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Ein zauberhafter Roman über das "nächste Leben", in dem man das Echo eines kosmischen Lächelns hören kann. Mit seiner Einfachheit und Frische bringt er unsere Konzepte über die Sterblichkeit und einen Glauben, der in unserer Zivilisation tief verwurzelt ist, ins Schwanken. Er bringt uns zum Nachdenken an und regt unsere Vorstellungskraft an. Inhaltsverzeichnis Der erste Tag Der Weg der Wunder Der Brand des Lebens Die Hand des Todes Die Insel im Mond Der zweite Tag Entwehte Flammen Flutendes Leid Der dritte Tag Die Fährten Die Feier Die Sagen Die Liebende Der Freund Der Gast
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Titelseite
Impressum
Der erste Tag
Der Weg der Wunder
Der Brand des Lebens
Die Hand des Todes
Die Insel im Mond
Der zweite Tag
Entweht Flammen
Flutendes Leid
Der dritte Tag
Die Fährten
Die Feier
Die Sagen
Die Liebende
Der Freund
Der Gast
Das nächste Leben
Ein Offenbarungsroman
Theodor Etzel
Verlassen bist du nicht. Es steigen
Die Toten auf, die dir im Leben
Einst nah gestanden, und umschweben,
Umschatten dich: sei still, sei still —
So fühlst du, was ihr Wille will.
E. A. Poe
2022 © Verlag Heliakon, München
Titelbild: Pixabay (sciencefreak)
Umschlaggestaltung: Verlag Heliakon
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über-setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
1.
Als ich erwachte, glitzte weißes Frühlicht und eine Amsel sang.
Von meinem Bett gesehen rahmte das offene Fenster ein leuchtendes Bild: des Sommertags Geburt. er Rampe wiegte sich auf dem Spitzensaum des fernen Fichtenwaldes die junge Sonne, in Nebeldunst geschleiert, gleich einer träumerischen Tänzerin in Silberseide.
Da fuhr ein dunkler Sprung ins lichte Bild. Mein schwarzes Kätzchen setzte wie gehetzt aufs Fensterbrett und mit steuerndem Schweif hinab in den Garten. »So eilig und so untreu heute, Quark?« Der erste Morgen, dass es mein Erwachen nicht zart beschnurrte und mein Kinn nicht küsste.
Ich wollte mich noch des Traums erinnern, der mich — so schien es mir — dem Schlaf entrissen. Es war ein Schreck und Schmerz gewesen und bebte peinlich nach. Mehr fand ich nicht von ihm zurück. Er war durch meinen Blick ins Licht verdunkelt.
Ich warf das Nachweh ab und freute mich der Sonnenfrühe. Welch schöner Tag stieg mit mir auf! Ich wollte mich in ihm genießen und weilte nicht und rüstete mich, in die Berge zu gehen. Ich hatte ein eigenes Ziel für diese Wanderfahrt — ein Ziel zu sonderbarer Tat.
Als ich aus Haus und Garten auf den holprigen Fahrweg trat, der in den nahen Bergwald führte, stand entschleiert die Sonne am Himmel, indes so nahe noch dem Erdensaum, dass die Stangenschatten des Gartenzauns zu übertriebener Länge verzerrt quer über den Weg ins Weideland stießen.
Meinen eigenen Schatten fand ich nicht. Als sei die Sonne noch nicht stark genug, auch Lebendes zu zeichnen,
***
Bald schritt ich zwischen Tann und Laub bergan.
Das steigende Licht bestrahlte durch alle Baumlücken den Weg und bewegte das Leben.
Goldgrüne Sandkäfer liefen dahin und purzelten in tiefe Wagenspuren.
Nebenan bei den Stämmen wimmelten rotbraune Ameisen um ihre hohen Nadelburgen.
Die kleinen Vögel sangen und ließen leichte Zweiglein wippen und waren fleißig bei Arbeit und Kunst.
Im blauen Himmel schwamm ein Falke, und Krähenschwingen blitzten wie spiegelnder Stahl.
Alles vereinte sich im frischen Morgenduft zu einem sprühenden und doch erquickend friedevollen Bild. Ein Wohlgefühl von ungekannter Akt — obgleich mir solch ein Gang durch Morgenwald nichts Neues war — erhob mich über alle Last und Enge.
Da horch, ein Kuckuck!
Er war nicht weit.
Vorsichtig schlich ich bis zum Baum, auf dem der scheue Schreier saß. Ich sah ihn rufen.
Wie oft, als Knabe, hatte ich die alte Frage an den Gauch gestellt, an den Propheten. Und hatte er auch jedesmal eine andere Antwort gegeben, war doch dem Knaben jedesmal todernst dabei. Mit welchem Bangen zählte er die Rufe! Nun fiel mir jenes Kindersprüchlein wieder ein, und ernst wie damals fragte ich leise:
»Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch. Wie viele Jahre hab’ ich noch?«
Mitten in meinem Verslein hielt der laute Vogel inne.
Er schwieg beharrlich.
Ich drückte mich hinter den dicken Stamm und wartete.
Steif saß der Kuckuck droben im Geäst und schwieg.
Bald flog er stumm davon.
Ich hörte ihn nicht wieder.
Mehr als etwa an ein Sterben war ich durch das missglückte Spiel und manches, das ich ferner mit Sinnen fing und mit Gedanken formte, an das Leben erinnert, an das wirkende Leben. An das durch seine Wunderfülle unsagbar schönheitsreiche Leben, das zwar dem Sinn und Geist des einzelnen Lebendigen nur rollende Körnchen wies und gab und doch mit solcher Winzigkeit selbst das geringste Wesen zum Schöpfer einer Eigenwelt erhöhte. Kein anderes von Milliarden Wesen glich mir nur einen Atemzug. Und selbst ein gleiches Ding, in meine und in eines Anderen Welt gefügt, war immerfort verschieden — ein Tausendding. Was war dem Kuckuck sein Ruf? Was mir? Was war dem Wild sein Wald? Was mir? Was dir? — Was wäre — zur selben Zeit und Stelle — einem mir leiblich oder geistig Nächstverwandten ein Schritt, ein Blick, ein Gedanke mit mir? Kein Gleiches! Nichts gab es mehrfach oder wiederholt, alles war einzig. Kein Gleiches, keine Gleichung — nur etwas Gleichnis. Und wenn es auch Verstand gab und Verständnis, so war doch kein Verstehen. Weil unerschöpflich reich die Schöpfung und unaufhaltsam schöpferisch ein jedes Ich.
»Du Einziger!« rief ich mir zu. »Du Wunder Mensch! Sei still, sei still! Du engst, wenn du verstehen willst, dein Schöpfertum. Gib ihm den Namen Glück und lass es walten.«
Gedanken, die sich oft in mir gemessen und verglichen hatten, schienen sich heute zu versöhnen. Mir war so frei wie einem Sieger, der starken Frieden fand nach gut bestandenem Kampf.
Und wie ich nun durch Sonnenfreude den breiteren Kammweg ging, der meilenweit, nur wenige Holzwege zu den Dörfern hinunterzweigend, über den Bergrücken zog, ersann ich mir ein kleines Lied für das, was mich erfüllte, und sang es froh heraus — und blieb betroffen stehen: der Überschwang erschien mir ungesund: ekstatisch wie ein unbeherrschter Traum, wirr wie ein zügelloser Wahn.
Ein Schreck von außen kam hinzu. Zur Seite im Gebüsch erschallten Schritte. Das Altlaub raschelte, und Dürrholz knackte.
Doch nein — es war kein Mensch, der mich belauschte. Ein Reh trat vor, nah bei dem Birkenbusch, hinter dem ich mich eilig versteckte. Ein kapitaler Sechserbock mit rau geperlten Rosen — nach Waidmannsworten. Er äugte rechts und links den Weg entlang. Ihm konnte mich, ganz abgesehen von der Witterung, das dünne Birkchen nicht verbergen. Doch zeigte er keine Furcht, zog auf mich zu und zupfte am Busch.
Ich erstarrte und hielt mich stumm, den Blick auf das Gehörn gebannt, das fast meinen Arm berührte.
Plötzlich zuckten die Lauscher, der Rehbock sicherte und flüchtete ins Gehölz zurück. Zugleich vernahm ich fernher Räderknarren und Peitschenknall. Vor diesen fernen Lauten war das Tier in tiefer Scheu vor Menschennähe geflohen; dicht mir zur Seite hatte es sorglos geäst, als sei ich ungefährlich.
Ich trat hinter dem grünen Schirm hervor und ging nachdenklich weiter.
Bald begegnete ich dem erwarteten Fuhrwerk.
Den beiden auf der Holzladung hockenden Männern rief ich den Morgengruß zu.
Sie pafften aus ihren Deckelpfeifen und blinzelten gleichgültig in die sonnige Luft. Doch keiner sah mich an, keiner gab Gegengruß.
2.
Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, kam ich an einen Pfad, dessen Eingang von einer mächtigen Buche beschattet war. Am Stamm war eine Holztafel befestigt. Die regenverwaschene Aufschrift hieß: Zum grauen Turm. Darunter wies ein Pfeil in den steigenden Waldweg hinein. Für mich ein kleiner Umweg, der sich lohnte.
Bald saß ich droben im Zinnenkranz des Aussichtsturms, und meine Blicke nahmen wie Schwalbenschwingen die Weite. Grüne, graue und blaue Wogen von Wald — lichte und düstere Felsenformen Weit hinaus über Kuppe und Schlucht ein fleckiges Dörfchen in Felderstreifen, Baumketten und Wiesen. Und fern Südost stieß aus dem Einschnitt zwischen zwei Höhen der gotische Klosterturm von Hübel spitz in des Himmels Silberrand.
Dort in Hübel war es gewesen, wo sich mir vor einigen Wochen im Flackerschein der Feuersbrunst die Schandtaten vom Annenfels enthüllt hatten. Nun war mein Wille und das Ziel meiner Fahrt, dem Frevel langer Jahre ein Ende zu bereiten. Recht wie ein Ritter gegen einen Landschreck zog ich dahin. Und wie ich den Racheplan, den ich mir schon in jener Brandnacht ausgedacht, nochmals übersann, blieb ich dabei, dass er gut sei und dass ich ihn ausführen könne, ohne das versprochene Schweigen zu brechen. Auf Förster Rohland, den einzigen, dem ich, um seine Hilfe zu gewinnen, Aufklärung geben musste, durfte ich vertrauen. Anderen Helfern, etwa dem Konrad und einem Bergmann oder Steinbrecher, der sich aufs Sprengen verstand, waren wir keine Rechenschaft über unser Tun schuldig. So würde ich Barbaras ängstliche Vorschrift, an die sie mich in ihrem Brief nochmals gemahnt hatte, ehrlich beachten und dennoch das Schandwerk aus der Welt schaffen können.
Ich griff in plötzlicher Besorgnis, ob ich den gestern empfangenen Brief nicht etwa zu Hause liegen gelassen hätte, in die Tasche.
Er fand sich vor.
Ich entfaltete das Blatt und las noch einmal die plumpen Zeilen der Kellnerin:
»… Jetzt dürfen Sie es machen, aber denken Sie daran, was Sie mir versprochen haben, dass mein Namen nicht ins Spiel kommt. Es darf nichts rauskommen davon. Ich hätte es sonst bei meiner Seele nicht verraten, weil ich hab schwören gemußt beim Kreuz vom Herrn Jesus. Sie sind der Einzige, sonst darf es keiner wissen mein Lebtag nicht …«
Nein, ich durfte nicht säumen, den Drachen unschädlich zu machen. Bei meiner Ritterehre: der morgige Tag gehörte der Tat! Noch heute konnte ich Forsthaus Eichkron erreichen und mit dem Förster mein Vorhaben besprechen.
Ich steckte den Brief wieder ein.
Doch wozu bedurfte ich seiner noch? Mein Wort verbot mir, Gebrauch von ihm zu machen.
Um jeder Versuchung aus dem Wege zu gehen, zog ich das Blatt nochmals hervor, zerriss es in eine Handvoll winziger Stückchen, deren jedes nur wenige Schriftzeichen trug, und schleuderte das lockere Häuflein vom Turm hinunter.
Das Erdwärtstreiben der kleinen weißen Fetzen zu beobachten, bog ich mich über die Brüstung. Doch welch verblüffender Trug: Ich sah nicht eines von den vielen Teilchen wieder! Ein Zauberkünstler hätte das Verschwinden nicht besser spielen können. Scharf wie ein Vogel spähte ich aus und konnte doch nichts mehr entdecken.
* * *
Ich stieg die gewundene Turmtreppe hinunter und kletterte auf den mächtigen Granitblöcken umher, die rings zerstreut lagen.
Ich ergötzte mich an dem neckischen Spiel zweier Eichhörnchen aus dem alten gespaltenen Eichbaum, der seine teils grünenden teils toten Äste weit über das Steinfeld spreizte.
Nach kleiner Weile kamen die lebhaften Tierchen am Stamme herab und verlegten ihren Tummelplatz in die Haselnussbüsche hinter der hochlehnigen Ruhebank. Während sie einander in den Büschen nachjagten, ließ ich mich auf der Bank nieder. Plötzlich sprang das eine herunter, lief mit steuernder Fahne die Lehne entlang und flog mit kühnem Schwung wieder ins rauschende Laub empor. Das andere hinterdrein. Und bald ging die wilde Jagd von neuem über die Bank, ja über mich selbst dahin. So flink und schattenhaft leicht waren die Bewegungen der Tiere, dass ich die Berührung nicht empfand.
Endlich hatte das verfolgende Eichhörnchen das andere erreicht und ihr Spiel war zu Ende.
Dicht neben mir blieben sie auf den Stangen der Bank sitzen, das eine hatte sein Köpfchen auf den Nacken des andern gelegt. Behutsam streichelte ich das weiche Fell. Sie ließen es sich so ruhig gefallen, als ob statt meiner Hand ein Hauch der Luft sie kose. Sie schienen mich nicht wahrzunehmen. Sorglos spähten sie in die Baumwipfel am Abhang hinüber und nahmen bald in kurzen Sprüngen dorthin ihren Weg. Ich klatschte hinter ihnen her kräftig in die Hände, um sie zu schnellerer Flucht zu veranlassen. Sie kümmerten sich nicht darum.
Wie sonderbar die Tiere heute waren! So furchtlos und vertrauensvoll, als ob sie mich als ihren liebevollen Freund erkannt hätten. Wohl war mir solches schon im Traum begegnet, in Wirklichkeit noch nie. War etwa meine Wanderung nur Traum?
Ich schüttelte heftig den Kopf, um mir Gewissheit zu verschaffen, dass er nicht noch in heißen Kissen ruhe.
Ich sprang über einen Steinblock.
Ich rief: horiolo!
Kein Zweifel: ich war wach und stand im Gebirge beim grauen Turm auf Gras und Granit.
Und dennoch schien mein Weg mir eine Straße der Rätsel.
3.
Von der Aussichtshöhe auf den Kammweg zurückgekehrt, setzte ich meine Wanderung gen Westen fort, dem schönen Wunderwald entgegen.
Während der nördliche Hang des Bergrückens bis zum Weiler Rohden hinab fast nur dunkle Nadelholzbestände trug und nach Süden hin bis ins wilde Schnellenbachtal und zum Felsdreizack der Teufelsgabel gemischter Laubwald vorherrschte, waren im Wunderwald, der einen Sattel des Höhenzuges füllte, die verschiedensten Wildbäume, teils einzeln stehend, teils in Gruppen, aufgewachsen: Lärchen, Birken, Ahorn, Eschen, Silberpappeln und Föhren; und zwischen den starken Stämmen duckte sich Buschwerk: Haselnuss, Pfaffenhütchen, Wacholder, Holzapfel, Faulbaum und Dorne.
In alten Zeiten — so ging die Sage bei den Gebirgsbewohnern — soll hier ein „heiliger Hain“ gewesen sein. Man wollte in einem großen, oben ausgehöhlten Steinblock die einstige Opferstätte entdeckt haben. Von derselben Stelle aus soll ein Bote des Bonifazius den Bewohnern der Gegend die Botschaft des Heilands verkündet haben. Später nahm eine wundertätige Fee dort ihren Sitz. In strahlender Lichtgestalt erschien sie einem Hirten, dessen Herde von einer Räude befallen war, und tat ihm kund, dass das im alten Opferbecken angesammelte Wasser die Schafe heilen werde. Da gab der Hirt den kranken Tieren von jenem Wasser, das in dem Steintrog stets eine rötliche Färbung erhielt, zu trinken, und die Rande verschwand. Von diesem Wunder trug der Wald seinen Namen.
Das „rote Wasser“, das sich bei Regen in dem Opferbecken sammelte, war lange Zeit ein viel begehrtes Wunderwasser, mit dem die Bauern ihr krankes Vieh heilten. Als einmal in einem heißen Sommer die Seuche herrschte, eilten nach dem ersten Regen die Dorfleute auf den Berg. Die aus Rohden kamen zuerst an und schöpften das Becken leer. Bald trafen auch die vom Dorfe Schnellenbach ein, und da sie den Opferstein geleert fanden, verfolgten sie die Rohdener, um ihnen das Wunderwasser zu entreißen. Ein zornvoller Streit entstand, und es floss mehr rotes Bauernblut, als rotes Wasser vorhanden war. Die von Schnellenbach waren in Überzahl und erschlugen die gesamte Rohdener Mannschaft. Dann eilten sie mit der kostbaren Beute in ihr Dorf zurück. Aber kaum waren sie bei ihrem Vieh in den Ställen, als ein furchtbares Unwetter ausbrach und der hohe Felsen, der das Dorf bisher gegen den rauen Nordwind geschützt hatte, unter entsetzlichem Getöse niederstürzte und Mensch und Vieh zermalmte und begrub. Nur drei schroffe Zacken blieben als Reste der Felsmauer zurück. Man benannte sie: die Teufelsgabel. Der Teufel hat die Totschläger gefressen, sagten die Gebirgler, und seine Gabel hat er stehen lassen, weil er an seinem vollgefressenem Wanst genug zur Hölle zu schleppen hatte.
Seit jenem blutigen Tage hatte das rote Wasser seine Heilkraft verloren, ja es war giftig geworden, und krankes Vieh, dem man es weiterhin eingab, verendete auf der Stelle. Niemand wagte mehr, dem Opferstein nahezukommen. Man sagte, der Teufel habe die gute Fee verjagt und in das Opferbecken gespuckt; wer von dem roten Wasser trinke, verkaufe dem Teufel die Seele. Zur Zeit der Hexenprozesse hieß es in jener Gegend nicht anders als: sie hat vom roten Wasser getrunken! Auf der kahlen Erhöhung mitten im üppigen Wunderwald soll mancher Hexe zum letzten Mal eingeheizt worden sein. Die gebratenen Leiber holte sich nachts der Teufel mit seiner dreizackigen Felsengabel, die so viele saftige Bissen aufzuspießen hatte, dass ihre Spitzen heute noch blank davon sind und im Sonnenscheine einen matten Glanz zeigen wie von triefendem Hexenfett.
* * *
Und mehr noch hatte ich mir von den Bauern des Dörfchens, in dessen Nähe ich das kleine Landhaus am Waldesrand bewohnte, zur Feierstunde erzählen lassen. Der alte kahle Weinand, der schon seit Jahren im Altenteil saß und zum Verdruss seines Schwiegersohnes nicht sterben wollte, hatte mir abends auf der Gartenbank bei einer Pfeife Kanaster die unheimlichsten Geschichten berichtet. Wenn er mir schon das Sagenhafte bis zu den Hexenverbrennungen so bunt und lebendig geschildert hatte, als ob er selber dabei gewesen, so waren seine Berichte darüber, welche Bedeutung das rote Wasser zur Zeit seiner eigenen Jugend gehabt und bis heute bewahrt habe, noch bei weitem ausführlicher und umständlicher.
Der Kern der Sache war folgender:
Nachdem die letzte Hexe längst verbrannt war, galt das Wasser noch immer als Teufelsbrühe. Da ereignete es sich vor hundert Jahren, dass eine Bauerndirn, die Molzen-Kathrin, von ihrem Schatz betrogen und verlassen wurde. Da sie sich schwanger fühlte, geriet sie in Verzweiflung und sinnlose Wut: für den Preis der Rache an den entflohenen Verführer wollte sie ihre Seele verkaufen. Mit diesem Vorsatz eilte sie in den Wunderwald und trank vom roten Wasser und erwartete den Teufel. Aber niemand kam. Es wurde ihr nach dem Genuss der alten Regenbrühe nur bitter übel, so sehr, dass sie, nachdem man sie beim Opferstein gefunden und nach Hause gebracht, lange Zeit krank lag. Als sie sich später wieder im Dorfe zeigte, wich Alt und Jung ihr aus, voll Furcht, dass etwas Grausiges geschehen müsse. Doch nichts geschah. Die Kathrin war wieder froh und wohlgemut wie in früheren Jahren, und ihre Gestalt blieb schlank; weder vom Teufel noch von dem treulosen Liebhaber kam irgendetwas zum Vorschein. Und als im Herbst die Kirmes war, fand das Mädchen ihre Tänzer so gut wie die andern.
Doch ganz ohne Folgen blieb die Geschichte nicht. Nach dem Fest stahlen sich manche Dorfschönen, die mit ihren Tanzburschen zu tief in die Eichenhecken gegangen waren, heimlich hinauf zum Opferstein. »Die Molzen-Kathrin hat auch nix kriegt«, das war das Zauberwort, das sie trieb. Und alle glaubten fester an den Trost im roten Wasser als an Hölle und Teufel.
Das neue Geheimnis flog flüsternd, wie ein Wind schnell, durchs ganze Gebirge. Weither kamen Bedürftige oder ließen sich von williger Hand ein Fläschchen Wunderwasser herbeischaffen.
»Junge, Junge« hatte der alte Weinand seinen mit viel Verrat gewürzten Bericht beendet, »dat Junkvolk hier herum läbt im guldnen Zeitalter!«
* * *
Laute Rufe — Halloh und Juhu! — brachen meine Gedanken ab. Aus dem Wunderwald vor mir tauchte eine Gesellschaft Ausflügler auf, die über einen kahlen Lohschlag hinüber die Teufelsgabel anbrüllten, um das Echo aus dem Schnellenbachtale zu hören. Rufe — Lauschen — Lachen — und neues Geschrei.
Nachdem das Echo einem jedem gefällig gewesen und die Knaben sich in zänkischem Wettstreit rot geschrien hatten, kam der Trupp näher.
Ich setzte mich auf einen moosübersponnenen Grenzstein und besah mir die Leute, die anscheinend irgendeinem Verein „Gemütlichkeit“ oder „Eintracht“ mit Familienanhang bildeten. Vielleicht war es eine „Liedertafel“, denn wackere Männer, die ihre Röcke, Hüte und Manschetten an Stöcken über den Schultern trugen und weiße Hemdärmel zeigten, ordneten sich jetzt und sangen in langsamem Marschtempo: »Wer hat dich, du schöner Wald …«
Behäbige Frauen pusteten vorüber und schlugen sich mit Taschentüchern Luft ins Gesicht. Die Knaben und kurzröckigen Mädchen waren mit Ranzen und Blechbüchsen bepackt. Hinterher kamen die jungen Herren und neckten die hell gekleideten Töchter, indem sie ihnen Käfer ins Haar setzten oder sie meuchlings mit Grashalmen hinter den Ohren kitzelten. Sie lachten und krähten sich dabei halbtot. Bis plötzlich einer der Sänger sich umwendete und zurückrief: »Menschenskinder, seht euch doch auch den schönen Wald mal an!«
»Ja — er ist schön«, antworteten ein paar Mädchenstimmen.
»Na also«, sagte befriedigt der Schwärmer und fiel wieder in das Lied ein:
»Lebe wohl, lebe wohl, du schö—öner Wald!«
»Wo ist die Freda?« wendete sich eine Mutter an eine der Jungfrauen.
»Sie will dem Ewald einen Kranz machen — im Wunderwald. Sie kommen nach.«
»Wenn sie nur nicht läuft und sich verschwitzt!«, sagte besorgt die wohlbeleibte Frau. »Mit weißen Kleidern muss man sich in acht nehmen.«
Und weiter zog die Gesellschaft, an mir vorbei, dem grauen Turm entgegen.
4.
Am Eingang des Wunderwaldes blieb ich unter den beiden gleich Torwächtern trotzenden Föhren stehen, die ihr Gezweig wie dunkle Fächer gegen den blauen Glanz des Himmels breiteten, und wollte jenes Echo erproben, das vorher solch großes Vergnügen bereitet hatte. Ich wölbte die Hände um den Mund und rief mit aller Kraft »Horiolo« — und lauschte — und hörte nichts als das ferne Hämmern eines Spechtes. Ich rief wieder — und noch einmal —. Nicht der leiseste Gegenruf kam.
Vergeblich nach einer Erklärung dafür suchend, warum bei meiner Stimme das Echo versagte, trat ich in den heiligen Hain ein und erreichte auf einem Seitenpfad die von einem Kranze starker Eschen umgebene Lichtung, in deren Mitte der alte Heidenaltar stand. Er stand da wie ein Felskopf, der aus der Tiefe heraus die Erdhaut durchstieß in Sehnsucht nach Luft und Licht. Aus einer klaffenden Spalte des rötlichen Gesteins krümmte sich wie eine verholzte Schlange ein armdicker Maulbeerbaum hervor und legte seinen spärlichen, von Sonnenfunken durchlöcherten Schatten über den Stein.
In der trogartigen Aushöhlung, die etwa die Hälfte der Oberfläche einnahm und mit ihren geraden Randlinien und ihrer gleichmäßigen Tiefe unzweifelhaft auf Bearbeitung durch Menschenhand schließen ließ, befand sich, da es lange nicht geregnet hatte, nur ein geringer Vorrat des wundertätigen Wassers.
Ich stand vor dem Stein, und angesichts des faulenden Regenrestes belächelte ich den Aberglauben des Gebirgsvolkes und musste ihn zugleich als sehr gesundheitsgefährdend erkennen. Warum denn wohl in den langen Jahren nicht ein Menschenfreund darauf verfallen war, die Stätte zu zerstören?
Da vernahm ich ein Rauschen im Walde. Ich sah ein helles Gewand zwischen den Büschen.
Schnell trat ich vom Opferstein fort bis an den Rand der Lichtung, wo ich mich zwischen Farnkräutern in den Baumschatten legte.
Im Gehölz erschien eine Mädchengestalt. Sie spähte rückwärts in den Wald, eilte zum Opferstein, füllte im Becken ein Fläschlein, verbarg es im Kleid und lief geradenwegs nach meinem Platze hin.
Wie musste sie, die mich seltsamerweise nicht zu bemerken schien, bei meinem unerwarteten Anblick erschrecken! Doch hielt sie nicht inne im Lauf und stutzte nicht — sprang näher — stieß dicht vor meinen Füßen gegen eine Wurzel und fiel, bevor ich noch die Arme zum Auffangen ausbreiten konnte, mit einem leisen Aufschrei lang über mich hin.
Entsetzen! — Was war das? — Ihr Körper durchschlug den meinen, als sei ich Luft, und lag unmittelbar auf demselben Fleck Waldboden, der mein Lagerplatz war. Ich empfand keinen Aufprall, keinen Druck. Meine Arme griffen ins Leere. In meinem Körper wölbten sich ihre Rückenformen, ihr Kopf hob sich aus meiner Brust, ihre Arme stemmten sich in mich hinein und stützten den Leib auf.
Ein Schauer durchfuhr mich. Ich stieß mit beiden Händen gegen ihre Schultern, um sie zurückzuschleudern, aber meine Finger griffen haltlos hindurch, meine Arme durchdrangen Schultern und Brust. Ich schrie wild auf vor dem körperlosen Wesen, dessen Mienen sich schmerzvoll verzogen, dessen Augen meinem Blick nicht standhalten wollten.
Und weiter richtete sich die Gestalt auf, in die Kniee, dann stand sie vor mir, in meinen Füßen, die ich in dem bannenden Schreck nicht wegzuziehen vermochte. Aufrecht stand sie vor mir, ihr Gesicht glühte, ihr Atem flog.
Und sie bückte sich wieder, hob ihren weißen Rock, verschob einen Strumpf und drückte ihr an den Lippen befeuchtetes Tüchlein auf das beim Sturz ein wenig verletzte Knie.
Dann — während ihr Mund noch leisen Klagelaut gab — griff sie hastig ins Kleid, zog das Fläschlein hervor, überzeugte sich, dass es verschont geblieben, und ließ es mit schämiger Scheu in die Tasche zurückgleiten.
Alle die wunderbaren Erzählungen der Bauern von der hilfreichen Fee und dem gefräßigen Teufel und den schwarzen Hexenseelen und anderen bösen und guten Erscheinungen aus dem Wunderwald fuhren mir wirr durch den Kopf; für diesen Spuk fand ich jedoch den Schlüssel nicht.
»Wer bist du?«, entrang es sich nach einem kurzen Zustand völliger Lähmung meinen Lippen.
»Wer bist du?«, wagte ich noch einmal zu fragen.
Keinen Blick, keine Antwort erhielt ich von dem Phantom, das aus meinen Füßen heraus zur Seite hinkte und sich auf den Baumstumpf niedersetzte, über dessen Wurzelwerk es zu Fall gekommen war.
Die wiederholten Schmerzäußerungen ließen mir das seltsame Wesen harmlos erscheinen; Gespenster pflegten nicht über Wurzeln zu stolpern und sich zu verletzen; Gespenster hatten unter Kleid und Strumpf kein Fleisch und Bein; Gespenster bedurften nicht des roten Wassers. — Mich hatte wohl unversehens ein Schlaf überfallen, und der unerklärliche Vorgang war nichts als ein Traum gewesen, der sich bei meinem Erwachen noch in die Wirklichkeit hineingesponnen hatte. — Mein plötzliches Aufschrecken, verursacht durch das Geräusch der Schritte, hatte im Bruchteil einer Sekunde mit jener nur dem Hirn eines Träumenden eigenen blitzartigen Gestaltung und Verwandlungskraft den ganzen Spuk erzeugt. Gewiss war das sichtbar atmende Wesen mir zur Seite ein Mensch, ein lebendiges weibliches Erdengeschöpf. Und in Erwartung einer schnellen Lösung des Rätsels erhob ich mich und stellte diesem Lebewesen zutunlich-freundlich die Frage: »Welchem Zufall, mein Fräulein, verdanke ich die angenehme Nachbarschaft?«
Die Nachbarin übersah meine Anwesenheit nach wie vor.
»Ich bitte Sie«, fuhr ich eindringlich fort, »geben Sie mir Antwort!«
Doch all mein Fragen war umsonst.
Aus dem Walde erscholl ein Ruf.
Erregt auffahrend glättete die Schweigsame ihr Gewand, schob den Strohhut auf der blonden goldsprühenden Woge zurecht und rief, so laut sie es fliegenden Atems vermochte: »Hier bin ich!«
»Freda! — Wo bist du?«, klang es nochmals aus dem Walde.
»Hi ... ier!«
Bald kam ein junger Mann in Sicht. Lachend, den Stock durch die Luft schwingend, jagte er in großen Sätzen quer über die Lichtung heran.
Ich atmete befreit auf. Der Mann war kein Gespenst, so konnte auch sein Mädchen nichts Unirdisches sein.
»Hab ich dich endlich wieder!« keuchte er, als er von offenen Armen aufgefangen wurde. Und lächelnd schalt er: »Das war kein kluger Gedanke von dir, dass wir Verstecken spielen sollten. Die kurze Zeit, in der man sich einmal allein hat, sollte man besser nützen. Das Mäulchen her, du dumme kleine Freda!«
Freda —? War sie wohl die vermisste Tochter jener ums weiße Kleid besorgten Mutter? — Ja! Diese Vermutung bestätigte sich; denn sie nannte ihn Ewald. Aus seinen Armen glitt sie auf den Baumstumpf zurück und sagte »Ewald« und zog ihn an ihre Seite.
»Heiß bist du geworden«, meinte er.
»Sonst sagtest du immer, ich sei kalt.«
Da presste er zwischen beiden Händen so herzhaft ihre frischen Wangen, dass ihr die roten Lippen rund offen standen, und auf die weißen Zähne küsste er sie. »So!«, sagte er, »zur Strafe, weil du mich jetzt daran erinnert hast!«
Sie lehnte den Kopf an ihn. Er nahm ihre Hand.
»Aber, Freda, du blutest! Da, am Daumen.«
Sie leckte das rote Tröpfchen ab. »Oh, tut nichts. — Ich bin hier über die garstige Wurzel gefallen.«
»Du Armes!«
Er holte Heftpflaster hervor und klebte es sorgfältig auf den kleinen Riss. »Nun ist’s wieder gut. — Hast du dir sonst noch weh getan?«
»Ach — nur das Knie ein wenig gestoßen.«
Er kniete nieder vor ihr. »Wir müssen überall ein Pflästerchen auflegen.«
»Nein, Ewald! Es blutet ja nicht.« Sie spannte das Kleid fest um die geschlossenen Beine.
»Dann will ich einen Kuss draufdrücken, der macht es wieder heil.«
»Nein, Schatz, lass doch! — Wenn’s jemand sieht —!«
Er spähte umher. »Hier ist kein Jemand.«
»Nun, wenn ich niemand bin —«, warf ich ein und streckte mich wieder rücklings hin.
Er bettelte von neuem, sie aber sagte: »Nein, nein, nein!«, und ließ sich nicht erweichen.
»Du kannst es mir hier durchs Kleid heil küssen«, war alles, was sie ihm gestatten wollte.
»Da soll ich dir wohl die Grasflecken weg küssen?«
»O jeh!« Jetzt erst bemerkte sie die grünen Tupfen. »Das weiße Kleid! — Wie wird die Mutter schelten.«
Sie tat sehr unglücklich.
Der unerwünschte Abbruch des Getändels verstimmte den jungen Mann. Unwillig erhob er sich und klagte: »Ach Freda, dein weißes Kleid ist dir mehr wert als meine ganze Liebe.«
Sie erwiderte nichts.
Da ergoss er sich in einer sprudelnden Anklage gegen sie: »Ja, mit Recht darf ich mich über dich beklagen. Du bist kalt! Nun sind wir schon so lange verlobt, und du benimmst dich heut noch so, als ob dir das Herz noch gar nicht aufgegangen wäre. Herrgott, ich kann das nicht verstehn!«
»Ewald! Du Liebster —!«
»Ja, Worte! Worte!«
»Was willst du von mir?« Das bebte aus ihrem Munde.
»Du sollst nicht so abweisend sein, nicht so — verlegen. — Konntest du mir jetzt nicht den kleinen Wunsch erfüllen? Was wär’s denn Schlimmes! — Aber ich glaube, bis zu dem Tag, an dem wir Mann und Frau heißen, wirst du mir noch nicht nähergekommen sein als eine Schaufensterfigur, an der ich auch zwei Hände sehe und einen Kopf und Kleider — Kleider!«
»Ewald!« fuhr sie aus. »Wie weh du mir tust! Warum kennst du mich nicht! Warum weißt du nicht, wie das glüht — und verlangt — nach mehr verlangt als solchem Spiel mit Küssen! — Ich kann nicht spielen, wie du spielen willst. Wenn ich mich aber einmal gehen ließe, wie es mich treibt, dann könnte ich mich nimmer retten. Und dann — ja dann — —. Es durfte nicht sein!«
»Was redest du! — Ich wollte dir ja gar nichts —«
»Das ist’s gerade! Du willst mir gar nichts. Ich aber, Ewald, bin keine Puppe von Holz und Wachs, und darum kann ich's nicht ertragen, dass du nichts willst. Ein Herz voll Liebe, wie es in mir ist, kann nicht mit Feuer spielen. Nein, lieber kalt sein — wie du es nennst —, bis der Pfarrer und die Leute ihr Ja und Amen gesprochen.«
»Fredchen! Nun bist du auf einmal so anders«, sagte er mit leisem Jubel und zog sie an sich.
»Nicht anders«, entgegnete sie. »Nicht anders bin ich, nur sprech’ ich einmal frei und wahr. Sieh, Ewald …«
Sie stockte tief atmend und presste seine Hand gegen ihr Herz. Wie Sonnenglut über Ähren flimmerte ihre Stimme, als sie weitersprach.
»Sieh, Liebster, du weißt ja selbst, wovor mir bangte … Ich fürchte mich nicht; du lässt mich nicht verderben. Aber die Mutter … wenn's Grund zu einem Gerede gäb' … wenn ich vor der Zeit heiraten müsste … das hätt’ die Mutter nicht um mich verdient. Sieh, das war meine einzige Angst. Aber jetzt — — jetzt schäme ich mich vor dir, weil ich das alles so gesagt habe.«
Er schloss das Mädchen enger in die Arme.
Freda! — Liebste!« brachte er endlich hervor »Du brauchst dich nicht zu schämen vor mir, — ich müsst' es vor dir tun — weil ich dich so verkannt habe. — Die glücklichste Frau sollst du werden …!«
Da hob sie ihr Gesicht und sprach ihm sprühend in die Augen: »Du — du! Ich bin ja dein — dein —!« Und trank so heiß seinen Kuss, dass er entfesselt und entbrannt wie trunken mit ihr in die brechenden Farnkräuter taumelte …
* * *
O Liebe, Liebe! Du allgewaltige Kaiserin der Welt! Wo du einhergehst mit den heißen, nackten Sohlen, da verlodern die Worte und Gesetze der Jahrtausende, da schmelzen die ehernen Tafeln, zerstäuben die steinernen Platten mit den gemeißelten Sätzen, da herrscht nichts neben dir, da gilt nichts neben dir, da ist nur dein Gebot, du Kaiserin der Welt!
O Liebe, Liebe! Und siehst du nicht, wie jene, die da dürren Herzens sind und dir nicht mehr Gefolgschaft leisten, quer über deine Wege Mauern bauen, und wie sie Zäune ziehn von starkem Holz, und wie sie Gräben graben, tiefe Gräben, und wie sie Scheiterhaufen häufen, um dir zu wehren, dich zu richten? Du große Feindin deiner Feinde siehst du das nicht?
O Liebe, Liebe! Wohl siehst du das. Du siehst — und lachst und spottest ihrer — und schreitest frei darüber hin. Was sind dir Gräben, Zäune, Mauern! Was sind dir alle Waffen, die dir drohen! Du schreitest lachend hin, und wenn es gilt, dann überspottest du den Spott, dann überfrevelst du die Frevel der dürren Herzen!
O Liebe, Liebe! Du allgewaltige Kaiserin der Welt! Und wenn sie zaghaft sind, die du begehrst — wenn sie sich fürchten, die dir folgen sollen, dann lockst du sie mit fein gesponnener List — und eine von den vielen, die du kennst, ist hier dein rotes Wasser. Allgegenwärtige, jetzt stehst du hier! Ich hör dich lachen, und ich seh, wie du mit deinen heißen, nackten Sohlen zwei junge Menschen auf die Erde drückst.
Wer kann dir wehren? Wer darf dich richten? O Liebe, Liebe! Kaiserin der Welt …
So sang es in mir, während ich da lag, die Hände unterm Kopf verschlungen, und aus dem Schatten der Eschen in den hohen blau glühenden Himmel blickte.
Fern im Walde bellte ein Hund.
Da hob die Liebe ihre Sohlen fort und ging von dannen.
Und neben mir richtete sich das Menschenpaar auf, und ihre Lider zitterten, als hätten ihre Augen in eine blendend heiße Glut gesehen.
Und er — der Mann — tupfte sein Taschentuch gegen den Mund, denn seine Lippen bluteten ein wenig.
Und sie — das Weib im weißen Kleid — stand abgewendet da und griff nach einer wilden Rose, ohne sie zu brechen.
Bald aber fanden sie einander schweigend wieder — Hand in Hand und Blick in Blick.
In einem unergründlich tiefen, geheimnisvollen Schweigen.
So fern, so fern von aller Welt.
Und doch — jetzt hörten sie den lauten Hund im Walde.
Noch trunken — noch taumelnd — gingen sie einher wie geblendet. Und bevor ich ihnen den Weg freimachen konnte, traten ihre Füße mir durch Brust und Schenkel.
»Seid ihr denn wirklich blind?!«, schrie ich auf.
Da waren sie schon weiter, ohne mich zu beachten, ohne zurückzublicken, und schritten stumm zwischen Baum und Busch dem Wege zu.
6.
Endlich vermochte ich mich aufzurichten.
Ich betastete prüfend die Körperstellen, durch welche die Füße der zwei jungen Leute hindurchgedrungen waren, aber ich konnte nicht das geringste Schmerzgefühl feststellen. Ich hatte die Tritte ebenso wenig empfunden, wie vorher den Sturz des Mädchens. Wie war es möglich, dass mein Gefühlssinn untätig blieb, während Gesicht und Gehör mehr wahrgenommen hatten, als ihnen jemals vorher geboten worden wäre? Wie war es möglich, dass mein Körper von fremden Körpern durchdrungen wurde, als sei er nur ein Luftgebilde? Wie war es möglich, dass mich die zwei Menschen weder zu hören, noch zu sehen, noch zu fühlen vermochten?
Wenn alles nur Traum gewesen sein und wenn ich gegenwärtig noch immer träumen sollte, selbst dann hätte ich, da ich sah und hörte, auch fühlen müssen; denn das Gefühl ist auch im Gaukelspiel des Traumes nicht ausgeschlossen. Wie oft hatte ich träumend körperlich empfunden, Schmerz wie auch Luft. — War es vielleicht ein Traum im Traum? — Selbst dann: ein Traumestraum bleibt Traum, — wie ein Theater im Theater nichts anderes als Theater ist.
So kam ich der Lösung nicht näher.
Ich zwang meine verwirrten Gedanken zur Ruhe. Nahm sie in Arbeit wie ein Knäuel verwickelter Fäden. Ordnete, so gut es gehen wollte. Doch kam ich zu keinem anderen Ergebnis, als immer wieder zu den gleichen Fragen: Bin ich selbst nicht wirklich hier — oder sind die Dinge um mich her nicht wirklich? War alles nur eine Täuschung der Sinne — oder ist es möglich, dass nur mein Geist gegenwärtig, mein Leib dagegen verlassen vom Geist, also in irgendeinem bewusstlosen Zustande sich an einem anderen Orte befindet?
Nichts gab mir Antwort.
Ich stand da und schüttelte den Kopf — und sah in den freien Himmel hinauf.
* * *
Eine Wildtaube flog über die Lichtung.
Hoch im Blau ein Raubvogel, der pfeilschnell herniederstieß.
Der Taube glückte es auszuweichen; sie stieg höher über den Feind hinaus.
Aber diesen trugen seine starken Schwingen schneller wieder empor, und aus geringer Höhe führte er einen neuen Stoß aus, der nicht misslang. Er schlug seine Fänge in die Beute und schleppte sie auf den nächsten Baum.
An der Art seiner Jagd, an Flugbild und Größe erkannte ich den Räuber als einen Wanderfalken.
Könnte ich ihn herunterholen! Wie würde sich mein grüner Freund, der Förster Rohland, freuen, wenn ich ihm den Vogel zum Ausstopfen brächte!
Ich zog meinen Revolver und schlich unter den Baum, auf dem der Falke in seine Beute hackte.
Aus so kurze Entfernung konnte ich nicht fehlen. Ich hob den Arm, zielte und drückte ab.
Der Falke rührte sich nicht vom Fleck.
Wie —? Ich traf nicht —? Schnell folgte mein zweiter Schuss.
Der Falke arbeitete weiter, dass die Federn flogen.
Ich fluchte leise und schoss zum dritten Mal —.
Kanaille! Wenn ich dich nicht treffen kann, mach’ dich doch fort und verhöhne mich nicht.
Der vierte Schuss krachte — der Fünfte.
Der Falke würgte an einem langen Fleischfetzen.
Meine Hand zitterte, ich ließ den Arm sinken.
Bald erhob ich ihn von neuem und setzte mein Glück auf die letzte Patrone. Der Hahn schlug auf, doch der Schuss ging nicht los.
Ich drehte die Walze schnell einen Zahn zurück, um dieselbe Patrone nochmals zu versuchen. Aber wieder versagte sie.
Da flog der Vogel mit dem Rest seiner Beute davon.
Mein Ärger war groß. Der Revolver, den ich erst kürzlich gekauft und bisher wenig erprobt hatte, schien mir ein sehr unzuverlässiges Stück.
Ich zog vorsichtig die letzte Patrone, die zweimal versagte, aus der Walze hervor. Aber — wie war das möglich? — die Hülse war leer, der Schuss war heraus.
Ich hatte gestern die Waffe gereinigt und sämtliche sechs Kammern geladen, seitdem hatte ich nicht geschossen. Wo kam trotzdem die abgeschossene sechste Hülse her?
Ich untersuchte die übrigen fünf Kammern, sie alle enthielten richtig die leeren Hülsen der soeben abgegebenen Schüsse. Doch wie verhielt es sich mit dem sechsten Schuss?
Ich geriet in Wut und schleuderte den Revolver zu Boden.
Kaum war er mir aus der Hand, da verschwand er vor meinen Augen. Spurlos war er fort, als habe die Luft ihn verschlungen.
Unheimlich häuften sich die Wunder.
* * *
Ein scharfer Flintenknall schreckte mich auf. Ein Hund bellte.
Der Schuss musste jenseits des Kammweges gefallen sein.
Ich drang in dieser Richtung vor und befand mich bald wieder auf dem Wege, auf dem ich nach dem Schützen spähend weiterging.
Etwa fünfzig Schritte vor mir tauchte links aus dem Walde ein Grünrock auf. Förster Rohland! Er hielt meinen Wanderfalken in den Händen. Eine Schwinge hing schlaff herab und schleifte durchs Weggras.
»Guten Tag, Herr Förster!«, rief ich, meine Schritte beschleunigend. »Sie haben mich an der Bestie gerächt! Denken Sie: fünfmal gefehlt. — Allerdings nur mit einem schlechten Revolver.«
Der Förster sah nicht auf. Befestigte den Vogel am Gurt seiner Jagdtasche und schritt ohne Gruß quer über den Weg in das Walddickicht zur Rechten. Sein Hund — ich kannte den braunen Lord gut — sprang fieberhaft erregt um ihn und die Beute herum. Bevor ich den Förster erreichen konnte, schlugen hinter ihm die Büsche zusammen.
Ich rief ihm nach: »Herr Förster — Herr Förster!« Aber er war fort und antwortete mir nicht. Ich hörte nur die Zurufe, mit denen er Lord zur Ruhe verwies.
Ich stand da und hätte weinen mögen. Warum hatte auch dieser Mensch mich nicht beachtet? Warum wollte niemand mir antworten?
Sollte der Förster mir zürnen, weil ich in seinem Revier geschossen hatte? Der »grobe Martin«, wie ihn die Gebirgler zu nennen pflegten, war einer der pflichtgetreuesten Beamten, die je die grüne Farbe trugen. Gewiss — mit meinen Schüssen hatte ich sein Dienstherz verwundet.
Um seine Freundschaft, von der ich ja gerade jetzt einen besonderen Dienst erbitten wollte, nicht zu verlieren, würde ich ihm heute Abend auf Eichkron die unwiderstehliche Versuchung und meine gute Absicht schildern, die mich zur Jagd auf den Raubvogel angetrieben hatten. Ich rechnete auf sein Verstehen und Verzeihen.
1.
Etwa eine Stunde nach der Begegnung mit dem Förster stand ich auf den Mauerresten der Funkenburg.
Die Besteigung der Felsenhöhe, auf der sich vor etlichen hundert Jahren ein stolzer Ritter seinen Horst erbaute, erforderte für den vom Wunderwald kommenden Wanderer keine große Anstrengung. Nach Westen dagegen zackte der Berg so steil in die Tiefe, ins Brissetal hinab, dass der Besuch der weithin sichtbaren Burgruine von den in der Talmulde liegenden Dörfern Ober- und Niedergrün herauf recht beschwerlich war. Man konnte nur auf einem einzigen Pfad heraufgelangen, der von der „Funkenschänke“ drunten am Fuß der Bergwand in engem Zickzack zur Höhe führte.