Das Ministerium der Zeit - Kaliane Bradley - E-Book

Das Ministerium der Zeit E-Book

Kaliane Bradley

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Mann trifft eine Frau. Die Vergangenheit trifft die Zukunft. Der Anfang trifft das Ende. – Romance, Zeitreise und große Literatur vereinen sich im aufregendsten Debüt des Jahres!

Als eine junge Frau einen neuen Job bei einem geheimnisvollen Ministerium antritt, ahnt sie nicht, dass dieser schwüle Sommer ihr Leben für immer verändern wird. Denn das Ministerium der Zeit hat das geschafft, was niemand jemals für möglich hielt: Menschen durch die Zeit zu transportieren. Und so soll sie dem eigentlich 1847 verstorbenen Polarforscher Commander Graham Gore das Ankommen im lärmenden London des 21. Jahrhunderts erleichtern.

Während er sich an mit den Wundern der Moderne wie Toilettenspülungen und Spotify vertraut macht, muss sie ihn damit konfrontieren, dass sich die Welt nicht unbedingt nur zum Guten gewandelt hat. Und als sei nicht alles ohnehin kompliziert genug, entwickelt sich aus dem anfänglichen Unbehagen weit mehr als nur eine tiefe Freundschaft. Doch das Ministerium hat seine ganz eigenen Pläne mit dem Zeitreisenden und plötzlich verschieben sich heute, morgen und gestern, und was die beiden zusammengeführt hat, droht sie nun mit aller Macht auseinanderzureißen.

»Liebe Leserinnen und Leser, Sie sind zu beneiden: In der Zukunft wartet dieser kluge, witzige Roman auf Sie!« Washington Post

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 450

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Ein Mann trifft eine Frau. Die Vergangenheit trifft die Zukunft. Der Anfang trifft das Ende. – Romance, Zeitreise und große Literatur vereinen sich im aufregendsten Debüt des Jahres!

Als eine junge Frau einen neuen Job bei einem geheimnisvollen Ministerium antritt, ahnt sie nicht, dass dieser schwüle Sommer ihr Leben für immer verändern wird. Denn das Ministerium hat das geschafft, was niemand jemals für möglich hielt: Menschen durch die Zeit zu transportieren. Und so soll sie dem eigentlich 1847 verstorbenen Polarforscher Commander Graham Gore das Ankommen im lärmenden London des 21. Jahrhunderts erleichtern.

Während er sich mit den Wundern der Moderne wie Toilettenspülung und Spotify vertraut macht, muss sie ihn damit konfrontieren, dass sich die Welt nicht unbedingt nur zum Guten gewandelt hat. Und als sei nicht alles ohnehin kompliziert genug, entwickelt sich aus dem anfänglichen Unbehagen weit mehr als nur eine tiefe Freundschaft. Doch das Ministerium hat seine ganz eigenen Pläne mit dem Zeitreisenden, und plötzlich verschieben sich heute, morgen und gestern, und was die beiden zusammengeführt hat, droht sie nun mit aller Macht auseinanderzureißen.

Kaliane Bradley ist eine britisch-kambodschanische Autorin und Lektorin. Ihre Kurzgeschichten sind in verschiedenen Magazinen erschienen. Sie ist Gewinnerin des Harper’s Bazaar Short Story Prize 2022 und des V. S. Pritchett Short Story Prize 2022. Das Ministerium der Zeit ist ihr erster Roman und erscheint in über 25 Ländern. Kaliane Bradley lebt in London.

»Schlagen Sie dieses Buch auf, und Sie werden sehen, wie die Zeit verschwinden kann.« Financial Times

»Ich habe die Kombination aus extremer Launigkeit, großer Ernsthaftigkeit und kühlem Understatement geliebt.« The Times

»Liebe Leserinnen und Leser, Sie sind zu beneiden: In der Zukunft wartet dieser kluge, witzige Roman auf Sie!« Washington Post

www.penguin-verlag.de

Kaliane Bradley

Das Ministerium der Zeit

Roman

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel The Ministry of Time

bei Sceptre, London.

In diesem Roman kommen Figuren vor, die rassistische Begriffe benutzen. Sie können verletzend oder retraumatisierend sein.

Das Zitat stammt aus: Geoffrey Household, Einzelgänger, männlich, deutsch von Michel Bodmer, Kein & Aber, Zürich 2009, S. 185.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2024 by Kaliane Bradley

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Barking Dog Art

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Alison Forner

Umschlagabbildung: Andrew Footit

Vor- und Nachsatz: Graham Gore © Scott Polar Research Institute, University of Cambridge.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-32052-2V004

www.penguin-verlag.de

Für meine Eltern

I.

Gut möglich, dass er diesmal stirbt.

Er merkt, dass ihm der Gedanke keine Angst macht. Vielleicht, weil die Kälte seinen Verstand benebelt. Gedanken tauchen auf wie durchsichtige, frei schwebende Medusen. Während der arktische Wind nach seinen Händen und Füßen beißt, schwappen seine Gedanken gegen die Schädelwand. Sie werden das Letzte sein, das zufriert.

Er weiß, dass er einen Fuß vor den anderen setzt, auch wenn er es nicht mehr spürt. Das Eis vor ihm hebt und senkt sich, also muss er sich voranbewegen. Er trägt eine Flinte auf dem Rücken, eine Tasche vor der Brust. Die Last ist gleichzeitig bedeutungslos und eine Sisyphusarbeit.

Er ist vergnügt. Könnte er seine Lippen noch spüren, würde er ein Liedchen pfeifen.

In der Ferne hört er das Donnern einer Kanone. Dreimal hintereinander, wie ein Niesanfall. Das Schiff sendet das Signal.

Kapitel eins

Die Interviewerin sagte meinen Namen, was mich aus meinen Gedanken riss. Ich sage meinen Namen nie, nicht einmal im Kopf. Sie sprach ihn sogar korrekt aus, was die wenigsten Leute tun.

»Ich bin Adela«, sagte sie. Sie hatte eine Augenklappe und blondes Haar in der Farbe und Textur von Stroh. »Ich bin die stellvertretende Leiterin des Ministeriums.«

»Für …?«

»Setzen Sie sich.«

Ich war in der sechsten Runde der Bewerbungsgespräche. Die Stelle, für die ich mich bewarb, war intern ausgeschrieben. Die Anzeige trug den Zusatz »Sicherheitsfreigabe erforderlich«, weil der »Top-Secret«-Stempel in Stellenausschreibungen unüblich war. Eigentlich hatte ich die Freigabe nicht, weswegen mir niemand verriet, um was für eine Stelle es sich handelte. Aber das Gehalt war fast dreimal so hoch wie mein jetziges, und deshalb störte mich der Schleier der Unwissenheit nicht. Um so weit zu kommen, hatte ich Eins-a-Noten in Erster Hilfe, Schutz gefährdeter Personen und dem Test »Leben in UK« des Innenministeriums vorlegen müssen. Ich wusste, dass ich eng mit einer oder mehreren geflüchteten Personen mit High-Interest-Status und besonderen Bedürfnissen zusammenarbeiten würde, aber ich wusste nicht, woher sie kamen. Ich ging davon aus, dass es sich um politisch relevante Überläufer aus Russland oder China handelte.

Adela, die stellvertretende Leiterin des Ministeriums für weiß Gott was, strich sich mit hörbarem Knistern eine blonde Strähne hinters Ohr.

»Ihre Mutter war eine Geflüchtete, oder?«, fragte sie, ein schräger Einstieg in ein Vorstellungsgespräch.

»Ja, Ma’am.«

»Aus Kambodscha«, sagte sie.

»Ja, Ma’am.«

Während des Bewerbungsprozesses hatte man mir diese Frage schon ein paarmal gestellt, gewöhnlich mit zum Satzende steigender Tonhöhe, als erwarteten die Leute, die fragten, dass ich sie korrigierte, weil kein Mensch aus Kambodscha kam. Sie sehen gar nicht kambodschanisch aus, hatte ein armer Clown zu mir gesagt und war feuerrot geworden, weil das Gespräch zu Monitoring- und Schulungszwecken aufgezeichnet wurde. Dafür würde er eine Verwarnung kriegen. Viele Leute sagen diesen Satz zu mir und meinen: Sie sehen eher aus wie eine der jüngeren Varianten von Weiß – spanisch vielleicht –, nicht so, als hätten Sie einen Völkermord im Gepäck, was gut ist, weil solche Dinge anderen Leuten unangenehm sein können.

Aber diesmal kam kein Völkermord-bezogenes Nachtätscheln (Haben Sie noch Familie dort [verständnisvolles Lippenschürzen]? Fahren Sie manchmal noch hin [mitfühlendes Lächeln]? Wunderschönes Land [Miene verdunkelt sich], als ich dort war [am unteren Lid glänzen Tränen], waren alle so freundlich …). Adela nickte nur. Ich fragte mich, ob sie zu der seltenen vierten Gruppe gehörte und das Land als schmutzig bezeichnete.

»Sie würde sich selbst nie als Geflüchtete bezeichnen oder auch nur als ehemalige Geflüchtete«, sagte ich. »Es fühlt sich komisch an, wenn Leute das sagen.«

»Die Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten werden, benutzen den Begriff wahrscheinlich auch nicht. Wir bevorzugen ›Expat‹. Um ihre Frage zu beantworten, ich bin die Vizeministerin für Expatriation.«

»Und die Expats kommen aus …«

»Der Geschichte.«

»Wie bitte?«

Adela zuckte die Schultern. »Zeitreisen«, sagte sie, als redeten wir von Kaffeemaschinen. »Willkommen im Ministerium.«

*

Wer je einen Film über Zeitreisen gesehen, ein Buch über Zeitreisen gelesen oder in einem verspäteten öffentlichen Verkehrsmittel dissoziiert und über das Konzept von Zeitreisen nachgedacht hat, weiß, dass man, wenn man den physikalischen Aspekt zu begreifen versucht, schnell in totale Verwirrung gerät. Wie funktioniert es? Wie kann es funktionieren? Ich existiere am Anfang und am Ende dieses Berichts, was auch eine Art von Zeitreise ist, und ich kann dir sagen: Zerbrich dir über das Wie nicht den Kopf. Alles, was du wissen musst, ist, dass die britische Regierung in deiner nahen Zukunft einen Weg gefunden hat, durch die Zeit zu reisen, bisher damit aber noch nicht experimentiert hat.

Um das Chaos zu vermeiden, das durch das Eingreifen in den Lauf der Geschichte entstehen würde – sofern man »Geschichte« als zusammenhängende, singuläre, chronologische Erzählung definiert, was gequirlter Schwachsinn ist –, kam man zu dem Schluss, dass es notwendig sei, Individuen aus historischen Kriegsgebieten, Naturkatastrophen und Epidemien zu extrahieren. Die Kandidaten, die man für die Reise ins 21. Jahrhundert auswählte, wären in ihrer Zeit sowieso gestorben. Also dürfte ihre Entnahme aus der Vergangenheit keine Folgen für die Zukunft haben.

Der zweite wichtige Grund, Individuen auszuwählen, die sowieso gestorben wären, war die Tatsache, dass niemand wusste, wie der menschliche Körper auf das Zeitreisen reagiert. Womöglich überleben sie den Sprung durch die Jahrhunderte gar nicht. Falls sie also das zeitliche Äquivalent der Taucherkrankheit erlitten und im Labor zu rosagrauem Matsch zerfielen, handelte es sich zumindest in der Statistik nicht um Mord.

Angenommen, die »Expats« überlebten, hätte man es allerdings mit Menschen zu tun, was die Sache verkomplizierte. Im Umgang mit Geflüchteten, vor allem en masse, war es immer besser, sie nicht als Menschen zu betrachten. Alles andere brachte nur Unordnung in den Papierkram. Hinsichtlich der Menschenrechte erfüllten die Expats jedoch die Kriterien des Innenministeriums für Asylbewerber. Somit wäre es ethisch nicht vertretbar, allein die körperlichen Folgen der Zeitreise zu untersuchen. Um festzustellen, ob sie tatsächlich mit der Zukunft kompatibel waren, mussten die Expats in ihr leben und dabei rund um die Uhr begleitet werden, was, wie sich herausstellte, genau der Job war, für den ich mich erfolgreich beworben hatte. Sie nannten uns »Brücke«, vermutlich, weil »persönliche Assistenz« unter unserer Gehaltsstufe lag.

Seit dem 19. Jahrhundert hat die Sprache einen langen Weg zurückgelegt. »Feminismus« hieß früher »Verweiblichung«, »schwul« war eine andere Form von »schwül«. Unter »Asyl« verstand man eine philanthropische Einrichtung für Wöchnerinnen, Trunkenbolde, Wahnsinnige oder Obdachlose: eine unantastbare Stätte der Zuflucht und Sicherheit.

Uns wurde gesagte, wir würden die Expats in Sicherheit bringen. Wir weigerten uns, das Blut und die Haare zu sehen, die am Boden des Irrenhauses klebten.

*

Ich war überglücklich, dass ich den Job bekam. In der Sprachenabteilung des Verteidigungsministeriums, wo ich bisher gearbeitet hatte, kam ich nicht weiter. Ich war Dolmetscherin für Südostasien mit Schwerpunkt Kambodscha. Die Sprachen, aus denen ich übersetzte, hatte ich an der Uni gelernt. Meine Mutter redete zwar zu Hause Khmer, aber in meinen prägenden Jahren hatte ich viel vergessen. Und so trat ich mein Erbe als Ausländerin an.

Ich mochte meinen Job in der Sprachenabteilung ganz gern, aber eigentlich hatte ich zum Geheimdienst gewollt, und nachdem ich zweimal durch die technische Prüfung gefallen war, wusste ich nicht, wie es mit meiner Karriere weitergehen sollte. Meine Eltern hatten sich etwas anderes für mich gewünscht. Meine Mutter hatte mir schon sehr früh ihre Ambitionen klargemacht: Sie wollte, dass ich Premierministerin wurde. Als Premierministerin könnte ich die britische Außenpolitik »aufmöbeln« und meine Eltern zu eleganten Regierungsbanketten einladen. Ich hätte einen Chauffeur. (Meine Mutter fuhr nicht gern Auto; der Chauffeur war wichtig.) Leider bläute sie mir auch die karmischen Folgen des Lästerns und Lügens ein – die vierte buddhistische Sittenregel ist eindeutig –, und damit war mit acht Jahren meine politische Karriere vorbei, bevor sie begonnen hatte.

Meine jüngere Schwester war eine viel geschicktere Täuscherin. Ihr Umgang mit Sprache war so ausweichend und streitlustig, wie meiner gewissenhaft war. Darum wurde ich Dolmetscherin, und sie wurde Schriftstellerin – sie versuchte jedenfalls, Schriftstellerin zu werden, und wurde Lektorin. Weil ich wesentlich besser verdiente und sich meine Eltern unter meinem Beruf etwas vorstellen konnten, würde ich sagen, das Karma war auf meiner Seite. Meine Schwester würde sagen: »Fick dich.« Aber ich weiß, dass sie es nett meint. Wahrscheinlich.

*

Selbst an dem Tag, an dem wir die Expats kennenlernen sollten, diskutierten wir noch über das Wort »Expat«.

»Wenn sie Geflüchtete sind«, sagte Simellia, eine der anderen Brücken, »dann sollten wir sie Geflüchtete nennen. Sie sind schließlich keine Sommerfrischler in der Provence.«

»Sie sehen sich aber nicht unbedingt selbst als Geflüchtete«, entgegnete Adela, die Vizeministerin.

»Hat jemand sie gefragt, was sie denken?«

»Sie betrachten sich überwiegend als Entführungsopfer. Neunzehn-Sechzehn denkt, er sei hinter die feindlichen Linien geraten. Sechzehn-Fünfundsechzig denkt, sie sei tot.«

»Und wir nehmen sie heute in Empfang?«

»Das Wellnessteam ist der Meinung, es würde sich negativ auf ihre Anpassung auswirken, wenn wir sie noch länger in der geschlossenen Abteilung behalten«, erklärte Adela trocken wie ein Aktenschrank.

Wir, oder besser Simellia und Adela, führten diese Unterhaltung in einem der unzähligen Büros des Ministeriums: kieselgraue Wände, Rasterdecken mit Einbaustrahlern und ein modularer Grundriss, der den Eindruck erweckte, dass sich hinter der Tür ein identischer Raum anschloss und dahinter noch einer und noch einer. Büros wie dieses wurden gestaltet, um die Bürokratie zu fördern.

Das Treffen war das letzte direkte Briefing der fünf Brücken: Simellia, Ralph, Ivan, Ed und ich. Wir alle hatten sechs Runden Vorstellungsgespräche hinter uns, und die Fragen kamen uns zu den Ohren heraus. Sind Sie zurzeit oder waren Sie je in eine Tätigkeit verwickelt oder wegen einer Tätigkeit verurteilt, die Ihren Sicherheitsstatus beeinträchtigen könnte? Danach hatten wir neun Monate Vorbereitung absolviert. Endlose Arbeitsgruppen und Backgroundchecks. Die Einrichtung von Scheinposten in unseren alten Abteilungen (Verteidigung, Auswärtiger Dienst, Innenministerium). Jetzt saßen wir hier in diesem Büro, in dem die Elektrizität in den Glühbirnen knisterte, und waren im Begriff, Geschichte zu schreiben.

»Meinen Sie nicht«, fragte Simellia, »sie in die Welt zu werfen, während sie noch glauben, sie wären im Jenseits oder hinter der Westfront, könnte sich negativ auf ihre Anpassung auswirken? Ich frage als Psychologin, aber auch als Mensch mit einem normalen Maß an Empathie.«

Adela zuckte die Schultern.

»Vielleicht. Aber in diesem Land gab es noch nie Exilanten aus der Geschichte. Vielleicht sterben sie an Genmutationen, bevor das Jahr vorbei ist.«

»Müssen wir damit rechnen?«, fragte ich alarmiert.

»Wir wissen nicht, womit wir rechnen müssen. Deswegen haben Sie diesen Job.«

*

Das Zimmer, das das Ministerium für die Übergabe vorbereitet hatte, wirkte altehrwürdig und gediegen: Holzpaneele, Ölgemälde, hohe Decke. Im Vergleich zu den modularen Büros war es geradezu prächtig. Ich glaube, jemand vom Verwaltungsteam mit Sinn für Pathos hatte den Umzug in die Wege geleitet. Der Stil und der flache Einfall des Sonnenlichts durch die Glasscheiben hatten sich wahrscheinlich seit dem 19. Jahrhundert nicht verändert. Mein Führungsoffizier Quentin war schon da. Er wirkte gereizt, wahrscheinlich ein Symptom seiner Aufregung.

Im nächsten Moment führten zwei Agenten meinen Expat durch die gegenüberliegende Tür, bevor ich überhaupt Zeit hatte, mich für seine Ankunft zu wappnen.

Er war blass, abgehärmt. Sie hatten ihm das Haar so kurz geschoren, dass es glatt am Schädel anlag. Er drehte den Kopf, um sich umzusehen, und im Profil wirkte seine imposante Nase wie eine Gewächshausblume, die ihm mitten aus dem Gesicht wuchs. Sie war auffällig attraktiv und auffällig groß. Sein ganzes Gesicht hatte etwas Überzeichnetes, das ihn hyperreal wirken ließ.

Er stand kerzengerade da und musterte meinen Führungsoffizier. Etwas an mir hatte ihn dazu veranlasst, mich erst anzusehen und dann wegzusehen.

Ich trat vor, und sein Fokus veränderte sich.

»Commander Gore?«

»Ja.«

»Ich bin Ihre Brücke.«

*

Graham Gore (Commander, Royal Navy; ca. 1809 – ca. 1847) befand sich seit fünf Wochen im 21. Jahrhundert und war wie die anderen Expats erst seit wenigen Tagen bei klarem Bewusstsein. Nach dem Evakuierungsprozess hatte er vierzehn Tage im Krankenhaus verbracht. Von den ursprünglich sieben Expats waren zwei gestorben, nur fünf hatten es geschafft. Gore war wegen einer Lungenentzündung, schweren Erfrierungen, Skorbut im Frühstadium und zwei gebrochenen Zehen behandelt worden, auf denen er noch erstaunlich gut ging. Außerdem hatte er leichte Taser-Verbrennungen – nachdem er auf zwei Mitglieder des Bergungsteams geschossen hatte, musste der dritte eingreifen.

Gore hatte dreimal versucht, aus der Klinik zu fliehen, und hatte sediert werden müssen. Als er keinen Widerstand mehr leistete, durchlief er mit den Psychologen und den Viktorianisten einen Ground-Zero-Orientierungskurs. Um ihnen die Anpassung zu erleichtern, wurde den Expats nur konkretes, anwendbares Wissen vermittelt. Als ich ihn in Empfang nahm, kannte er die Grundlagen der Elektrizität, des Verbrennungsmotors und der Sanitärtechnik. Er wusste nichts vom Ersten und Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg, von der sexuellen Revolution oder dem Krieg gegen den Terror. Sie hatten angefangen, ihm vom Niedergang des Britischen Weltreichs zu erzählen, doch er hatte es nicht gut aufgenommen.

Das Ministerium stellte uns einen Wagen zur Verfügung, der uns nach Hause fuhr. Gore kannte Autos aus der Theorie, aber es war das erste Mal, dass er in eines einstieg. Er starrte aus dem Fenster, bleich vor Staunen, nahm ich an.

»Wenn Sie Fragen haben«, sagte ich, »können Sie mich jederzeit ansprechen. Ich kann mir vorstellen, dass das alles sehr viel auf einmal ist.«

»Ich bin hocherfreut, dass die Engländer die Kunst der ironischen Untertreibung offenbar auch in der Zukunft nicht verlernt haben«, sagte er, ohne mich anzusehen.

Ich entdeckte ein Muttermal an seinem Hals, nicht weit vom Ohrläppchen entfernt. Auf der einzigen Daguerreotypie, die von ihm existiert, trägt er der Mode der 1840er-Jahre entsprechend eine hohe Krawatte. Ich starrte das Muttermal an.

»Das ist London?«, fragte er schließlich.

»Ja.«

»Wie viele Menschen leben jetzt hier?«

»Fast neun Millionen.«

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.

»Diese Zahl ist viel zu hoch, um real zu sein«, murmelte er. »Ich werde vergessen, was Sie gesagt haben.«

*

Das Ministerium stellte uns ein Backsteinhaus in einer ehemaligen Arbeitersiedlung aus dem späten 19. Jahrhundert zur Verfügung. Gore hätte den Bau noch erlebt, wenn er achtzig Jahre alt geworden wäre. Doch er war siebenunddreißig, und er hatte weder die Krinoline noch Dickens’ Geschichte von zwei Städten noch den Reform Act von 1867 mitbekommen, der den Arbeitern das Wahlrecht zusprach.

Als er aus dem Auto stieg, sah er sich erschöpft um wie jemand, der nach einer langen Reise sein Hotel sucht. Ich stieg nach ihm aus und versuchte, die Straße durch seine Augen zu sehen. Vielleicht hatte er Fragen wegen der geparkten Autos oder wegen der Straßenlaternen.

»Gibt es noch Schlüssel?«, fragte er. »Oder öffnen sich die Türen heute mit magischen Kennwörtern?«

»Nein, ich habe …«

»Sesam, öffne dich«, sagte er grimmig zum Briefkasten.

Wir betraten das Haus, und ich sagte, dass ich Tee kochen würde. Er erklärte, er würde sich gern umsehen, wenn ich es gestattete. Ich gestattete es. Er machte einen kurzen Rundgang durchs Haus. Er ging mit festen Schritten, als rechnete er mit Widerstand. Als er in die offene Küche zurückkehrte und sich an den Türpfosten lehnte, verkrampfte ich mich schmerzhaft. Lampenfieber, aber auch der Schock über seine unmögliche Anwesenheit, der mich einholte. Je mehr er da war – und er blieb da –, desto mehr hatte ich das Gefühl, mein Ich kämpfte sich aus meinem Körper heraus. Hier war etwas im Gang, das mein Narrativ veränderte, ich spürte es am ganzen Körper, und ich versuchte, mich selbst von außen zu betrachten, um zu begreifen, was hier passierte. Ich verfolgte einen Teebeutel zum Tassenrand.

»Werden wir – zusammenwohnen?«, fragte er.

»Ja. Jeder Expat wird ein Jahr lang von einer Brücke begleitet. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen, sich in Ihrem neuen Leben zurechtzufinden.«

Er verschränkte die Arme und betrachtete mich. Seine hellbraunen Augen hatten blasse grüne Einsprengsel und dichte Wimpern. Sie waren beeindruckend und unkommunikativ zugleich.

»Sie sind eine unverheiratete Frau?«, fragte er.

»Ja. Aber das ist in diesem Jahrhundert kein anstößiges Arrangement. Sobald Sie sich frei in der Gesellschaft bewegen dürfen, können Sie mich gegenüber Menschen, die nichts mit dem Projekt zu tun haben, einfach als Ihre Mitbewohnerin bezeichnen.«

»Mitbewohnerin«, wiederholte er verächtlich. »Und was beinhaltet dieses Wort?«

»Dass wir nicht verpartnert sind, sondern uns nur die Miete teilen, ohne in einer romantischen Beziehung miteinander zu stehen.«

Er schien erleichtert.

»Nun, ungeachtet der Gepflogenheiten bin ich mir nicht sicher, ob es ein anständiges Arrangement ist«, sagte er. »Aber wenn Sie neun Millionen Menschen in einer Stadt leben lassen, geht es vielleicht nicht anders.«

»Mhm. Neben Ihnen steht ein weißer Kasten mit einem Griff. Das ist der Kühlschrank – dort lagern verderbliche Lebensmittel. Würden Sie bitte die Tür öffnen und die Milch herausnehmen?«

Er öffnete den Kühlschrank und starrte hinein.

»Ein Eiskasten«, sagte er interessiert.

»So ungefähr. Er wird mit Strom betrieben. Ich glaube, Elektrizität hat man Ihnen schon erklärt …«

»Ja. Mir ist auch bewusst, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Um Ihnen die Zeit zu sparen.«

Er öffnete das Gemüsefach.

»Karotten gibt es also noch. Und Kohl. Woran erkenne ich die Milch? Ich hoffe, Sie benutzen heute noch Milch, die von Kühen stammt.«

»Ja, das tun wir. Die Flasche mit dem Griff, blauer Deckel, oberes Fach.«

Er hakte den Finger in den Griff und brachte mir die Flasche.

»Hat das Dienstmädchen heute frei?«

»Es gibt kein Dienstmädchen. Auch keine Köchin. Wir machen das meiste selbst.«

»Ah«, sagte er und wurde blass.

*

Ich zeigte ihm die Waschmaschine, den Gasherd, das Radio und den Staubsauger.

»Da sind ja die Dienstboten«, sagte er.

»Stimmt.«

»Wo sind die Sieben-Meilen-Stiefel?«

»Die gibt es noch nicht.«

»Die Tarnkappe? Die sonnenfesten Flügel des Ikarus?«

»Auch nicht.«

Er lächelte. »Ihr habt die Kraft der Blitze gezähmt«, sagte er, »und benutzt sie dazu, die lästige Anstellung von Personal zu vermeiden.«

»Na ja«, sagte ich und hielt meinen vorbereiteten Vortrag über Klassenmobilität und Hausarbeit mit Exkursen zum Mindestlohn, der Größe eines Durchschnittshaushalts und Frauen in der Arbeitswelt. Ich redete fünf Minuten lang, und am Ende hatte meine Stimme die gleiche weinerliche Tonlage wie damals, als ich meine Eltern um längere Ausgehzeiten anbettelte.

Als ich fertig war, sagte er nur: »Dramatischer Anstieg der Arbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg?«

»Oh.«

»Vielleicht erklären Sie mir das morgen.«

Das ist alles, woran ich mich aus den ersten Stunden mit ihm erinnere. Wir trennten uns und bewegten uns für den Rest des ausklingenden Tages scheu umeinander herum wie Blasen in einer Lavalampe. Ich war darauf vorbereitet, dass er möglicherweise einen Zeitreise-bedingten psychotischen Anfall erleiden und in mörderischer Absicht über mich herfallen würde. Doch stattdessen betastete er hauptsächlich Gegenstände mit einer zwanghaften Streichbewegung, was, wie ich später erfuhr, mit bleibenden Nervenschäden infolge seiner Erfrierungen zu tun hatte. Er betätigte fünfzehnmal hintereinander die Klospülung und wartete reglos wie ein Falke, bis sich der Spülkasten wieder füllte, vor Staunen oder vor Verlegenheit. In Stunde zwei versuchten wir, im selben Zimmer zu sitzen. Ich hob den Kopf, als er hörbar durch die Nase einatmete, und sah, wie er den Finger von einer Glühbirne wegzog. Eine Weile ging er in sein Zimmer, und ich setzte mich auf die Terrasse zum Garten. Es war ein milder Frühlingsabend. Blödäugige Ringeltauben spazierten über die Wiese, bis zum Bauch im Klee.

Aus dem oberen Stockwerk hörte ich, wie auf einem Holzblasinstrument eine vorsichtige Polonaise angestimmt wurde, zögerte und wieder verstummte. Kurze Zeit später Schritte in der Küche. Die Tauben flatterten auf, ihr Flügelschlagen wie unterdrücktes Gelächter.

»Hat das Ministerium die Flöte gestiftet?«, fragte er meinen Hinterkopf.

»Ja. Ich habe ihnen gesagt, es würde Sie vielleicht erden.«

»Ah. Danke. Sie … wussten, dass ich Flöte spiele?«

»Es wird in den wenigen erhaltenen Briefen von Ihnen und über Sie erwähnt.«

»Haben Sie in den Briefen auch über meine Pyromanie und meine Schwäche für Gänsekämpfe in dunklen Gassen gelesen?«

Ich drehte mich um und starrte ihn an.

»Das war ein Scherz«, sagte er.

»Ah. Machen Sie davon viele?«

»Hängt davon ab, wie oft Sie mir Aussagen wie: ›Ich habe Ihre persönlichen Briefe gelesen‹ an den Kopf werfen. Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«

»Bitte.«

Er ließ sich in einem Abstand von etwa einem halben Meter neben mir nieder. Die Geräusche aus der Nachbarschaft klangen alle wie etwas anderes. Der Wind in den Bäumen rauschte wie Wasser. Die Eichhörnchen kicherten wie Kinder. Entfernte Gespräche hörten sich an wie Kies, der unter den Füßen knirscht. Ich hatte das Gefühl, ich hätte alles für ihn übersetzen sollen, als würde er keine Bäume kennen.

Er trommelte mit den Fingern auf den Terrassenbrettern. »Ich schätze«, sagte er vorsichtig, »Ihr Zeitalter hat so schnöde Laster wie Tabak weit hinter sich gelassen?«

»Sie kommen fünfzehn Jahre zu spät. Rauchen ist aus der Mode geraten. Aber ich habe gute Nachrichten für Sie.«

Ich stand auf – er drehte den Kopf weg, um meine nackten Waden nicht ansehen zu müssen –, um ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Küchenschublade zu holen.

»Hier. Noch etwas, das ich beim Ministerium bestellt habe. Im 20. Jahrhundert haben Zigaretten Zigarren mehr oder weniger abgelöst.«

»Danke. Ich bin mir sicher, ich werde mich daran gewöhnen.«

Er kam dahinter, wie man die Plastikfolie entfernte – und verstaute sie sorgfältig in der Tasche –, schnippte am Zippo und las stirnrunzelnd die Warnung auf der Zigarettenschachtel. Ich starrte auf die Wiese und hatte das Gefühl, ich würde meine Lunge manuell bedienen.

Ein paar Sekunden später atmete er hörbar erleichtert aus.

»Besser?«

»Ich schäme mich, es zugeben zu müssen. Hm. Zu meiner Zeit frönten wohlerzogene junge Damen nicht dem Tabak, aber wie ich feststelle, hat sich einiges geändert. Die Länge der Röcke zum Beispiel. Rauchen Sie?«

»Nein …«

Zum ersten Mal lächelte er mir direkt ins Gesicht. Seine Grübchen sahen aus wie Anführungszeichen.

»Interessanter Ton. Haben Sie früher geraucht?«

»Ja.«

»Haben Sie aufgehört, weil auf den Zigarettenschachteln solche scheußlichen Warnungen stehen?«

»Mehr oder weniger. Wie gesagt, Rauchen ist wirklich aus der Mode gekommen, weil bekannt wurde, wie schädlich es für die Gesundheit ist. Ach, verdammt. Könnte ich bitte auch eine haben?«

Seine Grübchen und sein Lächeln waren bei »verdammt« verschwunden. Wahrscheinlich hätte ich in seinen Ohren genauso gut »Scheiße« sagen können. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn ich irgendwann »Scheiße« sagte, denn ich sagte es mindestens fünfmal am Tag. Er hielt mir das Päckchen trotzdem hin und zündete mir mit aus der Zeit gefallener Galanterie die Zigarette an.

Eine Weile rauchten wir schweigend. Irgendwann zeigte er zum Himmel.

»Was ist das?«

»Ein Flugzeug. Ein Flugzeug ist so etwas wie – na ja. Ein Luftschiff.«

»Dort drin sind Menschen?«

»Wahrscheinlich um die hundert.«

»In dem kleinen Pfeil?«

An seiner Zigarette entlangspähend, beobachtete er das Flugzeug.

»Wie hoch fliegt es?«

»Um die zehntausend Meter.«

»Dachte ich mir. Sieh an. Ihr habt also doch etwas Interessantes mit eurem versklavten Blitz gemacht. Das Luftschiff muss sehr schnell fliegen.«

»Ja. Der Flug von London nach New York dauert acht Stunden.«

Er hustete und hüllte sich in Rauch. »Uff – ich muss Sie bitten, mir eine Weile nichts mehr zu erzählen«, sagte er. »Das war … reichlich für heute.«

Er drückte die Zigarette auf der Terrasse aus. »Acht Stunden«, murmelte er. »Keine Gezeiten im Himmel, schätze ich.«

*

In der ersten Nacht hatte ich einen unangenehm leichten Schlaf. Mein Gehirn balancierte über der Bewusstlosigkeit wie ein Wasserläufer auf dem Spiegel eines Teichs. Am Morgen wachte ich nicht wirklich auf, sondern kapitulierte eher beim Versuch, zu schlafen.

Auf dem Teppich am Treppenabsatz zeichnete sich ein zungenförmiger Schatten ab, der von der geschlossenen Badezimmertür bis zu meinem Zimmer reichte. Als ich hineintrat, gluckste es.

»Commander Gore?«

»Ja«, meldete sich eine gedämpfte Stimme hinter der Tür. »Guten Morgen.«

Schuldbewusst schwang die Badezimmertür auf.

Gore saß bereits wieder vollständig angezogen rauchend auf dem Wannenrand. Die Wanne hatte eine niedrige Flutmarke aus Zigarettenasche und Seifenresten. In der Seifenschale lagen zwei Zigarettenstummel.

Wie ich feststellen würde, machte er eine Gewohnheit daraus: früh aufstehen, baden, in der Wanne rauchen. Ich konnte ihn nicht überreden, auszuschlafen, die Dusche zu benutzen – die er »unhygienisch« fand – oder in die Aschenbecher zu aschen, die ich ihm extra auf den Badewannenrand stellte. Der Anblick meines Rasierers war ihm peinlich, er rasierte sich mit einem Messer und bestand darauf, dass jeder seine eigene Seife benutzte.

Aber ich greife voraus. An jenem ersten Morgen waren da ein kettenrauchender Gore und eine laufende Wasserleitung. Der Spülkasten der Toilette lag wie ein erlegter Wal am Boden. Ein übler Geruch stieg von den Fliesen auf.

»Ich wollte sehen, wie es funktioniert«, sagte er kleinlaut.

»Ich verstehe.«

»Ich fürchte, ich habe mich hinreißen lassen.«

Gore war ein Offizier des ausgehenden Zeitalters der Segelschiffe, kein Ingenieur. Er wusste bestimmt alles über die Takelage einer Fregatte, aber er hatte wahrscheinlich noch nie ein komplexeres Instrument als einen Sextanten bedient. Männer, die bei klarem Verstand sind, lassen sich für gewöhnlich nicht dazu hinreißen, die Haustechnik auseinanderzunehmen. Ich schlug vor, dass er sich unten die Hände wusch, während ich versuchte, einen Klempner zu erreichen, und dann könnten wir vielleicht einen erbaulichen Spaziergang im nahe gelegenen Park machen.

Er dachte gründlich über den Vorschlag nach, während er die Zigarette bis zum Filter herunterrauchte.

»Ja, das würde ich gerne tun«, sagte er schließlich.

»Zuerst gehen wir nach unten und waschen uns die Hände.«

»Es war klares Wasser«, sagte er und drückte die Zigarette aus. Er hatte das Gesicht abgewandt, aber ich sah, dass die Haut unter dem Muttermal rot anlief.

»Na ja. Keime.«

»Keime?«

»Hm. Bakterien. Sehr, sehr kleine Organismen, die in … eigentlich allem leben. Man kann sie nur unter dem Mikroskop sehen. Die bösen verbreiten Krankheiten. Cholera, Typhus, Dysenterie.«

Gore sah mich so bestürzt an, als hätte ich vom Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist gesprochen. Dann musterte er seine Hände und streckte langsam die Arme aus, um sie von sich wegzuhalten wie ein Paar tollwütiger Ratten.

*

Er tröstete sich mit dem Ausdruck »frische Luft«, als wir draußen auf der Heide standen. Die Keimtheorie hatte ihn viel stärker beeindruckt als die Elektrizität. Als uns die ersten Hundeausführer entgegenkamen, erklärte ich ihm enthusiastisch und mit ausladenden Handbewegungen, woher die Löcher in den Zähnen kamen.

»Ich finde es nicht sehr höflich von Ihnen, zu behaupten, ich hätte Keime im Mund.«

»Jeder hat Keime im Mund.«

»Schließen Sie nicht von sich auf andere.«

»Sie haben Keime an den Schuhen und Keime unter den Fingernägeln. So läuft es eben auf der Welt. Eine aseptische Umgebung wäre … na ja, eine tote Umgebung.«

»Ich mache da nicht mit.«

»Sie haben keine Wahl!«

»Ich werde einen deutlichen Beschwerdebrief schreiben.«

Wir gingen noch ein Stück weiter. Allmählich kehrte die Farbe auf seine Wangen zurück, aber um seine Augen sah ich Spuren der Anspannung und Schlaflosigkeit. Als er meinen Blick bemerkte, zog er die Brauen hoch, und ich lächelte ihn vorsichtig an.

»Achtung«, sagte er. »Man sieht Ihre Keime.«

»Gut!«

An einem Imbisswagen neben einem Spielplatz holten wir uns Croissants und Tee. Beides schien ihm ein Begriff zu sein, oder es war selbsterklärend, und wir frühstückten ohne weitere Vorkommnisse im Gehen.

»Ich habe gehört, es gibt noch andere … Expats«, sagte er schließlich.

»Ja. Sie sind zu fünft.«

»Wer sind die anderen, bitte?«

»Da ist eine Frau aus dem Jahr 1665, die während der Großen Pest aus London geborgen wurde. Dann ein Mann, ein Leutnant, glaube ich, aus dem Englischen Bürgerkrieg, der Schlacht von Naseby 1645. Er hat sich noch erbitterter gewehrt als Sie. Ein Hauptmann aus dem Ersten Weltkrieg – Neunzehn-Sechzehn. Schlacht an der Somme. Eine Frau aus Paris unter Robespierres Terrorherrschaft, Siebzehn-Dreiundneunzig, mit einem ziemlich interessanten psychologischen Profil.«

»Von der Expedition haben sie sonst niemanden ›geborgen‹?«

»Nein.«

»Darf ich fragen, warum nicht?«

»Nun ja, es handelt sich um ein experimentelles Projekt. Wir haben Individuen aus einem möglichst breiten zeitlichen Spektrum ausgewählt.«

»Und Sie haben sich für mich entschieden und nicht etwa für Captain Fitzjames?«

Ich blinzelte überrascht zu ihm auf. »Ja. Wir hatten urkundliche Belege, dass Sie … dass Sie die Expedition … verlassen hatten.«

»Dass ich starb.«

»Äh. Ja.«

»Wie bin ich gestorben?«

»Das wissen wir nicht. Aber Sie wurden als ›der verstorbene Commander Gore‹ bezeichnet.«

»Von wem?«

»Von Captain Fitzjames, Captain Crozier. Nach Sir John Franklins Tod leiteten sie die Expedition gemeinsam.«

Inzwischen hatten wir einen trägen Streifgang eingelegt, und Gore war kühl geworden.

»Captain Fitzjames sprach in höchsten Tönen von Ihnen«, sagte ich vorsichtig. »›Ein Mann von aufrechtem Charakter, ein sehr guter Offizier mit dem sanftesten Gemüt.‹«

Damit brachte ich endlich wieder seine Grübchen zum Vorschein.

»Er hat nach seiner Rückkehr also alle Erinnerungen niedergeschrieben?«, fragte Gore amüsiert.

»Commander Gore.«

»Ja?«

»Ich glaube, ich muss … Können wir uns setzen? Dort drüben steht eine Bank.«

Er blieb so abrupt stehen, dass ich mir beim Abbremsen selbst gegen den Knöchel trat.

»Sie wollen mir erzählen, dass Captain Fitzjames etwas zugestoßen ist«, sagte er.

»Setzen wir uns.«

»Was ist geschehen?«, fragte er. Die Grübchen waren weg. Das Vergnügen war kurz gewesen.

»Etwas ist geschehen.«

»Was meinen Sie?«, fragte er mit einem Anflug von Ungeduld.

»Die Expedition ist verschollen.«

»Verschollen?«

»In der Arktis. Niemand ist zurückgekehrt.«

»Es waren 126 Männer auf zwei der stärksten Schiffe der Navy«, sagte Gore. »Sie wollen mir erzählen, dass nicht einer von ihnen nach England zurückkehrte? Captain Crozier? Er war schon in der Antarktis gewesen …«

»Keiner hat überlebt. Es tut mir leid. Ich dachte, das Ministerium hätte Sie informiert.«

Er starrte mich an. Als er den Kopf neigte, nahmen die grünen Ringe in seinen Augen die Farbe polierter Kastanien an.

»Erzählen Sie mir, was passiert ist« sagte er langsam, »Nachdem ich … ging.«

»Also. Ja. Richtig. Äh. Wir haben Sie 1847 am Cape Felix abgeholt. Wir wussten, dass dort ein Sommerlager war, aber wir waren uns nicht sicher, zu welchem Zweck.«

»Wir haben dort eine geomagnetische Messstation eingerichtet, die uns außerdem als Basis für die Jagd diente.«

»Ah, richtig. Jedenfalls wussten wir, dass das Lager überstürzt verlassen worden war. Als die Stelle 1859 entdeckt wurde, fand man viele zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände. Zelte. Wissenschaftliche Instrumente. Bärenfelle. Die Historiker waren sich nie sicher, was passiert ist, aber wir dachten …«

»Ich nehme an, es war Ihretwegen«, unterbrach er mich mit einem Blick, als wäre ihm plötzlich etwas klar geworden. »Da war dieser Blitz, dafür hielt ich es zumindest. Und dann dieses Tor aus blauem Licht.«

»Ja.«

»Ich sah Gestalten in dem Tor. Da war ein riesiges Netz. Es tat weh.«

»Es tut mir leid. Wir konnten keine Leute durch das Portal schicken – wir wussten nicht, was mit ihnen passieren würde. Ich glaube, es war ein Netz aus Stahlseil. Damit Sie sich nicht, äh, herausschneiden konnten.«

Er starrte mich wieder an. Ich erklärte schnell: »Wir waren uns nicht sicher, ob wir Ihre Männer zu dem überstürzten Aufbruch veranlasst hatten, bis wir den Eingriff vornahmen. Es ist eins dieser ›großen Rätsel der Geschichte‹, also dachten wir, wir lassen es darauf ankommen.«

»Haben Ihre Leute alle getötet?«, fragte er. Seine Stimme war seltsam sanft, aber auf seinen Wangen glühten purpurrote Flecken. »Ich kenne meine Offiziere. Kannte sie. Sie hätten versucht, mich zu retten. Sie hätten einen Suchtrupp losgeschickt.«

»Das haben sie sicher versucht, aber das Portal hatte sich längst wieder geschlossen.«

»Wie sind sie dann gestorben?«

»Das Meer ist nicht aufgetaut. Die beiden Schiffe saßen im Packeis fest. Bis zum Winter 1847 hatten sie neun Offiziere und fünfzehn Mann verloren. Ich weiß nicht, wie viele davon bereits gestorben waren, als Sie noch dort waren.«

»Freddy – Des Voeux – und ich haben in King William Land eine Nachricht an die Admiralität hinterlassen. Wir haben einen Cairn am Victory Point errichtet. Darin stand …«

»Die Expedition fand Ihren Brief im April 1848. Crozier und Fitzjames schrieben dazu, dass sie die Schiffe aufgeben mussten und planten, sich mit der verbliebenen Besatzung zu Fuß auf den Weg nach Süden zum Back’s Fish River zu machen. King William Land ist übrigens eine Insel, King William Island.«

Er wandte sich ab und holte die Zigarettenschachtel aus der Manteltasche.

»Der Back’s Fish River war achthundert Meilen entfernt«, sagte er schließlich.

»Ja. Sie haben es nicht geschafft. Sie sind auf dem Weg verhungert.«

»Alle?«

»Alle.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Captain Fitzjames an etwas so Trivialem gestorben ist wie Hunger. Oder Harry Goodsir? Er war einer der cleversten Männer, denen ich je begegnete.«

»Alle. Es tut mir sehr leid.«

Er blickte hinaus auf die Heide und atmete langsam aus.

»Es scheint, als wäre mir ein elender Tod erspart worden«, seufzte er.

»Tut mir … gern geschehen?«

»Wie lange hat es gedauert?«

»Laut Aussagen der Inuit kehrte eine kleine Gruppe zu den Schiffen zurück und überlebte einen vierten Winter. Aber bis 1850 waren alle tot.«

»Wer sind die ›Inuit‹?«

»Ach ja. Sie nannten sie ›Eskimo‹. Die korrekte Bezeichnung ist ›Inuit‹.«

Zu meiner Überraschung zuckte er zusammen und wurde dunkelrot. Er wirkte unverhältnismäßig schuldbewusst – bei den Viktorianern gab es keine politische Korrektheit –, aber er sagte nur: »Die Admiralität hat keine Rettungsexpeditionen geschickt?«

»Die Admiralität hat mehrere Rettungsexpeditionen geschickt. Und Lady Franklin hat noch weitere finanziert. Aber sie suchten alle in falschen Richtungen.«

Er schloss die Augen und blies den Rauch zum Himmel. »Die größte Expedition unserer Zeit«, sagte er. Seine Stimme war ohne Regung – ohne Zorn, Trauer, Ironie. Nichts.

*

Später am Tag sagte er: »Ich entschuldige mich für meine Reaktion. Es war ein Schock, aber ich hätte die Nachricht gefasster aufnehmen müssen. Wir wussten schließlich, worauf wir uns einließen. Ich hoffe, Sie hatten nicht den Eindruck, mein Zorn wäre gegen Sie gerichtet.«

»Nein. Es tut mir sehr leid, dass Sie von der Sache so zusammenhangslos erfahren mussten.«

Er trat einen Schritt zurück und sah mich an. Bei jedem anderen Mann hätte ich seinen Blick für ein Abchecken gehalten. Aber es fehlte der Funken. Er sah mich einfach zum ersten Mal von Kopf bis Fuß an.

»Warum sind Sie meine Brücke?«, fragte er. »Warum hat man mir keinen Offizier zugeteilt? Die Geheimhaltung dieses Projekts, wie Sie es nennen, wurde mir hinlänglich erklärt, als ich … auf die Beine kam.«

»Ich schätze, ich bin Offizier. Auf jeden Fall bin ich qualifiziert. Ich war Dolmetscherin und Referentin in der Sprachenabteilung des Verteidigungsministeriums. Mein Fachgebiet ist Festlandsüdostasien.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Das heißt, ich verstehe nichts. Was hat das alles zu bedeuten?«

»Ich habe die erforderliche Sicherheitsfreigabe, und ich habe Erfahrung bei der Arbeit mit … Vertriebenen. Ursprünglich sollten die Expats mit Therapeuten zusammenwohnen, aber am Ende hielt man es für sinnvoller, Ihnen so etwas wie einen Freund zur Seite zu stellen.«

Er starrte mich ausdruckslos an, und ich wurde rot, weil es selbst in meinen Ohren so klang, als würde ich um Sympathie betteln. Ich sagte: »Ich wusste viel über Sie. Ich hatte über die Expedition gelesen. Es wurden viele Bücher darüber geschrieben. Roald Amundsen, der Entdecker des Nordpols und des Südpols, wurde Polarforscher, weil er von John Franklins Expedition besessen war. Er …«

»Sie sind mir gegenüber im Vorteil«, sagte er.

»Ja, das stimmt.«

Jetzt waren die Grübchen wieder da. Nicht sehr glücklich, aber sie waren da.

»Und wer hat die Nordwestpassage entdeckt?«, fragte er. »Das war unser eigentliches Ziel.«

»Robert McClure, im Jahr 1850.«

»Robbie?!«

»Ja. Er fand die Passage bei einer der erfolglosen Rettungsexpeditionen auf der Suche nach Ihnen. Er sprach bei den Inuit von einem ›verlorenen Bruder‹. Da Sie der einzige Teilnehmer der Franklin-Expedition sind, den er persönlich kannte, vermute ich.«

»Oh«, sagte er.

Ich schwieg. Sein »Oh« klang, als hätte ich ihm eine Nadel durch die Kleidung in die Haut gebohrt. Für mich waren diese Leute Geschichte, aber für Gore waren sie alle noch lebendig. Die Welle seiner Fassungslosigkeit zog mir den Boden unter den Füßen weg. Ich war so verlegen, dass ich die Zigarette, die er mir anbot, annahm, obwohl ich, wie gesagt, vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte.

*

Je besser ich ihn kennenlernte, desto klarer wurde mir, dass Gore der am vielseitigsten interessierte Mensch war, den ich jemals kennengelernt hatte. Zu seiner Zeit hatte er gejagt, gezeichnet, Querflöte gespielt (er war sehr gut), Freundschaften gepflegt. Jagen kam nicht infrage, und sein gesellschaftlicher Umgang war auf Befehl des Ministeriums eingeschränkt. Nach einer Woche wurde er sichtlich unruhig, weil er sich mit niemandem außer mir unterhalten konnte.

»Wann lerne ich die anderen Expats kennen?«

»Bald …«

»Soll ich das ganze Jahr herumsitzen? England hat doch noch eine Marine, oder?«

»Wir dachten, Sie würden mehr Zeit brauchen, um sich einzuleben.«

»Ist das Meer noch nass? Schwimmen Schiffe noch oben?«

Die erste Ablenkung, die ihn wirksam entschleunigte, war die Fülle der Streamingdienste. Genauer gesagt, Spotify. Ich hielt einen kurzen Vortrag über die Erfindung des Grammofons – die er hätte erleben können, wenn er nicht seit Ende der 1840er-Jahre verschollen gewesen wäre –, des Plattenspielers, des Kassettenrekorders, der CD, der MP3, bevor ich zu den Musik-Streamingdiensten kam.

»Jede Musik? Jede Aufführung, jederzeit, wann immer ich wünsche?«

»Na ja, nicht jede, aber es ist eine sehr große Audiothek.«

Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, und ich hielt den vom Ministerium gestellten Laptop auf dem Schoß. Gore mochte den Laptop, als Konzept. Er interessierte sich verhalten für Google und Wikipedia, aber die mühsame Suche nach den Buchstaben auf der Tastatur bremste seine Neugier. Er hatte schon angemerkt, dass ihn meine Fähigkeit, schnell zu tippen, ohne hinzusehen, nervös machte.

»Würden Sie die Maschine bitte anweisen, Bachs Sonate in Es-Dur zu spielen?«

Ich klickte die erste vorgeschlagene Interpretation an.

Wir setzten uns gemütlich hin, auch wenn »gemütlich« nicht der richtige Ausdruck für die steife Verlegenheit war, mit der wir jeweils das Gewicht des anderen auf den Polstern ausglichen. Nach einer Weile hielt er sich die Augen zu.

»Und man kann es einfach … wiederholen. Unendlich oft«, murmelte er.

»Ja. Möchten Sie es noch einmal hören?«

»Nein. Das hielte ich für respektlos.«

»Soll ich etwas anderes spielen?«

»Ja«, sagte er, ohne sich zu bewegen. »Verlangen Sie von der Maschine etwas, das Ihnen gefällt.«

Kate Bush zu spielen, hielt ich für respektlos. Also wählte ich die Sonate in A-Dur von César Franck.

»Von wann ist das Stück?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, aus den 1880ern? Nachdem Sie … nach Ihrem … danach.«

»Es hätte meiner Schwester Anne gefallen. Sie liebte sentimentale Violinstücke.«

Ich sah weg. Als die Sonate zu Ende war, erklärte er mit belegter Stimme: »Ich mache einen Spaziergang.«

Er ging und blieb mehrere Stunden fort. Inzwischen war es kälter geworden, und der Wind hatte aufgefrischt. Am Himmel türmten sich ölige Wolken. Ein Gewitter zog auf. Ich war nervös und hielt es nicht lange in einem Zimmer aus. Mir war erst, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, eingefallen, dass ich ihn noch nicht aus den Augen lassen durfte.

Als er zurückkam, polterte er herein wie das Wetter. Er hatte die Zähne zusammengebissen, was ich inzwischen als Zeichen großer Anspannung verstand.

»Diese Stadt ist so überfüllt«, sagte er, als er in Mantel und Stiefeln im Flur stand. »Noch schlimmer als beim letzten Mal, als ich hier war. Überall Häuser. Kein Horizont. Nur Häuser und Menschen, so weit das Auge reicht, und riesige Metalltürme, die mit Seilen bespannt sind. Breite graue Straßen, vollgestopft mit Metall. Nirgends ist Platz. Wie soll man hier atmen? Ist es in ganz England so? Auf der ganzen Welt?«

»London ist die Hauptstadt. Natürlich ist es hier sehr voll. Aber es gibt auch noch unbebaute Orte.«

Ich ballte hinter dem Rücken krampfhaft die Faust und öffnete sie wieder.

»Wo? Ich möchte gern irgendwohin gehen, wo ich mich nicht wie unter dem Mikroskop fühle.«

»Zurzeit gelten noch Bewegungseinschränkungen für alle Expats. Das hat man Ihnen sicher gesagt. Sie dürfen bestimmte Grenzen nicht überschreiten.«

Er starrte mich mit leerem Blick an.

»Ich werde ein Bad nehmen«, sagte er schließlich.

*

Als ich noch in der Sprachenabteilung arbeitete, war ich leitende Dolmetscherin bei einer Kooperation zwischen dem britischen Handelsministerium und der Forstkommission des Verbunds südostasiatischer Nationen, ASEAN. Ich musste das scheußliche Wort »Binnenvertriebene« übersetzen, das in diesem Fall Menschen meinte, die wegen der Abholzung ihre Heimatdörfer verlassen mussten – schwer zu erklären, denn andere Leute, oft aus denselben Dörfern, kamen dank der Abholzung zu wirtschaftlicher Stabilität und langfristiger Beschäftigung. »Fortschritt« war ein weiteres Wort, das schwer zu übersetzen war.

Ich hatte über dem Begriff »Binnenvertriebene« gebrütet, bis ich ihn semantisch aufgeschlüsselt hatte. Eine Schattenbedeutung machte mir zu schaffen: Binnenvertriebene als Personen, deren Äußeres im Widerspruch zu ihrem Inneren stand, die innerlich (in sich) vertrieben waren. Das Bild erinnerte mich an meine Mutter, die ihre verlorene Heimat ewig in sich herumschleppte wie einen schweren Korb voll Gemüse.

In diesem Sinn war auch Gore ein Binnenvertriebener. Manchmal sah ich, dass er die moderne Welt wie durch ein Fernrohr betrachtete. Er stand für immer auf dem Deck eines Schiffes irgendwo im frühen 19. Jahrhundert. Wahrscheinlich war es ihm sogar in seiner eigenen Zeit so ergangen, wenn er in einen Hafen einlief und überrascht feststellte, dass die Damen die Ärmel wieder weit trugen oder irgendein europäisches Land einem anderen den Krieg erklärt hatte, während er Monate oder Jahre auf hoher See gewesen war. Er erzählte mir Geschichten, als versuchte er, sich selbst in Bernstein zu konservieren. Wie meine Mutter, was ich allerdings für mich behielt.

Ich erzählte ihm von der Forstkommission, und er hörte aufmerksam zu.

»Sie waren ziemlich wichtig«, sagte er.

»Sie müssen mir nicht schmeicheln. Ich war nur Dolmetscherin.«

»Den eigenen Nutzen versteht man allein durch die Meinung anderer. Nehmen Sie die Aden-Expedition. Der Einsatz war ein Triumph, und mein Kapitän bestand darauf, mich zum First Lieutenant zu ernennen, als hätte ich einen großen Anteil an unserem Sieg gehabt.«

Ich lächelte seine Hände an. Man hatte uns bei der Vorbereitung über sogenannte pädagogische Momente gebrieft, in denen wir feststellen würden, dass die Werte der Expats nicht mit denen unseres modernen, multikulturellen britischen Staats übereinstimmten. Bei Gore wurden die Eroberung von Aden und der Zweite Opiumkrieg als pädagogische Momente identifiziert. Vermeiden Sie konfrontative oder trotzige Sprache. Lassen Sie sich nicht auf Diskussionen über persönliche Wertesysteme ein. Im Januar 1839 hatten die Briten beschlossen, den Hafen von Aden zu erwerben, der zum Sultanat Lahidsch gehörte und ein nützlicher Stützpunkt auf der Handelsstraße in den Fernen Osten war. Soweit ich das britische Empire verstand, waren die Länder anderer Völker entweder nützlich oder unbedeutend, aber als eigenständige Staaten wurden sie selten wahrgenommen. Das Empire sah die Welt so, wie mein Vater die Gummibänder sieht, die der Briefträger bei seiner Runde fallen lässt: Wie praktisch, sie liegen hier herum, also nehme ich sie mir.

»Waren Sie an der Eroberung von Aden beteiligt?«, fragte ich scheinheilig.

»Bescheidenheit ist eine Tugend, und ich muss Sie warnen, ich bin ein sehr tugendhafter Mann.«

»Ich sollte Sie warnen, dass es heute nicht als große Tugend angesehen wird, einen arabischen Hafen zu sprengen, um ihn dem Empire einzuverleiben.«

»Aber sich in die Handelskommission eines anderen Landes einzumischen, um den Handelsvorteil des Königreichs zu vergrößern, nennt sich Diplomatie.«

»Na ja«, sagte ich und wollte gerade protestieren, dass es sich um ein Umweltschutz-Projekt gehandelt hatte, auch wenn ich ihm dann das Wort »Umweltschutz« erklären müsste, als ich merkte, dass er mich mit einer gewissen Bewunderung ansah.

Dazu muss ich sagen, dass mein Gesicht ziemlich weiß wirken kann, spät-weiß hin oder her. Ich wusste nicht, wie ich Gore sagen sollte, dass ich ihn Zug um Zug ausgetrickst hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit dazu war. Wie alle Menschen hatte er mich in eine Schublade gesteckt, in der ich einen gewissen Handlungsspielraum hatte. Wenn er die Wahrheit erfuhr – was immer irgendwann passierte –, würde er sich durch seinen Fehler bloßgestellt fühlen. Dieser Moment der Unsicherheit konnte zwischenmenschlich sehr nützlich sein, solange man nicht weich wurde. Es gab sogar eine Sprache dafür, die ich benutzen konnte, wenn ich melodramatisch veranlagt wäre: »hinter der feindlichen Linie agieren« zum Beispiel, oder »ein doppeltes Spiel spielen«. Meine Schwester würde diese Begriffe verwenden, oder sie würde mich eine Mogelpackung nennen.

Außerdem hatte ich seine beiden erhaltenen Briefe gelesen. An seinen Vater hatte er geschrieben, dass er mit dem Ausgang in Aden zufrieden war. In der Schlacht waren hundertfünfzig Araber gefallen, und die Briten beklagten kein einziges Opfer. Ein Blutbad.

»Ihr Beruf klingt sehr interessant«, sagte er. »Wie sind Sie dazu gekommen?«

*

Gore sah nicht fern. Er hielt das Fernsehen für eine geschmacklose Erfindung.

»Ihr könnt Dioramen durch den Äther schicken«, sagte er, »und benutzt diese Technik, um Menschen in ihrem tiefsten Elend zu zeigen.«

»Keiner zwingt Sie, EastEnders zu sehen.«

»Unschuldige Kinder und unverheiratete Frauen könnten den Apparat einschalten und mit reißerischen Beispielen kriminellen Verhaltens konfrontiert werden.«

»Es zwingt Sie auch keiner, Inspector Barnaby zu sehen.«

»Oder mit missgestalteten Monstrositäten, die die Natur verspotten …«

»Was?«

»Sesamstraße«, sagte er. Dann klopfte er seine Taschen nach Zigaretten ab, die Zunge in der Wange, um sich das Lachen zu verkneifen.

Weil sonst nichts zu tun war, begann er schließlich, die Bücherregale zu durchkämmen. Arthur Conan Doyle war ein früher Erfolg. Ich empfahl ihm die Aubrey-Maturin-Reihe, angefangen mit Master and Commander, aber Gore fand die Romane verstörend nostalgisch. Große Erwartungen gefiel ihm, aber von Bleak House schaffte er kaum ein Fünftel. Ich schlug ihm die Brontë-Schwestern vor, und genauso gut hätte ich ihn bitten können, eine Taube aufzuschlagen und zu lesen. Für Henry James war er zu ungeduldig, aber Jack London gefiel ihm. Aus reiner Neugier legte ich ihm Hemingway hin, den er »schockierend« fand und in der Badewanne las.

Eines Tages drückte ich ihm einer Eingebung folgend Geoffrey Households Einzelgänger, männlich in die Hand. Es war ein literarisches Spiel mit dem Feuer – ich hatte Gore immer noch nicht über die Weltkriege aufgeklärt, geschweige denn mit dem nötigen Kontext versorgt, um zu verstehen, warum ein namenloser englischer Meisterschütze in den 1930er-Jahren einen europäischen Diktator erschießen wollen würde. Aber Gore beklagte sich so oft, dass er nicht jagen durfte, dass ich dachte, das Szenario könnte ihm Spaß machen.

Am nächsten Tag erfuhr ich per E-Mail, dass offiziell die nächste Stufe des Projekts begann.

»Commander Gore?«

»Ja?«

»Ich habe gute Neuigkeiten. Das Ministerium will, dass wir nächste Woche kommen.« Er sah nicht von der Lektüre auf. »Ah. Wie ich sehe, sind Sie mit dem Einzelgänger noch nicht weit gekommen.«

»Doch«, sagte er, »ich bin durch. Und dann habe ich wieder von vorne angefangen.«

II.

Gore stemmt sich mühsam an Bord des Schiffes, wo ihn die Wachen mit dick eingepackten Händen und Gesichtern in Empfang nehmen. Wo die gefrorenen Wellen gegen den Schiffsrumpf drücken, neigt sich das im Packeis festsitzende Schiff bedrohlich zur Seite. Unter Deck, vor den Elementen abgeschottet und so überfüllt, dass es warm ist, findet Gore die Besatzung im ungewöhnlichen, feuchten Griff der Eile. Captain Fitzjames hat einen Notfallrat einberufen.

Gore reicht dem Steward die Tasche, besteht darauf, an der Sitzung teilzunehmen, versucht, das Eisdelirium abzuschütteln. Er weiß, ohne in den Spiegel zu sehen, dass seine Lippen leichenblau sind.

In der Krankenkabine fragt ihn Stanley, der Schiffsarzt, nach dem Datum.

»24. Juli 1847«, antwortet Gore nach einer zu langen Pause.

»Achten Sie auf eine deutliche Aussprache«, murmelt der Arzt. Er sagt nicht: Sie lallen, nicht zu einem Offizier. Gore versucht zu lächeln. Seine Lippen springen auf. Doch es hält ihn keiner davon ab, an der Notfallbesprechung teilzunehmen.

Der Rat findet in der Kapitänskajüte der Erebus statt, einem schmerzlich spuklosen Raum. Vor einem Monat war hier Sir John Franklin dem Alter und dem Klima erlegen. Leider hat sich sein guter Geist bis jetzt nicht manifestiert. James Fitzjames, Franklins Kommandant und der neue Kapitän der Erebus, bewohnt die Kajüte wie ein in eine Krypta gesperrter Waisenknabe.

Captain Crozier von der Terror, der neue Expeditionsleiter, hat Lieutenant Irving herübergeschickt. Er ist ein scheuer Mann mit großem Schnurrbart und der unglücklichen Angewohnheit, die Männer mit Bibelzitaten zu traktieren.

»Ich fürchte«, sagt Irving, »das sind keine guten Nachrichten.«

»Die Rationen«, wirft Fairholme ein. Fairholme ist der dritte Lieutenant der Erebus, ein großer, strammer Mann, der die meisten anderen Offiziere überragt. Doch jetzt lässt er die Schultern hängen wie eine Dänische Dogge, die beim Klauen erwischt wurde.

»Eure ebenfalls«, seufzt Irving. »Gott will uns prüfen. Seine Wege sind nicht unsere Wege, und die Weisheit dieser Welt ist Torheit für …«

Gore legt die flache Hand auf den Mahagonitisch. Sanft, aber nachdrücklich. Er hört die Panik in Irvings dröhnender Stimme: wie ein Prediger, der das Wetter anruft.

»James«, sagt er.

Er meint Fairholme – Captain Fitzjames würde er bei einem Kommandorat niemals mit dem Vornamen ansprechen –, doch es ist Fitzjames, der antwortet.

»Es sind die Dosenkonserven«, sagt Fitzjames. »Einige sind ungenießbar. Noch schlimmer als sonst«, fügt er mit einem matten Lächeln hinzu. »Sie sind verdorben. Auf beiden Schiffen, was dafür spricht, dass sie bereits beim Ablegen mangelhaft waren und nicht erst auf der Fahrt zu Schaden kamen.«

Gore hebt die Hand. Auf dem Tisch ist ein tamarindenfarbener Abdruck zu sehen. Er spürt einen dumpfen, sauren Schmerz in der Handfläche, den er für einen kurzen Moment mit einem Geschmack verwechselt.

»Wie viele der Konserven?«, fragt er.

Fitzjames antwortet nicht. Er sitzt auf Sir Johns Platz. Seine Locken haben ihren Glanz verloren, aber sie leuchten immer noch irritierend kupferrot.

»Gab es viel Wild, Graham?«, fragt er stattdessen.

Gore denkt an das Gewicht seines Beutels, das ihm so bedeutend vorgekommen war. »Drei Schneehühner«, sagt er, »eine Eismöwe, die außer Schussweite war. Sonst nichts. Nicht einmal Fährten.«

»In viereinhalb Stunden?«

»War ich so lange weg?«

Es wird wieder still. Einst war die Kajüte ein geselliger Ort. Jede Geschichte, die erzählt wurde, fand sofort eine Erwiderung, wie eine Takelage aus Seemannsgarn. Doch inzwischen sind selbst die Tatsachen so schwer auszusprechen, als wollte man Wachs aus Granit pressen. Das anhaltende Stöhnen und Ächzen der Planken des im Eis eingeschlossenen Schiffs raubt ihnen den Schlaf und die Stille zwischen den Sätzen; ohne Pausen wird die Sprache stumpf.

»Wir haben nicht genug Proviant, um die Besatzung beider Schiffe durch einen dritten Winter zu bringen«, stellt Fitzjames fest. »Ist Captain Crozier der gleichen Meinung?«

»Ja, Sir«, bestätigt Irving kläglich.

Fitzjames trommelt mit den Fingern auf dem Tisch. Wie Fairholme ist er ein stattlicher Mann, gebaut wie eine Kathedrale, aber wenn er besorgt ist, wirkt sein Gesicht kindlich. Seine Herkunft ist ein Geheimnis. Es geht das Gerücht, er sei unehelich zur Welt gekommen; wahrscheinlich hatte er als Kind oft Angst, und jetzt fällt sein Gesicht in den damaligen Ausdruck zurück.

»Zwei-Drittel-Rationen?«, fragt er.

»Ja, Sir, zwei Drittel ist auch Captain Croziers Vorschlag.«

Stanley beugt sich vor. Er ist ein umständlicher, reizbarer, gut aussehender Mann, dem sein Beruf keinen Spaß macht. »Ich muss die Versammelten darauf aufmerksam machen, dass die Kraftlosigkeit, die unter den Kranken grassiert, schnell um sich greifen wird, wenn wir die Rationen der Männer kürzen.«

»Und wenn wir die Rationen nicht kürzen, verhungern die Männer«, erwidert Fitzjames. »Wenn das Eis schmilzt, möchte ich so viele wie möglich nach England zurückbringen. Wir müssen Kompromisse machen.«

Gore sieht seine linke Hand an. Der saure Schmerz ist noch da, sickert durch den Verband. Auch Blut sickert durch, aber die Feststellung kommt ihm pathetisch vor.

»Und wenn das Eis nicht schmilzt?«, fragt er sanft.

Draußen verschieben sich die Schollen – die Arktis mahlt mit dem Kiefer wie eine Katze, die einen Vogel beobachtet. Die Schiffskatze starb unter Krämpfen im zweiten Winter. Gore mochte sie. Sie war ihm ans Herz gewachsen, vor allem, nachdem im ersten Frühling sein Hund gestorben war. Knarren, krachen. Das Schiff stöhnt vor Schmerz.

Kapitel zwei

Wir fuhren mit der U-Bahn zum Ministerium. Ich gab ihm Ohrstöpsel.

Die U-Bahnfahrt schreckte ihn nicht, selbst bevor er sich die Stöpsel in die Ohren steckte. Aber ich musste ihm einen Witz erklären, mit dem eine Matratzenfirma warb, und dazu musste ich ihm das Konzept Dating erklären – kein Thema, über das ich gern schreiend in der ratternden U-Bahn referierte. Als ich ihm das Grundwissen vermittelt hatte, das nötig war, um die Werbung zu verstehen, sagte mir sein Blick, dass er die Frage bereute.

Im Ministerium nahm ihn eine diskret bewaffnete Eskorte in Empfang, um ihn zu den anderen Expats zu bringen. Ich ging davon aus, dass ihnen eine Gruppentherapiesitzung bevorstand, aber Gore schien sich eher eine Art Salon vorzustellen, denn er war bestens gelaunt.