block und Stift beiseite und ging hinüber zum Küchentisch, auf dem sein Laptop stand. Noch immer drängte The Wife sich auf. Unentwegt vibrierte ein Telefonhörer neben dem Programmsymbol. Wer auch immer das war, dachte David, es mangelte ihm nicht an Hartnäckigkeit. Es war auch nicht das erste Mal, dass eine unbekannte Person versuchte, ihn zu erreichen. Für gewöhnlich reagierte David immer gleich darauf, nämlich, indem er das Klingeln einfach ignorierte. Doch dieser Anruf interessierte ihn. Irgendetwas in seinem Inneren befahl ihm, da ranzugehen.

Als seine Neugierde ihn schließlich überkam, beugte David sich über die Tastatur und nahm den Anruf entgegen. Die Verbindung wurde aufgebaut, und schon wenige Augenblicke später erschienen zwei Fenster auf seinem Bildschirm. In einem war er selbst zu sehen, im Out-of-Bed-Look mit strubbeligen Haaren, zerknautschtem Gesicht und verschlafenen Augen, und im anderen … nichts. Eine tiefschwarze Fläche, der digitale Ausdruck eines absoluten Anonymitätswunsches. David reagierte gedankenschnell und schaltete seine Kamera ebenfalls aus. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch.

„Hallo? Wer ist da?“

Stille. Keine Geräusche im Hintergrund, nicht mal ein Rauschen oder Brummen.

Dann plötzlich eine kraftvolle Stimme.

„Spreche ich mit David Wächter? Dem Redakteur?“

Sofort fiel David auf, dass etwas Seltsames in dieser Stimme lag. Auch wenn dieses Etwas schwer zu definieren war.

Dass die Stimme zu einer Frau gehörte, war hingegen eindeutig. Vermutlich war sie zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt. Außerdem hörte sie sich an wie eine Deutsche, oder zumindest wie eine Person, die Deutsch perfekt beherrschte. Denn alles, was sie sagte, war absolut fehlerfrei. Es war vielmehr der leichte Akzent, der David irritierte. Als ob die Sprecherin es einfach nicht mehr gewohnt sei, diese Sprache zu sprechen. Als würde es ihr an Übung fehlen, wie nach einer langen Auszeit.

„Ja, der bin ich“, bestätigte David nun. „Und wer möchte das wissen? The Wife? Ich nehme doch an, dass Sie nicht wirklich so heißen.“

„Nennen Sie mich Mrs. Sears“, antwortete die Frau knapp. Entweder, weil es tatsächlich ihr richtiger Name war, oder aber, weil sie ihn sich als Tarnnamen ausgedacht hatte. Auf jeden Fall klang er amerikanisch, und bei dieser Erkenntnis klingelte es bei David. Jetzt wusste er den Akzent zuzuordnen: Vereinigte Staaten. Diesem nach zu urteilen, musste die Frau schon ziemlich lange auf der anderen Seite des Atlantiks leben.

„Wieso geben Sie sich nicht zu erkennen, Mrs. Sears?“, fragte David weiter.

„Es ist sicherer“, antwortete sie kryptisch. „Für mich, und vor allem für Sie.“

Damit war Davids Neugier nun endgültig entfacht. Gleichzeitig verfluchte er sich dafür, dass er auf diese Masche hereinfiel. Aber so war er nun mal, immer interessiert an neuen Informationen, und bisher hatte sich diese Eigenschaft in seinem Leben auch als nützlich erwiesen, vor allem natürlich in seinem Beruf. Denn in diesem Punkt ähnelte die Arbeit als Journalist durchaus jener eines polizeilichen Ermittlers. Eine gute Spürnase machte den Unterschied aus, trennte die Gewöhnlichen von den Spitzenleuten. Zweifellos wollte David zu den Letzteren gehören, und er selbst zählte sich auch bereits zu ihnen. Einzig seine Vorgesetzten galt es noch davon zu überzeugen.

Gerade als er Luft holte und zu seiner nächsten Frage ansetzte, kam die Anruferin ihm zuvor.

„Ich habe Material für Sie.“

„Material? Was für Material?“

„Etwas, das Sie interessieren wird.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Weil Sie damit einen riesigen Skandal aufdecken können.“

David schmunzelte. Die Frau ließ wahrlich nichts unversucht.

„Ach, wissen Sie, von solchen hatten wir hier in den letzten Jahren genug“, antwortete er. Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. „Ich bezweifle, dass die Menschen schon wieder bereit für einen neuen sind.“

„Das klingt aber gar nicht nach dem David Wächter, den ich kenne.“

„Mit Verlaub, Mrs. Sears, und bei allem Respekt: Sie kennen mich nicht.“

„Stimmt. Aber ich kenne Ihre Beiträge.“

Zum ersten Mal, seitdem er das Gespräch angenommen hatte, vernahm David nun ein Hintergrund­geräusch in der Leitung. Er erkannte es sofort, denn in der Redaktion hörte er es ständig: ein unverkennbares Rascheln, als ob die Anruferin einen Stapel Zeitungen durchblätterte. Hatte sie in diesem Moment etwa eine oder mehrere Ausgaben der HNA neben sich liegen?

„Vor allem Ihr Artikel über diese Verbrecher-Firma ist mir im Gedächtnis geblieben. Wie hieß die doch gleich?“

„Vermutlich meinen Sie WerraSalz.“

„Genau! Ist ja unglaublich, was Sie damals aufgedeckt haben. Chapeau, damit haben Sie denen echt das Handwerk gelegt! Ausgezeichnete Arbeit war das.“

„Vielen Dank, aber den Beitrag habe ich zusammen mit meinem Kollegen geschrieben.“

„Ich weiß, ich weiß, ich erinnere mich. Aber wir wissen doch beide, welchen Anteil Sie in Wahrheit geleistet haben.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das beurteilen können.“

Die Anruferin nahm sich eine kurze Auszeit.

Dann, wenige Augenblicke später, meldete sie sich wieder zurück.

„Damit haben Sie vermutlich recht. Dennoch muss es Sie doch höllisch geärgert haben, dass Sie dafür nicht den Wächterpreis erhalten haben. Oder täusche ich mich?“

David zuckte zusammen. Der hatte gesessen. Treffer und versenkt.

Doch woher wusste sie überhaupt davon? Wer auch immer sich hinter dieser mysteriösen Mrs. Sears verbarg, sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Nur die wenigsten Menschen wussten, worum es sich bei dem Wächterpreis der deutschen Tagespresse handelte.

„Ein Unding, wenn Sie mich fragen“, fügte die Anruferin hinzu. „Sie hätten ihn verdient gehabt.“

David räusperte sich. Er griff nach dem Wasserglas, das vor ihm auf dem Tisch stand, und nahm einen kräftigen Schluck. Er bemühte sich, so emotionslos wie möglich zu klingen.

„Die Jury hat das anders gesehen.“

„Hmh-hmh. Offensichtlich.“

Wieder eine Unterbrechung. David trank das Glas in einem Atemzug aus, wischte sich anschließend den Mund ab und schob es von sich weg.

„Mit dem, was ich für Sie habe, lassen Sie denen keine Wahl mehr“, sagte Mrs. Sears. „Das verspreche ich Ihnen.“

„Soso. Das klingt ja zu schön, um wahr zu sein.“

David glaubte ihr kein Wort. Allzu lange würde er sich diese Spinnerei auch nicht mehr anhören, denn bevor es morgen früh losging, stand noch einiges auf seiner Agenda. Sein Blick wanderte hinüber zu seinem Koffer und seiner Liste.

„Und was für … Material … haben Sie für mich?“

„Wie ich sagte, das kann ich Ihnen leider noch nicht verraten. Es würde uns nur in Gefahr bringen. Denn vielleicht“, ihre Stimme wurde gedämpft, „hören die uns ab.“

David unterdrückte ein Lachen. „Die? Wer sind denn die?“

„Sie werden es verstehen, sobald Sie es gesehen haben.“

Er winkte ab. Langsam verging ihm die Lust an diesem Spielchen. Es wurde Zeit, dem Treiben ein Ende zu setzen.

„Einverstanden, Mrs. Sears, Sie haben gewonnen. Dann schicken Sie doch mal rüber, was Sie haben. Ich gebe Ihnen gleich meine E-Mail-Adresse durch.“

„Das geht nicht. Ich kann Ihnen das Material nicht per E-Mail schicken.“

„Lassen Sie mich raten: zu gefährlich?“

„Hmh-hmh“, brummte sie bestätigend.

Das wurde ja immer abenteuerlicher. Davids Geduldsfaden war jetzt endgültig gerissen. Zwar hatten sich im Laufe seiner bisherigen Karriere schon viele Spinner bei ihm gemeldet, und darunter waren auch einige gewesen, deren Geisteszustand er nicht mehr als gesund bezeichnet hätte. Aber diese Anruferin mit dem merkwürdigen amerikanischen Akzent setzte noch einen obendrauf.

„Und was schlagen Sie stattdessen vor?“, fragte David schnippisch. „Brieftauben?“ Er schmunzelte über seinen eigenen Witz. „Oder haben die etwa auch Tiere unter ihrer Kontrolle?“

„Ich muss Ihnen das Material persönlich geben“, antwortete sie nüchtern. „Von Angesicht zu Angesicht.“

„Da muss ich Sie enttäuschen, Mrs. Sears.“ Dabei war David selbst ein wenig enttäuscht, dass sie auf seine Provokation nicht angesprungen war. „In ein paar Stunden fliege ich nach Gran Canaria. Sie wissen schon, Sonne, Meer, gute Laune. Alles, woran es uns hier in Nordhessisch-Sibirien so mangelt.“ Obwohl er seine Kamera ausgeschaltet hatte, drehte er sich instinktiv herum und zeigte auf seinen aufgeklappten Koffer. „Sie werden sich also noch zweieinhalb Wochen gedulden müssen, fürchte ich, bis ich wieder zurück bin. Oder Sie wenden sich an meine Kollegen in der Redaktion.“

„Wo auf Gran Canaria?“

Ihr Nachhaken brachte David aus dem Konzept. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Wollte Sie damit etwa tatsächlich andeuten, dass …

„Vermutlich im Süden, nicht wahr?“, ließ sie ihm keine Zeit zu antworten. „Maspalomas?“

„Sie kennen sich gut aus.“ David schnalzte mit der Zunge. „Aber ich muss Sie leider erneut enttäuschen. Ich werde in einem Hotel in den Bergen unterkommen, weit weg vom Trubel.“

„Gut, dann komme ich eben zu Ihnen, wenn’s sein muss.“

„Sie meinen, dass Sie –?“

„Wegen des Treffpunkts melde ich mich wieder bei Ihnen.“

David verschlug es die Sprache. Hatte er es etwa mit einer Durchgeknallten zu tun? Sie konnte doch nicht wirklich vorhaben, zu ihm nach Gran Canaria zu fliegen? Wer nahm eine solche Reise auf sich, nur um einem jungen Redakteur einer überregionalen Tageszeitung irgendwelche Dokumente zu übergeben? Worum handelte es sich dabei bloß? Was hatte er sich da nur wieder eingebrockt?

„Also, wir hören uns“, sagte sie zum Abschied. „Und bis dahin gebe ich Ihnen einen Rat: Erzählen Sie niemandem von unserem Gespräch.“

„Ich … ich weiß nicht, was –“

„Niemandem, haben Sie verstanden?“

David schluckte. „In Ordnung.“

Dann verschwand mit einem Mal das schwarze Fenster, so plötzlich, wie es aufgetaucht war. Mit ihm der Avatar und das Logo des Programms. David war wieder allein mit sich und der Stille.

Und mit jeder Menge Fragen.

Den Start in seinen Sommerurlaub hatte er sich definitiv anders vorgestellt.

2

Markus Oster war zum ersten Mal in dieser Stadt. Bisher hatte es allerdings auch keinen Anlass für ihn gegeben hierherzukommen, und außerdem hatte er noch nicht viel Gutes über sie gehört. Eine Stadt mitten in der Provinz, umgeben von mehr oder weniger großen Dörfern, Bergen und Feldern. Dazu eine Straßenbahn, und Menschen, die kaum mürrischer sein könnten. Das war es, was man sich über Kassel und seine Bewohner erzählte. Immerhin gab es in der einzigen Großstadt Nordhessens einen IC-Bahnhof – den, an dem Oster vor einer Stunde angekommen war – und sogar einen Flughafen. Wegen des Bombenanschlags vor einem Jahr liefen dort allerdings immer noch die letzten Reparaturarbeiten.

Normalerweise wäre er unter keinen Umständen hierhergefahren. Bisher hatte er seine Kunden ausschließlich an Orten getroffen, die er selbst bestimmt hatte. Meistens waren das Parkplätze im Nirgendwo gewesen, aber auch Wohnungen von Vertrauenspersonen oder sonstige abgelegene Plätze, an die sich für gewöhnlich keine Menschenseele verirrte. Das galt vor allem zu Osters eigener Sicherheit. Zwar existierten in seinem Beruf nur wenige Regeln, aber auf diese hatte er bisher immer gesteigerten Wert gelegt.

Bis heute. Der Grund: die aberwitzige Summe, die sein Kontaktmann ihm am Telefon genannt hatte. Zuerst war Oster davon ausgegangen, dass er sich verhört oder aber sein Gegenüber sich versprochen hatte. Doch beides war nicht der Fall, und außerdem war es bereits Juli, zu spät also für einen Aprilscherz. Auf seinen Wunsch hin wiederholte sein Kontaktmann die Summe, und danach wusste Oster, dass sein Gehör nach wie vor prächtig funktionierte.

Diese Zahl hatte seine Zukunftspläne auf den Kopf gestellt. Maximal fünf Jahre wollte er in diesem Spiel noch mitmischen. Danach lockte ihn Lateinamerika. Am besten ein Land, das nicht nur mit gutem Wetter und schönen Frauen aufwartete, sondern auch ein Herz für untergetauchte Männer wie ihn hatte. Er dachte an Paraguay, Venezuela, Chile. Wohlklingende Namen von Orten, die ihm Sicherheit versprachen.

Doch dieses neue Angebot veränderte alles. Wenn Oster es akzeptierte, würde er keine fünf Jahre mehr arbeiten müssen. Dann würde er sich gleich zur Ruhe setzen, direkt nach dem erfolgreichen Abschluss dieses Auftrags. Worin genau dieser bestand, darüber hatte sein Kontaktmann ihn im Unklaren gelassen. Deshalb hatte Oster mit seiner Regel gebrochen und war nach Kassel gekommen. Um sich anzuhören, was diese Männer als Gegenleistung von ihm verlangten. Es würde mehr sein als nur eine Überwachung von unliebsamen Mitarbeitern, so viel ahnte Oster schon jetzt. Es würde schmutzig werden, vermutete er, und blutig sowieso. Doch blutig war sein Leben schon seit Langem. Seitdem er damals in diese Transall gestiegen war, Flugziel Af­ghanistan. Der Krieg, das Töten, die ständige Begegnung mit dem Tod – mit diesem Flug hatte alles angefangen.

Oster rückte seine Krawatte zurecht und betrat das Gebäude. Das Gelände, auf dem es stand, lag im Zentrum der Stadt, nur einen kurzen Fußmarsch vom Hauptbahnhof entfernt. Trotzdem wurde es durch einen hohen und blickdichten Zaun weiträumig von der Außenwelt abgeschirmt. Es wurde bewacht durch eine Armada von Kameras, die im Abstand von nur wenigen Metern um die Anlage herum angebracht waren. Elektronische Türsteher, die jede Bewegung in einem gewissen Umkreis erfassten.

Auf dem Weg zum Eingang war Oster an dem Zaun vorbeigekommen. Wenn er nicht gewusst hätte, was sich dahinter verbarg, wäre ihm das Gelände nicht einmal aufgefallen. Natürlich war das nicht ohne Grund so. In dem Geschäft, in dem die Männer hinter dem Zaun tätig waren, legte man gesteigerten Wert auf eine gewisse Abgeschiedenheit. Darauf, sich unter dem Radar zu bewegen. Letzteres galt auch für Osters Tätigkeit.

Durch die Drehtür betrat er nun die Empfangshalle. Sofort nahm ihn ein auffallend dünner Mann ins Visier. Er saß zu seiner Rechten auf einer Couch. Als er Oster kommen sah, sprang er umgehend auf und marschierte mit eiligen Schritten auf ihn zu. Sein Auftrag war klar: Er sollte ihn so früh wie möglich abfangen und zu den Leuten bringen, die etwas zu entscheiden hatten.

„Sie müssen Oster sein“, fragte und stellte der Mann zugleich fest. Er wies ihm den Weg zum anderen Ende der Eingangshalle. „Folgen Sie mir bitte. Die Herrschaften warten auf uns.“

Sie betraten einen der Fahrstühle. Der Mann drückte auf einen Knopf ohne Nummer, und wenige Augenblicke später erreichten sie anscheinend das oberste Stockwerk. Die Türen öffneten sich, sie wurden direkt von zwei muskelbepackten Gorillas begrüßt. Einer von ihnen stürzte sich auf Oster und tastete ihn ab.

Dann gab er grünes Licht, er durfte passieren. Der Mann führte ihn zu einer Tür. Auch hier keinerlei Hinweise, was sich hinter ihr verbarg. Verschlossenheit als Unternehmenskonzept. Es waren Profis am Werk.

Die Herrschaften, wie Osters Begleiter sie genannt hatte, waren drei identisch gekleidete Männer in dunklen Anzügen. Sie empfingen Oster in einem dämmrigen Raum. Sie saßen hinter einem großen Tisch, an dem mindestens sechs weitere Personen Platz gefunden hätten. Ihre Begrüßung fiel mager aus, ein angedeutetes Kopfnicken, das man nur bemerkte, wenn man es wollte.

Das war jedoch nichts Neues für Oster. Er hatte schon beängstigenderen Gestalten gegenübergesessen. Seitdem er in die wutunterlaufenen Augen eines afghanischen Warlords geschaut hatte, nahm er einiges im Leben mit größerer Gelassenheit. Einschüchternde Blicke brachten ihn so schnell jedenfalls nicht mehr aus der Fassung.

„Nehmen Sie sich einen Stuhl“, sagte nun der Mann auf der linken Seite. Obwohl seine Lippen genauso schmal waren wie die Krawatte, die sich verzweifelt an seinen Hals klammerte, bekam er sie kaum auseinander.

Oster wartete einen Augenblick. Gleich zu Beginn wollte er klarstellen, dass er sich aus Befehlen nicht viel machte, genau genommen gar nichts. Das hatte er schon während seiner Bundeswehrzeit so gehandhabt, auch wenn er damals tatsächlich noch zu Gehorsam verpflichtet gewesen wäre. Seiner rebellischen Art hatte er auch die eine oder andere Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten und in der Folge sogar dienstrechtliche Konsequenzen zu verdanken. In den ersten Jahren hatte er sich deshalb noch über sich selbst geärgert, aber irgendwann war er zu der Einsicht gelangt, dass das nun mal ein Teil seines Charakters war.

Dann, als er genug gewartet hatte, löste Oster sich aus seiner Haltung und zog sich einen der Stühle heran. Er setzte sich hin, legte seine Hände in den Schoß und scannte die Anwesenden mit einem flüchtigen Blick.

„Man sagt, Sie gehören zu den Besten“, meldete sich nun wieder der Schmalhals zu Wort. Er positionierte sich in gebührendem Abstand schräg hinter dem Tisch und verschränkte die Arme. Er war der Einzige im Raum, der noch stand.

Oster würdigte ihn keines Blickes. „Wer auch immer Ihre Quelle ist, Sie sollten sich eine andere suchen“, erwiderte er kühl. „Ich bin der Beste.“

Einer der drei Herrschaften hustete in die Faust.

„Kommando Spezialkräfte, richtig?“, überspielte der Schmalhals die Situation, indem er sofort weitere Fragen stellte. „Sie waren in Afghanistan bei Enduring Freedom dabei. Operation Anaconda, hört man aus Armeekreisen?“

Doch Oster ließ sich weiterhin keine Reaktion entlocken. Ohne jede Regung saß er da, gleichmütig und beinahe teilnahmslos.

Kurz darauf sagte er: „Mein Ausbilder hat immer gesagt, dass wir tot sind, sobald die falschen Leute erfahren, zu welcher Einheit wir gehören.“

Über das Gesicht des Mannes in der Mitte huschte ein zaghaftes Lächeln.

„Das genügt uns so weit“, mischte sich nun auch sein Kollege auf der rechten Seite ein. Im Unterschied zu seinen Sitznachbarn hatte er blonde und lockige Haare, die ihn ein wenig zu verspielt für eine ernste Situation wie diese wirken ließen. Er schien zu wissen, dass dies seine Autorität schmälerte, und versuchte deshalb, diesen Umstand mit einem besonders harten Gesichtsausdruck zu kompensieren.

Dann öffnete der Schmalhals wieder seine zuvor verschränkten Arme, ging zu den anderen Männern hinüber und zog ein Dossier aus einer der Schubladen. Er entnahm ihm ein Foto und legte es vor Oster auf den Tisch.

„Kennen Sie diesen Mann?“

Oster beugte sich vor und betrachtete eine Zeit lang nachdenklich das Bild.

„Nein“, sagte er schließlich. Er lehnte sich wieder zurück. „Wer ist das?“

„Das ist fürs Erste nicht von Bedeutung. Er ist jemand, der unseren Interessen im Wege steht. Die Details erfahren Sie in einem späteren Briefing.“ Das Foto wanderte wieder zurück in den Umschlag. „Vorausgesetzt natürlich, Sie nehmen unser Angebot an.“

„Die Entscheidung, was für mich von Bedeutung ist und was nicht, übernehme ich gerne selbst.“

Erneut entlockte Osters Reaktion dem Lockenkopf ein Lächeln.

„Wir vertrauen natürlich ganz auf Ihre Erfahrung“, versuchte der Mann in der Mitte nun zu beschwichtigen. Er schien zu spüren, dass dem Schmalhals das Gespräch zu entgleiten drohte. „Sie sind der Experte in diesen Dingen.“

Das hörte sich schon besser an.

„Angenommen, ich würde mich bereit erklären, Ihnen zu helfen“, leitete Oster eine der beiden wichtigsten Fragen ein, „worin genau bestünde mein Auftrag?“

„Darin, diesen Mann aufzuhalten.“

„Aufhalten? Wobei?“

Der Mann beugte sich zu ihm herüber. Von allen dreien hatte er mit Abstand das freundlichste Gesicht, vor allem wegen seinen braunen Augen, die etwas Vertrauenswürdiges ausstrahlten. Wenn sie hier das übliche good Cop, bad Cop spielten, war seine Rolle die des guten Polizisten. Er spielte sie ziemlich gut.

„Wir haben Grund zur Annahme, dass er in den nächsten Tagen sensible Informationen erhält.“ Der Mann faltete seine Hände zu einem Dreieck und trommelte sanft mit den Fingerspitzen aufeinander. „Sie sollen verhindern, dass das geschieht.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Und dann diese Informationen vernichten.“

„Was sind das für Informationen?“

„Solche, die für die nationale Sicherheit von großer Bedeutung sind.“

Oster sah ihm ausdruckslos in die Augen.

Ein Grund, der ihn nicht kälter lassen könnte. Denn für sein liebes Vaterland hatte er nun schon oft und lange genug den Kopf hingehalten. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er seine Pflicht getan, verfluchte fünfundzwanzig Jahre, ein Vierteljahrhundert. Meistens hatte diese Pflicht darin bestanden, mit voller Montur bei gleißender Hitze in einem Spähpanzer zu schmoren, eingepfercht mit drei weiteren Kameraden. Angespannt und in ständiger Hoffnung, dass sie über keine Mine fuhren, die sie direkt ins Jenseits sprengen würde. Um ihn herum hatte es zahllose Einschläge gegeben. Viele aus seiner Truppe verließen dieses verdammte Land in einem Sarg. Oster war einer der wenigen gewesen, die in einem Stück die Heimreise antraten, und das war für ihn Grund genug, diesen Job an den Nagel zu hängen. Diese Entscheidung hatte er sogar noch auf dem Flug zurück nach Deutschland getroffen.

Erneut schien der Mann in der Mitte nun zu spüren, dass es etwas anderes bedurfte, um Oster für diesen Auftrag zu motivieren. Mit patriotischem Geschwätz würden sie ihn jedenfalls nicht auf ihre Seite ziehen.

Plötzlich schnippte der Lockenkopf in die Luft. Offensichtlich ein Kommando an den Schmalhals, denn dieser verstand das Zeichen sofort. Er öffnete ein weiteres Mal die Schublade, entnahm ihr Zettel und Stift und überreichte dem Lockenkopf beides über dessen Schulter. Oster hörte Kritzeln auf Papier.

„Wir sind uns bewusst, dass die Dienste eines so renommierten Mannes, wie Sie es sind …“, er schob den Zettel bis zur Mitte des Tisches, „… ihren Preis haben.“

Oster ließ wieder einen Moment verstreichen.

Dann beugte er sich vor, zog die Notiz zu sich heran und blickte aus dem Augenwinkel auf die Zahl. Zum Glück war er geübt darin, seine Emotionen zu verbergen, denn diese Offerte ließ sein Herz sofort zwei Gänge höher schalten. Professionell wie er war, ließ er sich jedoch nichts anmerken. Mit nüchternem Gesichtsausdruck schob er den Zettel wieder zurück in die Mitte.

„Einverstanden“, nahm Oster ihr Angebot kurz darauf an. Die drei Herrschaften nickten ihm zu. Diesmal deutlich erkennbarer als noch zur Begrüßung. „Und wo finde ich diesen Kerl?“

3

Ungläubig schielte er auf seine Uhr. Eine Viertelstunde war Mrs. Sears nun bereits überfällig. Und das, obwohl sie selbst auf absolute Pünktlichkeit bestanden hatte. „Kommen Sie bloß nicht zu spät“, hatte sie mehrmals wiederholt, „sonst bin ich weg.“ Und jetzt war sie es selbst, die ihn warten ließ.

Nervös rutschte David in seinem Korbsessel hin und her. Es waren gleich mehrere Fragen, die ihn beschäftigten. War Mrs. Sears womöglich etwas zugestoßen? War ihr die Sache, wegen der sie ihn kontaktiert hatte, zu heiß geworden? Oder trieb sie ein falsches Spiel mit ihm? Stellte sich nun etwa heraus, dass er es doch mit einer Durchgeknallten zu tun hatte?

Seit ihrem Anruf vor drei Tagen konnte David an nichts anderes mehr denken. Mrs. Sears hatte ihn an einem wunden Punkt erwischt, denn bisher war er von der Jury des Wächterpreises stets ignoriert worden. Und das trotz seiner Enthüllungsartikel, angefangen beim Beitrag über die Machenschaften des Kasseler Dax-Konzerns WerraSalz, mit dem er vor sieben Jahren für Furore gesorgt hatte. Die Aussicht, dass The Wife ihm tatsächlich Material zuspielte, mit dem er den nächsten politischen Skandal aufdecken würde, beflügelte ihn. Und brachte zugleich die Stimme der Vernunft zum Schweigen. Er wollte einfach diesen verfluchten Preis gewinnen!

Zur Ablenkung trommelte David nun die Musik mit, die aus den Lautsprechern des gut besuchten Lokals schepperte. Kein Kontra K, dachte er und schmunzelte. Aber dessen Songs hätten hier an der Strandpromenade auch eher als Rausschmeißer gewirkt. Stattdessen drang aus den Boxen die Elite der Party- und Trinkmusik. Reiß die Hütte ab, Drei nackte Frisösen, Geh mal Bier holen. Musikalische Verbrechen an der Menschheit, wenn es nach David ging, aber jetzt gerade half ihm das Mittrommeln der einprägsamen Rhythmen tatsächlich über seine Aufregung hinweg.

Um ihn herum herrschte buntes Treiben. Ein klang­liches Allerlei aus klirrenden Gläsern, klapperndem Geschirr und unverständlichen Gesprächen. Obwohl er hier in Spanien war, hörte er überwiegend englische und deutsche Unterhaltungen. Spanisch hingegen so gut wie nie. Höchstens ein paar Sätze der Kellner, die klangen, als seien sie ihnen in der Hektik aus Versehen aus dem Mund geplumpst. Auf dem Flug hierher hatte er sich mithilfe einer App ein paar Brocken der Sprache draufgeschafft. Damit konnte er das Nötigste ausdrücken, sich Essen und Getränke bestellen und jemanden nach der Uhrzeit oder nach dem Weg fragen. Spanisch klang ziemlich schön, bemerkte er dabei. Er dachte darüber nach, sich möglicherweise bei einem Kurs in der Volkshochschule anzumelden, sobald er wieder zu Hause in Deutschland war.

Nun nippte David zum wiederholten Mal an seinem Bier. Er trank einen Schluck, setzte das Glas wieder ab und nahm anschließend die Gäste des Lokals unter die Lupe. Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum nächsten, eine Galerie sonnenverbrannter Käse-Touris. Der menschliche Ausdruck des Massentourismus. Niemals hätte er selbst sich hier in einer dieser unzähligen Bettenburgen ein Zimmer gebucht. Dort, wo er untergekommen war, war es ungleich viel schöner und vor allem leerer.

Bei einer Person, die ihm ins Auge stach, blieb Davids Blick schließlich hängen. Er richtete sich auf und betrachtete sie genauer. Sie trug einen eng anliegenden Sportanzug, der ihre gertenschlanke Figur betonte. Unter dem Basecap auf ihrem Kopf lugten schwarze Rastalocken hervor. Ein dichter Schnauzbart klebte über ihren Lippen, und um ihren Oberkörper schlängelte sich eine Tragetasche, als wollte sie mit ihr in den Clinch gehen. Scheinbar teilnahmslos saß sie da, mit gefalteten Händen, die auf ihrem Knie ruhten, und blickte zwischen den Köpfen der Gäste hindurch zum Strand.

Doch dann, noch während David sie begutachtete, erhob die Person sich plötzlich. Sie rückte ihren Sessel an den Tisch, ließ ein bisschen Klimpergeld auf dem Tellerchen zurück und kam schließlich zu ihm herüber. David spürte, wie sein Herz anfing zu klopfen.

„Kommen Sie mit“, zischte die Person im Vorbeigehen, „wir gehen spazieren.“ Sofort fiel er ihm wieder auf: der leichte, aber trotzdem hörbare amerikanische Akzent. The Wife höchstpersönlich. So, wie sie es verabredet hatten.

David stürzte den letzten Schluck Cerveza herunter. Er zückte einen Zehner aus seiner Badeshorts und schob ihn unter das Glas. Nach ein paar Schritten hatte er sie eingeholt.

„Tarnung ist Ihr zweiter Vorname, was?“, frotzelte er. „Wenn Sie unbedingt auffallen wollten, dann –“

„Halten Sie den Mund“, grätschte sie dazwischen. Ihre Stimme war so scharf wie ein Guillotinenbeil.

Wortlos gingen sie weiter. Vorbei an Restaurants, Bars und Supermercados, die die Promenade säumten und deren Laute sich zu einer unverwechselbaren Geräuschkulisse vermengten. Als sie das Ende des Weges erreicht hatten und dieser einen Bogen machte, blieb Mrs. Sears an einer hüfthohen Steinmauer stehen.

Vor ihnen erstreckten sich die weltberühmten Dünen von Maspalomas. Beeindruckende, unwirklich erscheinende Berge aus Sand, wie eine riesige Schatzkarte durchzogen von den Spuren der Wanderer. Ohne ihren Blick von dieser Kulisse abzuwenden, fischte Mrs. Sears ein Smartphone aus ihrer Tasche. Wischte auf dem Display herum, reichte David schließlich das Gerät und rückte dabei dicht an sein Ohr.

„Das dürfte Sie interessieren“, flüsterte sie.

Doch David erschloss sich die Tragweite des Videos nicht sofort. Erst nachdem er es zum dritten Mal angesehen hatte, dämmerte sie ihm. Das konnte doch nicht …!

Nein, er hatte es ganz und gar nicht mit einer Durchgeknallten zu tun. Außerdem hatte sie ihm nicht zu viel versprochen. In der aktuellen politischen Debatte würde dieses Video einschlagen wie eine Bombe!

Wenn David aus den bewegten Bildern die richtigen Schlüsse zog, bedeuteten diese einen handfesten Skandal – und das nicht nur für die Bundesrepublik, sondern für die gesamte westliche Welt. Schlagartig war ihm bewusst, warum Mrs. Sears dieses konspirative Treffen vorgeschlagen hatte. Auch drängte sich ihm nun eine Ahnung auf, wer die sein könnten, vor denen sie ihn so eindringlich gewarnt hatte.

„Warum?“, fragte David schließlich, nachdem er den Schock verdaut hatte. „Was springt für Sie dabei raus?“

Eine Weile sah Mrs. Sears sich um. Als wollte sie sichergehen, dass sich niemand in ihrer Nähe aufhielt und sie auch niemand beschattete.

Dann zog sie sich den Schirm ihres Basecaps tief ins Gesicht.

„Ich habe meine Gründe.“ Sie griff in ihre Umhängetasche, zückte einen Umschlag und presste ihn David an den Bauch. „Das hier wird Ihnen helfen.“ Ohne sich zu verabschieden, machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Wenige Sekunden später hatte die Menschenmenge sie bereits wieder verschlungen.

David wartete noch ein paar Minuten, bis er sich ein Taxi rief. Mit ihm fuhr er zurück ins Hotel. Dort ging er schnurstracks zu seinem Zimmer. Er verbarrikadierte sich, setzte sich umgehend an den rustikalen Schreibtisch und sichtete im ersten Schritt die Quellen. Danach überspielte er das Video auf seinen Laptop, um es auf einem größeren Bildschirm anzuschauen. Er sortierte die Dokumente aus dem Umschlag nach Wichtigkeit, und anschließend fotografierte er sie mit seinem Smartphone. Zur Absicherung lud er das gesamte Material als gepackte ZIP-Datei in seine Cloud hoch.

Aufgrund der lahmen Internetverbindung im Hotel lief der Transfer jedoch schleppend. David beschloss, die Wartezeit zu nutzen und sich in der Kochnische einen Cortado con leche zuzubereiten. Es gab verdammt viel zu tun, an Schlaf war heute jedenfalls nicht mehr zu denken. Dafür war David wegen dem, was sich jetzt in seinem Besitz befand, viel zu aufgeregt.

Über eine Stunde später war endlich alles hochgeladen. David machte sich umgehend an die Arbeit. Er hatte keine Zeit zu vergeuden. Wenn er die Nacht durchackerte, würde er die erste Fassung möglicherweise sogar noch in der Morgenkonferenz vorstellen können. Wie seine Kollegen wohl darauf reagieren würden? Vor allem dem Griesgram, seinem ewigen Konterpart, würde das mit Sicherheit nicht schmecken. David hingegen würde es ein inneres Blumenpflücken sein, das wutrote Gesicht des Stinkstiefels auf dem Bildschirm zu sehen.

Mrs. Sears hatte recht, dachte er. Diesmal wird es klappen. Mit einem Mal fühlte Davids Traum sich zum Greifen nahe an. Die Jury würde nicht mehr länger um ihn herumkommen, bei allen Vorbehalten, die sie ihm gegenüber bis zum heutigen Tag besaßen.

Für diese Enthüllung mussten sie ihm den Wächterpreis verleihen!

4

Oster lag bäuchlings auf dem Boden und observierte die Umgebung. Wie in Zeitlupe fingerte er ein Kaugummi aus seiner Einsatzhose. Er befreite es blind aus der Papierhülle und schob es sich in den Mund. Während er kaute, drückte er vorsichtig das Gras beiseite.

Die Anlage befand sich nur noch knapp einhundert Meter entfernt. In dem Fenster des einzigen beleuchteten Zimmers brannte Licht, wie ein Keil durchbohrte es die Dunkelheit. Durch das Nachtsichtgerät identifizierte Oster seine Zielperson.

Er verfolgte diesen Kerl nun bereits seit geschlagenen drei Tagen. Angefangen hatte alles auf dem Weg zum Flughafen. Von diesem Moment an hatte er ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Oster wurde zu seinem Schatten. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt, immer auf Distanz und trotzdem dicht genug dran.

Heute Nachmittag war es dann so weit. Am Ende der Strandpromenade, direkt vor einer Mauer, fand die Übergabe schließlich statt. Oster schloss das nicht nur aus den Bewegungen und Körperhaltungen der beiden, sondern vor allem aus dem eindeutigen Gesichtsausdruck seiner Zielperson. Zunächst hatte er Ungläubigkeit darin gelesen, dann Neugier … und kurz darauf nacktes Entsetzen. Es bestand kein Zweifel: Er hatte die Informationen erhalten. Um das zu verhindern, war es also zu spät.

Nur zu gerne hätte Oster sich deshalb umgehend auf ihn gestürzt. Oder zumindest auf diese seltsame Gestalt, die ihm alles zugeschoben hatte. Das wäre vor so vielen Zeugen allerdings keine kluge Strategie gewesen. Daher war Oster keine andere Wahl geblieben, als sich wieder an ihn dranzuheften und auf einen günstigen Moment zu warten.

Und genau der war nun gekommen.

Ohne die Szene aus den Augen zu verlieren, zückte Oster sein Handy. Nach dem vierten Klingeln knackte es in der Leitung. Er kam direkt zur Sache.

„Bisher ist alles ruhig. Ich habe freie Sicht auf die Zielperson.“

„Und, was sehen Sie?“

Oster warf einen Blick durch das Okular. „Er hat es.“

„Sind Sie absolut sicher?“

„Einhundert Prozent.“

Stille. Kein Geräusch drang durch die Leitung. Der Schmalhals, oder möglicherweise sogar eine der drei Herrschaften selbst, musste die Stummtaste gedrückt haben. Oster wartete geduldig und schaute weiter unbeirrt den Abhang hinunter auf das wie ausgestorbene Gelände.

Nach einer Weile wieder ein Knacken. „Freigabe. Melden Sie sich, wenn die Sache erledigt ist.“

„Verstanden.“

Oster legte auf und steckte das Handy zurück in seine Hosentasche.

Dann drückte er sich kontrolliert in die Hocke. Er behielt das erleuchtete Fenster mitsamt der Zielperson fest im Blick.

Meter für Meter pirschte er sich nun durch das Dickicht an die Anlage heran.

5

David blickte über den Rand seines Laptops und schaute durchs Fenster nach draußen. Er erkannte die Umrisse des Hauptgebäudes, in dem sich auch das hotel­eigene Restaurant befand, und direkt daneben den Außenbereich des Pools, auf dessen Wasser das Mondlicht silbrig glänzte. Dahinter begannen die Felder, die tagsüber von Sprinkleranlagen bewässert wurden, und noch weiter in der Ferne erahnte er trotz der Dunkelheit den steilen Abhang, sozusagen die Grenze des Hotelgeländes. Das hatte er gleich an seinem ersten Tag herausgefunden, als er die Gegend erkundet hatte und dort auf ein Warnschild gestoßen war.

Er saß nun schon seit etwa fünf Stunden an diesem Tisch, mindestens. Nach jeder Stunde hatte er eine Pause eingelegt, um sich zu dehnen und zu strecken und ein paar Runden in dem kleinen Zimmer umherzulaufen. Diese Bewegung, auch wenn es keine besonders ausgiebige war, half ihm dabei, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Die Kaffeemaschine lief in Dauerschleife. David hämmerte sich einen Cortado nach dem anderen in den Kopf. Trotzdem fielen ihm regelmäßig kurz die Augen zu. Aber er durfte auf keinen Fall einschlafen! Bis um zehn Uhr, wenn die Morgenkonferenz begann, musste er noch durchhalten. Danach würde er sich direkt aufs Ohr hauen, so viel stand fest. Auf diesen Programmpunkt in seiner Tagesplanung freute er sich am meisten. Doch bis dahin hatte er noch einiges zu tun. Denn nach wie vor war er damit beschäftigt, das Material zu sichten, das Mrs. Sears ihm mitgegeben hatte.

Es waren tiefe Abgründe, die sich vor David auftaten. So tief, wie er sie sich nicht hätte vorstellen können. Keine Frage, als investigativer Journalist zu arbeiten, raubte einem schnell die Illusion, dass die Welt ein Ort voller gutherziger Menschen sei. Auch David hatte in seiner bisherigen Karriere bereits so manche Schweinerei mitbekommen: Firmen, die ihre umweltschädlichen Praktiken vertuschten, oder korrupte Politiker, die für ihre Wiederwahl vor nichts zurückschreckten. So hatte er mit der Zeit die Erkenntnis gewonnen, dass in dieser Welt tatsächlich alles möglich war. Dass es nichts gab, das es nicht gab. Sowohl im guten, als auch im schlechten Sinn.

Doch das Ausmaß, das aus diesen Unterlagen hervorging, überstieg einfach alles.

Leider war Mrs. Sears nach der Übergabe direkt wieder abgetaucht. Zu gerne hätte David mit ihr darüber gesprochen, wen genau sie mit sie gemeint hatte, vor denen er sich in Acht nehmen sollte, auch wenn sich ihm inzwischen eine Vermutung aufdrängte. Außerdem hätte er sie gefragt, warum sie sich ausgerechnet an ihn gewandt hatte, und nachgebohrt, was für sie selbst auf dem Spiel stand.

Doch dazu hatte er nun keine Gelegenheit mehr. Vielleicht, hoffte David, würde sie ihn noch mal kontaktieren, wenn der Artikel erschienen war. Wenn er das Beben ausgelöst hatte, das den gesamten politischen Betrieb der westlichen Welt erfassen würde. Denn das würde zweifellos passieren. Das wusste David, seitdem sie ihm das Video auf ihrem Handy gezeigt hatte. Die Welt würde eine andere sein danach, und noch konnte er über die Konsequenzen nur mutmaßen. Sie würden gigantisch und weitreichend sein.

Dann plötzlich ein seltsames Geräusch in seinem Rücken. Es riss ihn aus seinen Gedanken. Verflucht, was war das? Erschrocken schoss David herum –

Und sah nur sein spärlich erleuchtetes Hotelzimmer. Hatte er sich das Geräusch etwa eingebildet? Wahrscheinlich die Müdigkeit, dachte David und schüttelte den Kopf. Er schmunzelte über sich selbst und drehte sich anschließend wieder zum Fenster.