16,99 €
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €
Der neue Roman von der Autorin des Bestsellers "Die Schönheitskönigin von Jerusalem". Elija aus Tel Aviv ist glücklich, ihren Mann, einen umschwärmten Schriftsteller, in Paris zu besuchen, nur um zu erfahren, dass er sie für eine andere sitzen lässt. Untröstlich kehrt sie nach Israel zurück und lässt sich von den Eltern in ihrem alten Kinderzimmer in Tel Aviv umsorgen. Ihre Mutter Lily kann nur wenig Nähe zulassen, und Elija findet heraus, dass ihre Mutter so kalt ist, weil sie als Baby ausgesetzt wurde und ohne Mutter aufwachsen musste. Elija beschließt, die Geschichte ihrer Familie zu erforschen und ihre Großmutter Rachel zu suchen. Meisterlich verwebt Sarit Yishai-Levi vor dem Hintergrund der Stadt Tel Aviv das Schicksal dreier Frauen zu einem außergewöhnlichen Familienroman. »Wunderschön! Ein bezauberndes, bewegendes Buch, dessen Figuren mich lange weiter begleitet haben.« Haaretz »Dieser Schmöker öffnet eine für uns wenig bekannte Welt.« Brigitte »Ein großartiger Familienroman.« Kölner Stadt-Anzeiger »Eine umwerfende Geschichte.« tina
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 753
Veröffentlichungsjahr: 2021
Der neue Roman von der Autorin des Bestsellers »Die Schönheitskönigin von Jerusalem«.
Elija aus Tel Aviv ist glücklich, ihren Mann, einen umschwärmten Schriftsteller, in Paris zu besuchen, nur um zu erfahren, dass er sie für eine andere sitzen lässt. Untröstlich kehrt sie nach Israel zurück und lässt sich von den Eltern in ihrem alten Kinderzimmer in Tel Aviv umsorgen. Ihre Mutter Lily kann nur wenig Nähe zulassen, und Elija findet heraus, dass ihre Mutter so kalt ist, weil sie als Baby ausgesetzt wurde und ohne Mutter aufwachsen musste. Elija beschließt, die Geschichte ihrer Familie zu erforschen und ihre Großmutter Rachel zu suchen. Meisterlich verwebt Sarit Yishai-Levi vor dem Hintergrund der Stadt Tel Aviv das Schicksal dreier Frauen zu einem außergewöhnlichen Familienroman.
»Wunderschön! Ein bezauberndes, bewegendes Buch, dessen Figuren mich lange weiter begleitet haben.« Haaretz
»Dieser Schmöker öffnet eine für uns wenig bekannte Welt.« Brigitte
»Ein großartiger Familienroman.« Kölner Stadt-Anzeiger
»Eine umwerfende Geschichte.« tina
Über Sarit Yishai-Levi
Sarit Yishai-Levi, geboren 1947 in Jerusalem, hat als Schauspielerin, Journalistin, Korrespondentin und Moderatorin gearbeitet. Mit ihrem ersten Roman „Die Schönheitskönigin von Jerusalem“, eroberte sie die Bestsellerliste.
Ruth Achlama, geboren 1945, lebt seit 1974 in Israel und übersetzt seit Anfang der 80er Jahre hebräische Literatur, darunter Werke von Amos Oz, Meir Shalev, Yoram Kaniuk und Ayelet Gundar-Goshen. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem mit dem deutsch-israelischen Übersetzerpreis und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlag.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Sarit Yishai-Levi
Das Meeresblau von Tel Aviv
Roman
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Newsletter
Elija
Dr. Amir Kaminski
Lily
Elija
Schaul
Lily
Elija
Paris
Schaul
Elija
Eldad
Elija
Elija und Eldad
Lily
Elija
Lily
Elija
Lily
Elija
Schaul
Elija
Lily
Elija
Lily
Rachel
Lily
Elija
Lily
Elija
Danksagung
Impressum
Für meine Mutter
Gab es Qualen – sie segelten zu dir,
Mein weißes Segel in dein Dunkel
Lass mich gehen lass mich gehen zu knienam Strand des Vergebens.
Aus: Selichot von Lea Goldberg
Bis zu den Augen eingemummelt in zwei Pullover, Schafswollmantel, Schal und Mütze, flüchtete ich vor der schneidenden Kälte in die warme Stube eines Eck-Cafés namens Lit de Revière. Kleine Kerzen brannten auf den spärlich besetzten Tischen. Bei der eisigen Kälte draußen waren nur Leute ausgegangen, die vor Einsamkeit schier erstickten. Im Café war es wohlig warm. Ich setzte mich an einen Fenstertisch, und den Mantel mit Schal, Mütze und Handschuhen hängte ich nicht, wie ortsüblich, an die Garderobe am Eingang, sondern stapelte alles samt den Pullovern auf dem freien Stuhl neben mir.
Obwohl mitten im Quartier Latin gelegen, zog das kleine Lit de Revière mit seiner einfachen französischen Küche kaum Touristen an, sondern fungierte eher als Nachbarschaftstreff. Auch ohne Speisekarte wusste ich, was ich bestellen wollte: »Croque Madame« – zwei Scheiben Toastbrot mit je einer Scheibe Käse und Kochschinken dazwischen, überbacken und mit einem Spiegelei garniert. Dazu orderte ich ein Glas Rotwein. Der Wein kam sofort, während der Croque Madame auf sich warten ließ. Unterdessen konnte ich es mir auf dem Polsterstuhl gemütlich machen, aus dem Fenster schauen und mich zum tausendsten Mal fragen: Was zum Teufel tue ich wieder in Paris? Warum sitze ich in dem Café, wo mein Leben einst einen anderen Lauf genommen hat? Warum haben mich meine Füße an den Ort zurückgetragen, an dem mir damals das Herz in tausend Stücke brach? Was suche ich hier? Die Antworten kenne ich ja, Ari hat sie mir gegeben, ohne eine einzige Frage zu übergehen, und mir dann das Messer eingerammt und es gedreht, bis aufs Blut.
»Es ist besser so«, hatte er damals gesagt. Die ganze Wahrheit auf den Tisch, ohne Lügen und Ausflüchte, ohne etwas rechtfertigen oder entschuldigen zu wollen, ein gezielter Schlag ins Gesicht, ins Herz, in die Magengrube. Er liebe mich nicht mehr, sagte er kalt lächelnd, er habe sich in eine andere verknallt, eine Pariserin, petite, kastanienbraunes Haar, grüne Augen. Er musste sie auch noch genau beschreiben, als wäre ich dieser Hurentochter noch nie begegnet.
Ihretwegen war er endgültig nach Paris gezogen, ihretwegen hatte er mich wochenlang nicht mehr angerufen, hatte gelogen, er wohne in einem billigen Hotel ohne Telefon im Zimmer. Ihretwegen konnte ich an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft wir miteinander schliefen, wenn er in den letzten Monaten mal in Israel war. Ihretwegen sog er vor dem Einschlafen nicht mehr an meinen Nippeln, sondern kehrte mir den Rücken zu mit der Behauptung, er sei müde, nervös, kaputt.
Vor genau einem Jahr hatte ich ihm hier im Lit de Revière gegenübergesessen, und schon damals dämmerte mir, dass etwas Schreckliches passierte, dass mein Leben nicht mehr so sein würde wie zuvor. Es zog mich hinab, als entrinne mir das Leben, und ich fragte mich, ob es sich so anfühlte, wenn man starb. Ich starrte Ari an, hörte nicht seine Stimme, roch nicht seinen gewohnten Duft – Rasierwasser mit Zigarettenrauch –, sah nicht mal seinen kleinen, schlanken Körper, sein volles, braunes Haar oder seine schmalen, dunklen Augen. Ich sah nur die Bewegung seiner Lippen – bis er aufsprang, mir flüchtig die Wangen küsste, einen Geldschein auf den Tisch legte und verschwand.
Ich blieb wie versteinert sitzen, bemüht, die Worte zu erfassen, die er mir an den Kopf geworfen hatte: Er liebt mich nicht, er liebt eine andere, eine Pariserin, petite, mit großen Augen und kleinen Brüsten. Und was nun? Ich war doch nach Paris gekommen, um mit meinem geliebten Mann zusammen zu sein. Hatte ihn überraschen wollen, und nun hatte er mich überrascht.
Im letzten Jahr unseres Zusammenlebens war Ari oft nach Paris gereist. Ich wollte mitfahren, meinen Liebsten in die romantischste Stadt der Welt begleiten, träumte davon, mit ihm auf den Spuren meiner amerikanischen Lieblingsschriftsteller, Ernest Hemingway und F.Scott Fitzgerald, zu wandeln, die nach dem Ersten Weltkrieg in Paris gelebt und geschrieben hatten, wollte die Häuser finden, in denen sie einst wohnten, dieselben Cafés aufsuchen, um dort Wem die Stunde schlägt und Der große Gatsby zu lesen. Ich lag ihm so lange in den Ohren, bis er mich schließlich mitkommen ließ, unter der Bedingung, dass mein Vater das Flugticket bezahlte.
»Damit du dir keine Illusionen machst: Du kommst jetzt nicht jedes Mal mit, wenn ich nach Paris fliege«, warnte er, doch ich wollte unbedingt mitreisen.
Schon am Flughafen spürte ich Fremdheit zwischen uns. Mein Mann war distanziert und in sich gekehrt, und kaum hatte das Flugzeug vom Boden abgehoben, schlief er ein, den Kopf an die Lehne und nicht, wie sonst, an meine Schulter gelehnt. Ich schmiegte mich an ihn, legte den Kopf an seine Schulter, aber er rückte unwillig ab.
Vom Flughafen fuhren wir mit der Bahn ins Quartier Latin. Ich war hingerissen: Der Boulevard Saint-Germain mit seinen edlen Modeboutiquen war so elegant und so anders als die Tel Aviver Dizengoff-Straße, die ich bisher für den Nabel der Welt gehalten hatte. Ari ging schnell, trug unser Gepäck, und ich blieb zurück.
»Wo rennst du denn hin«, fragte ich atemlos.
Er ignorierte meine Frage und verlangsamte nicht. Wir überquerten den Boulevard Saint-Germain zum Café Les Deux Magots, das voller amerikanischer Touristen war, und gingen die Rue Bonaparte zur Rue Jacob, wo wir an einem Eck-Café haltmachten, dessen Name auf einem unauffälligen, kleinen Schild stand: Lit de Revière.
»Warte hier im Café auf mich, ich bin gleich zurück«, sagte er und verschwand in der Hausnummer 40. Ich blieb ratlos auf der Straße stehen, war gerade erst in Paris gelandet, zum ersten Mal im Ausland, in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht sprach. Kalter Schweiß lief mir über den Rücken, aber schnell raffte ich mich auf und hastete ihm nach, ehe er mir die Haustür vor der Nase zuknallte.
»Ich hatte dich gebeten, im Café auf mich zu warten«, fauchte er genervt.
»Du lässt mich nicht allein, keinen Augenblick«, gab ich zurück, »ich kenne hier niemanden, hab Angst allein.«
»Na was, bist du ein kleines Mädchen? Warte fünf Minuten auf mich, ich bin gleich zurück.«
»Wo gehst du denn hin? Was ist das für ein Haus?«
»Hier wohne ich«, sagte er, »ich geh nur schnell rauf, den Koffer abstellen. Warum kannst du nicht im Café warten?«
»Ich warte nicht im Café. Wenn der Kellner mich fragt, was ich trinken möchte, weiß ich nicht, was ich antworten soll, ich weiß ja nicht mal, wie man Kaffee auf Französisch sagt.«
Ari verzog das Gesicht und erklärte ungeduldig: »Kaffee ist Kaffee, auch auf Französisch.« Doch er kapierte wohl, dass seine Frau, die gewöhnlich alles tat, was er wollte, diesmal nicht lockerlassen würde. Er stieg die schmale Wendeltreppe hinauf, den Koffer auf dem Kopf haltend, und ich folgte ihm. Im fünften Stock angelangt, zog Ari einen Schlüssel heraus, schloss die Tür auf, und zu meiner Überraschung war es kein billiges Hotelzimmer, wie ich erwartet hatte, sondern eine kleine Wohnung. Im Wohnzimmer nahm ein olivgrünes Sofa viel Raum ein, auf dem Holzboden lagen zwei große Futons und daneben, ebenfalls auf dem Boden ein Plattenspieler und ein Stapel Schallplatten. Über dem Sofa hing ein Riesenposter von »Dick und Doof« inmitten aufgemalter Ranken, die die ganze Wand in Schwarz-, Türkis- und Grünschattierungen überzogen. Vom Wohnzimmer führten zwei Türen in weitere Räume. Ari öffnete die eine, zu einem Zimmer mit einem raumfüllenden Doppelbett. Die Schreibmaschine daneben erkannte ich sofort als Aris Hermes Baby.
»Etwas eng«, sagte ich.
»Mehr gibt’s nicht«, erwiderte er lakonisch, »ist ja ohnehin nur für ein paar Tage, bis du wieder nach Hause fährst.«
Mir blieb die Luft weg: Er wollte mir bloß ein paar Tage widmen? Wer flog denn nur für ein paar Tage ins Ausland? Wer gab ein Vermögen für einen Flug in ein fernes Land aus, um nur wenige Tage zu bleiben?
Wird schon werden, tröstete ich mich. Schließlich hatte ich mich so danach gesehnt, mit Ari in einem fernen Bett zu kuscheln, und sein enges Zimmer lag in der Rue Jacob, in der einst Ernest Hemingway gewohnt hatte. Schlagartig besserte sich meine Laune, inspiriert allein durch das Wissen, auf Hemingways Spuren zu wandeln, in seinem Stammcafé gegenüber sitzen zu können.
»Ich hoffe, du nutzt und genießt deine Tage in Paris«, sagte Ari weicher, und ich verfiel erneut dem Bann seiner schönen Worte, merkte gar nicht, dass er von mir, nicht von uns, sprach, hinterfragte nichts. Ich eilte zu ihm, in seine Arme, ignorierte, dass mein Körper weich und anschmiegsam war, seiner jedoch steif, fast widerstrebend.
Seine Distanziertheit dauerte auch nachts an. Er blieb lange im Wohnzimmer, tippte auf seiner Schreibmaschine, rauchte wie ein Schlot. Ich saß neben ihm auf dem Sofa, rollte ihm seine Joints, und er bot mir hin und wieder einen Zug an, hauchte mir den kräuselnden Rauch jedoch nicht, wie sonst, in den Mund, und mir dämmerte, dass er mich seit unserer Ankunft kein einziges Mal geküsst hatte. Es wurde immer später, und Müdigkeit überkam mich. »Ari, komm ins Bett«, sagte ich lockend, fast bettelnd, »ich sehne mich nach dir.« Er erwiderte ungerührt: »Geh du, ich komm bald nach.« Er kam nicht. In seinem fremden Bett machte mich das monotone Klappern der Schreibmaschine schier verrückt, und als es endlich abbrach, hörte ich sein Atmen und Schnaufen, hörte ihn husten und schließlich schnarchen. Statt mich, wie erträumt, in die Arme zu nehmen und die ganze Nacht zu lieben, war er im Wohnzimmer eingeschlafen.
Während Ari, wie gewohnt, erst nachmittags aufstand, wachte ich wie immer am frühen Morgen auf. Gelangweilt streifte ich durch die kleine Wohnung, versuchte die Tür zum anderen Zimmer aufzumachen, aber sie war abgeschlossen. Ich studierte wieder die aufgemalten Ranken um das Poster von Dick und Doof, sah die Plattensammlung durch. Ich hätte gern eine Platte aufgelegt, fürchtete jedoch, Ari zu wecken. Im Regal fand ich ein paar Bücher, alle auf Französisch. Ich wollte Kaffee, wollte ein Croissant. Ehrlich gesagt hatte ich die ganze Reise nach Paris von Kaffee und Croissant geträumt. In dem kleinen Kühlschrank fand ich eine geöffnete Flasche Weißwein und ein umwerfend stinkendes Stück Käse: Warum in drei Teufels Namen hob er verdorbenen Käse im Kühlschrank auf. Daneben fand ich ein Schraubglas, dessen Inhalt ich für Weißkäse hielt. Ich probierte ein wenig und spuckte es sofort aus: Es war Gesichtscreme. Meine Mutter sagte immer, mein Stöbern würde mich letzten Endes umbringen, aber was sie nicht wusste und ich seinerzeit auch noch nicht: Die Creme war der erste einer Reihe von Hinweisen, die mich schließlich dazu bringen sollten, mich allein in dem Pariser Café, unterhalb Aris Wohnung, wiederzufinden.
Mit der Zeit wuchs meine Langeweile und vor allem mein Hunger. Mein Gott, dachte ich, ich bin in Paris, der romantischsten Stadt der Welt, habe Jahre davon geträumt, einmal dort zu sein, und statt durch die Straßen zu flanieren, in Cafés zu sitzen, Museen zu besichtigen, Spuren der Schriftsteller der Lost Generation zu suchen, stecke ich in dieser Mini-Wohnung mit leerem Kühlschrank und einem Ehemann, dem es gar nicht einfällt, einmal früher als sonst aufzustehen, um mir Paris zu zeigen.
Ich versuchte, die Kaffeemaschine in Gang zu kriegen, aber vergebens. Hungrig und durstig streifte ich durch die Wohnung, wartete, dass Ari aufwachte. Natürlich kam ich gar nicht auf die Idee, ihn zu wecken. Mein Gott, was hatte ich damals eine Angst vor ihm, ohne es überhaupt zu merken.
Ich blickte aus dem Fenster. Von oben sah ich über die schönen Dächer von Paris. Das Café unten war vollbesetzt, lachende Stimmen schallten herauf. An den wenigen Tischen auf dem Trottoir saßen Gäste bei café au lait und Croissants. Leute gingen einzeln oder paarweise die kleine Straße entlang. Ich wollte auch dort flanieren und dann in den wunderhübschen, breiten Boulevard einbiegen, den ich noch nicht richtig genossen hatte, wollte das Deux Magots, an dem wir am Vortag vorbeigekommen waren, aus der Nähe sehen, aber meine Füße waren wie am Boden festgenagelt. Meine Seele wollte davonfliegen, doch mein Körper sank plump und lahm auf den Stuhl am Fenster, auf dem ich tatenlos sitzen blieb. Wie abhängig ich damals war, wie nachgiebig, wie elend.
Als Ari endlich aufwachte, sagte er nicht mal Guten Morgen. Er war verdrossen, wie immer beim Aufstehen, und sagte, er würde auf einen Kaffee runtergehen. Obwohl er mich nicht zum Mitkommen eingeladen hatte, tappte ich ihm nach. Er fragte auch nicht, was ich in all den Stunden gemacht hätte, doch das überraschte mich nicht. Nach dem Kaffee gingen wir schnell heim, und Ari hackte sofort wieder auf seine Hermes Baby ein.
»Ari«, sagte ich tapfer, »das ist mein erstes Mal im Ausland, ich möchte schrecklich gern was von Paris sehen.«
»Na und?«, antwortete er. »Geh die Treppen runter, und du bist mitten in Paris.«
»Ich kenne hier nichts, warum machst du keinen Spaziergang mit mir? Allein verirre ich mich. Du weißt doch, dass ich kein Wort Französisch kann.«
Schließlich fand er sich bereit, mich in die Buchhandlung Shakespeare and Company am Seine-Ufer mitzunehmen.
Aufgeregt über seine unerwartete Geste und den Besuch in dem berühmten Laden, machte ich mich zurecht wie eine Französin, um ihm zu gefallen. Ich legte einen Schal um den Hals, malte mir die Lippen rot an und fasste das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Er würdigte mein Äußeres keines Blickes, nicht mal die blutroten Lippen.
In der Buchhandlung stand ich überwältigt vor den randvollen Bücherwänden. Kunden drängten sich zu Dutzenden zwischen den Regalen und in den kleinen Nebenräumen und studierten Bücher. Hier und da hingen Fotos des ursprünglichen Geschäfts, das, wie ich wusste, in der Rue de l’Odéon gewesen war, bevor es hier am Seine-Ufer, gegenüber der Kathedrale Notre Dame, neugegründet wurde. Ari streifte durch die Räume, und ich folgte ihm, doch statt angesichts der Bücherberge in Begeisterung zu geraten wie ein kleines Mädchen im Spielwarenladen, fühlte ich mich verloren. In den Räumen voller Bücher, Menschen und Staub bekam ich Platzangst.
»Lass uns gehen«, bat ich Ari, »ich ersticke hier.«
»Dann geh doch, und hier, nimm.« Er streckte mir einen schweren Schlüssel hin.
»Was ist das?«
»Das ist der Wohnungsschlüssel, ich komm heute Abend nicht zurück, übernachte hier. Warte nicht auf mich.«
»Hier?«
»Da«, er deutete auf eine Holzpritsche hinter einem Vorhang.
»Was soll das heißen? Wieso schläfst du im Laden?«
»Das ist so abgemacht«, antwortete er, ohne mich anzusehen, »dafür wische ich morgen Staub oder sitze an der Kasse.«
»Und ich?«
»Du machst, was du willst.«
Ich hatte einen Kloß im Hals. Ari war dabei, mich zu verlassen, allein in einer fremden Stadt, und diesmal nicht nur für ein paar Minuten. Er kehrte mir den Rücken, und ich eilte ihm nach, doch er schob sich zwischen die Kunden im Erdgeschoss und entschwand aus meiner Sicht, war wie vom Erdboden verschluckt. Nun stand ich draußen, gegenüber der Kathedrale Notre Dame, blickte auf eines der Pariser Wahrzeichen und fühlte mich hilflos. Was sollte ich bloß machen, wo mein teurer Ehemann mich behandelte wie eine Fremde, die sich ihm an den Hals geworfen hatte? Ich kehrte der Buchhandlung den Rücken und ging los, um mich im Quartier Latin zu verlieren. Zum Glück wusste ich Aris Adresse. Da ich jede Einzelheit aus Ernest Hemingways Leben kannte, erinnerte ich mich auch an den Namen der Straße, in der er in Paris gewohnt hatte. Und so, mithilfe reichlich unhöflicher Pariser, die ich in einem Mischmasch aus Englisch und französischen Brocken ansprach, erreichte ich die Rue Jacob und Aris Wohnung.
Dort warf ich mich tief enttäuscht aufs Sofa, fragte mich, wie viel ich noch von Ari einstecken könnte, wie oft er mich noch kränken würde. Rastlos begann ich, die Wohnung zu durchstreifen und in Aris Sachen zu kramen. Außer Feuerzeugen und Stapeln von Papier, die mit seiner engen, schwer leserlichen Handschrift beschrieben waren, fand ich nichts Interessantes oder Belastendes. Ich rüttelte erneut an der Tür zu dem verschlossenen Zimmer, aber vergeblich. Dann suchte ich die Küchenschränke ab, den Mülleimer unter der Spüle, entdeckte darin ein Baguette und zog es hastig heraus. »Man wirft kein Brot weg«, hörte ich meine Großmutter Sarina sagen, »Brot, das, behüte, zu Boden gefallen ist, hebt man auf, gibt ihm einen Kuss und legt es aufs Fenstersims für die Vögel, wirft es aber um Himmels Willen nicht in den Abfalleimer.« Es verblüffte mich, dass ich die Stimme meiner Großmutter so klar in Erinnerung hatte, ihr holpriges Hebräisch, gewürzt mit Ladino.
Eine Woge der Sehnsucht versetzte mich zurück in die Zeit, als ich ein kleines Mädchen war und samstags morgens an der Hand meines Vaters die Großeltern im Tel Aviver Stadtteil Newe Zedek besuchte. Und als hätte eine verborgene Hand den Damm gebrochen, begannen meine Tränen zu fließen. Ich weinte über meine Großeltern, die schon seit Jahren nicht mehr an meinem Leben teilnahmen, weinte über meinen Vater, der mir die Parisreise bezahlt hatte, obwohl er dagegen war, und sogar über Lily, meine Mutter, weinte ich. Sie war mir niemals eine richtige Mutter gewesen, hätte mich aber nie und nimmer in einer Buchhandlung in einer fremden Stadt alleingelassen. Auch über mich weinte ich und über Ari und unsere unglückliche, gescheiterte Ehe, über den Schmerz, den er mir zufügte und der mir zur zweiten Natur geworden war. Ich weinte und weinte, bis ich einschlief.
Ari kam in jener Nacht tatsächlich nicht zurück und auch nicht am nächsten Morgen. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Allein in der Wohnung bleiben und mein Schicksal beweinen oder Ari in der Buchhandlung suchen. Ich entschied mich für Letzteres: Ging die Wendeltreppen runter zur Straße und dann Richtung Shakespeare and Company, um ihn dort ausfindig zu machen. Ich versuchte, den Weg des Vortags von der Rue Jacob wiederzufinden, aber vergebens. Stundenlang streifte ich durch die fremden Straßen, verirrte mich in malerischen Gassen, bis ich den Mut verlor. Vor lauter Fremdheit und Einsamkeit konnte ich den Zauber der Stadt nicht genießen. Müde und erschöpft vom sinnlosen Umherirren fand ich zurück zur Wohnung, doch an der Tür merkte ich, dass ich den schweren Schlüssel nicht mitgenommen hatte. Verzweifelt hämmerte ich mit den Fäusten an die Tür. Zu meiner Überraschung öffnete Ari und kehrte mir dann wortlos den Rücken. Ich folgte ihm zögernd hinein, wusste nicht, was tun, um seine schlechte Laune zu vertreiben: Sollte ich mich hinsetzen oder lieber stehen bleiben? Und wo? Mein Mund war trocken, ich hätte gern etwas gesagt, aber die Worte wollten mir nicht über die Lippen. Ari kam aus seinem Zimmer in den Wohnraum, sagte jedoch kein Wort. Die Spannung in der Luft wurde unerträglich.
Schließlich holte ich tief Luft und fragte: »Ari, was ist los?«
»Nichts ist los.«
»Warum redest du nicht mit mir?«
»Hab keine Lust zu reden, bin mit meinem Buch beschäftigt.«
»Was soll ich denn tun, wenn du mir abhandenkommst?«
»Nach Tel Aviv zurückfliegen.«
»Nach Tel Aviv zurückfliegen? Ich bin doch gerade erst angekommen?«
»Hatte dir doch gesagt, dass du hier nichts verloren hast.«
In diesem Moment kam eine kurzhaarige junge Frau aus dem verschlossenen Zimmer.
»Sehr angenehm«, sagte sie und küsste mich auf beide Wangen. »Ich bin Sophie, Aris Mitbewohnerin.« Ich war verblüfft. Ari hatte mir nicht erzählt, dass er die Wohnung mit jemandem teilte.
»Sehr angenehm«, murmelte ich und warf Ari einen fragenden Blick zu. Bei mir fiel der Groschen immer noch nicht. Wie naiv und dumm ich damals war. Ari ignorierte meinen Blick, setzte sich an die Schreibmaschine und haute in die Tasten.
Die junge Französin schlang sich einen Schal um den Hals, sagte auf Wiedersehen und ging aus. Ich zog es vor, keine Fragen zu stellen, auf die ich ohnehin keine Antworten erhalten würde, und mich mit der Lage abzufinden.
Wenn ich nun schon in Paris war, würde ich mich amüsieren, mit oder ohne Ari, beschloss ich. Ich würde ihn nicht nach seiner koketten Mitbewohnerin fragen, mich nicht erkundigen, wohin er stundenlang verschwunden war, würde ihn nicht stören, wenn er sich mit seiner Schreibmaschine abschottete und tippte. Ich wollte nicht mehr von seinen Launen abhängig sein wie eine Marionette, die er nach Belieben tanzen ließ, wann und wo es ihm gefiel. Ich würde ihm zeigen, dass ich sehr gut ohne ihn auskam, verdammt nochmal.
In den nächsten Tagen flanierte ich stundenlang durch die Gassen des malerischen Quartier Latin, besuchte die Kunstgalerien in den schmalen Straßen, die Boutiquen, die bildhübsche Kleider zu Preisen feilboten, die mein Budget weit überstiegen, und beobachtete die Französinnen, studierte, wie sie ihr Haar hochsteckten, ihre Kleider trugen, mit dezenter, kaum merklicher Sinnlichkeit trippelten. Ich dachte, wenn ich mich weiter umsah, könnte ich mir vielleicht etwas abgucken.
Und so kostümierte ich mich jeden Morgen als Französin und ging aus, lange bevor Ari aufwachte. Ich lernte, einfache Gerichte in Restaurants zu bestellen und angstfrei die paar Brocken Französisch zu sprechen, die mir langsam geläufig wurden. Ich trank Kaffee im Café Les Deux Magots und Weißwein im Café de Flore, aß Croque Monsieur in der Brasserie Lipp und Croque Madame im La Coupole, verzichtete auch nicht auf Muscheln in Weißwein in der La Closerie des Lilas. Das Alleinsitzen in Cafés und Restaurants, das unvertraute Essen und der gute Wein verwirrten mir den Kopf und lenkten mich von Ari ab. Ich verschwendete wissentlich Geld, das wir nicht hatten. Ari würde vor Wut kochen, wenn er entdeckte, welches Vermögen ich in Lokalen ausgegeben hatte, in denen sich längst keine Bohème-Schriftsteller und Intellektuellen mehr trafen, sondern nur noch Touristen, aber mich zog es wie mit Zauberbanden dorthin. Insgeheim genoss ich meine kleinen Geheimnisse, freute mich riesig, Dinge hinter seinem Rücken zu tun und unerlaubt Geld zu verschwenden. Wie viel Kraft sammelte ich dank meiner wiedergewonnenen Selbstständigkeit. Ich gab mich ganz dem Glücksgefühl hin, das die kleinen Eskapaden mir verschafften. Zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Leben tat ich etwas für mich und nicht für Ari.
Ich erkundete jeden Winkel des Quartier Latin. Ich suchte und fand das Haus in der Rue de Fleurus, in dem Gertrude Stein einst gewohnt und das sie zum festen Treffpunkt für die Schriftsteller und Maler gemacht hatte, die nach dem Ersten Weltkrieg in Paris zusammenkamen. Ich fasste an die Mauern und stellte mir die stürmischen Abende in Steins berühmtem literarischen Salon vor, von dem ich im Literaturstudium an der Universität Tel Aviv gehört hatte.
Meine Fantasie trug mich in jene romantische Zeit. Ich sah mich als eine der schicken Frauen jener Epoche im Charleston-Kleid, eine Zigarette mit langer Spitze in der Hand, in den schummrigen Jazz-Kellern des Quartier Latin verkehren und imaginäre Dialoge mit leidenschaftlichen Männern führen, die gerade von den Schlachtfeldern des Spanischen Bürgerkriegs zurückgekehrt waren. Anders als bei meinen echten Gesprächen mit Ari, fielen mir bei diesen fiktiven Dialogen immer zündende Antworten ein, und meine faszinierenden Gesprächspartner bewunderten meine Beiträge.
Seit jeher ging ich gern auf Distanz zur Wirklichkeit, mochte träumen und so tun, als sei ich nicht ich, sondern eine Andere: schöner, erfolgreicher, glücklicher, wichtiger. Als Kind flüchtete ich mich in Geschichten und lebte in meiner eigenen Welt. Meine blühende Fantasie und meine Tagträume retteten mich vor dem grauen Leben und der ewig tristen Stimmung in der elterlichen Wohnung, die mir immer armselig und verlottert vorkam, mit Stockflecken an der Badezimmerdecke. Parallel zu diesem verhassten Leben schuf ich mir ein anderes, in einem anderen Zuhause, mit einer anderen Mutter, war wohl nur in meinen Träumen glücklich.
In Tel Aviv, am Keren Kajemet Boulevard, genau gegenüber dem Haus von David Ben Gurion, stand eine prächtige Villa hinter einem Zaun. Auf dem Weg von unserer Wohnung am Ende der Dizengoff-Straße zum Gordon-Schwimmbad kam ich stets an dieser Villa vorbei und spähte durch das eiserne Tor auf das stattliche Haus mit der Freitreppe und dem Springbrunnen davor. Das war mein Traumhaus, der Angelpunkt meiner Fantasien. Ich stellte mir vor, ich würde in der eleganten Villa wohnen, und mein Vater sei ein sehr wichtiger Mann und Ben Gurions bester Freund. Einmal wurde der Boulevard für einen hohen Gast aus einer der europäischen Monarchien gesperrt. In meinen hochfliegenden Fantasien sah ich den königlichen Gast nach seinem Besuch bei Ben Gurion die Straße überqueren, um auch unsere Villa zu beehren. Als ich einem Mädchen aus unserem Haus auf dem Weg zum Schwimmbad davon erzählte, dachte sie, ich sei ausgeflippt, und ging in der ganzen Nachbarschaft damit hausieren. Ich galt ohnehin schon als sonderbar, und diese Geschichte verschreckte die anderen Kinder noch mehr. Freundinnen hatte ich nie, doch meine Fantasie rettete mich davor, ein bedauernswertes Kind zu sein und ein trauriges und langweiliges Leben zu führen. Und als ich dann Ari kennenlernte, rettete mich meine Vorstellungskraft vor unserem Leben, das so gar nicht dem ähnelte, was mir vorgeschwebt hatte, und vor der Vergeblichkeit meiner ständigen Beschäftigung mit seinen Privatangelegenheiten.
Solange ich mit Ari zusammenlebte, hielt ich mich für seine Muse, glaubte ihn zu der Frauenfigur in seinem neuen Buch zu inspirieren. Als er mir verbot, einen Blick in sein entstehendes Manuskript zu werfen, fand ich das logisch, schließlich sollte die Muse nicht über sich selbst lesen. In meiner Fantasie stieg er auf die Bühne, um einen wichtigen Literaturpreis entgegenzunehmen und ihn dann, nach einigen Worten des Dankes, mir, der Liebe seines Lebens, zu übergeben, der Frau, die ihn inspirierte und ohne die das Buch nicht entstanden wäre. Ja, ich verrannte mich immer noch in Fantasien, hegte Träume, lebte in alten Zeiten, noch vor meiner Geburt, und versetzte mich in Familien, denen ich nicht angehörte. So wähnte ich auch in Paris, eine andere zu sein, in einem anderen Land, einer anderen Welt und zu anderer Zeit zu leben. Und wie in Tel Aviv rettete mich in der Lichterstadt meine Fantasie davor, in die Irre zu gehen.
Mit der Zeit lernte ich sie zu schätzen, die Franzosen mit ihren guten Manieren und ihrem charmant harmlosen Flirten. Es gefiel mir, wenn sie mir eilfertig Feuer gaben, kaum dass ich die Zigarette in den Mund gesteckt hatte, mir aus dem Mantel halfen und die Tür aufhielten. Ich wollte den Frauen nacheifern, die kokett, elegant und todschick die Straßen bevölkerten. In kurzer Zeit gewöhnte ich mir einen neuen Gang an, trommelte wie sie auf hohen Absätzen, ein teures, neues Woll-Cape lässig elegant um die Schultern gelegt. Mit Pferdeschwanz, Halstuch und dem roten Lippenstift, den ich seit meinem ersten Tag in Paris benutzte, kam ich mir nicht mehr so fremd vor, fühlte mich nach einigen Wochen in der Lichterstadt sogar heimisch – und wichtiger noch: weiblicher denn je.
Dank meiner neugewonnenen Selbstständigkeit drängte Ari mich nicht mehr zur Rückreise nach Tel Aviv, sondern machte mich notgedrungen mit seinen Pariser Freunden bekannt. Sie waren junge Intellektuelle, die im Lit de Revière unterhalb Aris Wohnung stundenlang hitzige politische Debatten führten und existenzielle Probleme diskutierten, Wein und Kaffee tranken und Muscheln oder Pferdewurst aßen. Nach anfänglichem Lachen über meine französischen Brocken und die wenigen Wörter, die ich zu Sätzen zusammenfügen konnte, empfingen sie mich mit offenen Armen und Wangenküssen. Aris Freunde flirteten mit mir, machten mir Komplimente, und nur er selbst begegnete mir bestenfalls mit kühler Höflichkeit, als wären wir Fremde. Er interessierte sich nicht für mein Tun, fragte nicht, wie ich die Tage verbrachte. Ich schien ihm gleichgültig zu sein. Bei Tag war ich ihm sichtlich egal und bei Nacht kehrte er mir den Rücken und schlief nicht mit mir, als trenne uns eine Wand.
Sophie, seine Mitbewohnerin, hingegen bemühte sich sehr um mich. Je abweisender Ari wurde, desto freundlicher begegnete sie mir, und wenn ich von einem langen Streifzug durch Paris zurückkehrte, freute ich mich immer, wenn sie zu Hause war und mich mit einem Glas Rotwein begrüßte. Trotz Aris abweisendem Verhalten fühlte ich mich wohl in Paris. Fern von meinem kalten, bedrückenden Elternhaus, fern vom staubigen Tel Aviv, fand ich in Paris ein wenig zu mir selbst zurück. Ich lernte, ohne Ari auszukommen, war beinah glücklich. Bis mir die Wahrheit ins Gesicht geschleudert wurde, bis zum Augenblick meiner tiefen Erniedrigung.
Das Fest stieg in einem großen osmanischen Prachtbau in der Rue de Rennes. Dort trafen wir uns zur Abschiedsparty, bevor die ganze Gruppe gemeinsam in den Sommerurlaub, die grandes vacances, fahren würde. Wir hörten Musik, tanzten, redeten, lachten, und anders als sonst ließ ich mich zu Haschisch und Cognac verführen, was mich ein wenig benebelte. Deshalb dauerte es eine Weile, bis ich das Offensichtliche sah: Am großen Fenster stand Ari und knutschte mit Sophie, drückte sie an sich, saugte an ihren Lippen. Sie küssten sich, als wären sie allein im Raum, als tanzte seine rechtmäßige Ehefrau nicht in Reichweite. Ich erstarrte auf dem Fleck, meinte, all mein Blut würde mir aus dem Körper weichen. Die reizende Sophie, die mich in versteckte, kleine Boutiquen in den Gassen des Quartier Latin führte, die nur Einheimische kannten und keine Touristin je gefunden hätte, Sophie, die sich als meine neue beste Freundin gerierte, worauf ich, die nie eine beste Freundin gehabt hatte, prompt auf ihren Charme hereinfiel – was für ein Spiel spielte sie? Und ich, wieso hatte ich nicht erkannt, dass Ari und Sophie keine bloßen Mitbewohner waren, sondern ein Liebespaar? Wieso hatte ich nicht begriffen, dass ich für die beiden das fünfte Rad am Wagen war?
Zutiefst aufgewühlt verließ ich die Tanzfläche, rannte tränenüberströmt die Rue de Rennes hinunter, überquerte den Boulevard Saint-Germain und lief weiter, bis meine Füße mich zu der einzigen Adresse trugen, die ich in Paris hatte, zu Aris Wohnung.
Die ganze Nacht tat ich kein Auge zu. Gegen Morgen hörte ich den Schlüssel im Schlüsselloch, Ari plumpste auf das Bett neben mir, in voller Kleidung, stank nach Alkohol und Zigaretten. Angewidert rückte ich an den Bettrand, aber er packte mich mit eisernem Griff. Ich erstickte schier, so hatte er mich noch nie angefasst. Ich versuchte loszukommen, doch seine Hand war bleischwer. Ari war sofort weg, in trunkenen Schlaf versunken, schnarchte, als würde er Baumstämme zersägen. Er schlief sonst immer ruhig und atmete gleichmäßig, aber der Mann, der jetzt neben mir im Bett lag, war nicht Ari, sondern ein besoffener Klotz, der mich vor meinen neuen Freunden beschämt hatte.
Zusammengekrümmt wie ein Kind im Mutterleib, versuchte ich, den Vorfall auf der Party zu verdauen. Schlaftrunken tastete seine Hand nach mir, umschloss meine eine Brust, drückte den Mund drauf und packte meinen Nippel mit den Zähnen. Das war nicht mehr die intime Geste von früher, die mir Lust bereitete. Ich konnte seinen Mund auf meiner Brust nicht ausstehen, versuchte loszukommen, doch Ari packte nur fester zu, küsste mich hart, presste mich an sich.
»Nein, Ari«, flüsterte ich, »du bist betrunken.«
Ari drehte mich auf den Rücken und versuchte, in mich einzudringen.
»Lass, Ari«, flehte ich, »das tut mir weh.«
Er ignorierte mein Jammern und drang mit Gewalt in mich ein.
»Hör auf!«, schrie ich. »Ich will nicht, du bist betrunken.«
Ari murmelte etwas Unverständliches, lastete mit vollem Gewicht auf mir, und mir schien, er würde mich von innen zerreißen. Ich schrie vor Schmerzen. »Da genießen wir’s endlich, was«, fauchte er mir ins Gesicht, und seine Fahne drehte mir den Magen um. »Ari, genug! Du tust mir weh! Hör auf.« Er machte weiter, und ich meinte, auf der Stelle sterben zu müssen. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis er schließlich kam und auf mir zusammensackte. Er war bleischwer, und ich versuchte, ihn mit letzter Kraft von mir herunterzuwälzen, seinen üblen Mundgeruch im Gesicht loszuwerden, aber ich schaffte es nicht.
Mein Gott, kam es mir schlagartig zu Bewusstsein: Mein Mann hat mich vergewaltigt.
Als ich am Morgen an der Kaffeemaschine stand, die ich mittlerweile zu bedienen gelernt hatte, trat er von hinten an mich heran, frisch geduscht, und bat mich, auch ihm Kaffee zu machen. Ich atmete tief durch, und die Tränen schnürten mir wieder die Kehle zu. Aber ich machte ihm schweigend seinen Kaffee. Ich wollte lieber glauben, dass er sich an nichts erinnerte. Wollte lieber so tun, als sei die Nacht ein Alptraum gewesen. Dass er nicht er gewesen war und ich nicht ich, dass ich nicht unter ihm gelegen und ihn angefleht hatte, aufzuhören.
Wir haben nie über jene Nacht gesprochen, nicht über Sophie und nicht darüber, dass er mich vergewaltigt hatte. Ehrlich gesagt, habe ich nicht mal mit mir selbst über jene Nacht gesprochen.
Ich vergab, aber vergaß nicht. Ich musste vergeben, um mit ihm zusammenbleiben zu können. Nach und nach verblasste jene Nacht zu einer verschwommenen Erinnerung, als sei sie nicht mir geschehen, sondern einer anderen Frau. Manchmal wachte ich von kaltem Schweiß überströmt auf, spürte harte Arme mich aufs Bett drücken, und trotzdem blieb ich bei ihm, verzichtete nicht auf Ari, denn ohne ihn, da war ich mir sicher, ohne ihn würde ich sterben.
Sophie sah ich nicht wieder, nach der Partynacht kam sie nicht mehr in die Wohnung. Wenn ich gehofft hatte, jetzt, ohne Sophie, würde mein Leben wieder so sein wie zuvor und Ari würde nur mir gehören, so hatte ich mich getäuscht. Ari saß viel an der Schreibmaschine oder verschwand für Stunden, ohne Erklärungen abzugeben. Manchmal schliefen wir miteinander, aber es war wie Zähneputzen, wie Duschen, wie Pinkeln. Ari vögelte mich, um seinen Drang zu befriedigen, doch meine Lust war erstickt. Kurze Zeit später teilte er mir mit, er würde mit seinen Freunden an die französische Riviera fahren. Er lud mich nicht ein, mitzukommen.
Endlich fiel der Groschen bei mir. Was immer ich für Ari tat oder opferte – es war umsonst. Es ließ sich nicht länger verleugnen: Ari, mein Mann, mein Herzallerliebster, war meiner Liebe überdrüssig. Er suchte große, stürmische Gefühle. Der sichere Hafen, den ich ihm bot, genügte ihm nicht mehr.
Drückende Augusthitze schlug mir ins Gesicht, als ich zutiefst verletzt wieder in Tel Aviv landete. Ich sehnte mich immer noch verzweifelt nach Ari. Leib und Seele taten mir weh. Einsam und allein streifte ich durch unsere Wohnung, von Zimmer zu Zimmer, von Wand zu Wand, roch an seiner Kleidung im Schrank, sog den Duft seiner Unterwäsche ein. Nachts stellte ich mir vor, er läge neben mir, der Ari von früher. Ich vergrub meinen Kopf in seinem Kissen, meinte, ihn zu umarmen, ihn anzusprechen, ihn mit mir reden zu hören.
Je mehr Tage vergingen, ohne dass ich ein Wort von Ari hörte, je mehr Nächte ich wach in unserem Doppelbett lag, mir die Finger in die Scheide steckte, seine heisere Stimme mir zuflüstern hörte, weiter, tiefer einzudringen, desto sicherer wusste ich, dass ich ihn nicht hergeben würde, weder Sophie noch einer anderen Frau. Trotz allem, was er mir angetan hatte, trotz seiner Untreue war mir klar, dass ich auf ihn warten würde, bis er wiederkam. Auch wenn er es vergessen haben sollte, wusste ich: Er war der Mann für mich und ich die Frau für ihn. Es war ein Bund, den ich nicht lösen konnte.
Vor allem war mir schleierhaft, wie ich ohne ihn leben sollte, Ari war mein Ein und Alles. Außer ihm hatte ich niemanden. Meine wenigen Freunde waren eigentlich seine, und mit meinen Eltern konnte ich nicht über meine Sehnsucht nach Ari reden. Sobald ich bei ihnen auftauchte, seufzte meine Mutter und verfluchte den Augenblick, in dem ich diesen Nichtsnutz, wie sie ihn nannte, kennengelernt hatte, einen Kerl, der seine Frau nicht ernährte, ihr keine Enkel bescherte, und dann auch noch nach Paris abhaute und seiner Frau Lügengeschichten aufband, von wegen, er schreibe ein Buch, das ohnehin kein Mensch lesen würde.
Wenn meine Mutter Ari verdammte, biss ich die Zähne zusammen und suchte das Weite. Ich war es leid, mit ihr zu streiten, Ari und seine Bedürfnisse als Intellektueller und Literat zu verteidigen, die sich von denen normaler Menschen unterschieden, hatte es satt, ihr zu erklären, dass Ari kein gewöhnlicher Sterblicher war, sondern ein begnadeter Künstler, und dass sie es eines Tages noch bereuen würde, ihn so schlechtgemacht zu haben.
Gelegentlich kam ein Brief von Ari, lakonisch, unpersönlich. Selten mal telefonierten wir. Ich war es, die anrief, ihn inständig bat, zurückzukehren, ihn immer wieder fragte, wann wir uns wiedersehen würden. Ich blendete aus, was ich in Paris über die andere Frau in seinem Leben erfahren hatte, und verdrängte geflissentlich jene furchtbare Nacht. Schließlich willigte er ein, dass ich kurz wieder nach Paris kommen würde, allerdings unter der Bedingung, dass ich unser gemeinsames Bankkonto leerräumte und ihm das Geld in bar überbrachte, da er es für seinen Lebensunterhalt brauchte.
Ich akzeptierte bereitwillig jede Bedingung, hob umgehend alles Geld vom Konto ab, buchte jedoch, trotz Aris Bestehen auf einem kurzen Besuch, nur einen einfachen Flug. Das Abschiedsgespräch mit meinen Eltern, Schaul und Lily, plante ich für den Abend am Ausgang von Jom Kippur. Am nächsten Tag würde ich schon im Flieger nach Paris sitzen.
Doch am Jom Kippur, dem Tag, an dem in Israel die Welt stillsteht, ich meinen Koffer packte und die wunderbare Ruhe auf den Straßen genoss, die vom Beginn des Fastens bis zum Fastenbrechen am nächsten Abend herrscht, zerriss Sirenenalarm die Stille. Erschrocken hastete ich ans Fenster und sah Menschen in Panik rennen, einige mit ihrem Gebetsmantel in der Hand, andere mit einem Rucksack auf dem Rücken, und plötzlich sausten, ohne jede Vorwarnung, Autos vorüber, Türen knallten im Haus, und laute Rufe drangen aus den Nachbarwohnungen. Ich war verwirrt, und ehe ich wusste, was tun, klingelte das Telefon, und mein Vater schrie: »Es ist Krieg, komm sofort nach Hause!« Verdattert schaltete ich das Radio an. Es wurde von der Generalmobilmachung der Reserve berichtet und von enormen Schlangen junger Israelis in London, Rom, New York und Paris, die El Al-Schalter belagerten, um zum Kämpfen heimzukehren.
Wie sollte ich nach Paris fliegen, wenn Krieg war? Wie sollte ich Vater und Mutter hier alleinlassen? Und wer weiß, ob man überhaupt fliegen konnte, vielleicht wurden alle Flugzeuge für den Krieg gebraucht? Klar, ich musste Ari anrufen und ihm vom Kriegsausbruch berichten, gewiss hatte er noch nichts davon gehört, und nun würde auch er in die Heimat zurückkehren. Ich wählte mit zitternden Fingern seine Nummer, vertat mich mehrmals, diese verflixt lange Vorwahlnummer. Endlich klingelte das Telefon, und Ari antwortete schläfrig, als hätte ich ihn geweckt: »Hallo …«
»Ari«, sagte ich mit bebender Stimme, »Ari, komm heim! Es ist Krieg.«
»Wovon redest du?«, fasste er sich abrupt. »Was für ein Krieg?«
»Krieg. Autos fahren an Jom Kippur. Dauernd schrillen Sirenen, die Leute laufen runter in die Luftschutzkeller, die Reserve wird eingezogen.«
»Und du willst, dass ich dazu anreise?«
»Aber Ari … Ich kann jetzt nicht zu dir kommen.«
»Du hast den Verstand verloren!«, rief er, »ich komm nicht heim und melde mich zu keinem Krieg, sollen sie sie ohne mich ausfechten, diese beschissenen Kriege eines irren Landes, das von einem Krieg zum anderen lebt.« Und ohne Abschiedsgruß knallte er den Hörer auf.
Im Stockwerk über mir kreischte eine Frau: »Geh nicht, bitte, geh nicht.« Als ich die Tür aufmachte, sah ich die Nachbarin von oben ihren Mann festhalten. Er wollte sich losreißen, doch sie ließ nicht locker. »Pass auf die Kinder auf«, sagte er und befreite sich aus ihren Armen, hastete an mir vorbei und verschwand die Straße hinauf. Die Sirenen schrillten weiter. Ich zitterte am ganzen Leib und wusste nicht, was mir mehr Angst einjagte: die Sirenen, der Trubel, der die Ruhe des Versöhnungstags störte, oder Aris schlimme Reaktion.
Ich schnappte meine Ledertasche, knallte die Tür hinter mir zu und rannte zu meinen Eltern. Draußen herrschte ein Mordstumult, Autos rasten vorbei, Sandsäcke wurden vor den Haustüren aufgetürmt. Ich lief die belebte Dizengoff-Straße entlang bis zu meinem Elternhaus, und als ich die Tür aufmachte, fiel ich meinen verblüfften Eltern fast in die Arme. »Großer Gott, Elija«, sagte mein Vater, »wie lange du gebraucht hast, wir haben schier unsere Seele ausgehaucht.«
»Schnell, schnell runter in den Luftschutzkeller«, rief Lily, »macht mich ja ganz taub, dieser Sirenenalarm.« Wir gingen hinunter in den kleinen, muffigen Schutzraum, der lange nicht benutzt worden war. Alle Nachbarn mit Kind und Kegel drängten sich zusammen, saßen beinah aufeinander.
»Das halte ich nicht aus«, sagte Lily, »ich ersticke, ist mir egal, Krieg oder nicht, ich geh rauf in die Wohnung.«
»Lily!« rief mein Vater entsetzt, aber ich stimmte ausnahmsweise mit ihr überein, auch ich konnte in dem überfüllten, stinkigen Keller nicht bleiben. »Ich komm mit«, sagte ich, und Vater folgte uns rauf in die Wohnung. Das Sirenengeheul dauerte an, aus dem Fenster sah ich Militärfahrzeuge draußen vorbeifahren und Reservisten abholen.
Mein Vater stellte den Fernseher an. Premierministerin Golda Meir – müde, älter als ich sie in Erinnerung hatte, eine Zigarette in der Hand – füllte den Bildschirm.
»Der Krieg hat noch kaum angefangen, und sie ist schon verzweifelt«, kommentierte meine Mutter.
Draußen gingen Ehrenamtliche die Straße ab und forderten die Anwohner auf, die Lichter zu löschen. Mein Vater schaltete Lampe und Fernseher aus, und wir saßen im Dunkeln.
Neunzehn Tage dauerte der verfluchte Krieg, neunzehn Tage voller Schock und Schmerz.
Und zu der schrecklichen Traurigkeit im Land, zu der tiefen Trauer über erloschenes junges Leben, über die neuen Gräber, die täglich geschaufelt wurden, kam mein persönlicher Kummer über Aris Grobheit und Distanz. Während des ganzen Krieges rief er mich nur ein einziges Mal an. Sogar seine Eltern telefonierten fast täglich mit mir, aber auch zu ihnen hielt er kaum Kontakt.
Ich verschob den Flug auf unbestimmte Zeit, wusste nicht, ob ich noch jemanden in Paris hatte, zu dem es sich zu fliegen lohnte. Mein Vater drängte mich, mir Arbeit zu suchen, Freunde zu treffen, ins Leben zurückzukehren, doch ich schottete mich weiter ab.
Und dann, als ich meine Träume schon aufgegeben und mich beinah damit abgefunden hatte, Ari verloren zu haben, kam ein Brief voll honigtriefender Worte und doppeldeutiger Sätze, die seinem komplizierten Wesen entsprachen. Auch wenn es nicht so aussehe, denke er doch an mich. Es tue ihm leid, dass er nicht zum Schreiben gekommen sei, aber er wisse, dass es mir gut ginge, denn ich sei eine starke Frau, er hingegen ein Waschlappen. Allerdings habe er mir einen Riesengefallen damit getan, dem Krieg ferngeblieben zu sein, denn wäre er aus dem Feld nicht heimgekehrt, hätte ich ihn auf dem Gewissen gehabt, und damit hätte ich nicht leben können. »Sehnst du dich überhaupt nach mir? Und wann kommst du nach Paris mit dem Geld, das du von der Bank geholt hast?«
Und ich Trottel ging ihm wieder auf den Leim.
So war denn im nasskalten November genau vor einem Jahr, in dem Café unterhalb von Aris Wohnung, in dem ich jetzt saß, mein früheres Leben zu Ende gegangen. Die Nacht, in der ich mich für immer von Ari gelöst hatte, verursachte mir immer noch Gänsehaut. Ich wollte die Erinnerung an den Vorfall damals in der nahen Seine ertränken. Wollte vergessen, nicht gedenken. Aber eines wusste ich: Ich musste meinem ursprünglichen Plan folgen, beherzt durch das Labyrinth meines Lebens gehen und sehenden Auges erfassen, was daraus geworden war. Deshalb ließ ich die Flut der Erinnerungen zu. Auch ein Jahr später brannte der Schmerz noch wie gerade erst erlitten. Doch ich erinnerte mich an den Grund meiner Rückkehr an den Tatort, erkannte schmerzlich, dass ich allein in dem Pariser Café saß, um die Erinnerung an jene Nacht endlich hinter mir zu lassen.
Genau vor einem Jahr hatte ich hier gesessen. Es war schon später Abend, als Ari damals unseren Tisch im Café verließ und ich total verstört zurückblieb. Ein Kellner zündete die Kerzen auf den Tischen an, die Straßenlaternen leuchteten gelblich, die Fensterscheiben beschlugen, und meine aufgestauten Tränen drohten zu strömen wie der Regen draußen, doch keine einzige Träne rann mir übers Gesicht. Ich weinte nicht, saß nur starr wie eine Salzsäule auf meinem Stuhl, zündete eine Zigarette nach der anderen an und starrte in das unberührte Glas Wein vor mir.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, Minuten, Stunden oder vielleicht Tage. Der Kellner störte mich nicht in meiner Einsamkeit, räumte auch Aris leeres Weinglas nicht ab. Gäste kamen und gingen, Kellner schwebten durch den Raum wie die Tänzer eines modernen Balletts, balancierten Tabletts mit Wein- und Biergläsern, Tische wurden frei und neu gedeckt, und ich saß ungerührt an meinem Platz.
Plötzlich ging die Tür auf, und Ari trat ein, den Arm um Sophies Schultern gelegt, schenkte ihr jenes kleine Lächeln, von dem ich geglaubt hatte, es sei mir allein vorbehalten. Dieser Scheißkerl kehrte so schnell an den Ort zurück, wo er mich schmählich verlassen hatte, dazu noch mit Sophie, der anderen Frau? Die Intimität zwischen den beiden erschütterte mich. Ari teilte das, was uns gehört hatte, nun mit ihr. Das löste mich schlagartig aus meiner Erstarrung, schärfte meine Sinne. Wie gebannt verfolgte ich seine Gesten, als er Sophie den Mantel von den schmalen Schultern nahm, ihr den Schal vom Hals wickelte, sie auf die Nasenspitze küsste, ihr den Stuhl unterschob, den anderen Gästen seine guten Manieren demonstrierte.
Ich konnte den Blick nicht von meinem Mann und seiner Geliebten wenden. Den Kuss der beiden damals auf der Party hatte ich in den Tiefen meines Gedächtnisses verscharrt und mit einem Berg von Ausreden zugeschüttet. Aber nun stand mir dasselbe Schauspiel vor Augen, das mir das Herz aus der Brust zu reißen drohte. Ari strich Sophie eine Haarsträhne aus der Stirn, streifte ihr die Handschuhe ab, führte ihre Hand an die Nase, um ihren Duft einzusaugen und sie zu küssen. Tête-à-Tête flüsterte er ihr etwas zu, worauf sie ihm den Nacken kraulte und ihre Nase an seiner rieb. Im stillen Café, unter den gedämpften Stimmen der Gäste, redete er auf einmal laut, hell und klar über Sophies Augen und Lippen. Ich kannte nicht alle Wörter, verstand jedoch sehr wohl, dass es Worte der Liebe waren.
Ich weiß nicht, was mich plötzlich überkam, welche Kraft mich vom Stuhl riss. Fast schwebend überwand ich den kurzen Abstand zum Tisch meines untreuen Ehemanns und seiner Geliebten, ergriff sein Rotweinglas und schüttete ihm den Inhalt ins Gesicht.
Auf dem Weg ins Freie hörte ich die Frau, die jetzt die Partnerin meines Mannes war, kreischen und Ari verblüfft »Elija!« rufen. Draußen herrschte eisige Kälte, Regen prasselte auf die Stadt nieder. Ich rannte wie besessen durch die fremden Straßen, bis mich die Kräfte verließen, hielt dann ein Taxi an und bat den Fahrer, mich geradewegs zum Flughafen Orly zu bringen.
Einen ganzen Tag wartete ich im Terminal, bis ich einen Flug nach Tel Aviv erwischte. Das Ticket bezahlte ich von dem Geld, das ich auf Aris Wunsch von unserem gemeinsamen Bankkonto abgehoben hatte. »Du belässt mich ohne einen Groschen«, hatte ich bei einem unserer seltenen Telefongespräche zu ihm gesagt. »Du wirst nicht ohne einen Groschen bleiben«, blaffte er zurück, »du kannst immer deinen Papa bitten, er wird nie Nein sagen.« Und ich, die ich zu Ari nie Nein sagen konnte, holte alles Geld von der Bank und tauschte die Israel-Pfund bei den Geldwechslern in der Lilienblum-Straße in französische Francs. Mir klopfte das Herz bei diesem Handel. Ich wusste, dass ich gegen das Gesetz verstieß, zitterte vor Angst, von einem der Geheimpolizisten gestellt zu werden, die in der Gegend patrouillierten, um Devisenschmuggler und Schwarzgeldhändler zu verhaften, fürchtete, man könnte mich später auf dem Flughafen einer Leibesvisitation unterziehen und mir das ganze Geld abnehmen, fürchtete ausgeraubt zu werden, denn ich hatte ja noch nie eine so hohe Summe mitgeführt, und was sollte ich Ari wohl sagen, wenn ich ohne das gewünschte Geld in Paris ankäme?
Rückblickend begriff ich, dass ich mich mehr vor Ari gefürchtet hatte als davor, einer Straftat überführt oder ausgeraubt zu werden. Ich hatte Angst, er könnte mich eine blöde Kuh schimpfen, wie damals, als ich vergaß, das Wechselgeld von dem Fahrer einzustecken, der uns von Tel Aviv nach Jerusalem gebracht hatte, fürchtete, er könnte mich verspotten, als Feigling und dummes Kind beschimpfen und mir wieder einmal vor Augen halten, dass ich seiner nicht würdig war. Da ich ihm meine Ängste nicht einzugestehen wagte, überwand ich sie und tat verbotene Dinge, denn sobald Ari etwas brauchte oder wollte, musste man sofort spuren. Jetzt verstand ich, wozu er das Geld brauchte. Er hatte Ausgaben, musste seine französische Freundin ausführen und beschenken. Er kaufte gern Geschenke, das wusste ich: einen Seidenschal, einen Ring, eine Perlenkette, einen Gedichtband von Dalia Rabikovich. Er war ein Meister der kleinen und großen Gesten. Die hatten mich von Anfang an in seine Honigfalle gelockt, mich zu seiner kleinen Frau gemacht, die für ihn sorgte und ihm jeden Wunsch erfüllte. Er hatte mich mit Gesten eingelullt, mir die süßesten Worte zugeflüstert, sogar im letzten Jahr, als er – wie mir jetzt bewusst wurde – ein Doppelleben geführt hatte.
Er hatte zwei Gesichter. Er war ein Großmeister der süßen Worte, die mich völlig schutzlos machten, und er konnte von einem Moment auf den anderen sein Wesen ändern, seine süßen Worte in giftige, verletzende Aussprüche verwandeln. Manchmal dachte ich, Ari brauchte mich gar nicht erst zu verprügeln, damit ich mich als misshandelte Frau fühlte. Seine Worte schmerzten mehr als Schläge, waren messerscharf.
Ich sah auf die Armbanduhr. Ein Jahr war seit jenem Zwischenfall vergangen, aber das Café war unverändert. Auch diesmal regnete es und die Fenster beschlugen. Ich rührte den Toast vor mir nicht an, bestellte jedoch ein zweites Glas Rotwein und rauchte noch eine Zigarette, glitt im Zeittunnel zurück zu der Zeit vor der Trennung von dem Mann, den ich für die Liebe meines Lebens gehalten hatte, dem Mann, von dem ich damals glaubte, wenn das – auch noch so verschlissene – Verbindungsseil zwischen uns risse, würde ich in den Abgrund stürzen.
Ari hatte immer gesagt, ich sei sein Ein und Alles, er vertraue mir blind. »Meine kleine Wundertäterin«, nannte er mich, und ich barg überglücklich das Gesicht in seiner Halsmulde. Genau das wollte ich doch sein – seine kleine Wundertäterin, sein Ein und Alles, seine Muse und Inspiration. »Eines Tages wirst du eine Heldin in meinem Buch sein«, versprach er. Er redete, als errate er meine geheimsten Träume, versicherte mir, seine Muse zu sein, und ich wusste: Egal, was er von mir verlangen würde – ich wäre der Staub unter seinen Füßen.
Noch vor unserer Hochzeit brachte Ari mich dazu, all das zu tun, was er hasste: Mit Bussen zum Finanzamt und zur Sozialversicherungsanstalt fahren, zur Apotheke, zur Bank und zur Post gehen. All diese lästigen Gänge erledigte ich für ihn, damit er sich auf »das wirklich Wichtige – das Schreiben« konzentrieren konnte. Und ich wagte niemals laut zu fragen, wieso er – obwohl aller Aufgaben und Pflichten enthoben – denn seinen Roman nicht beendete, den er noch vor meiner Zeit begonnen hatte, den Roman, der die israelische Literatur revolutionieren würde, wie er behauptete.
»Bürokram stresst mich«, erklärte er, »allein schon an Behördengänge zu denken, macht mich verrückt.«
Ich wollte nicht, dass Ari, Gott behüte, verrückt wurde, und daher kümmerte ich mich um seine Angelegenheiten, obwohl auch ich solche Gänge hasste, bis dahin noch nie mein Bankkonto angeschaut hatte. Zuvor hatte mein Vater alle Banksachen für mich erledigt, mir diese Sorge abgenommen, und ich schämte mich, ihm zu gestehen, dass mein Mann mir Aufgaben aufhalste, die ich penibel auszuführen hatte, um ihn bei Laune zu halten. Wenn Ari von mir abhängig wäre, könnte er nicht mehr ohne mich sein, dachte ich insgeheim. Außerdem glaubte ich, Ari gewährte mir Eintritt in sein Leben, wenn er mir auftrug, mich um seine Probleme beim Finanzamt oder der Sozialversicherung zu kümmern, Honorare bei säumigen Zeitungsredaktionen einzutreiben, einen Vorschuss zu erbetteln, seine Flugtickets beim Reisebüro in der Gordon-Straße abzuholen.
Statt die Universitätsflure abzulaufen, Vorlesungen zu hören, mitzuschreiben, mit einem Gedichtband von Jehuda Amichai oder David Avidan auf dem Rasen vor dem Gilman-Gebäude zu sitzen, verplemperte ich meine Zeit nun mit müßigen Erledigungen. Statt inmitten sorglos lachender Studenten in der Cafeteria anzustehen, stand ich stundenlang in Ämtern oder Apotheken zwischen griesgrämigen, alten Menschen. Statt Agnons spezielles Hebräisch zu bewundern oder Hemingways Inseln im Strom zu durchdringen, lernte ich am eigenen Leib, was es heißt, sein Konto zu überziehen – ein Dauerzustand bei uns –, oder dem Bankbeamten etwas vorzujammern. Denn selbst, wenn Geld für Aris Vorträge oder Aufsätze einging, war es im Nu wieder verschwunden. Wohin? Das habe ich nie begriffen. Schließlich lebten wir bescheiden in seiner Wohnung in der Ranak-Straße, die er von seiner kinderlosen Tante geerbt hatte. Wenn ich Ari fragte, antwortete er aufgebracht, er könne mit seinem Geld tun und lassen, was er wolle, bedaure überhaupt, mich zur Mitinhaberin des Kontos gemacht zu haben, und wenn ich mich daran störte, dass das Geld ausging, werde es vielleicht Zeit, dass ich den Arsch hochbekäme und etwas zum gemeinsamen Konto beitrüge. Aber ich hielt das alles für leeres Gewäsch, schließlich hatte er mich überredet, meinen Job in der Unibibliothek aufzugeben.
»Du verdienst ja ohnehin kaum was«, hatte er nach unserer Heirat gesagt, »und die Dinge, die du für mich erledigst, sind viel mehr wert. Jede Minute, die du für mich aufbringst, damit ich in Ruhe schreiben kann, verdiene ich für uns beide ein Vielfaches dessen, was du für deine Sisyphusarbeit an der Uni kriegst.«
Und da ich mich ohnehin zwischen dem Job, dem Literaturstudium, dessen strammes Kurspensum oft die Lektüre langer Aufsätze in englischer Sprache bis in die Nacht hinein erforderte, und den Behördengängen für Ari aufrieb, hörte ich auf ihn. Schweren Herzens gab ich schließlich auch das Studium auf – sehr zum Leidwesen des Fachbereichsleiters, der Hoffnungen in mich gesetzt hatte. Aber für mich galt der Traum, Aris Muse zu werden, mehr als alles, was das Studium mir bieten konnte. In der gewonnenen Zeit organisierte ich für Ari öffentliche Vorträge, stimmte Termine ab, trieb Gelder ein, besorgte alles, was er brauchte, von Schnürsenkeln und Unterwäsche bis zu Hemden und Hosen, von Zigaretten bis Whisky, und wenn das Geld ausging, bat ich meine Eltern darum. Mein Vater gab wortlos, aber meine Mutter explodierte: »Wie oft habe ich dir gesagt, dass ein Mann, der kein Geld nach Hause bringt, kein echter Mann ist, sondern Ausschussware.«
Ich schluckte die Kränkung hinunter und nahm das Geld, das mein Vater mir in die Handtasche schob. Aber innerlich kochte ich vor Wut – nicht auf Ari, der mich genötigt hatte, mich zu erniedrigen und beleidigen zu lassen, sondern auf meine Mutter, die nicht einsah, dass Ari ein Künstler war, den man nicht mit solchen Bagatellen wie Geld belästigen durfte. Als ich ihnen sagte, dass ich das Studium aufgegeben hatte, um Ari zu unterstützen, erreichte Lilys Wut Erdbebenstärke. Zornesrot fauchte sie: »Unser ganzes Leben sparen wir uns das Essen vom Mund ab für dein Studium, dein Vater schuftet wie ein Esel im Laden, damit du studieren kannst, und am Ende schmeißt du alles hin für diesen Lackel.« Sie drohte, mich aus ihrem und Vaters Leben auszuschließen: »Von mir aus leb mit dieser Null, diesem Kerl, der denkt, die Sonne lacht ihm von unten, aus der Gosse!«
Wenn Lily tobte, senkte mein Vater den Kopf und ließ ihren Zorn verpuffen. Er neigte stets zu Kompromissen, aber meinen Studienabbruch überging auch er nicht schweigend: »Eljusch, meine Liebe, was wünschen wir uns denn schon? Dass du es einmal besser hast als wir. Wir hatten nicht das Glück, studieren zu können, aber heute erreicht man ohne Uniabschluss gar nichts mehr. Du lernst doch gern, hast Erfolg, kannst vorankommen.«
»Willst du denn Schuhverkäuferin werden?«, winkte meine Mutter in ihrer derben Art mit dem Beruf, den sie für den niedrigsten der Welt hielt.
»Ich versteh das nicht, wieso kannst du als Ehefrau nicht studieren?«, fragte mein Vater. Darauf hatte ich keine Antwort. Viele meiner Mitstudentinnen waren verheiratet, und eigentlich wusste auch ich nicht, warum ich nicht beides sein konnte, Ehefrau und Studentin. Als ich Ari darauf ansprach, rastete er aus: »Ich will kein weiteres Wort über deine verrückte Mutter und ihre Ideen hören! Noch eine, die was vom Studieren versteht. Kann sie überhaupt lesen und schreiben, diese Analphabetin?! Was denkst du dir eigentlich, dass du hier die Weisheiten deiner genialen Eltern zitieren kannst? Dafür hab ich keine Zeit. Wenn du auf sie hören willst – da ist die Tür, du kannst wieder bei ihnen einziehen und weiterstudieren. Falls du bei mir wohnen willst, gilt: entweder ich oder die Uni.«
Ich gab nach. Natürlich tat ich das. Aris Wille ging über alle meine Wünsche. So begrub ich auch meinen Kindheitswunsch, eine Radiosendung über Bücher und Schriftsteller zu moderieren, denn Ari hatte ja recht: Ich konnte nicht studieren und gleichzeitig rund um die Uhr für ihn arbeiten. Ari war wichtiger als meine Träume.
In der Nacht vor Aris erstem Abflug nach Paris tat ich kein Auge zu. Ari hingegen schlief den Schlaf der Gerechten. Er lag auf dem Rücken, nahm den größten Teil unseres Doppelbetts ein, drängte mich an den Rand. Ich lag auf der Seite, vergebens bemüht, ein Stückchen von der Decke zu ergattern, in die er sich gewickelt hatte, als schliefe er allein. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf: Was hatte ich falsch gemacht, was war zwischen uns schiefgelaufen. Ich schwor mir, besser zu Ari zu sein, sensibler, zugewandter.
Am nächsten Morgen packte ich ihm wie immer den Koffer, und am Nachmittag fuhren wir mit unserem roten VW-Käfer zum Flughafen. Ari war distanziert, in sich gekehrt. Ich lehnte den Kopf an seine Schulter und legte ihm die Hand auf den Oberschenkel. Er mochte es, wenn ich ihn beim Fahren anmachte, und ich spürte gern sein Glied in der Hose unter meiner Hand steif werden, bis er nicht mehr konnte und am Straßenrand anhielt. Dann befriedigten wir unsere Lust, bis wir halb von Sinnen waren, während die Autos an uns vorbeirauschten. Der Kitzel der Gefahr und die Möglichkeit, dass uns jemand sah, steigerten noch die Lust, und wir beide stöhnten wie irre. Aber diesmal rieb meine Hand vergeblich am Reißverschluss seiner Hose, Ari blickte unverwandt nach vorn, fuhr mit abgrundtiefem Ernst, versuchte allerdings auch nicht, meine Hand abzuwehren. Schließlich nahm ich sie weg und rückte näher ans Fenster.
Am Flughafen angekommen, stieg ich nach ihm aus und lehnte mich an den Wagen. Abrupt packte er mich, drückte mich an die Brust und küsste mich. Sein Griff war so hart, dass ich fürchtete, er könnte mir die Rippen brechen. Und dann spürte ich Feuchtigkeit auf meinem Gesicht. Ari