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Der Mond von Engelland war ein Mädchen, das jede Nacht sein schützendes Licht über die Menschen warf, ohne je ein Teil ihres Lebens zu sein. Besonders lagen ihr jene Kinder am Herzen, die vom Schicksal benachteiligt zu sein schienen, denn mit ihnen fühlte sie sich verbunden. Sie war ihre Freundin, die den Monstern unter den Betten und in den Schränken keine Chance gab, herauszukommen, solange sie ihr silbriges Licht in die Zimmer warf. Es war eine Nacht wie unzählige zuvor, als das Mondmädchen zwischen den dunklen Bäumen des Finsterwaldes die kleine Gestalt eines Jungen entdeckte, der in größter Gefahr schwebte, und beschloss, zur Erde hinabzusteigen.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Inhaltsverzeichnis
Was zuvor geschah
Der falsche Jäger
Zeit, zu handeln
Weich wie Samt
Der Goldjunge
Ans Schicksal gebunden
Die Kronprinzessin
Nur ein normales Mädchen?
Die Splitter eines Herzens
Schwelge in deinen Träumen
Das blutrote Fest
Das Mondmädchen
Schlussworte der Autorin
Danksagung
Maya Shepherd
Die Grimm Chroniken 12
„Das Mondmädchen“
Copyright © 2019 Maya Shepherd
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns
Lektorat: Sternensand Verlag /Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Illustration „Das blutrote Fest“: Laura Battisti – The Artsy Fox
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Facebook: www.facebook.de/MayaShepherdAutor
E-Mail: [email protected]
Für Doreen
Wer könnte verlässlicher sein als der Mond,
der jede Nacht für uns am Himmel erstrahlt?
Danke, dass du meinen Weg mit deinem Licht erhellst.
1811
Simonja lebt mit ihrer Mutter in einem kleinen Haus im Finsterwald. An ihrem fünfzehnten Geburtstag erlaubt die Mutter ihr zum ersten Mal, in die nahe gelegene Stadt zu gehen, um dort eine Flasche Wein zu kaufen. Sie gibt ihr einen Korb mit einem Kuchen mit sowie einen weißen Umhang, dessen Innenfutter rot ist. Zudem eine Sense, damit sie sich verteidigen kann, falls sie in Schwierigkeiten gerät. Bevor sie sich auf den Weg macht, soll sie eine Walnuss von dem Baum aus ihrem Garten öffnen. Simonja tut wie ihr geheißen und findet in der Nuss einen Zettel, auf dem der Name Hänsel steht.
Das alles erscheint ihr zwar seltsam, aber sie macht sich nicht weiter Gedanken darüber, da sie sich viel zu sehr auf ihren Ausflug freut. In der Stadt begegnet sie tatsächlich einem Jungen mit dem Namen Hänsel und dessen Schwester Gretel. Die beiden sind Waisen und hatten es bisher nicht leicht im Leben. Simonja schlägt ihnen vor, ihre Großmutter Baba Zima zu besuchen, da diese immer nach Kindern sucht, die ihr im Haushalt helfen. Die beiden versprechen, bei ihr vorbeizuschauen, und verabschieden sich.
Auf dem Nachhauseweg wird Simonja im Wald von einem Rudel Wölfe angegriffen. Es gelingt ihr auf wundersame Weise, sich mit ihrer Sense zu verteidigen und die Tiere in die Flucht zu schlagen. Da der weiße Stoff ihres Umhangs nun mit Blut besudelt ist, dreht sie die rote Innenseite nach außen. Etwas tiefer im Wald hört sie ein Wimmern und stößt auf einen verletzten jungen Mann. Sie will ihm helfen, doch er weicht vor ihr zurück und behauptet, dass sie der Tod sei, da sie die verbotene Farbe Rot trägt.
Simonja glaubt ihm erst nicht, doch als er ihr gesteht, dass er ein Gestaltwandler ist, der in seiner Wolfserscheinung zu dem Rudel gehört, dass sie angriff, und auch noch von der sonderbaren Walnuss weiß, gerät sie ins Zweifeln. Der Name, den der Baum des Lebens ihr genannt hat, ist der Name der Person, die an diesem Tag durch die Hand des Todes sterben soll. Simonja beteuert, dass sie niemandem etwas zuleide tun will. Sie erzählt dem Fremden von Hänsel und Gretel, die sie zu ihrer Großmutter geschickt hat. Dieser sagt, dass sie damit den Tod des Jungen besiegelt habe, da Baba Zima nicht nur eine Hexe, sondern auch eine Kinderfresserin sei. Simonja ist darüber bestürzt und will sich aufmachen, um die Geschwister zu warnen. Der Mann bietet ihr seine Hilfe an. Sein Name ist Arian.
Gemeinsam erreichen sie das Lebkuchenhaus, welches Simonja jedoch ohne Arian betritt. Baba Zima stellt sich tatsächlich als Hexe heraus, die den armen Hänsel verspeisen will. Doch dazu kommt es nicht, denn Gretel probiert an ihm aus Verzweiflung einen Zauberspruch aus, den sie in einem der Bücher der Hexe gefunden hat, und verwandelt ihren Bruder in einen Frosch. Daraufhin löst sich sein Name auf dem Zettel aus der Nuss des Baumes des Lebens auf, sodass Simonja von ihrer Pflicht, ihn zu töten, befreit ist.
Gretel verfügt über magische Kräfte, was Baba Zima sichtlich beeindruckt. Sie kann den Zauber nicht ungeschehen machen, da er nur von der Hexe gelöst werden kann, die ihn ausgesprochen hat. Gretel soll für sie arbeiten. Dafür wird Baba Zima sie in Magie unterrichten und ihr eines Tages verraten, wie sie Hänsel zurückverwandeln kann.
Simonja verlässt verwirrt das Lebkuchenhaus und lässt sich von Arian, der im Wald auf sie gewartet hat, nach Hause begleiten. Dort wird sie bereits von ihrer Mutter erwartet, die ihr zu erklären versucht, wie viel Verantwortung ihre Aufgabe als Tod bedeutet. Außerdem warnt sie Simonja davor, jemals einen Menschen zu verschonen. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass großes Leid über die Welt hereinbricht, wenn man sich nicht an den Auftrag des Baumes des Lebens hält. Wenn sie vor sechzehn Jahren die schwangere Königin getötet hätte, würde es den Krieg zwischen Licht und Dunkelheit nicht geben.
1812
Margery
Nach ihrem gescheiterten Fluchtversuch wird Margery von den seelenlosen Jägern zu einem Turm im Finsterwald gebracht und dort eingeschlossen. Obwohl es heißt, dass darin eine fürchterliche Bestie wohnt, beschließt die Prinzessin, die Treppe emporzusteigen. Oben angekommen, stößt sie auf ein Mädchen namens Eva, welche von der bösen Königin jedoch Rapunzel genannt wird. Sie wird bereits seit sieben Jahren in dem Turm gefangen gehalten und verfügt über eine außergewöhnliche Gabe: Sie kann mithilfe eines Spinnrads und ihres goldenen Haares anderen Menschen Träume erschaffen.
Margerys Mutter hat ihr befohlen, ihre Tochter in einen Traum zu versetzen, der bis zu deren Geburtstag andauert. Eva muss sich dem Willen der Königin beugen, da diese deren Familie gefangen hält und droht, ihr etwas anzutun, sollte Eva sich gegen sie stellen. Ihre Eltern sind Freya und Rumolt Stein.
Margery versteht, dass Eva ihr nicht zur Flucht verhelfen kann, aber es gibt dennoch etwas, das sie für sie tun kann. Sie bittet Eva, ihr keinen friedlichen Traum zu spinnen, sondern einen, der sie erleben lässt, was aus Engelland werden würde, wenn es ihrer Mutter gelingen sollte, sie zu töten und somit die Macht an sich zu reißen. Sie will wissen, wofür sie kämpft, wenn sie wieder aufwacht.
Eva, die sich geschworen hat, niemals einem Menschen mit ihrer Gabe Leid zuzufügen, erklärt sich bereit, Margery diesen Gefallen zu erweisen.
Ember
Seitdem Margery im dunklen Turm gefangen gehalten wird, muss Ember der Königin dienen. Dadurch erfährt sie, dass diese sämtliche angesehenen Bürger Engellands zu dem Geburtstag der Prinzessin ins Schloss einlädt, um ihre Tochter vor allen Augen umbringen zu lassen.
Ember will nichts unversucht lassen, um ihre Freundin zu retten, dafür braucht sie jedoch Hilfe. Sie hofft, diese von Wilhelm zu erhalten, da Margery ihm vertraut hat. Der Jäger reagiert allerdings vollkommen abweisend und behauptet sogar, dass er derjenige sein würde, der Margery das Herz aus der Brust schneiden wird.
Überraschend erhält Ember Unterstützung von Jacob, dem ehemaligen Berater der Königin. Er zeigt ihr einen geheimen Gang, der sie aus dem Schloss führt. Sie vereinbaren, sich beim Lebkuchenhaus zu treffen, um Hilfe von Gretel zu erbitten. Während sich das Aschemädchen direkt auf den Weg macht, bleibt Jacob im Schloss zurück, um noch etwas zu erledigen.
Als Ember sieht, wie Gretel das Hexenhaus verlässt, spricht sie diese an und erfährt so, dass Baba Zima in ihrem eigenen Ofen verbrannt ist, in den sie von Gretel und ihrem Frosch mithilfe des Todes und eines Wolfes gestoßen wurde. Sie überlegen gemeinsam, was sie tun können, um Margery zu retten. Dabei kommen sie auf die Idee, sich am Morgen ihres Geburtstags als Jäger zu verkleiden und die Prinzessin aus dem Turm zu befreien.
Im Verlauf des Gesprächs fällt Ember auf, dass Gretel sich seltsam verhält. Sie scheint sich an viele Dinge nicht zu erinnern und weiß gleichzeitig mehr, als sie dürfte. Als dann auch noch Jacob zu ihnen stößt und Gretel offenbar ein Geheimnis mit ihm teilt, verlangt Ember nach einer Erklärung.
Gretel bricht daraufhin ihr Schweigen und gesteht, dass alles, was sie gerade erleben, sich schon einmal ereignet hat und dies nur eine Erinnerung in einem Traum ist. Die Realität ereignet sich im Jahr 2012 und sie sind alle vom Fluch des Schlafenden Todes betroffen, der nur gebrochen werden kann, wenn sie herausfinden, wer die Vergessenen Sieben sind, mit denen Schneewittchen ihr Herz geteilt hat.
Obwohl sich ihre Behauptung verrückt anhört, zweifelt das Aschemädchen nicht an ihr. Sie weiß als Phönix, wie es ist, in verschiedenen Welten und Jahrhunderten zu leben, ebenso, dass nichts unmöglich ist.
2012
Joe erreicht Königswinter und muss sich am Bahnhof schweren Herzens von Julia verabschieden. Er hat die gemeinsame Zugfahrt mit ihr sehr genossen und bedauert, sie vermutlich nicht wiederzusehen.
Er macht sich auf den Weg zur Ausstellung der Handwerkskammer, da er hofft, dort Ember Harms anzutreffen. Jedoch muss er feststellen, dass sie bereits früher gegangen ist. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als am nächsten Morgen die Werkstatt aufzusuchen, in der sie als Auszubildende arbeitet. Da er kaum Geld hat, beschließt er, die Nacht in der Bahnhofsvorhalle zu verbringen. Zufällig trifft er in einer Imbissbude erneut auf Julia, die ihm unerwartet anbietet, die Nacht bei ihr im Hotelzimmer zu verbringen, wenn er bereit ist, auf dem Boden zu schlafen.
Joe willigt ein und freut sich darüber, mehr Zeit mit ihr verbringen zu können, um sie besser kennenzulernen. Dabei erfährt er, dass sich ihre Mutter in einer Nervenheilanstalt befindet, weshalb Julia bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Er vertraut ihr seinerseits an, dass er auf der Suche nach einer Freundin seiner Schwester ist.
Am nächsten Morgen trennen die beiden sich erneut voneinander und Joe macht sich auf den Weg zur Werkstatt der Glasbläserei. Er erkennt Ember auf den ersten Blick an ihrem kupferfarbenen Haar. Er fängt sie ab und versucht durch gezielte Fragen herauszufinden, wie viel sie weiß. Erst wirkt sie misstrauisch, doch als er ihr von den ›Grimm-Chroniken‹ erzählt und sie mit dem Wissen konfrontiert, dass sie ein Phönix ist, schenkt sie ihm Vertrauen. Zusammen brechen sie in den Wald auf, um dort nach dem Lebkuchenhaus zu suchen und ihr Gespräch ungestört fortzusetzen.
Sie finden das Haus verlassen vor und überlegen, was sie tun können, um ihren Freunden zu helfen, die vom Fluch des Schlafenden Todes betroffen sind. Auf einmal hören sie jedoch Geräusche von draußen. Als sie nachsehen, entdecken sie Julia, die ihnen gefolgt sein muss und sie belauscht hat. Joe versucht, sie zur Rede zu stellen, doch Julia behauptet eisern, dass sie zufällig vorbeigekommen sei. Dadurch erregt sie Joes Misstrauen, weil ihm die Begegnungen mit ihr plötzlich nicht mehr wie Zufälle erscheinen.
Da er ihr aber nichts nachweisen kann, kehren sie zu dritt nach Königswinter zurück. Dabei kommen sie an einem Plakat für das ausverkaufte Konzert des DJs Phil Harmonic vorbei, welches am nächsten Abend in einer nahe gelegenen Diskothek stattfinden soll. Ember erkennt den DJ als Prinz Philipp wieder, der einer der Vergessenen Sieben ist. Als Julia mitbekommt, dass Ember und Joe unbedingt auf das Konzert wollen, behauptet sie, dafür Karten zu haben und sie mitnehmen zu können. Die drei verabreden sich für den nächsten Abend.
Ember äußert gegenüber Joe die Befürchtung, dass es sich bei Julia um die böse Königin handeln könnte, die über ihn versucht, an die Vergessenen Sieben und die ›Grimm-Chroniken‹ zu gelangen.
Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1812
Nebelschwaden waberten um das Schloss, so dicht, dass nichts von der Umgebung zu erkennen war. Es hätte überall auf der Erde stehen können. Ember hatte Margery einmal erzählt, dass das Schloss eine eigene, dunkle Seele besitzen würde und es in der Lage wäre, von einem Ort zum nächsten zu wechseln. Wenn es dies an dem heutigen Tag zu tun beschlossen hätte, wäre die Prinzessin vor ihrer Mutter sicher gewesen. Der einunddreißigste Oktober war angebrochen – Margerys Geburtstag, der zu ihrem Todestag werden sollte.
Noch tastete die Sonne sich träge den Horizont empor, aber je höher sie am Himmel wanderte, umso näher rückte der Moment, welcher über das Schicksal der Welt entscheiden sollte. Am Ende des Tages würde nur noch eine von ihnen am Leben sein: Schneewittchen oder die böse Königin. Der Tod der anderen würde entweder die Niederlage des Lichts oder der Finsternis bedeuten. Nicht auszumalen, was geschehen würde, wenn die Geschöpfe der Nacht wie Vlad Dracul und seine Vampire über die Menschen herrschen würden.
Der Ball, zu dem die Königin geladen hatte, würde bei Sonnenuntergang beginnen. Sobald die Dunkelheit sich über Engelland ausgebreitet hatte, sollte Margery sterben.
Jedoch nicht, wenn Ember es verhindern konnte. Sie würde alles versuchen, um ihre Freundin zu retten. Dabei stand sie nicht allein da, sondern hatte mutige Gefährten, die diesen letzten Kampf mit ihr ausfechten würden.
Jacob, der ehemalige Berater der Königin, und Maggy, die sie einst als Gretel gekannt hatte. Beide stammten aus einer fernen Zukunft, der die entscheidende Schlacht noch bevorstand. Die Geschichte wiederholte sich immer wieder, das hatte auch Embers Mutter sie bereits gelehrt. Irgendwie würde es ihnen gelingen, Margery zu retten, doch den Weg dorthin mussten sie selbst erkunden.
Auch ein Wolf und der Tod würden an ihrer Seite kämpfen. Zu fünft würden sie sich gegen die seelenlosen Jäger, eine Horde Vampire und ein Rudel Wölfe stellen. Es ging nicht darum, sie zu besiegen, sondern nur darum, das Herz der Prinzessin bis nach Mitternacht weiterschlagen zu lassen. Dann wäre der Krieg entschieden und die böse Königin würde zugunsten ihrer Tochter sterben.
Alles hing davon ab, dass ihr Plan funktionierte. Verkleidet als Jäger wollten sie sich in den dunklen Turm schleichen und die Prinzessin mit sich nehmen, noch ehe sie aus ihrem Schlaf erwachte, in den die Träumerin sie versetzt hatte. Im Herzen der Insel würden sie sich ein Versteck suchen und dort bis Mitternacht ausharren, danach wäre jede Gefahr gebannt.
Im Verlauf der letzten Woche war es Ember immer wieder gelungen, sich unbemerkt in die Unterbringung der Jäger bei den Ställen zu schleichen. Jeden Tag hatte sie eine Uniform an sich genommen und in ihrer Kammer unter dem Bett versteckt, sodass sie nun alle zusammenhatte, die sie brauchte. Sie hatte ihr verschlissenes Kleid gegen ein Hemd mit Weste und Hose getauscht. Ihre Beine steckten in warmen Stiefeln und über ihren Schultern lag ein schwarzer Umhang, dessen Kapuze sie sich über den Kopf gestreift hatte. Ihr kupferfarbenes Haar steckte in einem geflochtenen Zopf. Einzelne widerspenstige Strähnen kämpften sich jedoch bereits daraus hervor.
Um ihre Hüfte trug sie einen Gürtel mit einem Jagdmesser. Es war die einzige Waffe, die sie hatte entwenden können. Ihre Tarnung war somit nicht perfekt, denn die seelenlosen Jäger waren alle mit einer Armbrust ausgestattet. Es wäre ihr allerdings nicht gelungen, eine solche unbemerkt durch das Schloss zu schmuggeln, sodass sie darauf hatte verzichten müssen. Die anderen Uniformen steckten in einem Beutel, den sie mit sich nehmen würde.
Außerhalb ihrer Kammer war aufgeregtes Fußgetrappel zu vernehmen. Die meisten Dienstboten waren schon vor Tagesanbruch auf den Beinen gewesen, um das Schloss zu schmücken, das Festessen vorzubereiten oder den Empfang der Gäste zu planen. Sie alle hatten strikte Anweisungen der Königin erhalten und fürchteten diese viel zu sehr, um sich nicht daran zu halten. Wenn jemand ihr Missfallen erregte, ließ sie ihn in ihren Keller bringen. Die wenigsten kehrten je von dort zurück, lediglich ihre Schreie hallten oft noch tagelang durch das Gemäuer.
Ember öffnete ihre Tür und spähte auf den schmalen Gang, der sich davor erstreckte. Nur an dessen Ende flackerte das unstete Licht einer Öllampe. Sie huschte hinaus und zwang sich, ruhig zu gehen, um sich ihre Eile nicht anmerken zu lassen. Die Verantwortung ruhte nun allein auf ihren Schultern, denn wenn es ihr nicht gelingen sollte, das Schloss mit den Uniformen zu verlassen, würde ihr gesamter Plan scheitern.
Der Korridor der Bediensteten führte in die Eingangshalle des Schlosses. Der Geruch von geschmortem Fleisch überlagerte den Duft der Blumen, die kunstvoll an jeder freien Stelle arrangiert wurden. Ihr Anblick ließ Ember für einen Moment bestürzt innehalten. Es waren Rosen. Nicht nur, dass sie zu dieser Jahreszeit nicht auf natürlichem Weg blühen konnten, sie erstrahlten auch allesamt in der verbotenen Farbe, der Farbe des Todes – Rot.
Die Königin musste sie mithilfe von Magie wachsen gelassen haben, um sämtliche Gäste direkt zu Beginn daran zu erinnern, weshalb sie zu dem Fest eingeladen worden waren. Schneewittchens Blut würde fließen, das so rot wie die Blüten der Rosen war.
Mit einem unguten Gefühl wandte Ember den Blick ab und durchquerte die Halle. Dabei kam sie an seelenlosen Jägern vorbei, doch keiner nahm Notiz von ihr. Sie hatten alle die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen wie sie selbst und merkten nicht einmal, wenn sich ein Fremder unter sie mischte.
Sie erreichte den hinteren Ausgang, der zu den Ställen führte, die an den Finsterwald grenzten. Es war ihr noch nie schwergefallen, sich unbemerkt aus dem Schloss zu schleichen, und dennoch erstaunte es sie, wie leicht es bisher vonstattengegangen war. Aber der schwerste Teil ihres Plans lag noch vor ihr: Margery zu befreien.
Die Tür der Scheune quietschte, als Ember sie gerade weit genug aufzog, um ins Innere schlüpfen zu können. Der Geruch von Stroh stieg ihr in die Nase und sie nahm das träge Schnaufen der Pferde wahr. Obwohl es finster war, widerstand sie dem Drang, eine Flamme heraufzubeschwören, denn das Feuer hätte die Tiere in Panik versetzt. Mit einem Pferd wäre sie für den Fall, dass man ihre Flucht doch noch bemerken würde, schneller unterwegs.
Sie tastete sich an den einzelnen Boxen vorwärts. Aus einigen leuchteten ihr nur die rot glühenden Augen der schwarzen Einhörner entgegen. Sie wagte sich nicht in ihre Nähe, da es hieß, dass diese prächtigen Wesen ihre Seele ebenso verloren hätten wie ihre Reiter.
Im hinteren Teil des Stalls befand sich die Kammer mit den Sätteln und dem Zaumzeug. Dort war es etwas heller, da das Tor ein Stück offen stand und trübes Morgenlicht in das Innere fiel. Erst dachte Ember, dass jemand am vergangenen Abend vergessen hatte, es zu schließen, doch dann bemerkte sie das gesattelte Pferd, welches an einen Pfosten gebunden war.
Sie war nicht allein – noch jemand befand sich in der Scheune.
Der weiße Hengst spitzte seine Ohren, ehe er den Kopf in ihre Richtung drehte. Ein Rascheln im Stroh ließ sie gerade rechtzeitig herumfahren, um einem Balken auszuweichen, den jemand nach ihr schlug. Keuchend taumelte sie rückwärts und hob ihre Hände, um einen weiteren Angriff abzuwehren.
Der andere warf das Holzstück beiseite und zückte stattdessen sein Schwert, dessen Klinge im Dunkel silbrig aufleuchtete. Er hieb nach ihr und es gelang Ember nur knapp, sich hinter einem Strohballen in Deckung zu bringen. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als ihr Feuer hervorzurufen. Es loderte in ihren Handflächen auf, als der Angreifer ihr nachkam. Erschrocken wich er einen Schritt zurück. Sein braunes Haar schimmerte golden, als er sie mit seinen blauen Augen fixierte. Ein entschlossener Ausdruck lag auf seinem schönen Gesicht und er umfasste seine Waffe etwas fester.
Sobald Ember ihn erkannte, ließ sie die Flammen verglühen.
»Warte«, brüllte sie und hob hilflos ihre Arme.
Prinz Philipp sah vor sich nur einen magiebegabten Jäger der Königin, doch die weibliche Stimme irritierte ihn und ließ ihn innehalten. Daraufhin zerrte sich das Mädchen die Kapuze vom Kopf und entblößte seinen roten Haarschopf. Sie hob beide Hände beschwichtigend empor.
»Ich bin Prinzessin Margerys Dienerin«, stellte sie sich ihm vor, da sie nicht wusste, ob er sie je wahrgenommen hatte.
Sofort ließ Philipp seine Waffe sinken. »Ich weiß, wer du bist«, stellte er klar, ohne zu zögern. »Auch wenn ich deinen Namen nicht kenne.«
»Ember«, antwortete sie verlegen, während das Adrenalin durch ihre Adern pulsierte.
»Was machst du hier?«, fuhr der Prinz sie an und ließ den Blick an ihr auf und ab wandern. »Und was soll diese Verkleidung? Ich hätte dich beinahe getötet.«
»Konnte ich ahnen, dass ich im Stall auf einen Prinzen treffen würde, der es auf Jäger abgesehen hat?«, blaffte Ember zurück und beäugte ihn misstrauisch.
Sie hatte ihn immer für einen guten Menschen gehalten, der unter der Königin genauso zu leiden hatte wie jeder andere Bewohner Engellands. Die erzwungenen Besuche mussten für ihn und seine Familie eine Qual gewesen sein. Gewiss hätte es ihn schlimmer treffen können, dennoch war auch sein Schicksal kein leichtes.
Sie sah von ihm zu dem gesattelten Schimmel. »Ist das dein Pferd? Hattest du vor, zu fliehen?«
Es wäre ihm nicht zu verübeln. Ganz besonders nicht, wenn die Königin ihm bereits von ihrer neuesten Idee, ihn zu heiraten, berichtet hatte.
»Nicht ganz«, erwiderte er. »Jedenfalls nicht allein. Ich habe herausgefunden, wo die Königin Margery gefangen hält.«
»Und jetzt wolltest du zu ihr und sie befreien?«, entfuhr es Ember beeindruckt.
Seine gemeinsame Zeit mit der Prinzessin beschränkte sich auf ein paar arrangierte Treffen, stets unter den wachsamen Augen der Königin, dennoch musste sie ihm genug bedeuten, um sein Leben für sie zu riskieren. Oder konnte er einfach nicht anders? Verlangte sein königlicher Anstand von ihm, einer holden Maid in Nöten zu Hilfe zu eilen? Vielleicht hatte er aber auch erkannt, wie viel von dem Leben der Prinzessin abhing.
Ein Schmunzeln legte sich auf seine vollen Lippen, als er die Augenbrauen hob. »Ich nehme an, du hattest dasselbe vor?«
Sein Lächeln war ansteckend und sie konnte nicht anders, als es zu erwidern, ehe sie nickte. Es tat gut, einen weiteren Verbündeten auf ihrer Seite zu wissen.
»Hast du einen Plan?«, erkundigte er sich bei ihr und nickte zu dem prallen Leinenbeutel, den sie bei sich trug und in dem die anderen Uniformen steckten.
Ember kannte ihn kaum, aber das, was sie von ihm gesehen hatte, überzeugte sie davon, dass er ihr Vertrauen verdiente. Immerhin war er bereit gewesen, sich ganz allein auf den Weg zu machen, um Margery zu helfen. Sie weihte ihn in ihren Plan ein, wobei er aufmerksam zuhörte.
»Wenn du dich uns anschließen willst, sollten wir sofort aufbrechen«, schloss sie ihren Bericht ab.
»Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen«, erwiderte er unglücklich. »Aber es wäre wohl für alle sinnvoller, wenn ich im Schloss bleibe und mich um die Königin kümmere. Jemand muss sich ihr entgegenstellen, wenn sie die Flucht ihrer Tochter bemerkt.«
»Sie wird dich töten«, widersprach Ember ihm besorgt. »Komm mit mir und hilf mir, ein Versteck für Margery zu finden. Wenn wir es schaffen, diesen Tag zu überstehen, sind wir alle frei.«
»Ich kann die Königin nicht besiegen, aber ich kann dir genug Zeit verschaffen, um unbemerkt zu dem Turm zu gelangen«, beharrte Philipp und sah sich in dem Stall um, wobei ihm eine Idee kam. »Die Jäger werden es schwer haben, euch zu verfolgen, wenn sie keine Pferde haben.«
»Willst du sie alle freilassen?«, hakte Ember skeptisch nach. »Man würde dich erwischen, noch bevor du alle Boxen geöffnet hättest.«
»Es sei denn, ein Feuer würde ihre Aufmerksamkeit wecken. Was, wenn ich den Tieren nur zur Flucht verhelfe, um sie vor den Flammen zu retten, die in der Scheune wüten?« Er grinste sie triumphierend an und Ember begriff, was er vorhatte. Er wollte ein Feuer legen, das sämtliche Schlossbewohner beschäftigen sollte.
»Die Königin wird sich aber fragen, wie der Brand entstanden ist«, gab sie zu bedenken.
»Wenn ich nicht unter Halluzinationen leide, habe ich dich gerade mit einer Flamme in deinen Händen gesehen, oder? Könntest du das noch mal machen?«, hakte er nach.
»Jederzeit«, bestätigte sie und schnippte mit ihren Fingern, wobei winzige Funken aufflogen.
Es hatte den Prinzen mehr überrascht, ein Mädchen unter dem Umhang vorzufinden, als die Tatsache, dass sie Feuer aus dem Nichts auflodern ließ. Magie war in Engelland zwar verpönt, aber kam im Vergleich zu anderen Welten relativ häufig vor. Sie hoffte, dass er sie dafür nicht verurteilen würde. Aber immerhin wollte er auch Margery helfen, obwohl sie ein Vampir war.
»Weiß die Königin, was du kannst?«, wollte er neugierig wissen.
Es schmeichelte Ember, dass er ihre Feuermagie wie eine Gabe oder ein Talent beschrieb und nicht als etwas, das sie ausmachte. Sie war nicht nur ein Phönix, sondern auch ein Mensch wie er. »Das ist der einzige Grund, warum ich noch am Leben bin«, offenbarte sie ihm.
»Weiß sie auch von deiner Freundschaft zu Margery?«
»Ich nehme es an«, gestand Ember. »Sie hat uns schon einmal dabei erwischt, wie wir zusammen aus dem Schloss geflohen sind.«
»Dann wird sie vermuten, dass du für das Feuer verantwortlich bist«, meinte er und hob seine Hände mit gespielter Unschuldsmiene. »Wer würde schon einen ehrenhaften Prinzen verdächtigen? Bevor sie irgendetwas unternehmen kann, wirst du bereits mit Margery und den anderen auf der Flucht sein. Die Jäger werden es schwerer haben, euch einzuholen. In der Zeit kann ich die Königin weiter im Auge behalten.«
Ember musste zugeben, dass eine Ablenkung die perfekte Ergänzung zu ihrem ursprünglichen Plan darstellte, dennoch gefiel es ihr nicht, Philipp zurücklassen zu müssen. Ihre Bedenken standen ihr ins Gesicht geschrieben, aber der Prinz ließ sich nicht umstimmen. Nachdrücklich drückte er ihr die Zügel seines weißen Pferdes in die Hand.
»Bevor du losreitest, könntest du mir noch einen winzigen Gefallen tun und ein kleines Feuer legen«, bat er sie, wobei er auf eine Ansammlung von Strohballen deutete. Innerhalb von Sekunden würde sich das Feuer darin ausbreiten und lichterloh brennen. »Für dich bedarf das sicher nicht mehr als einer Handbewegung, während ich mich vermutlich minutenlang abmühen müsste.«
»Sag bloß, du kannst kein Feuer legen?«, zog Ember ihn schmunzelnd auf. »Lernt man so etwas nicht in der Ausbildung zum Prinzen?«
Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich kann zwar kein Feuer entfachen, aber dafür könnte ich dir in fünf verschiedenen Sprachen sagen, dass du jetzt besser aufbrechen solltest. Außerdem bin ich ein begnadeter Tänzer.«
»Zu blöd, dass du kein Feuer antanzen kannst«, grinste Ember und ließ sich von ihm auf den Rücken des Schimmels helfen.
Sie hatte Philipp schon immer aus der Ferne gemocht, aber erst jetzt hatte sie erfahren, dass er selbst in einer aussichtslosen Situation wie dieser Humor bewahren konnte. Auch das war eine seltene Gabe.
Philipp schob das Tor weit genug auf, um sie ungehindert passieren zu lassen. Zischend ließ Ember die Flammen in ihrer Hand auflodern.
Die Ohren des Hengstes stellten sich furchtsam auf, seine Nüstern blähten sich und er trat unruhig von einem Huf auf den anderen. Auch die anderen Tiere rochen den Rauch und schreckten vor dem glühenden Licht zurück. Sie würden alle in Panik ausbrechen und versuchen, ihren Boxen zu entkommen. Philipp könnte dabei leicht von einem von ihnen niedergetrampelt oder verletzt werden. Falls er das Bewusstsein verlor, würde er womöglich im Feuer sterben. In dem Feuer, das Ember verursacht hatte.
»Hab keine Angst«, redete der Prinz ihr gut zu und legte seine Hand ermutigend auf ihr Knie. »Wir sehen uns wieder. Das verspreche ich dir.«
Ember stieß spöttisch Luft aus. »Hat dir niemand beigebracht, dass man keine Versprechen gibt, die man nicht halten kann?«
Philipp schüttelte mit einem verschmitzten Grinsen den Kopf. »Nein, aber ich habe noch nie eines meiner Versprechen gebrochen und bei diesem wird es auch nicht anders sein.«
Das Aschemädchen wünschte sich seine Zuversicht und rief sich in Erinnerung, dass Margery auch im Jahr 2012 noch am Leben sein würde. Dabei ignorierte sie den Gedanken, dass das keinesfalls für sie selbst oder den Prinzen gelten musste. Sie ließ das Feuer noch einmal auflodern, bevor sie es auf die Strohballen schleuderte.
Der Anblick der sich ausbreitenden Flammen genügte, um den Hengst scheuen zu lassen. Wiehernd stellte er sich auf seine Hinterbeine, ehe er lospreschte. Ember beugte sich über den Hals des Pferdes und klammerte sich in die Mähne, als sie den Stall hinter sich ließen und in den Finsterwald galoppierten. Nun hatte es begonnen und es gab kein Zurück mehr.
Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1812
Erst als der dunkle Turm sich drohend über den Baumkronen erhob, zog Ember die Zügel des Pferdes an. Der Nebel hatte sich mit der aufgehenden Sonne gelichtet, sodass sie ihre Umgebung gut erkennen konnte.
Im Schritttempo ließ sie das Pferd zwischen den Baumstämmen hindurchlaufen und schaute sich nach einem Anzeichen von Jägern oder Wölfen um. Als sie niemanden entdeckte, hielt sie den Hengst an und stieg von seinem Rücken. Sie tätschelte ihm dankbar den Hals und lauschte in den Wald: Blätter raschelten und hier und da war das Zirpen eines Vogels zu hören, aber ansonsten war es still.
Sie ließ das Tier zurück und schlich allein weiter durch das Unterholz, um möglichst wenig Geräusche zu verursachen. Maggy und die anderen erwarteten sie an einem vereinbarten Treffpunkt in Sichtweite des Turms, aber weit genug entfernt, um die Wachen davor nicht auf sich aufmerksam zu machen. Es war ein umgestürzter Baum, dessen Wurzeln aus dem Erdboden ragten, sodass dahinter ein kleiner, nicht einzusehender Hohlraum entstanden war.
Sobald Ember die Stelle erreichte, bückte sie sich und krabbelte auf allen vieren durch das Laub in das Versteck. Dort wurde sie bereits ungeduldig von Maggy und Jacob erwartet.
Das braunhaarige Mädchen umarmte sie herzlich zur Begrüßung, wobei der Frosch in der Tasche ihrer Schürze quakend protestierte. »Geht es dir gut?«, erkundigte sie sich bei ihr, was Ember ein Lächeln entlockte.
Ganz gleich, ob Gretel oder Maggy, sie war eine gute Seele, die sich immer um ihre Freunde sorgte. Selbst für Menschen, die sie gerade erst kennengelernt hatte, war sie bereit, durchs Feuer zu gehen.
»Ich habe die Uniformen«, erwiderte Ember stolz und schob den Beutel in ihre Mitte, damit die anderen beiden sich daran bedienen konnten. »Aber sollten wir nicht mehr sein?«
Maggy war zuversichtlich, dass der Tod und der Wolf sich ihnen anschließen würden, doch bisher war von ihnen nichts zu sehen. »Sie werden noch kommen«, beharrte sie weiterhin.
»Die Sonne geht bereits auf und wir können nicht mehr lange warten«, erinnerte Jacob sie, während er sein Hemd gegen die dunkle Weste der Jäger tauschte. »Jede Minute zählt.«
»Sie würden uns nicht im Stich lassen«, verteidigte Maggy unnachgiebig ihre Gefährten und schlang sich den schwarzen Umhang über die Schultern. Ihre geflochtenen Zöpfe verschwanden unter der Kapuze.
Ember hatte bisher weder Bekanntschaft mit dem Tod noch mit einem Wolf gemacht, abgesehen von dem Rudel, das immer in der Nähe des Schlosses durch den Wald streifte. Sie vertraute auf Maggys Einschätzung, aber musste gleichzeitig Jacob damit recht geben, dass sie es sich nicht leisten konnten, Zeit zu verschwenden. Zu viel stand auf dem Spiel. Wenn sie den Turm zu spät erreichten, würden sich ihnen die richtigen Jäger in den Weg stellen. Selbst wenn ihnen die Flucht gelingen sollte, wäre ihre Tarnung dann aufgeflogen.
»Vielleicht wurden sie aufgehalten«, gab Ember zu bedenken.
Ihre Vermutung sorgte für einen bestürzten Gesichtsausdruck bei Maggy.
»Ich könnte mir vorstellen, dass der Tod heute noch viel zu tun hat«, quakte der Frosch spöttisch.
»Sei nicht so pessimistisch«, wies Maggy ihn verärgert zurecht. »Simonja ist unsere Freundin.«
»Solange sie nicht den Auftrag erhält, uns zu töten«, konterte das grüne Tier. »Hast du schon einmal daran gedacht, dass Wölfe Rudeltiere sind? Was meinst du, wo der Rest des Rudels gerade ist?«
Maggy antwortete darauf nicht, aber Ember tat es an ihrer Stelle. »Sie sind beim Schloss, um die Königin zu beschützen.«
»Ganz genau«, stimmte der Frosch ihr zu, der weder dem Tod noch dem Wolf zu trauen schien. »Wenn ihr mich fragt, sollten wir keine Sekunde länger warten.«
»Es fragt dich aber keiner«, zischte Maggy unnachgiebig. Es war ihr gleichgültig, wie verständlich und logisch das Misstrauen des Frosches auch sein mochte. Sie hatte Simonja und Arian in die Augen geblickt und gespürt, dass sie auf derselben Seite standen. Obwohl sie alles andere als dumm war, vertraute sie seit jeher mehr auf ihr Herz als auf ihren Verstand.
Ember schätzte diese Eigenschaft sehr an ihr, doch in ihrer jetzigen Situation stand sie ihr im Weg.
»Wir schaffen es auch zu dritt, uns an den Plan zu halten«, meinte Jacob zuversichtlich.
»Zu viert«, korrigierte der Frosch ihn beleidigt, was Jacob schmunzeln ließ.
»Zu viert. Drei falsche Jäger und ein Kampffrosch«, gab er nach. »Wir schleichen uns nah genug an den Turm, um die Tür erkennen zu können. Für gewöhnlich sind dort nicht mehr als zwei Wachen postiert. Ich blase in meine Pfeife und beschwöre den grünen Nebel. In dessen Schutz schleicht ihr euch an und Ember wird die Männer mit einem Feuerball ablenken, sodass ich sie von hinten angreifen kann.« Er schaute zu Maggy. »In der Zeit wirst du die Tür öffnen.«
Das Mädchen klopfte auf die Tasche, die sie bei sich trug. Ein altes, in Leder gebundenes Buch schaute daraus hervor. »Ich habe dafür einen Zauberspruch entdeckt«, verkündete sie grinsend.
Das Buch musste zuvor Baba Zima gehört haben. Die Hexe hatte ihre Schülerin nur das Nötigste gelehrt, aber Maggy war klug genug, um sich den Rest selbst beizubringen. Und sollte sie dennoch scheitern, würde der dicke Wälzer auch als Waffe dienlich sein.
»In Ordnung«, fuhr Jacob fort.