Das Nemesis-Manifest - Eric Van Lustbader - E-Book

Das Nemesis-Manifest E-Book

Eric Van Lustbader

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Beschreibung

"Das Nemesis-Manifest ist düster, klug und fesselnd und könnte nicht gegenwärtiger sein." David Baldacci Die geheimnisvolle und äußerst brutal agierende Organisation Nemesis bedroht die Weltordnung. Mit gezielten Desinformationskampagnen versucht sie, die amerikanische Gesellschaft zu spalten und ins Chaos zu stürzen. Das amerikanische Verteidigungsministerium vermutet Russland dahinter und setzt seine fähigste Mitarbeiterin darauf an. Evan Ryder ist eine Einzelgängerin, eine der wenigen weiblichen Geheimagentinnen und hat unsägliches Leid im Dienst für ihr Land erfahren. Ihre Mission führt sie von Washington in den Kaukasus, nach Österreich und schließlich ins Herz von Nemesis in den bayrischen Alpen. Ein komplexes Verschwörungskomplott tritt zu Tage, für das alte Frontlinien und Allianzen nicht mehr gelten und das Leben von Evan Ryder ebenso bedroht wie das Überleben der westlichen Demokratien.

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Das Nemesis-Manifest

Der Autor

ERIC VAN LUSTBADER ist Autor zahlreicher New York Times Bestseller und wurde von Robert Ludlum's Estate ausgewählt, dessen Bourne-Reihe fortzuführen. Er lebt mit seiner Frau auf Long Island.

Eric Van Lustbader

Das Nemesis-Manifest

Thriller

Aus dem Englischen von Barbara Ostrop

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Februar 2022© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© 2020 by Sakura Express, Ltd.Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel: The Nemesis Manifesto (Forge)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München (Himmel, Hubschrauber); Alamy Stock Photo/ © Daniel Lange (Gebäude); © Stephen Mulcahey / arcangel images (Frau)E-Book Konvertierung powered by pepyrus.com ISBN 978-3-8437-2562-0

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

Zweiter Teil

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

Dritter Teil

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

Epilog

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Moskau, Russische Föderation

Oktober

»Ich bin anderer Meinung.«

»Natürlich.«

General Boyko betrachtete Gorgonov skeptisch. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Rothirsch zu, der mit bebenden Flanken einen letzten Moment verharrte, um gleich von der Lichtung in den dichten Kiefernwald zu flüchten. Boyko drückte mit dem Zeigefinger den Abzug der Saiga durch. Der Schuss erwischte den Hirsch von der Seite und schleuderte ihn einen halben Meter durch die Luft. Die Augen des Tiers verdrehten sich, und seine Hinterläufe zuckten, als wollte er sich mit einem letzten Sprung retten. Blut spritzte auf den jungfräulichen Schnee.

»Du bist immer anderer Meinung als ich«, fuhr der General fort, während sie beide hinter der Deckung hervorkamen.

Gorgonov betrachtete die Waffe des Generals; es sah Boyko ähnlich, ein Jagdflintenmodell zu verwenden, das auf einer Kalaschnikow basierte. »Aber doch nicht immer.«

Die beiden alten Schulfreunde, jeder mit einer komplizierten Vergangenheit, traten aus dem Schutz der Kiefern hervor auf die von Blut befleckte Lichtung.

»Über diese Agentin kann es keine Meinungsverschiedenheiten geben«, erklärte Boyko, ohne die Antwort seines Freundes zu beachten.

»Na ja.« Gorgonov zuckte mit den Schultern.

Boyko blieb unvermittelt stehen und wandte sich seinem Freund zu. »Anton Recidivich, diese Frau stellt seit vielen Jahren eine gefährliche Bedrohung für die Föderation dar. Sie hat uns bei jeder Gelegenheit einen Strich durch die Rechnung gemacht und so viele von unseren Agenten ausradiert, dass es sich kaum mehr zählen lässt. Sicher, es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich glauben konnte, dass eine Agentin, eine Frau, so erfolgreich sein kann. Anfangs dachte ich sogar, es gäbe sie gar nicht, das sei nur amerikanische dezinformatsiya. Aber das war absurd; nicht einmal die Amerikaner sind so blöd. Dann glaubte ich, sie wäre die Tarnidentität für einen Killer, der im Geheimen operiert. Aber als ich mit eigenen Augen gesehen habe, welches Gemetzel sie am Rand von Sankt Petersburg angerichtet hat, war ich von ihrer Existenz überzeugt. Also: Wie könnte das Ziel, sie umgehend zu eliminieren, zwischen uns zur Diskussion stehen?«

»Zum einen gehörst du zum GRU und ich zum SVR«, erwiderte Gorgonov. »Unser Modus Operandi unterscheidet sich.« Er stapfte durch den Schnee zu dem Rothirsch, der reglos auf der Seite lag. Seine Augen waren glasig. Gorgonov starrte in diese Augen, als versuchte er, das Mysterium des Todes zu ergründen. »Und zum anderen habe ich eine bessere Idee.«

Der General stieß ein bellendes Lachen aus. »Das behauptest du immer.« Er war ein kleiner, untersetzter Mann, o-beinig und mit mächtigem Brustkorb. Mit seiner gerissenen Art und seiner Körperkraft hatte er es mühelos geschafft, seine Kameraden in der Schule und an der Universität zu unterjochen. Sein kantiges Gesicht wies die kraterähnlichen Spuren einer in der Jugend durchlittenen Akne auf. Vielleicht war das der Grund, aus dem er einen mächtigen, an Stalin erinnernden Schnauzbart trug. Sein silbergraues Haar war auf die altbewährte militärische Weise stoppelkurz geschnitten. Seine Ohren waren äffisch klein und saßen merkwürdig tief am Schädel. Seine Augen waren schwarz, von dicken Brauen überwölbt und gaben nichts preis.

»Ich habe immer recht.« Im Gegensatz zu Boyko war Gorgonov in der Schule ein Fechter gewesen – Degen und Säbel –, und ein verdammt guter. Er war über einen Kopf größer als Boyko und wesentlich schlanker. Um sich als Fechter auszuzeichnen, brauchte man die gleichen Eigenschaften wie ein eleganter Tänzer: Beweglichkeit, Gewandtheit, Tempo und Gleichgewicht. Jeden Tag stand Gorgonov pünktlich um fünf Uhr früh für eine Stunde Tai-Chi auf, dann folgte eine Stunde Qigong. »Und in diesem Fall, mein lieber Yuri Fyodorovich, gilt das ganz besonders. Als Mann des Militärs hast du gelernt, linear zu denken. Warum sonst würdest du weiterhin dieselben Nicknames – APT 28 und Fancy Bear – für deine Hackeridentitäten verwenden? Jeder weiß, dass der GRU dahintersteckt.«

»Nein.« Gorgonov klopfte eine türkische Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und sog einen Zug tief in die Lunge ein. Der Rauch schoss zu seinen Nasenlöchern hinaus und vernebelte kurz die Sicht auf den geschossenen Hirsch. »Ich habe lang und angestrengt über die Frage nachgedacht, Yuri. Diese Person erfordert eine andere Herangehensweise.«

»Welche Möglichkeit besteht denn noch, außer sie zu eliminieren?«, fragte Boyko gereizt.

»Mein lieber alter Freund, versuche, die Situation einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.«

Der General vollführte mit der Hand eine heftige Bewegung, als durchschnitte er die Luft. »Sie stellt schon zu lange eine Gefahr für uns dar.«

»Aber was, wenn sie keine Gefahr mehr wäre? Was, wenn sie zu einem unschätzbar wertvollen Werkzeug würde?«

Boyko zog finster die Augenbrauen zusammen. »Ist das Tabak, was du da rauchst, oder eine amerikanische psychedelische Droge?«

Nun war Gorgonov mit Lachen an der Reihe. »Ich stehe mit beiden Beinen fest auf dem Boden, das kann ich dir versichern.«

»Wovon redest du dann, zum Teufel?«

»Du erinnerst dich doch an Lyudmila Alexeyevna Shokova.«

Knurrend antwortete Boyko: »Diese Verräterin von …«

»Komm schon, Yuri, was auch immer Shokova war oder nicht war, spielt hier keine Rolle.«

»Da bin ich vollkommen anderer Meinung. Sie war eine der beiden einzigen weiblichen Apparatschiks im Politbüro. Aber sie hat eine unglaubliche Machtfülle angehäuft. Tatsächlich war das beispiellos. Auf jeder Hierarchieebene hat sie ihre Befugnisse überschritten. Und dann flog ihre Freundschaft mit dieser amerikanischen Agentin Evan Ryder auf.«

Seine Stoeger-3 000-Selbstladeflinte in die Armbeuge geklemmt, warf Gorgonov Boyko einen durchdringenden Blick zu. »Tja, nun ist Shokova weg – nach allem, was meine Netzwerke sagen, hat sie sich praktisch in Luft aufgelöst. Vielleicht ist sie sogar tot, aber egal. Was mich dagegen weiterhin interessiert, ist Shokovas enge Freundschaft mit Evan Ryder.«

Die Hand des Generals schoss nach vorn. Er nahm Gorgonov die Zigarette weg, hielt sie sich unter die Nase und schnüffelte an ihrer Aschespitze. »Wieso?«, fragte er. »Wie du gerade erläutert hast, ist diese bedauerliche Shokova-Episode aus und vorbei.«

Gorgonovs Gelächter hallte durch den Wald. »Siehst du, nichts als Tabak.« Er tat die Unterstellung des Generals, er könnte high sein, mit einer Handbewegung ab. »Aber die Sache ist ja die: Wir können vermuten, dass Shokova und Evan Ryder viele Geheimnisse miteinander geteilt haben.«

»Und was soll uns das jetzt nützen?«

»Dieses Wissen macht Evan Ryder zu einer noch größeren Gefahr. Wer weiß, wie viel Shokova ihr über die gegenwärtigen und künftigen Pläne des Kremls berichtet hat.«

»Na gut. Dann eliminieren wir Ryder so schnell wie möglich.«

»So spricht ein wahrer Offizier«, knurrte Gorgonov. »Das haben schon einige versucht, alle ohne Erfolg.«

»Das, woran sie gescheitert sind, wird uns gelingen«, erklärte Boyko.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Gorgonov hob seinen schlanken Zeigefinger. »Aber was, wenn wir unsere eigene Shokova erschaffen würden – oder in diesem Fall, unseren eigenen Shokov?«

Boyko blinzelte, als hätte Gorgonov ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet. »Wovon sprichst du?«

Gorgonov blies sich in die frostkalten Hände. »Wir sollten in die Datscha zurückkehren. Ich lasse den Hirsch von meinen Leuten abhäuten und zerteilen.« Er grinste. »Zum Abendessen gibt es frisches Steak, blutig gebraten, genau wie du es magst. Und Wein direkt aus meinem Fasslager.«

Über ihnen kehrten die Vögel in die Baumwipfel zurück, von denen sie durch den Schuss erschreckt aufgeflogen waren. Schneeflocken fielen auf die Kiefern nieder, und die Zweige senkten sich unter ihrem Gewicht.

Ein düsteres, indigoblaues Dämmerlicht hatte sich herabgesenkt und dem eisblauen Nachmittag den Todesstoß versetzt.

Gorgonov und Boyko saßen zu Tisch, vor sich Servierplatten voll Hirschsteak, so blutig wie vom Gastgeber versprochen, Pelmeni – die Teigkrapfen mit der Hackfleischfüllung glänzten von geschmolzener Butter und dufteten nach Lorbeer –, ein Leib Pumpernickel und das allgegenwärtige Kohlgemüse in einer wässrigen Tomatensoße, die mit ihrer Namensvetterin im südlichen Italien nichts gemein hatte.

Die Männer bedienten sich und schaufelten sich riesige Portionen in den Mund wie damals, als sie gemeinsam studiert hatten. Obwohl sie inzwischen in den mittleren Jahren angekommen waren, hatte ihr Appetit noch nicht nachgelassen. Sie aßen überwiegend schweigend, und die einzigen Geräusche waren das Klappern von Besteck auf Porzellan und das Gluckern des Côte de Beaune, wenn er aus den beiden Karaffen in der Tischmitte in Wassergläser eingeschenkt wurde. Hin und wieder tauschten sie sich mit einem maschinengewehrähnlichen Wortschwall über ihre Ehefrauen und derzeitigen Geliebten aus oder über äußerst lukrative, schwarz abgewickelte Geschäfte.

Erst als sie den Hauptgang beendet hatten und neben Tellern mit Süßigkeiten, darunter die von Gorgonov innig geliebten Snickers-Riegel, weitere Weinflaschen auf dem Tisch standen, kehrte das Gespräch zu dem Thema zurück, das sie im Wald angeschnitten hatten.

»Na gut.« Die Hände über dem Bauch gefaltet, lehnte der General sich zurück. »Ich habe noch eine Stunde, bevor wieder die Pflicht ruft. Lass mich dein Märchen hören.« Sein Gesicht hatte einen blasierten Ausdruck, der Gorgonov gar nicht gefiel.

Gorgonov stand auf und schenkte sich konzentriert zwei Finger hoch Sliwowitz ein. Den Rücken zu Boyko gekehrt, leerte er das Glas halb. Dann streckte er die Hand aus und schob eine 8-Spur-Kassette in einen uralten Pioneer-H-R99-Kassettenspieler, schloss die Augen und lauschte, sich leicht zum Rhythmus wiegend, den ersten Takten von Fleetwood Macs »Go Your Own Way«. »Magst du diesen Song genauso gern wie ich?«

Boyko antwortete nicht.

Schließlich kehrte Gorgonov zum Tisch zurück und setzte sich seinem Gast gegenüber. »Die amerikanische Rockgruppe Fleetwood Mac war die Lieblingsgruppe der Shokova.«

»Interessant«, sagte Boyko in einem Tonfall, der klarmachte, dass ihn das absolut nicht interessierte.

»Ich habe ein bisschen recherchiert.« Gorgonov stellte einen Karton, der mit einem Stempel als Eigentum des SVR gekennzeichnet und mit dem russischen Äquivalent für streng vertraulich beschriftet war, auf den Tisch. Er klopfte auf den Deckel des Kartons. »Hier drinnen befindet sich alles, was ich in Shokovas Datscha eingesammelt habe. Nun, abgesehen von dem 8-Spur-Kassettenspieler und den Musikkassetten.«

»Schrott«, meinte der General geringschätzig.

Gorgonov machte sich nicht die Mühe, Boyko direkt zu antworten. »Einiges von dem, was ich gefunden habe, hat mich überrascht. Nicht diese Kassette; Shokova hat amerikanische Rockmusik geliebt. Aber wie sich bei der Durchsicht ihrer Papiere und Tagebücher zeigte, war sie anscheinend eine Frau von starken moralischen Grundsätzen.«

»In der heutigen Welt spielt Moral keine Rolle, und schon gar nicht hier in der Föderation.«

»Möglich«, erwiderte Gorgonov. »Aber das war nun mal Shokovas Haltung.«

»Dann wurde sie im falschen Staat und im falschen Jahrhundert geboren. Sie hat ihr Mutterland verraten.«

Ein gequältes Lächeln trat auf Gorgonovs Lippen. »Das stimmt.« Er holte eine Akte des SVR hervor, schlug sie auf und drehte sie um, damit Boyko das Foto sehen konnte, das auf der obersten Seite lag.

Mit gefurchter Stirn zog der General die Akte zu sich heran. »Wer ist das?«

»Mit das Wichtigste, was ich bei meiner Recherche erfahren habe, ist, dass Lyudmila Alexeyevna Shokova einen Bruder hatte, Arkady Illyich Shokov. Arkady und seine Frau kamen ums Leben, als ihre Kinder noch ganz klein waren.«

Boyko blickte auf. »Gewiss. Sie hatte eine Familie, genau wie du und ich. Und sie alle sind in der Akte des SVR versammelt.«

»Das sollte man meinen«, antwortete Gorgonov. »Aber so ist es nicht. Keines von Arkadys Kindern taucht in Shokovas SVR-Akte auf. Und sie fehlen auch in allen anderen Akten, in denen sie eine Rolle spielt.«

Boykos raupenähnliche Augenbrauen berührten sich fast. »Wie kann das sein? Da habt ihr offensichtlich versagt.«

»Hör mal, deine Leute besitzen nicht mal eine Akte über sie.« Gorgonov wollte nicht in diesem Stil weitermachen, obgleich er das durchaus hätte tun können; er hatte keine Lust auf einen weiteren Weitpinkelwettbewerb mit dem GRU. »Nein, General. Lyudmila Alexeyevna hat dafür gesorgt, dass alle Aufzeichnungen über diese Kinder aus den Unterlagen entfernt wurden. Da bin ich mir sicher.«

»Shokova hat sie versteckt?«

»Es hat den Anschein.«

Die Furche in Boykos Stirn wurde tiefer. »Aber warum?«

»Das wissen allein die Götter. Über die Tochter haben wir gar keine Informationen.« Gorgonov zuckte mit den Schultern. »Und Lyudmila Alexeyevnas Neffe Vasily Shokov ist tot. Ums Leben gekommen, als er sich einer Festnahme widersetzte.«

»Dann …?«

»Ah ja, hier siehst du Vasily Shokov. Allerdings meinen Vasily Shokov.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Boyko begriff. Gorgonov konnte beinahe sehen, wie ihm ein Licht aufging.

»Okay, dieser Mann gehört also zu deinen Leuten.«

Gorgonov nickte. »Peter Limas ist etwas ganz Besonderes.« Gorgonov nahm die Akte wieder an sich. »Er lebt im Westen und ist Unternehmer. Zusammen mit einem Partner führt er eine Firma für Cybersicherheit. Wenn das kein Ding ist.«

»Ein Unternehmer?« Boyko machte große Augen. »Ihr schickt einen Unternehmer los, um sich bei Evan Ryder einzuschmeicheln?«

»Wer wäre besser geeignet?«

»Zum Beispiel ein echter Spion.«

»Einen von uns würde Ryder auf hundert Meter Entfernung riechen – wie schon viele Male zuvor. Wie du selbst sagtest, wir haben sie immer wieder unterschätzt, einfach weil sie eine Frau ist. Wir konnten nicht glauben, dass der Schaden, den sie uns zugefügt hat, wirklich auf ihr Konto ging, wir hielten es einfach nicht für möglich, dass eine Frau so gerissen und gefährlich sein kann – ein Todesengel für unsere Agenten.« Er seufzte. »Nein, jemand, der den Geheimdienst nicht kennt, ist hier genau der Richtige für uns. Und das Beste ist, dass Limas bereits eingeschleust ist. Er hat eine Geschichte, die jeder Überprüfung standhalten wird.«

»Der Plan ist verrückt. Wie ich bereits vermutet hatte.« Mit erhobener Hand gebot Boyko seinem Freund, der bereits zu einer Entgegnung ansetzte, Einhalt. »Aber schön, sagen wir einmal, ihr macht mit diesem Plan weiter, und sagen wir auch noch, dass es eurem Mann gelingt, sich mit Ryder anzufreunden. Und dann?«

»Dann bleibt er ihr Freund – genauso, wie Lyudmila Alexeyevna ihre Freundin war. Er füttert Ryder mit Informationen, die ihre Handlungen beeinflussen, genauso, wie Lyudmila Alexeyevna es getan hat. Nur werden es diesmal unsere Informationen sein.«

»Dezinformatsiya.«

Gorgonov nickte. »Genau.«

Boyko ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen. »Go Your Own Way« endete, und »Songbird« begann. Gorgonov schaute den General an. Anscheinend würde Boyko das Gespräch nicht auf Brady Thompson bringen, den Elefanten im Raum, und Gorgonov würde das ebenfalls schön bleiben lassen.

Boyko schob seinen Stuhl zurück und ging zur Toilette. Sobald er sich eingeschlossen hatte, nahm er sein Handy heraus und schickte seinem Adjutanten eine Nachricht. Er gab einen Namen ein und tippte im Anschluss: SOFORT AUF DIE TODESLISTE SETZEN.

Er pinkelte lang und zufriedenstellend, wusch sich die Hände und kehrte an den Tisch zurück, wo Gorgonov ihn erwartete.

»Also«, sagte Boyko, nachdem er sich gesetzt hatte.

Gorgonov legte den Kopf schief. »Also was?«

»Wollen wir Evan Ryder jetzt also tot sehen oder nicht?«

»Komm mir hier nicht in die Quere«, erwiderte Gorgonov scharf.

Der General breitete die Hände aus, um zu zeigen, dass er nichts zu verbergen hatte. »Ich muss jetzt los.« Er stand auf. »Danke für deine Gastfreundschaft, Anton Recidivich.«

»Es war mir wie immer ein Vergnügen, General.« Gorgonov erhob sich ebenfalls. »Meine Leute haben das Hirschfleisch auf Eis gelegt und eingepackt. Es erwartet dich in deinem Wagen.«

»Und das Geweih«, warf Boyko ein. »Vergiss das Geweih nicht.«

»Ich vergesse nichts«, antwortete Gorgonov.

Während die Internet-Recherche-Agentur in Sankt Petersburg, die vom Souverän die Aufgabe erhalten hatte, sowohl Pro-Kreml-Propaganda als auch dezinformatsiya zu verbreiten, immer wieder ihre Büros wechselte, seit sie im Jahr 2015 durch einen Artikel im New York Times Magazine »aufgeflogen« war, war im Gegensatz dazu der Stützpunkt der Hackergruppen ACT 28 und Fancy Bear ein so gut gehütetes Geheimnis, dass abgesehen von einer speziellen Operationsgruppe im GRU nur der Souverän genau wusste, wo er sich befand. Selbst Gorgonov kannte diesen Ort nicht, was ihn aber zu Boykos beständiger Verärgerung nicht zu stören schien.

Boykos Einheit war in einer ehemaligen Synagoge untergebracht, die der GRU vor einigen Jahren »befreit« hatte. Von den ursprünglichen Nutzern des Gebäudes war nichts geblieben als die verblasste Erinnerung an einen Prozess wegen Hochverrats, der blitzschnell gekommen und gleich vorbei gewesen war. Von den Angeklagten, falls man dieses Wort verwenden durfte, wurde nie wieder etwas gehört. Es war, als hätten sie nie existiert. Nachforschungen ihrer Familienmitglieder erwiesen sich als fruchtlos und am Ende sogar als ein wenig gefährlich.

Das Gebäude lag am inneren Rand der Moskau umschließenden Ringstraße, am Westrand der Stadt in einer Gegend voller Gaswerke und Ölraffinerien. Die Luft war Tag und Nacht dunstig und verschmutzt. Oft war es, als rieselten schwarze Schneeflocken von den riesigen Fabrikschloten herab, die sich wie Reißzähne in den trüben Himmel bohrten. Auf dem Boden lag Asche und bedeckte die Schneereste, die sich hier und da noch zwischen kackbraunem Matsch in den verstopften Rinnsteinen häuften. Je weniger man über den Gestank sagte, desto besser.

Drinnen sah es jedoch ganz anders aus; dafür hatte Boyko gesorgt. Obgleich er durch und durch Soldat war, hatte der General es gern bequem. Als junger Rekrut hatte er bei den Einsätzen genug Unannehmlichkeiten erduldet. Unter seiner regen Anleitung hatte die vom Militär gestellte Renovierungsmannschaft das jüdische Gotteshaus gut gelaunt in eine sichere Zufluchtsstätte verwandelt, von der aus das handverlesene Team des Generals dezinformatsiya ins amerikanische Internet schmuggelte, die wesentlich raffinierter waren als alles, was die Jungs in Petersburg sich ausdachten. Sein eigenes Büro war zwar klein, genoss aber den Vorteil, den Raum einzunehmen, in dem die Juden ihre heiligen Schriftrollen aufbewahrt hatten. Es roch noch danach: eine angenehme Mischung aus Stoff, Alter, Papier und religiösem Staub, die nach Boykos Erfahrung so unverwechselbar war wie der Geruch von Bibliotheken, Zahnarztpraxen oder der Wohnung seiner Mutter.

Als er das Gebäude betrat, schüttelte er die feuchte graue Asche ab wie ein Hund, der aus dem Regen kommt, und schlüpfte aus seinem knöchellangen Wintermantel. Das nagende Gefühl von Unruhe, das ihn seit der Rückfahrt von Gorgonovs Datscha begleitet hatte, konnte er jedoch nicht loswerden.

Das Großraumbüro war in den gedämpften Schein indirekter Beleuchtung getaucht, und das konstante Brummen des Antiüberwachungs-Perimeterschutzes war wie das ferne Summen von Honigbienen. Was durchaus passte, da das Büro einem Bienenstock voll elektronischer Aktivität ähnelte. Vierundzwanzig Workstations, vierundzwanzig hochgetunte Laptops und vierundzwanzig junge Männer, die über das blau flackernde Licht ihrer Bildschirme gebeugt Software bearbeiteten, Netzbots programmierten, in den sozialen Netzwerken herumtrollten oder Fotos, GIFs und Kurzvideos mit Photoshop veränderten. Sie erschufen »Nachrichten« aus spinnwebzarten Strängen, so flüchtig wie ein Traum, aber glaubhaft für die wenigen Stunden, die nötig waren, um große Aufregung auszulösen, Brände zu stiften oder die Flammen einer Terrortat anzuheizen, bevor sie wie Seifenblasen zerplatzten. Doch das war nicht die einzige Aufgabe von Boykos Legion von Online-Provokateuren. Man nehme zum Beispiel Nemesis, seinen bedeutendsten Kunden. Dessen Projekte waren wichtiger als alle anderen; sie sollten nicht flüchtig sein, sondern lange nachhallen und die immer größer werdende Kluft in der amerikanischen Psyche noch vertiefen. Nemesis’ Mission war das Hauptgeschäft von Boyko, genau die dezinformatsiya, auf die der Souverän zählte und auf die Boyko spezialisiert war.

Sammy nahm dem General den Mantel ab und begleitete ihn in sein Büro, wo ihn an seinem Schreibtisch eine Kanne Kaffee und eine eiskalte Flasche Wodka erwarteten. Sammy war natürlich nicht der richtige Name des Mannes, der eigentlich Semyon hieß. Alle Männer, die hier arbeiteten, hatten englische Namen bekommen, die ihren russischen Namen grob entsprachen. Aus Timur wurde Timmy, aus Oleg Ollie, aus Pyotr Peter und so weiter. Diese Amerikanisierung hatte Boyko sich überlegt, damit die Männer auf ihr Zielpublikum konzentriert blieben. Er ließ täglich einen Stapel amerikanischer Zeitungen einfliegen; zwar waren diese auch online zugänglich, doch er wollte, dass seine Leute ein Gefühl dafür bekamen, die Papierausgaben in den Händen zu halten, mit allem Drum und Dran, mit Werbung, dem Leitartikel und den Fotos, die teilweise sonderbar und schlüpfrig waren. Amerika, dachte Boyko verächtlich, stolz darauf, zum Niedergang des Landes beizutragen.

»Setz dich, Sammy«, sagte er zu seinem Adjutanten. »Ich habe ein Problem, das gelöst werden muss.«

In diesem Augenblick vibrierte sein persönliches Handy. Ein Blick darauf zeigte ihm, dass man ihm das Symbol einer Uhr ohne Zeiger geschickt hatte. Er entschuldigte sich und verließ das Gebäude. Drinnen war jeder Quadratzentimeter elektronisch überwacht und gesichert. Er wechselte zu einem Wegwerfhandy und drückte auf die einzige Nummer, die in der Kontaktliste gespeichert war. Er hörte das Wählgeräusch und dann einen hohlen Klang in der Verbindung, der anzeigte, dass sie vor jeder Art von äußerer Einmischung geschützt war. Er vernahm die Stimme, hörte zu, sagte: »Betrachten Sie es als erledigt«, und drückte auf Auflegen. Dann nahm er die SIM-Karte aus dem Gerät und zertrat sie mit dem Absatz auf einem Stein.

Nach drinnen zurückgekehrt, ging er zu seinem Schreibtisch, wo Sammy ihn so geduldig erwartete wie ein treuer Hund seinen Herrn. Sammy, ein Mittzwanziger mit sandfarbenem Haar und wenig bemerkenswerten Gesichtszügen, aber einem bemerkenswerten Verstand, hatte im GRU den Rang eines Hauptmanns inne, auch wenn im Inneren des Gebäudes niemand mit seinem Rang angesprochen wurde. Der hoch aufgeschossene und etwas schlaksige junge Mann ließ sich Boyko gegenüber auf einem Stuhl nieder. Anders als seinem Chef war ihm unangenehm bewusst, dass er in dem Raum saß, in dem die Juden ihre heiligen Schriftrollen aufbewahrt hatten; bei diesem Gedanken juckte ihm immer der Schädel. Er wünschte inständig, der General hätte einen anderen Ort als Stützpunkt gewählt. Andererseits liebte er das Untergeschoss, das entkernt und zu einem Restaurant im amerikanischen Stil umgebaut worden war, in dem tagsüber Hotdogs, Hamburger, Fritten und dergleichen serviert wurden und abends Ribeye- und Porterhousesteaks, Folienkartoffeln, Rahmspinat und Caesar-Salat. Daneben lag ein Kino, in dem an drei Abenden pro Woche die neuesten Hollywoodstreifen liefen. Erscheinen war Pflicht, und öffentlich beschwerte sich keiner, aber insgeheim empfand Sammy nur Verachtung dafür, wie Hollywood sich ganz offensichtlich an den chinesischen Markt heranschmiss.

»Das Problem?«, fragte Sammy.

»Ist gelöst«, antwortete Boyko, der sich setzte. »Heute ist mir eine neue Idee gekommen. Ich habe sie im Kopf gedreht und gewendet, und jetzt wirst du sie mit deinem Team umsetzen.« Er schenkte sich einen Kaffee ein, versetzte ihn mit Wodka und trank einen großen Schluck. »Ab heute werden APT 28 und Fancy Bear eingemottet.« Ihm kam gar nicht der Gedanke, dass die Idee von Gorgonov stammte; in seiner Vorstellung war sie allein ihm selbst entsprungen.

Sammy blinzelte. »Chef?«

Boyko strahlte. »Schau nicht so verstört, Sammy. Ich löse die Einheit nicht auf. Ganz im Gegenteil.« Er beugte sich vor, die Ellbogen auf die Schreibtischplatte gestützt. »Aber mir ist klar geworden, dass wir beide Accounts schon länger einsetzen, als gut ist.«

»Ich dachte, es wäre uns ganz recht, dass man im Westen von uns weiß. Ich dachte, das verliehe uns – wie soll ich es ausdrücken – etwas Arrogantes.«

»So war es auch. Bis heute.« Boyko leerte seinen Kaffee mit Schuss. »Ab heute beginnen wir eine neue Phase in unserem Cyberkrieg gegen die Vereinigten Staaten. Unsere Initiative war ursprünglich dazu gedacht, alle Wahrheiten zu zersetzen und einen verwirrenden Schwarm alternativer Wahrheiten zu erzeugen, die bei Randgruppen Anklang finden würden. Die Leute glauben das, was ihren Vorurteilen am meisten entspricht. Dieses Ziel haben wir erreicht. Aber das war nur Phase eins. Ich möchte, dass all das ausgelöscht wird, als hätte es nie existiert. Wie steht es mit der neusten Generation von Bots?«

Sammy tätigte einen internen Anruf, redete leise ins Handy und hörte dann zu. »Sie sind mit den Tests beinahe durch«, berichtete er.

Diese Bots waren mit KI ausgestattet. Sie konnten Spamfilter, Captchas, Anti-Malware-Programme und dergleichen umgehen. »Ausgezeichnet«, erwiderte Boyko. »Bis wann sind sie einsatzbereit?«

Erneut telefonierte Sammy mit dem IT-Team. »In fünf Stunden, höchstens sechs.«

»Sag ihnen, dass sie drei Stunden haben und keine Sekunde länger. Sonst wird ihre Einheit umgehend gesäubert.« Der General sah auf die Uhr, während Sammy seinen Befehl per Telefon weitergab. »Bis heute um vierzehn Uhr möchte ich die Bots installiert sehen – eine ganze Armee«, fuhr er fort. »Sie sollen darauf programmiert werden, mehrere Millionen neue IP-Adressen zu generieren, von denen aus wir unsere dezinformatsiya in Umlauf bringen werden.«

Sammy nickte. »Jawohl, Chef. Und dann?«

»Dann nutzen wir den neuen Netzbot – nennen wir ihn Soul Searcher –, um Benjamin Butler anzugreifen«, antwortete General Boyko. »Du hast noch nie von ihm gehört, stimmt’s? Das gilt auch für neunundneunzig Prozent des GRU und des FSB. Doch tatsächlich führt er die geheimsten Operationen für das amerikanische Verteidigungsministerium durch – sehr intelligent, sehr fähig. Als Jude ist er außerdem auch verwundbar. Wir halten uns an das Motto der Schafe, die unsere Zielgruppe sind: »Dummheit ist Macht«, und hängen Butler faschistische und sozialistische Parolen an. Den Unterschied begreift unsere Zielgruppe ohnehin nicht. Wir doxen ihn als unmoralischen Menschen, Sicherheitsrisiko und geheimen Homosexuellen und beschuldigen ihn all dessen, was wir sonst noch in unserem Arsenal böswilliger Absichten haben.« Doxing war ein Terminus aus dem Internetbereich, er stand für eine Methode, durch Social Engineering schädliche Informationen – aufgedeckte Geheimnisse, oft auch Unwahrheiten – über eine Person in Umlauf zu bringen.

»Und warum nehmen wir gerade diesen Benjamin Butler aufs Korn? Er ist ein Jude, aber ist er auch Zionist?«

»Meines Wissens nicht, aber vielleicht lassen wir ihn auch als einen von dieser Bande dastehen!«, erwiderte Boyko heiter. »Wir erschaffen ein falsches Narrativ und verdrehen es zu einer Verschwörungstheorie; nichts liebt unser Zielpublikum mehr als Verschwörungstheorien – daran heften die Leute sich fest wie Pilotfische an Haie.« Boyko lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurück. Er handelte diametral entgegengesetzt zu Gorgonovs Wünschen, und darum ging es ihm gerade. »Der eigentliche Grund, aus dem wir ihn aufs Korn nehmen, ist jedoch, dass er gut mit Evan Ryder befreundet ist.« Gorgonovs Plan war jämmerlich. Boyko wollte Evan Ryder tot sehen. Punkt. »Er ist der Köder, den wir benutzen werden, um Ryder zu fangen und zu töten.«

Erster Teil

DezemberZwei Raben

1

Evan Ryder hasste Washington. Wie Hollywood wurde es von Gier und Angst regiert. Der Gestank hektischer Selbsterhaltung war wie ein Smog, der sich niemals hob, nicht einmal an den schönsten Frühlingstagen, und der die Luft innerhalb des Beltway verdarb. Trotzdem war die Hauptstadt der Ort, den sie am ehesten eine Heimat genannt hätte. Für eine Frau, die ihr Zuhause und die Menschen, mit denen sie es geteilt hatte, nie wieder finden würde, war Washingtons hauchdünne Fassade der Achtbarkeit wohl ein Medikament, das sie von Zeit zu Zeit schlucken musste, um sich an die heuchlerische Natur des Menschengeschlechts zu erinnern und an all das Schlimme, das daraus erwuchs. Der Kampf gegen dieses Schlimme und diese Heuchelei verlieh ihrem Leben seinen Sinn. Auf dem Weg durch das morgendliche Gedränge der Angestellten, die zu ihren Arbeitsplätzen in den unterschiedlichen dünkelhaften Ministerien und Ämtern eilten, überlegte sie wie so oft, dass ganz Washington wie Narziss in einen Spiegel starrte und sein eigenes Bild bewunderte, statt sich um die schwierigen Regierungsgeschäfte zu kümmern.

Dennoch war sie jetzt hier im Stadtviertel Foggy Bottom und schwamm gegen eine Welle von ferngesteuerten Drohnen an – oder vielmehr gegen Anzugträger, die mit leerem Blick in ihre Handys sprachen. Sie glitt zwischen ihnen hindurch wie ein Hauch, wie ein Gespenst. Ihr dichtes, schwarzes Haar war zum Pferdeschwanz zurückgebunden, und sie trug eine schwarze Hose, einen Kaschmirpullover, der farblich zu ihren Augen passte – braun gefleckt wie die eines Grauwolfs –, eine taillenlange schwarze Lederjacke und Stiefeletten mit Stahlkappe, die sie in Portugal für sich hatte anfertigen lassen. Sie hatte einen breiten Mund und eine sportliche Figur, kräftig in den Schultern und schmal in den Hüften. In Restaurants wurde sie manchmal, wenn die Gäste betrunken waren, mit Emily Blunt verwechselt oder, wenn sie noch betrunkener waren, mit Katy Perry. Aber nur manchmal. Normalerweise schenkte ihr keiner die geringste Aufmerksamkeit.

Sie war hier, weil Benjamin Butler sie darum gebeten hatte. Butler war vielleicht der einzige Mensch in Washington, der auf Anhieb ihre Aufmerksamkeit wecken konnte; seine Informationen und Aufträge sorgten dafür, dass sie im Dienst aktiv blieb und tat, was sie tun wollte und tun musste. Evan und Butler hatten vor einigen Jahren als Agenten zusammengearbeitet, und seit diesen Tagen hatten sie eine komplexe Geschichte und waren sich sehr vertraut. Inzwischen war Butler der Leiter eines Geheimdiensts und Evans Chef. Als eingefleischte Agentin hatte sie damit keine Probleme. Butler war einer der einzigen beiden lebenden Menschen, denen Evan vertraute; die Handvoll anderer war inzwischen tot.

Butler und Evan arbeiteten für das Verteidigungsministerium – in einer Abteilung für schwarze Operationen, deren Budget aus einer von mehreren geheimen Kassen des Pentagons stammte, die der Kontrolle des Kongresses entzogen waren. Wer Butlers Chef war, konnte Evan nicht sagen; sie wusste nur, dass dieser Jemand in der Hackordnung des Verteidigungsministeriums sehr hoch oben angesiedelt war. Allein schon aus diesem Grund hätte man Butler in der Gemeinschaft der Geheimdienstleute fürchten müssen. In Verbindung mit seiner starken Persönlichkeit, seinem unbezähmbaren Geist und seiner unheimlichen Fähigkeit, die schwarzen Schafe zu erschnüffeln, wie tief sie sich auch in der Herde verkrochen haben mochten, hätte eigentlich jeder in der Welt der Spionageabwehr in Angst und Schrecken vor ihm leben sollen. Dass dem nicht so war, hatte einen einfachen Grund: Im Gegensatz zu seinen anderen Kollegen bildete Butler eine beträchtliche Anzahl Agentinnen aus und setzte sie ein; andere Geheimdienste verwendeten dagegen überhaupt keine Frauen für aktive Einsätze. Genau wie seine russischen Kollegen verstand er, und er allein, dass Frauen an mehr und an bessere Informationen herankamen als männliche Agenten. Agentinnen galten als umsichtig und konnten die Sehnsucht der Männer nach Sex, Liebe und Zuneigung ausnutzen, die kaum je von ihren Frauen bekamen – falls sie überhaupt Frauen oder Ex-Frauen hatten.

Butler, der von seinen früheren, nicht mehr angemessenen Räumlichkeiten in der Nähe der NSA umgezogen war, hatte sich jetzt im achten Geschoss eines großen Mietshauses aus weißem Backstein niedergelassen, dessen Fassade leicht geschwungen war, um einer halbkreisförmigen, überdachten Zufahrt Raum zu bieten, die es den Mietern gestattete, sich einzubilden, sie lebten in einem Herrenhaus der Südstaaten.

Getreu dem Namen des Stadtviertels – Foggy Bottom, feuchte Senke – begleiteten dünne Nebelschwaden Evan in die von Lüstern erhellte Lobby. An den Wänden standen dicke Ledersessel und kleine Sofas unter gemalten Szenen einer traditionellen Fuchsjagd. Evan hätte das Ambiente komisch gefunden, hätte nicht jeder, der sich in der Lobby aufhielt, ein so finsteres Gesicht gemacht wie ein mittelalterlicher Wasserspeier.

Sie trat zum erhöht sitzenden Concierge und zeigte Papiere, die sie als »Louise Steadman, Beraterin« auswiesen. Das Fachgebiet ihrer Beraterdienste stand dort nicht und wurde auch nicht erfragt. Sie erbat Zugang zu Paul Roswell, und nach einer kurzen Nachfrage über das Haustelefon erhielt sie eine Magnetkarte und wurde zu einer Liftreihe auf der anderen Seite der Marmorlobby geschickt. Als sie ihre Karte vor das Lesegerät hielt, leuchteten die Schalter im Erdgeschoss auf. Sie drückte auf acht und wurde lautlos nach oben gefahren.

»Paul Roswell« hatte das komplette achte Geschoss zu einem einzigen großen Komplex von Räumen umbauen lassen. Die Arbeiten lagen erst so kurz zurück, dass Evan die Farbe und letzte verbliebene Sägemehlreste in den Ecken roch. Das leise statische Rauschen elektronischer Geräte erfüllte die Luft.

Abgesehen von Brenda Myers, deren honigblondes Haar kürzer und weniger lockig war als bei ihrer letzten Begegnung, waren sehr wenige Leute zu sehen. Brenda reichte Evan kurz die Hand. Sie war kühl, trocken und fest.

»Du siehst gut aus, Evan«, sagte Brenda, während sie von Raum zu Raum gingen – Türen gab es nicht, soweit Evan sehen konnte.

»Danke. Du auch. Für Ben zu arbeiten, hält einen in Form, nicht wahr?«

Sie mochte Brenda und bedauerte es, dass sie noch nie Gelegenheit gehabt hatten, zusammen essen zu gehen und einen draufzumachen. Doch andererseits war es in der Schattenwelt, die sie beide bewohnten, nie eine gute Idee, jemandem Vertrauen zu schenken. Brenda trug wie immer einen Hosenanzug, der genauso schick wie praktisch war. Es war, als nutzte sie ihr Stilgefühl als Gegengift für ihren langweiligen, altmodischen Namen. Dieser innere Widerspruch weckte Evans Interesse und vermittelte ihr das unbestimmte Gefühl, dass an Brenda viel mehr war, als sie an der Oberfläche zeigte. Es gab zahlreiche Gründe, aus denen Menschen das Leben als Geheimdienstagenten suchten – etwa, weil sie Sonderlinge waren oder zutiefst unglückliche Soziopathen –, doch der häufigste Grund war der, dass sie vor etwas davonliefen, möglicherweise vor sich selbst. Letzteres, so spürte Evan, mochte auf Brenda zutreffen.

»Wirst du nicht langsam verrückt?«, fragte Evan.

»Ha! Noch nicht. Nicht wirklich.«

»Aber lange wird es bestimmt nicht mehr dauern«, erwiderte Evan. »Es sei denn, er schickt dich wieder in einen Einsatz.«

»Es kann jeden Tag so weit sein.«

Brenda ließ sie ohne ein weiteres Wort an der Schwelle zu Butlers Büro stehen. Evan trat in einen großen Raum, der früher vielleicht einmal das Hauptschlafzimmer der Wohnung im achten Stock gewesen war. Er war in helles Licht getaucht, das allerdings einen eigenartigen, blau-grünlichen Stich hatte, als schwämmen Butler und sie in einem Aquarium. Sie warf einen Blick auf das Fensterglas: kugelsicher und zum Abhörschutz von spinnwebartigen Netzen durchzogen. Obgleich der Stützpunkt gut verborgen war, ging Butler kein Risiko ein. Evan fand das gut; allerdings fand sie ohnehin so ziemlich alles gut, was Butler machte.

Er stand auf, als sie eintrat, und kam ihr um seinen Schreibtisch herum entgegen. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein cremefarbenes Hemd und eine klassische gestreifte Krawatte. Er war groß und stattlich. Die anderthalb Jahre, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren, schienen nicht die geringsten Spuren an ihm hinterlassen zu haben. Er hatte noch immer die glatte, blasse Haut und die kaffeebraunen Augen seiner jüdischen Mutter, die zu ihrer Zeit eine hinreißende Schönheit gewesen war. Abgesehen von dem gewellten Haar und dem ausgeprägt spitzen Haaransatz hatte er von seinem blütenweißen Vater, einem Anwalt, kaum etwas geerbt.

Wenn Butler lächelte, ging die Sonne auf. »Wie war dein Flug, Evan?«

»Ich lebe noch, wie du siehst.«

Butler lachte leise. Sie schüttelten sich die Hände.

»Und wie geht es Zoe?«, fragte sie.

»Eine Siebenjährige, die wie dreizehn tut.«

Sie nickte. »Dann ist ja alles in Ordnung.«

Butler lachte erneut und bedeutete ihr, sich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch zu setzen. Er ließ sich ihr gegenüber nieder und schlug die Beine übereinander.

Evan blickte sich erneut um. »Die neue Bude gefällt mir. Haben wir schon einen richtigen Namen?«

»Nur die alphanumerische Kennung. M171 473-HG«, sagte er.

»Dann sind wir also immer noch der MI7.« Das war gewissermaßen ein Scherz. Ein Wortspiel zum britischen MI6.

»Stimmt, aber im Moment kommt es mir nicht so witzig vor.«

Evan schwieg kurz.

»Danke für deine Bereitschaft, nach Washington zurückzukommen«, sagte er.

»Du weißt, dass mein derzeitiger Auftrag an einem entscheidenden Punkt angelangt ist.«

»Das hier hat Vorrang«, erklärte Butler energisch.

»Fünf Monate habe ich dafür gearbeitet.«

Butler winkte ab. »Ich weiß. Die Türkei ist kompliziert, und du hast Enormes geleistet. Ich bin dir dankbar, wie immer. Und ich weiß, dass es hier viele schlimme Erinnerungen für dich gibt. Aber glaub mir, Evan, es war notwendig, dass ich dich zurückhole.«

Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu stemmen. All die mühsame Vorarbeit für die Katz. Na ja, es ist nicht das erste Mal, dachte sie. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein. So war das Spiel eben. »Die Ausweispapiere, die du mir geschickt hast, haben es mir leicht gemacht«, mit diesen Worten gab sie nach, aber nur ein wenig.

Er legte den Kopf schief, und sein dichtes, schwarzes Haar glänzte im Licht. »Du weißt, was ich meine.«

Ja, das wusste sie. »Du hast von einer dringenden Angelegenheit gesprochen«, begann sie. »Was ist los?«

Butler nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und hielt es ihr hin.

Evan rührte sich nicht und beäugte das Papier, als wäre es eine angriffslustige Kobra.

Butler hielt das Blatt mit der Schrift nach oben. »Siehst du? Keine offiziellen Stempel. Keine Unterschriften auf einer Umlaufliste. Das hier besitzen nur wir. Hundertprozentig.« Mit dem Zeigefinger fuhr er die Liste entlang. »Sechs Namen, vier Agenten, die in den letzten zehn Monaten verschwunden sind, einer, der in sehr schlechter Verfassung zurückgekehrt ist, und der sechste ist uns vollständig unbekannt.«

»Wo hast du die Namen her?«

»Der zurückgekehrte Agent trug die ursprüngliche Liste bei sich. Sie wurde forensisch genau untersucht. Man hat nichts gefunden, nicht einmal einen teilweise erhaltenen Fingerabdruck.«

»Nicht einmal die unseres Agenten?«

»Genau.«

»Dann hat er die Liste nicht zusammengestellt. Er hat sie nicht einmal gesehen.«

Butler nickte. »Die Liste ist eine Botschaft, eine höhnische Herausforderung. Genau wie die Rückkehr des Agenten. Jedenfalls glaube ich das.« Er zeigte Fotos – unscharfe Porträts, anscheinend von Überwachungsoperationen –, die er den Namen zuordnete. »Drei der sechs gehörten zu uns, zwei weitere zum MI6.«

»Was verbindet sie?«

Butler seufzte. »Wie du gewiss weißt, wurde die besondere Beziehung, die wir mit unseren britischen Vettern haben, in jüngster Zeit schmerzhaft auf die Probe gestellt. Die bittere Wahrheit lautet, dass sie uns nicht länger vertrauen; ihnen irgendetwas zu entlocken ist also wie Zähneziehen. Doch soweit ich das erkennen kann, haben die MI6-Agenten dasselbe gesucht wie die unseren – eine Person oder Organisation, die nur unter dem Namen Nemesis bekannt ist.«

»Womit hat Nemesis sich eine so genaue Beobachtung verdient?«

»Es kontrolliert ein riesiges Netzwerk von Twitter-Bots, die ungeheuerliche rassistische und sexistische Beschimpfungen über Demokraten, Frauen, Latinos, Immigranten, Muslime und Juden auskippen.«

»Du hast doch sicher IT-Experten, die …«

»Das Nemesis-Netzwerk ist wie die Hydra. Schneidet man das eine Cluster von Servern ab, wachsen an seiner Stelle sieben andere nach. Ich meine, wir wissen nicht einmal, ob Nemesis eine einzelne Person ist, ein Kader oder eine weltweite Verschwörung. Doch aufgrund unserer jüngsten Fehlschläge bin ich zu dem Schluss gelangt, dass wir Nemesis aus der falschen Richtung angegangen sind. Daher werden jetzt Agenten eingesetzt.«

Evan stand kopfschüttelnd und stirnrunzelnd auf. »Okay, aber du hast massenhaft andere Agenten und Agentinnen, die diese Art von Routine erledigen können …«

»Nemesis ist alles andere als Routine. Evan, falls du dir Sorgen machst, ich könnte dich bitten, in Washington zu bleiben und Arbeiten zu erledigen, die andere genauso gut machen könnten – na ja, glaub mir, so ist es nicht.« Er holte tief Luft, als müsste er sich auf seine nächsten Worte vorbereiten. »Jules und Albert?«

»Zwei von unseren besten.«

»Das waren sie. Ihre Kehlen war aufgerissen, als wäre ein wilder Hund oder ein Wolf oder ein kannibalischer Verrückter über sie hergefallen.«

»Woher weißt du das?«

»Zahnspuren an den zerfetzten Rändern der Wunden. Genaueres können wir nicht sagen. Gerichtsmedizinische Befunde sind in diesem Bereich bekanntlich sehr ungenau.«

Er reichte ihr einen Stapel Fotos, die die Gerichtsmediziner geschossen hatten. Evan ging sie sorgfältig durch, und die senkrechte Falte zwischen ihren Augen vertiefte sich zusehends.

»Spuren von Abschnürungen an Handgelenken und Fußknöcheln.«

»Ja«, bestätigte Butler. »Sie waren gefesselt.«

Evan blickte zu ihm auf. »Ich sehe keinerlei Spuren von Blut. Gar keine.«

»Der Gerichtsmediziner, den wir hingeschickt haben, sagte mir, die Verstümmelungen seien an einem anderen Ort als dem Fundort vorgenommen worden. Anschließend floss alles Blut aus den Körpern.«

Evan starrte ihn an. »Nachdem ihnen die Wunden zugefügt worden waren.«

»Ja.«

»Dann ist es also möglich, dass ihnen die Kehle zerbissen wurde, während sie noch lebten.«

»So lautet die vorsichtige Vermutung des Gerichtsmediziners. Und jetzt kommt es noch schlimmer. Der Gerichtsmediziner hat Blut in ihren Füßen gefunden, in den Mündern und in Jules’ Fall auch im Haar.«

»Was heißt, dass sie an den Knöcheln aufgehängt wurden wie Schweine.« Evan betrachtete die Fotos erneut. »Also eine Art Ritual.«

»Ja, ein Ritual ist mein Hauptverdacht.«

Evan schüttelte den Kopf. Nun war sie ganz bei der Sache. »Wo?«, fragte sie. »Wo sind sie gefunden worden?«

»Das wird dir gefallen. Deshalb habe ich gerade dich kommen lassen.« Er nahm die Fotos zurück. »Im Kaukasus, dem Gebirge, das seit alters her Europa von Asien trennt. In Georgien. Genauer gesagt, in einem Naturschutzgebiet mit dem längsten Namen der Welt: Geplantes Naturschutzgebiet Racha-Lechkhumi und Kvemo Svaneti.« Er sah Evan nachdrücklich an. »Die Russische Föderation ist ja quasi dein Hinterhof.«

Er schob die Fotos durcheinander. »Das ist schlimm, Evan. Schlimmer geht es nicht. Das waren perfekt ausgebildete Agenten, nicht eine Handvoll Freunde, die sich zum Picknick im Park verabredet hatten. Racha, die Region, in der ihre Leichen gefunden wurden, wird dein Ausgangspunkt sein.«

»Hast du sie gemeinsam losgeschickt?«

»Jeweils mit einem Monat Abstand.«

»Aber die Leichen wurden am selben Ort abgelegt.«

»Das stimmt«, antwortete Butler.

»Und der dritte von uns, der Mann, der zurückkam? Patrick Wilson – die Kröte, wie wir ihn immer genannt haben.«

Butler verzog das Gesicht. »Ein bedauerlicher Spitzname, aus heutiger Sicht. Abgesehen davon, dass er abgenommen hatte und dehydriert und sonnenverbrannt war, ist er unbeschädigt zurückgekehrt … körperlich. Zumindest äußerlich.«

»Wie kam es dazu?«

»Unbekannt. Er weigert sich, zu einem Psychologen oder PTBS-Spezialisten zu gehen, aber etwas stimmt mit ihm nicht, ganz und gar nicht. Vielleicht kannst du … Du solltest ihn aufsuchen, bevor du dich auf den Weg nach Georgien machst. Er kennt dich. Ich glaube, das würde sich als aufschlussreich erweisen.«

»Und?« Sie stand auf und näherte sich dem Ausgang des Raums. »Bei dir gibt es doch immer ein ›und‹.«

Die Andeutung eines Lächelns umspielte Butlers Lippen. »Nimm Brenda mit.«

»Du weißt, dass ich allein besser arbeite.«

»Du und Brenda, ihr habt eine Geschichte und versteht euch blendend. Ich schicke in dieser Sache nicht noch einmal einen einzelnen Agenten los.«

Butler erhob sich nun ebenfalls und trat zu ihr, noch immer das Blatt Papier in der Hand. »Die beiden Namen, die unter unseren Leuten stehen, sind die MI6-Agenten.«

Evan senkte den Blick und schaute auf die Liste. »Sind sie gefunden worden?«

»Bisher nicht. Kein Wort von ihnen. Nichts.«

»Und der sechste Name?« Sie sah an dem Papier vorbei in Butlers Gesicht. »Charles Isaacs?«

»Wie schon gesagt, es gibt keine Informationen über ihn. Überhaupt keine. Er ist ein unbeschriebenes Blatt.« Sein Blick wurde suchend. »Charles Isaacs ist eine Fiktion. Eine künstlich fabrizierte Identität. Es muss so sein. Er ist ein absolutes Rätsel.« Er legte die Liste aus der Hand. »Eines konnte ich mit absoluter Gewissheit feststellen, nämlich dass er keiner der Unseren ist. Und ich habe auch bei unseren Vettern auf der anderen Seite des großen Teichs nachgefragt. Wie schon gesagt, derzeit stehen wir nicht auf gutem Fuß miteinander, aber ich habe ein paar persönliche Freunde beim MI6, und wir vertrauen einander immer noch. Zu ihren Leuten gehört er ebenfalls nicht. Und natürlich interessieren sie sich brennend dafür, was ihren beiden vermissten Agenten zugestoßen ist.«

»Isaacs gehört einem Geheimdienst an, hinter dem Nemesis her ist«, sagte Evan. »Das könnte bedeuten, dass er unser Verbündeter ist.«

»Möglich, aber er könnte ebenso gut zu den Russen, zur Interpol oder zu jeder anderen Behörde gehören.« Butler sah immer beunruhigter aus. »Bisher kennen wir Nemesis’ Ziel nicht, daher müssen wir äußerst wachsam sein.«

»Du schickst uns auf eine Erkundungsmission?«

»Das hier ist eine von Nemesis erstellte Todesliste, Evan, und sie hat das Leben dreier unserer Agenten zerstört und vielleicht auch das zweier vom MI6.« Er wedelte mit dem Blatt. »Es geht hier nicht einfach nur um einen weiteren Netzbot. Und auch nicht einfach nur um eine weitere Terrororganisation. Nemesis hat es auf westliche Geheimdienstagenten abgesehen. Meine Intuition sagt mir, dass du die Richtige für diesen Auftrag bist. Die Einzige, die infrage kommt.«

Aus dem Augenwinkel sah Evan Brenda in der Türöffnung stehen, stumm wie ein Schatten. Wie viel hatte sie gehört? Wie viel wusste sie?

»Besuche Patrick Wilson, Evan.« Butler trat näher und griff kurz nach ihrem Arm. »Schau, ob du herausfinden kannst, was zum Teufel ihm zugestoßen ist.« Er nickte in Brendas Richtung. »Sie ist bereit, Evan. Bist du es auch?«

2

Beim Blick aus dem Seitenfenster des schwarzen, gepanzerten Chevrolet Tahoe dachte Evan an ihre Vergangenheit mit Butler zurück, an ihre gemeinsamen Einsätze und an die eine, einzige Gelegenheit, bei der sie den Gefühlen von Schmerz und Verlust nachgegeben hatten, mit denen die Arbeit sie manchmal bombardierte, und sich in einem anonymen Hotelzimmer in Berlin eine ganze Nacht lang schwitzend und verzweifelt mit Sex getröstet hatten. Was Männer anbelangte, hatte Evan unglaublich schlechte Entscheidungen getroffen. Aber kein Mann war schlimmer gewesen als Josh, dem sie bereitwillig ihr Herz in die Hände gelegt hatte, nur damit er es zerdrückte. »Ich dachte, unsere Liebe wäre für immer«, hatte sie dumm und naiv gesagt. Und darauf die Antwort erhalten: »Das ,Für-immer‹ ist austauschbar.« Er war ein bedeutender Anwalt. »Ich lebe im Moment, und jeder nachfolgende Moment ist anders.« Es war definitiv ihre schlimmste, grausamste Trennung gewesen, und sie hätte sich so etwas niemals vorstellen können. Noch heute, vier Jahre später, gab die Sache ihr das Gefühl, sie hätte einen Schuss mitten ins Herz erhalten.

»Wie schlecht geht es der Kröte?« Mit dieser Frage versuchte sie, sich ins Hier und Jetzt zurückzubringen. Ich lebe im Moment, und jeder Moment ist anders.

»Das wirst du selbst entscheiden müssen«, sagte Brenda, während sie sich geschickt durch den Verkehrsfluss schlängelte. »Und übrigens, danke für diesen Vertrauensbeweis.«

Evan überging den leichten Seitenhieb. »Aber du hast ihn gesehen – Wilson?«

»Danach hatte ich zwei Nächte hintereinander Albträume.«

Evan warf ihr einen Blick zu. »So schlimm war es?«

Brenda erschauerte. Evan hatte Brenda im heißesten Kampfgetümmel erlebt und wusste, wie furchtlos sie war. Daher fragte sie sich, was sie im Krankenhauszimmer der Kröte erwarten mochte. Dann wandte sie sich wieder dem Seitenfenster zu, den Kopf voller Gedanken an Butler. Ihre gemeinsame Vergangenheit war der Grund, weshalb sie bereit gewesen war, mit an Bord zu kommen, als er seine eigene Geheimdienstabteilung erhielt. Er verstand sie. Verstand ihr Bedürfnis, der Hauptstadt fernzubleiben und ohne dauerhaftes Zuhause dort zu leben, wo ihre Aufträge sie hinführten. Es war unerlässlich für sie, dass sie arbeitete und beschäftigt war, wobei sie das alles mit Sicherheit nicht wegen des Gehalts machte. Schon vor langer Zeit hatte sie Geld – und andere praktische Dinge – auf einem Konto auf den Kaimaninseln zurückgelegt. Mehr als sie jemals würde ausgeben können. Aber sie war auch kein Mensch, der viel Geld brauchte, materielle Dinge bedeuteten ihr wenig. Und auch sonst, überlegte sie, hatte kaum etwas Bedeutung für sie. Sie war wie ein Geist, eine wandelnde, redende, leere Hülle, die hin und wieder aktiv wurde und sich hinterher wieder unberührt und unberührbar in ihre eigene Unterwelt zurückzog. So brauchte sie es nun einmal oder wünschte es sich zumindest. Sie hatte immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Vertrautheit mit anderen nur Elend, Verrat und Tod brachte.

In dieser zerstörten emotionalen Landschaft gab es Butler, immer Butler, der genau wie sie im Halbschatten lebte. Und doch schaffte er es trotz allem, seine Tochter zu lieben und ein guter Vater zu sein. Ein vollständiger Mensch. Sie beneidete ihn darum, aber sie verstand es nicht.

Sie überquerten den Potomac und gelangten nach Virginia. In den nächsten zwanzig Minuten fuhr Brenda in südlicher bis südwestlicher Richtung über einen Highway und bog dann auf eine Landstraße ein. Sie kamen vorbei an schicken Enklaven großer Häuser, die bewacht dalagen, ein nur zu häufiges Anzeichen von Furcht und Paranoia. Nicht lange nachdem sie ein großes Einkaufszentrum hinter sich gelassen hatten, verwandelte sich die Straße von einem vierspurigen Asphaltband zu einer zweispurigen Landstraße. In diesem Teil der Hügellandschaft Virginias gab es weder Hinweisschilder noch andere Markierungen, doch Brenda kannte sich offensichtlich aus, denn sie bremste und bog nach links auf eine Schotterstraße ein, die man leicht hätte verpassen können.

»Wir sind da«, sagte sie, nachdem sie mehrere Minuten über die Piste gerumpelt waren, und hielt vor der Einfahrt zu einem bewachten Gelände, zu dem ein Parkplatz vor dem Hauptgebäude und eine gepflegte Gartenanlage gehörten.

Brenda ließ das Seitenfenster herunter und übergab dem Wächter zwei Zugangsausweise. Er überprüfte die Papiere, spähte in den Wagen, um sie und Evan in Augenschein zu nehmen, nickte dann und reichte die Ausweise zurück.

»Parkplatz elf«, sagte er und gab Brenda einen Parkschein. »Legen Sie das vor dem Aussteigen aufs Armaturenbrett.« Das Tor schwang auf, und Brenda lenkte den Wagen über eine breite, gepflasterte Zufahrt, die von winterlich kahlen Kirschbäumen gesäumt war. Vor ihnen lag ein großes, unauffälliges Gebäude, das anderen Krankenhäusern ähnelte, die Evan gesehen hatte.

Brenda parkte auf Platz Nummer elf zwischen einem grünen Jaguar und einem weißen Nissan Altima. Als sie ausstiegen, schlug die frostige Luft Evan ins Gesicht. Sie folgte Brenda die goldgeäderten Granitstufen hinauf zu einer automatischen Glasschiebetür. Nirgends war ein Schild oder irgendein Hinweis zu sehen, der verraten hätte, was sich in dem Gebäude befand.

»Butler sagte, es hätte früher St. Agnes Charity Hospital geheißen«, berichtete Brenda über die Schulter hinweg. »Aber dann ist es verfallen, und die Bundesbehörde hat es für wenig Geld gekauft.«

Sie passierten die automatische Schiebetür. Als sie am Empfang ihre Zugangsausweise zeigten, teilte man ihnen eine Pflegerin zu, die eilig kam und raschen Schrittes mit ihnen durch einen mit Teppichboden ausgelegten Korridor ging. An den holzgetäfelten Wänden hingen zwischen verschlossenen Türen abstrakte Gemälde, die so nichtssagend waren, dass sie die Ausschussware eines Rorschachtests hätten sein können. Das Licht war kühl und indirekt. Im Gegensatz zu dem krankenhausmäßigen Äußeren fühlte man sich in dem umfunktionierten Inneren wie in einem Fünfsternehotel.

Die Kröte erwartete sie in der Bibliothek, und von Anfang an wirkte alles verkehrt. Sein Haar war gewaschen und mit Pomade an den Kopf gelegt, die Wangen so sauber rasiert, dass sie im Lampenlicht schimmerten. Er trug eine cognacbraune Cordhose, ein sauberes, weißes Hemd mit gestärktem Kragen und eine gestreifte Krawatte mit tadellos gebundenem Knoten. Ein schwarzer Wollblazer hing über der einen Armlehne des Sessels, in dem er ruhte, die Beine überkreuzt. In der linken Hand hielt er ein geschliffenes Kristallglas mit drei Fingern breit Whiskey. Neben seinem linken Ellbogen stand ein kleines, ovales Tischchen, darauf eine geschliffene Glaskaraffe mit mehr Whiskey. Er lächelte, als sie hereingeführt wurden. Die Pflegerin brachte sie nicht bis zu ihm, sondern verschwand im selben Moment, in dem sie den Raum betraten.

Und was für ein Raum das war. Er hatte einen achteckigen Grundriss und eine hohe Decke mit bodentiefen Fenstern auf drei Seiten, die auf einen Park hinausgingen, der abgesehen von einigen Eiben nur winterliche Baumskelette beherbergte. Schwere Samtvorhänge rahmten die Fenster ein. Drei weitere Wände wurden von Mahagoniregalen eingenommen, die mit allen möglichen Büchern gefüllt waren. Die siebte Wand bot einem riesigen offenen Kamin Raum, wie man ihn sonst in Jagdhäusern tief im Wald fand. Das Einzige, was fehlte, war ein Hirsch- oder Elchhaupt, das darüber prangte. Stattdessen gab es noch eine gemauerte Wand, an der ein Gemälde religiöser Natur hing. Es zeigte möglicherweise die heilige Agnes, doch es war nur schwer zu erkennen, ob die mit einer Kapuze verhüllte Gestalt, die entweder flehend oder warnend eine Hand ausstreckte, eine Frau oder einen Mann darstellte.

Patrick Wilson verfolgte mit funkelnden Augen, wie sie näher kamen. Erst als Evan und ihre Begleiterin bei ihm angekommen waren, zerbrach die Illusion der Normalität. Wilsons Augen, die einmal denselben warmen Farbton wie seine Hose gehabt hatten, waren nun beinahe farblos. Sie spiegelten das Licht, was sie unergründlich wirken ließ. Und dann war da sein Gesicht, das so blass und blutleer wie Mondlicht war und fast genauso durchscheinend wirkte.

Zwei Stühle waren ihm gegenüber aufgestellt worden. Ohne sie mit einer Geste zum Sitzen aufzufordern, sagte Wilson: »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, Evan, warst du viel jünger.«

»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« In Anbetracht der Wirkung, die er auf Brenda gehabt hatte, war Evan entschlossen, dieses Gespräch so direkt und geschäftsmäßig wie nur möglich zu führen.

»Ah ja, es steht mir wieder vor Augen. Vergib mir, ich fühle mich dieser Tage ein wenig matt.« Die Kröte roch stark nach einem billigen Gesichtswasser, dem es aber nicht gelang, seine Alkoholfahne und seinen Körpergeruch zu überdecken. »Und du sahst viel kaputter aus.«

Er hatte noch kein Wort zu Brenda gesagt und sie nicht angeschaut, als wäre sie gar nicht im Raum.

»Wilson«, sagte Evan und setzte sich. »Wir sind hier, um herauszufinden, was dir zugestoßen ist und wo du warst, als es geschehen ist.«

Etwas wie ein Schatten verdüsterte kurz die Augen der Kröte.

»Wilson, hm?« Die farblosen Augen nahmen einen schlauen Ausdruck an. »Warum nennst du mich nicht Kröte? Das tun doch alle.«

»Ich ziehe deinen richtigen Namen vor«, erwiderte Evan.

Bei diesen Worten wurde Krötes Verhalten freundlicher, und er entblößte die Zähne zu so etwas wie einem Lächeln. Das war ein Fehler; sie sahen aus wie kleine, verbrannte Bröckchen Toastbrot. Sie erinnerten Evan an Fotos von Gefangenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Dachau entlassen worden waren.

»Namen. Was sind die eigentlich? Sie maskieren nur das, was darunter liegt. Das im Inneren verwesende Selbst.«

Wilson nahm einen großen Schluck Whiskey und bewegte ihn im Mund herum, bevor er ihn geräuschvoll herunterschluckte. »Früher mochte ich dieses Zeug nicht besonders«, sagte er, als spräche er zu niemandem Bestimmten. »Aber jetzt, wo ich zurück bin, habe ich eine Vorliebe dafür entwickelt, die völlig neu ist.«

»Und woher, Wilson? Woher bist du zurückgekommen?«

Wilson zuckte. »Oh, von vielen Orten, Evan. Von vielen, vielen Orten.«

»Fangen wir mit dem letzten Ort an. Wo warst du, als du versehrt wurdest?«

Wilson stieß ein krächzendes Lachen aus, wie anderen ein Rülpser entfährt. Wieder schien sich etwas unmittelbar hinter seinen Augen zu verdüstern. »Versehrt, so heißt das? Oh ja, ich bin beschädigt, das stimmt. Aber nicht auf eine Weise, die diese Quacksalber und Psychoklempner erklären könnten. Ich bin ihnen ein Rätsel, Evan. Das sollte dir vertraut sein. Du bist ebenfalls ein Rätsel für jeden, mit dem du Kontakt hast. Keiner kommt dahinter, wie du tickst.«

»Beantworte einfach meine Fragen, Wilson.«

Die Kröte kippte einen weiteren Schluck Whiskey hinunter. Inzwischen war das Glas beinahe leer. Er griff nach der Karaffe. Evan legte eine Hand darauf, um ihn am Nachschenken zu hindern, doch er schlug sie weg. »Hier ist mein Revier«, sagte Wilson in einem stahlharten Tonfall. »Hier gelten meine Regeln.« Seine Stimme war spitz, und erneut entblößte er die braunen Zähne. Sie sahen wackelig aus, als wäre er fünfundneunzig und sie würden ihm bald ausfallen.

Die Kröte schenkte sich Whiskey nach. »Aber ich sollte nicht überrascht sein.« Mit einem Seitenblick auf Evan stellte er die Karaffe auf das Tischchen zurück. »Du hattest immer schon Angst vor der Vergangenheit, oder?«

Evan wollte ihm gerade sagen, wie sehr er sich irrte, da stieg das Bild eines monströsen Palasts aus rotem Backstein vor ihrem inneren Auge auf, so klar und deutlich, als wäre sie erst gestern da gewesen. Beinahe meinte sie, die Raben schreien zu hören. Dann verschwand das innere Bild, und sie sah, dass Wilson sie mit einem neugierigen und nahezu begierigen Gesichtsausdruck betrachtete.

Ohne zu wissen, warum, spürte Evan, wie sie sich innerlich zurückzog und weit weg sein wollte, als ertrüge sie die Gegenwart dieses Menschen nicht einen Moment länger. Sie musste sich zusammenreißen und sich in Erinnerung rufen, dass sie nicht zum Spaß hier war. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie vor etwas davongelaufen; sie würde jetzt nicht damit anfangen, welche eigenartige Wirkung die Kröte auch immer auf sie ausüben mochte.

»Der letzte Ort, an dem du warst – der letzte Ort, an den du dich erinnerst –, war der auf dem Land, in einer Stadt, wo war er?«

»Und Raben«, sagte die Kröte. »Vergiss die verdammten Raben nicht.« In seiner Wange zuckte ein Muskel. »Wo ist dieser Ort, Evan? Ich erinnere mich nicht.«

3

Um diese Tageszeit war die Kirche nahezu leer. Die Morgenmesse war vorbei, und die Chorprobe würde erst um fünfzehn Uhr losgehen. In den Kirchenbänken saßen ein oder zwei Büßer, die die Köpfe über die gefalteten Hände gesenkt hatten. Hinten standen ein paar Touristen. Und ein Wachmann.

»Ah, Herr Minister, ich hatte gehofft, dass ich Sie hier antreffen würde«, sagte Riley Rivers.

»Sie kriegen einen Riesenärger, wenn Sie mir so auflauern«, erklärte Brady Thompson und winkte einen der Leibwächter fort. »Machen Sie, dass Sie von hier verschwinden.«

Thompson war der Verteidigungsminister. Im Gegensatz zu früheren amerikanischen Präsidenten ließ der derzeitige Amtsinhaber sich in Geheimdienstangelegenheiten eher von Thompson als von den Geheimdienstchefs beraten. Thompson allein hatte einen direkten Draht zum Präsidenten. Der Präsident hörte auch auf andere Behördenleiter und überflog ihre täglichen Berichte, doch er handelte nur, wenn Thompson ihm dazu riet.

»Ich bin das neueste Mitglied unseres netten kleinen Kaders hier in Amerika. Ich habe einen Führungsoffizier in Moskau, genau wie Sie.«

Thompson schaute nach links auf ein riesiges Bild von Mariä Himmelfahrt. Zu seiner Rechten stand eine Holzkanzel, die so altmodisch war, als stammte sie direkt aus Moby Dick. Er spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief; er fühlte sich in Kirchen nie wohl. Er war zeit seines Lebens Politiker gewesen; seine Religion war die Politik.

»Ein direktes Gespräch mit mir übersteigt Ihre Hierarchieebene bei Weitem.« Seine Lippen bewegten sich kaum, und er hatte Rivers noch keines Blickes gewürdigt, seit der sich neben ihn gesetzt hatte. »Gehen Sie«, sagte er. »Sofort.«

Rivers wollte schon aufstehen, änderte seine Meinung aber und ließ sich wieder mit dem Hintern auf die Kirchenbank sinken. »Die Sache ist die – der Grund, aus dem ich Sie gesucht habe, Herr Minister –, ich habe eine Idee, die Ihnen vermutlich sehr gefallen wird.«

Thompson seufzte. Dieser junge Mann war wie eine Stechmücke, die man nicht loswurde. Ich kann ihm den Gefallen ja tun, dachte er. »Was denn für eine?«

»Die OKA«, sagte Rivers mit einem durchtriebenen Lächeln.

Eine ältere Frau stand auf und taperte durch den Mittelgang. Thompson wartete ab, bis die Kirchentür sich hinter ihr geschlossen hatte, bevor er in einem härteren Tonfall als beabsichtigt fragte: »Was zum Teufel ist die OKA?«

»Die Offizielle Kommunikationsabteilung.«

Thompson legte den Kopf schief. »So etwas gibt es nicht.«

»Derzeit noch nicht«, antwortete Rivers. »Aber bald schon könnte es anders aussehen.«

»Nun gut«, sagte Thompson langsam. »Was also ist die OKA, und was könnte sie für mich bedeuten?«

Rivers skizzierte es ihm in groben Zügen. »Ich brauche fünfzig Millionen«, schloss er. »Für den Anfang.«

Thompson hätte beinahe laut gelacht. »Sie sind verrückt.«

»Hören Sie mich einfach zu Ende an«, sagte Rivers.

Und das tat Thompson.