Das neue Leben - Anna Galkina - E-Book

Das neue Leben E-Book

Anna Galkina

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Beschreibung

Unter dem sinkenden Stern der Sowjetunion träumte Nastja von Modern Talking und dem fernen Westen, als Nastjas Mutter Anfang der Neunzigerjahre beschließt, das verarmte Städtchen nahe Moskau zu verlassen. In Riga soll ein neues Leben beginnen. Nur sind russische Zuwanderer in der frisch unabhängig erklärten lettischen Republik ungern gesehene Gäste. Immigration ist kein Spaziergang, hatte man die Familie vorgerwarnt. Zum Glück erinnert sich Nastjas resolute Mutter an ein Detail im alten sowjetischen Ausweis der weiblichen Familienmitglieder: Volkszugehörigkeit, Jüdin. Als "jüdische Kontingentflüchtlinge" kann Das neue Leben in Deutschland beginnen! Welch turbulente Komplikationen, bürokratische Hürden, tragische Zwischenfälle und skurrile Alltagssituationen sich bei der Ankunft in Deutschland ergeben, davon erzählt Anna Galkina in "Das neue Leben".

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Unter dem sinkenden Stern der Sowjetunion träumt Nastja von Modern Talking und dem fernen Westen, als Nastjas Mutter Anfang der Neunzigerjahre beschließt, das verarmte Städtchen nahe Moskau zu verlassen. In Riga soll ein neues Leben beginnen. Nur sind russische Zuwanderer in der frisch unabhängig erklärten lettischen Republik ungern gesehene Gäste.

Immigration ist kein Spaziergang, hatte man die Familie vorgewarnt. Zum Glück erinnert sich Nastjas resolute Mutter an ein Detail im alten sowjetischen Ausweis der weiblichen Familienmitglieder: Volkszugehörigkeit, Jüdin. Als »jüdische Kontingentflüchtlinge« kann das neue Leben in Deutschland beginnen!

Welch turbulente Komplikationen, bürokratische Hürden, tragische Zwischenfälle und skurrile Alltagssituationen sich bei der Ankunft in Deutschland ergeben, davon erzählt Anna Galkina in »Das neue Leben«.

»Anna Galkina hat ein Auge für Details, die mehr als Worte sagen und die man so schnell nicht wieder vergisst.«

(WDR 5 1 LIVE)

»Ich mag die Sprache, die Poesie, den Humor, die Radikalität von Anna Galkina. Ein ganzes Universum entsteht beim Lesen, ein Universum, das einen immer wieder erschaudern lässt und im nächsten Moment zärtliche Gefühle weckt.«

(Christian Schwochow)

INHALT

Wir fahren weg

Das Flüchtlingslager

Neues Leben, neue Freunde

Der unerwartete Gast

Die nächste Etappe

Die Notwohnung

Das Leben geht doch weiter

Unsere Nachbarn

Der Küchentrakt

Grischa zeigt sein wahres Gesicht

Großmutters Geburtstag

Der Hausmeister, das Rathaus und der Hausrat

Privatunterricht

Die Reise in die Hansestadt

Mir wird alles zu viel

Geteiltes Leid

Der beste Freund

Die großstädtische Kulturszene

Der ausländische Junge

Die Hand aus der Vergangenheit

Alexander und seine Mutter

Der Vater von Alexander

Der Schlüssel zum Glück

Das Vorstellungsgespräch

Die Praktikantin

Der Brief an eine Freundin

Der Brief aus Lettland

Karneval

The carnival is over

Das grüne Zimmer

Der zweite Brief aus Lettland

Alleine im Notheim

Wie man richtig nach einer neuen Wohnung sucht

Das neue Heim

Wie sich die Wohnsituation auf den Charakter auswirken kann

Ich ziehe um

Die Weiterbildung

Das Abendgymnasium

Der Sekretärinnenkurs

Tamara Gerassimownas Busenfreundin ist eine Sexbombe

Der Club der Kultursenioren

Das Netzabenteuer

Willkommen im Club

Geld bekommt hier niemand geschenkt

Die verlorene Facette

Die Wohlfühloase

Udo

Ein alter Freund ist besser als zwei neue

Das beste Mittel gegen Hämorrhoiden

Roberts Welt

Echte Männer jammern nicht

Max entscheidet sich

Der mütterliche Fluch

Das Leben ist kein Ponyhof

Der Glaube kann Berge versetzen

Der Namenstag

Für Mitja, Milena, Mia und Maris

WIR FAHREN WEG

Der Motor springt an. Wir fahren los. Den großen Reisebus teilen wir uns mit zwei weiteren Familien. Der Bus ist mit Koffern, Kisten und Taschen bepackt. Unsere Wohnung in Riga ist verkauft, von diesem Geld haben wir die Reise bezahlt. Vom übrigen Geld mussten wir vor der Abreise noch wochenlang leben. Viel war es nicht. Die Wohnungen in Lettland sind gerade günstig. Spottbillig sogar. Jetzt sitzen wir im Bus – zwischen den Welten. Die altbekannte lassen wir zurück, die andere – fremde – liegt vor uns.

Robert, mein Stiefvater, hat es sich auf der hinteren Sitzbank gemütlich gemacht. Er verlässt sein Land wider Willen. Bloß, weil er seine Frau nicht verlieren will. Schwierig muss es gewesen sein, sich zwischen der Ehefrau und der Heimat zu entscheiden. Und während die liebgewonnenen Landschaften am Busfenster vorbeiziehen und seine Heimat in immer weitere Ferne rückt, sorgt der Stiefvater dafür, dass seine seelische Verwirrung nicht auffällt: Er hat reichlich Medizin mitgenommen. Seine Reisetasche beherbergt unzählige Flaschen lettisches Bier. Ein paar Wodkaflaschen sind auch dabei.

In den letzten Jahren haben nur Stiefvater und ich Geld verdient. Stiefvater reparierte alte Fernseher, ich gab Nachhilfeunterricht. Meine Mutter war arbeitslos, die Großmutter zu alt. Wir hatten kaum etwas zu essen … Nein, nicht dass es in Riga nichts zu kaufen gab. Die Läden waren schließlich nicht leer, und auf den zahlreichen Märkten wurde eine Fülle von erstklassigen Lebensmitteln angeboten. Dafür fehlte uns nur eine Kleinigkeit: das Geld. Und wenn mich eine meiner Schülerinnen mal wieder für eine Einzelstunde bezahlte, ging meine Mutter auf den Markt, kaufte dort einen Hühnerschenkel und kochte daraus Hühnersuppe für alle. Dem Stiefvater war die Suppe mit dem einsamen Schenkel zu dünn, und so besorgte er sich stattdessen Rinderknochen, von denen vorher das Fleisch abgeschabt wurde. Daraus kochte sich der Stiefvater eine Brühe, die er zu Suppe oder Getreidebrei weiterverarbeitete.

Doch die Geldprobleme waren nicht das Einzige: Seit Lettland Anfang der neunziger Jahre seine Unabhängigkeit zurückerlangt hatte, wollte der Staat mit den »Okkupanten« abrechnen. Deswegen wurden einfachheitshalber alle russischsprachigen Bürger zum Feindbild erklärt, selbst jene, die in Lettland das Licht der Welt erblickt hatten. Obwohl sie in Lettland geboren und aufgewachsen waren, erinnerten sie die Restbevölkerung an die fünfzig Jahre währende Unterdrückung. Endlich konnte sich die lettische Regierung im Namen des wahren lettischen Volkes an den Okkupanten rächen. Zum Beispiel dafür, dass die russischen Kommunisten ihnen, den Letten, die Häuser weggenommen hatten. Dafür, dass ihre Wohnungen in Wohngemeinschaften umfunktioniert worden waren und sie plötzlich Seite an Seite mit wildfremden Menschen leben mussten. Dafür, dass ihre Hauptstadt heutzutage zu fünfzig Prozent aus feindseligen Russen und Russischsprachigen besteht. Dafür, dass ihre eigene Sprache von der neuen Amtssprache verdrängt worden war. Und dafür, dass man die ethnischen Letten massenweise nach Sibirien ins Exil geschickt hatte.

So kam es dazu, dass die lettische Regierung im Oktober 1991 eine Resolution »zur Wiederherstellung der staatsbürgerlichen Rechte lettischer Bürger und die Grundprinzipien der Naturalisierung« erließ. Die Staatsbürgerschaft wurde durch diese Resolution nur den Bürgern der Republik Lettland nach dem Stand von Juni 1940, also vor der Besatzung durch die Sowjetunion, und deren Nachkommen zuerkannt. Mehr als siebenhunderttausend Einwohnern Lettlands, umgerechnet siebenundzwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung, wurde die Staatsbürgerschaft vorenthalten. Nur die waschechten Letten bekamen die roten Pässe mit edler goldener Aufschrift auf dem Einband, die Okkupanten hatten kein Recht auf Erlangen der Staatsbürgerschaft und mussten mit den blauen Ausweisen für Nichtbürger mit der Aufschrift ALIEN’S PASSPORT vorliebnehmen.

Aufbauend war das nicht, deswegen wandten sich einige diskriminierte »Aliens« an die russische Botschaft und beantragten die russische Staatsbürgerschaft. Nicht dass sie tatsächlich vorhatten, in ihre historische Heimat zurückzukehren. Nur ihre Würde wollten sie wiederherstellen. Ich dagegen betrachtete mich seit jeher als Weltbürgerin und blieb lieber staatenlos. In meinem Pass gibt es sogar einen Stempel, der meine Staatenlosigkeit ausweist. Darauf bin ich stolz. Keine Konfession, keine Staatsbürgerschaft, kein Haus, kein Geld, keine Heimat.

Aber eines Tages kam Maria Iwanowna zu Besuch. Maria Iwanowna, eine ältere Dame mit groben Gesichtszügen und einem liebenswürdigen Lächeln, groß und kräftig, ist eine literarische Entdeckung meiner Mutter. Als ihr Maria Iwanownas ergreifende Kriegsmemoiren in die Hände gerieten, rief Mutter begeistert einen guten Bekannten an, der eine Literaturzeitschrift verlegt, und in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift wurden die Memoiren veröffentlicht. Daraufhin meldete sich ein reicher Geschäftsmann zu Wort. Er wollte die Buchausgabe als Mäzen finanzieren. Mit Nächstenliebe hatte das Angebot allerdings wenig zu tun. Geschäftsmänner haben ihre eigenen Beweggründe. Wenn man beispielsweise jemanden erschossen hat, kann man sich bei demjenigen nicht mehr entschuldigen. Auch für einen solchen Fall haben Geschäftsleute ihre eigenen Sitten. Zeitgemäß war damals ein Besuch in der Kirche. Nur was tun, wenn man doch ungläubig ist? Dann bleibt nur eins – eine fette Spende.

Was der eigentliche Anlass für seine Großzügigkeit war, verriet jener Geschäftsmann nicht, aber es ging flott. Bald hielt Maria Iwanowna ihr erstes Buch in den Händen. Und nicht nur das: Sie wurde zur Heldin der Lokalzeitungen. Es folgten Buchpräsentationen, Lesungen, Radio- und Fernsehauftritte. Für Maria Iwanowna fing ein völlig neues Leben an. Dafür war sie meiner Mutter sehr dankbar.

Als Maria Iwanowna eines Tages mal wieder an unserem Wohnzimmertisch saß und an ihrem Tee nippte, fragte sie meine Mutter: »Warum immigrieren Sie nicht nach Deutschland?«

»Wie sollen wir denn nach Deutschland ziehen? Wir haben doch keine Verwandten dort«, antwortete Mutter.

»Ach, das ist doch gar nicht nötig!«, sagte Maria Iwanowna, von der Unwissenheit meiner Mutter regelrecht verwundert.

»Allein die jüdische Abstammung reicht. Ihr braucht bloß einen Ausreiseantrag bei der deutschen Botschaft zu stellen.«

Die jüdische Abstammung war in unsere Pässe eingetragen worden. Da stand es schwarz auf weiß: Volkszugehörigkeit: JÜDIN. So war das in der multinationalen Sowjetunion üblich.

Also nahm Deutschland offensichtlich jüdische Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion auf. Damit, so erfuhren wir von Maria Iwanowna, wollte die Regierung das Unrecht wiedergutmachen, dass sich die DDR unter dem SED-Regime den Juden gegenüber jeglicher Verantwortung entzogen und die Zahlungen an Israel abgelehnt hatte. Somit durften jetzt die Juden aus der Sowjetunion im Rahmen der »Politik der Wiedergutmachung« nach Deutschland einreisen. Als eine Art Entschädigung für den Holocaust.

Wir füllten die Formulare aus, wir machten Kopien von Ausweisen und Geburtsurkunden, und eines Tages stand ich in der Schlange vor der Deutschen Botschaft. Es dauerte nur elf Monate, bis die Antwort kam, dass wir nach Deutschland kommen dürften. Man hatte uns einem Bundesland namens Nordrhein-Westfalen zugeteilt.

In unserem Bekanntenkreis gibt es jedoch keine Immigranten. Deswegen ist unser Wissensstand hinsichtlich Formalitäten vor Ort gleich null. Ich will Psychologie studieren und habe vor, mich so schnell wie möglich an einer deutschen Uni einzuschreiben. Aber wie es in Deutschland um die Anerkennung von Schulabschlüssen und Diplomen bestellt ist, davon haben wir keine Ahnung. Nun sitzen wir im Bus nach Deutschland, ohne die geringste Vorstellung, was uns dort genau erwartet. Nur dass wir in einem Ort namens Unna-Massen aussteigen werden, wissen wir. Da soll das Flüchtlingslager sein. Wir haben nur das Wichtigste mitgenommen: unsere Bibliothek. Doch auch so haben wir mehr Gepäck als alle Mitreisenden zusammen.

Es wird langsam dunkel. Der Bus fährt weiter, und mit jedem Kilometer kommen wir dem Unbekannten ein Stück näher. Ich sitze vorne neben dem Fahrer. Aus den Kopfhörern meines Walkmans dröhnt Heavy Metal. Das Seitenfenster ist offen. Der Gegenwind sorgt für Abkühlung und bläst die Aufregung weg. Irgendwann werde ich sogar müde. Ich merke nicht, wie ich einschlafe.

Ich träume von einem Erdbeben. Oder schüttelt mich da jemand? Das grelle Scheinwerferlicht fällt mir ins Gesicht.

»Grenzkontrolle!«, brüllt eine Männerstimme.

Ich reiße die Augen auf. Neben mir steht der zweite Fahrer.

»Alle bitte die Reisedokumente bereithalten.«

Meine Mutter versucht, Robert aufzuwecken, der auf der hinteren Sitzbank schnarcht. Aber offenbar hat sie damit keinen Erfolg. Sie schüttelt kräftiger und kräftiger, sie kneift, sie schreit ihn an. Es hilft nichts. Stiefvater liegt da wie ein Kartoffelsack, und meine Mutter sieht aus, als stünde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Doch Robert merkt nichts davon. Er schnarcht noch lauter. Neben ihm steht die inzwischen leere Reisetasche. Ich beuge mich über ihn. Er stinkt nach Alkohol, Schweiß und Käsefüßen. Ich halte mich an der Metallstange fest. Mit der linken Hand halte ich mir die Nase zu. Ich sage: »Aufwachen!«

Stiefvater rührt sich nicht, aber so schnell gebe ich nicht auf.

»Hast du mich verstanden?«

Keine Reaktion. Dafür hört der Stiefvater auf zu schnarchen. Die Zollbeamten kontrollieren schon den Kofferraum. Meine Mutter hält voller Verzweiflung die Hände vors Gesicht.

»Willst du eine Flasche Bier?«, sage ich möglichst laut. Da macht Robert plötzlich die Augen auf.

»BIER?«, brüllt er heiser.

»Wenn du Bier willst, musst du wach bleiben und still sitzen, bis die Zollbeamten weg sind!«

Mühsam richtet sich Stiefvater auf. Die Haare stehen von seinem Kopf ab wie nasse Hühnerfedern. Er trägt ein abgetragenes T-Shirt. Seine alte braune Hose ist zerknittert und erinnert an einen schmutzigen Lappen. Er verströmt eine unerträgliche Schnapsfahne. Meine Mutter drückt ihm seinen Reisepass in die Hand. Die Zollbeamten steigen in den Bus. Langsam bewegen sie sich in unsere Richtung.

»Jawohl!«, schreit Stiefvater auf Deutsch und streckt die Hand mit dem Reisepass nach vorne aus. Doch wir sind erst an der polnischen Grenze angelangt. Als endlich die deutschen Zollbeamten hereinkommen, schläft der Stiefvater tief und fest. Sie wecken ihn nicht auf.

DAS FLÜCHTLINGSLAGER

Sonntag, kurz vor sechs Uhr morgens, kommen wir an. Vier Stunden früher als geplant. Das Gelände des Lagers wirkt einladend. Große Rasenflächen überall, viel Grün und mittendrin ein älterer Mann, der durch das schlafende Lager umherspaziert und nach den neuen Flüchtlingen Ausschau hält. Offensichtlich verträgt sein hohes Alter nicht allzu viel Schlaf und zwingt ihn dazu, mit den Lerchen aufzustehen.

»David Moissejewitsch Liebermann«, stellt er sich vor, »Dolmetscher.«

Es klingt so, als wäre er von der Verwaltung des Flüchtlingslagers beauftragt, die Neuankömmlinge willkommen zu heißen. David ist ein stattlicher Mann um die siebzig. Sein rundes Gesicht ist stark gebräunt. Wie sich später herausstellt, ist die heiße Sonne Usbekistans daran schuld. Davids Glatze wird von den Resten der grauen Haare umrahmt. Er hat volle Lippen und dunkle Augen. Wenn er lächelt, kneift er seine Augen leicht zusammen. Sein Blick ist warm. Sein Lächeln ist gutmütig.

Meine Mutter nutzt die Gunst der Stunde und zeigt David irgendwelche Papiere, die für die Lagerverwaltung bestimmt sind.

»Ich begleite Sie dorthin«, sagt David. »Die Verwaltung hat heute zu, also gehen wir zum Hausmeister.«

Ein Hausmeister! Sollte das eine Art Flaschengeist mit Werkzeugkiste sein, der jederzeit alles reparieren kann? Ich warte draußen, zusammen mit der Großmutter und unseren Koffern.

Irgendwann kommen sie raus: David, Mutter, Stiefvater und der besagte Hausmeister, der mich freundlich grüßt. Er ist ein kleiner Mann. Seine Vorderzähne glänzen in kostbarem Gold. Offensichtlich kommt er auch aus Russland.

»Lippestraße 22«, sagt der Hausmeister und nimmt mir einen der schweren Koffer ab. Los geht’s zu unserer neuen Bleibe.

Ein riesiger Kinderspielplatz, Tennisplätze, eine große Wiese, zweistöckige Häuser aus roten Backsteinen – das ist die Lippestraße. Blumenbeete vor dem Hauseingang. Alles wirkt eher wie eine Kuranstalt als ein Flüchtlingslager. Unsere Wohnung, so verstehe ich, ist in der zweiten Etage.

»Nein, in der ersten!«, korrigiert mich der Hausmeister.

In Deutschland nennt man unsere zweite Etage also erste Etage!

In unserem Häuschen befinden sich vier Wohnungen und eine große Gemeinschaftsküche. Strenggenommen ist es keine Wohnung, was wir da haben, sondern ein Vierbettzimmer, das von der Größe her wie ein Zweibettzimmer aussieht. Praktisch, solche Stockbetten.

»Wie in einem Zugabteil«, sagt Großmutter.

»Wie im Knast!«, sagt Stiefvater.

Neben den Betten gibt es dort ein Waschbecken, einen Schrank, einen Tisch und vier Stühle. Sogleich wird die Schlafordnung festgelegt: Mutter und Großmutter quartieren sich unten ein, Stiefvater und ich klettern nach oben.

Wir stellen unsere Koffer ab, waschen uns schnell den Staub der langen Busreise aus den Gesichtern und gehen dann auf Erkundungstour. In der großen Küche stehen vier Herde – alle elektrisch. Da wird es wohl lange dauern, bis die Frühstückseier fertig sind. Zu Hause hatten wir einen Gasherd. Die lahmen Elektroherde hier sind anscheinend eine notwendige Sicherheitsmaßnahme. Dafür haben wir einen elektrischen Wasserkocher! Bald schaut der Hausmeister noch mal vorbei. Er hat uns Bettwäsche, Geschirr und Besteck mitgebracht. Pfannen und Töpfe gibt es im Küchenschrank.

Am frühen Abend klopft es an die Tür. Es ist David Liebermann, der uns zu einer Führung durch das Flüchtlingslager einlädt. Auf dem Weg demonstriert David seine Intelligenz und Belesenheit, was seine Wirkung nicht verfehlt: Meine Mutter ist mit Bewunderung und Respekt erfüllt. Allerdings nicht lange. Schnell stellt sich heraus, dass Davids Repertoire nicht allzu groß ist. Er wiederholt sich, spult das Programm immer wieder ab. Und als er zum fünften Mal dasselbe, zuerst noch geschickt eingeflochtene Zitat verwendet, ist es mit der mütterlichen Entzückung endgültig vorbei.

Bei näherer Betrachtung sehen die Rasenflächen ziemlich ausgetreten aus. Ein gutes Zeichen. Offenbar fühlen sich hier die Leute aus der ehemaligen UdSSR wie zu Hause – und benehmen sich entsprechend. Von drei Seiten grenzt das Lager an Maisfelder. Auf dem einen gibt es eine umzäunte Schafweide. Man erzählt, dass sich drei junge Männer aus Asien eines Tages ein Schaf schnappten und ihre Beute ins Feld schleppten, um das Tier dort gleich zu verspeisen. Aber ehe sie Grillfeuer machen konnten, tauchte schon ein Polizeiauto auf. Die Schafliebhaber wurden festgenommen und ihre Familien ohne weiteres zurück in die Heimat geschickt.

Hier und da stehen Telefonzellen. Die meisten sind frei, nur an einer von ihnen stehen Leute Schlange.

»Ist es das einzige Telefon, von dem aus man ins Ausland telefonieren kann?«

»Nein«, lacht David Liebermann. »Das ist die einzige Telefonzelle, von der aus man kostenlos ins Ausland telefonieren kann!«

Ein paar Tüftler aus der Ukraine hatten einen simplen Trick herausgefunden und ihn großzügig mit weiteren Bewohnern geteilt. Verständlich, dass jeder Eingeweihte den Genuss des kostenlosen Telefonierens zur Gänze auskosten möchte. Darum müssen die anderen so lange geduldig vor der gelben Zelle ausharren.

Sogar zwei Supermärkte und ein paar Klamottenläden befinden sich auf dem Lagerterritorium. Da die Konkurrenz fehlt, sind die Lebensmittelpreise mindestens so hoch wie in Lettland. Darüber hinaus gibt es ein Arbeitsamt und eine Sozialbehörde. Die Verkäuferinnen und Mitarbeiter der Ämter sind unglaublich nett und zuvorkommend. Wenn ich versuche, mit ihnen Deutsch zu sprechen, blühen sie regelrecht auf. Hinter dem Lagerterritorium stehen Privathäuser, so hübsch und gepflegt, dass man jedes einzelne fotografieren möchte.

Die Bewohner des Flüchtlingslagers treiben gerne Sport, spielen Karten, laufen Rollschuh. Abends fahren die bereits in der großen Nachbarstadt angesiedelten jungen Männer aus der ehemaligen UdSSR mit ihren Autos durch den Lagerpark und schnüffeln herum, in der Hoffnung auf schnellen Sex.

NEUES LEBEN, NEUE FREUNDE

Am nächsten Morgen gehen wir zur Meldestelle. Und wieder eine Schlange! Da fühlt man sich sofort wie zu Hause. Allerdings geht es hier relativ schnell, denn schon nach weniger als einer Stunde sind wir an der Reihe. Doch das ist erst der Anfang. Wir bekommen einen Wegweiser durch das Lager und das Spinnennetz der Behörden samt einer langen To-do-Liste. Die gilt es abzuarbeiten. So schnell, wie es geht. Mutter, Stiefvater und ich müssen uns beim Arbeitsamt arbeitssuchend melden, Großmutter bei der Sozialbehörde. Das nehmen wir uns als Erstes vor.

Ich schaue mich um. Hinter uns steht ein imposanter Mann. Schlank ist er und nicht besonders groß. Dafür hat er einen hippen Jeansanzug an. Mitten im graumelierten Kurzhaarschnitt hängt ein kleiner Zopf. Dazu kommen ein Vollbart und ein silberner Ohrring. Meiner Mutter ist unser Nachbar auch nicht entgangen. Und das ist so offensichtlich, dass Robert zunehmend grimmiger wird. Das scheint meine Mutter wiederum nicht zu bemerken. Sie plaudert ausgelassen mit dem Bärtigen. Schlangestehen verbindet. Auch in Deutschland!

Abends soll das angefangene Gespräch in unserem Zimmer fortgeführt werden. Der neue Bekannte kommt mit einer Flasche Wein. Dann klopft es erneut an die Tür: Es ist David Liebermann, der sich selbst eingeladen hat. Stiefvater wittert einen kleinen Skandal. Er kichert und reibt sich erwartungsvoll die Hände.

Unser neuer Bekannter heißt Grischa. Er ist Anfang fünfzig und kommt aus St. Petersburg. Dort ist Antisemitismus seit Urzeiten besonders stark ausgeprägt. Grischa ist Kinderarzt und alleinstehend. Ziemlich belesen, zumindest auf den ersten Blick, glänzt er mit seinen Kenntnissen der Weltgeschichte, Medizin und Religion. Das führt dazu, dass sich Mutter spontan in Grischa verliebt. Sie entliebt sich jedoch ebenso schnell, nachdem sie von seinem bisher unerfüllten Kinderwunsch erfährt. Da ist der Stiefvater schadenfroh.

Allerdings ist Grischa nicht das einzige Hassobjekt, denn auch für David Liebermann hat Stiefvater gemischte Gefühle. Ja, ein ganzes Gefühlsspektrum! Von heller Begeisterung bis hin zu unbändigem Hass. Zwei Schreckgespenster gibt es in Roberts Leben: den KGB und die Islamisten. Und David, ein jüdischer Flüchtling aus Usbekistan – da liegt für Stiefvater der Verdacht nahe, es mit einem heimlichen Mitglied einer Terrororganisation zu tun zu haben. Immer wieder erfindet Robert neue Spitznamen für sein Opfer. Anfangs nennt er ihn noch David Moische, dann Moschee-David. Bei näherer Betrachtung erinnert David den Stiefvater nämlich optisch an einen Mullah und schließlich, als überraschend herauskommt, dass der Beschimpfte gar keiner offiziellen Konfession angehört, nennt Stiefvater David einen beschissenen Kosmopoliten.

Über seine politischen Ansichten spricht David lediglich im Kreis meiner Familie. Während unserer Spaziergänge in aller Öffentlichkeit fällt die Wahl gewöhnlich auf andere Themen. Die alten Liebschaften und die früheren Seitensprünge seiner Frau lassen David keine Ruhe. Wenn wir Hand in Hand durch den Park des Flüchtlingslagers flanieren, wird überall gekichert. Immerhin bin ich das einzige Mädchen, das David aus- und unterhält. Daran ist meine gute Erziehung schuld. Aus Dankbarkeit widmet mir David gleich drei Oden. Die erste ist nicht schlecht, die zweite geht so. Die dritte enthält deutliche Hinweise auf Altersschwachsinn.

Jedes Mal, wenn David uns besucht, wird er frecher. Die Dauer seines Verbleibs nimmt zu und damit auch die Häufigkeit der Umarmungen und Küsse. Seine große Tasche aus LKW-Plane verweilt den ganzen Tag in unserem Zimmer. David bringt mir Schokoriegel und Äpfel. Dafür frühstückt er, isst zu Mittag und zu Abend bei uns. Das ärgert den Stiefvater sehr. Da bleibt ja kein Freiraum mehr für Intimitäten! Es reicht doch schon, dass die Großmutter ihm ständig auf die Pelle rückt. Und als der David-Terror selbst nach einer Woche nicht aufhört, ist der Stiefvater stinksauer. Deswegen verbreitet er im Flüchtlingslager gerne Schreckensgeschichten wie diese: »Liebe Leute! Stellt euch das nur vor: Ich komme heute nach Hause, und was sehe ich da? Auf dem Bett meiner Ehefrau liegt der nackte David Liebermann!«

Lange wird es aber nicht mehr dauern, denn bald fährt David weg. Er hat sich eine schicke Stadt nahe Düsseldorf ausgesucht und pflegt nicht ohne Stolz zu sagen:

»Neuss ist eine echte europäische Stadt! Durch die Straßen gehen Neger und Türken und …«

Grischa hingegen ändert seine Pläne und damit auch die Stadt, in die er nach dem Aufenthalt im Flüchtlingslager ziehen wird. Er tauscht sie gegen das unbekannte Städtchen N., das meine Mutter kurzerhand, und wie gewohnt spontan, auf der Landkarte als den Mittelpunkt zwischen zwei großen Städten identifiziert und deswegen für die beste Wahl hält. Irgendein Sachkundiger erzählt sogar, dass die beiden Großstädte eine Straßenbahnlinie verbindet, die wiederum über das Städtchen N. verläuft. Eigentlich wollten wir in eine dieser Großstädte ziehen, nur sind sie gerade überfüllt und nehmen bis auf weiteres keine Flüchtlinge mehr auf.

Eines Tages komme ich nach einem Spaziergang erst spät in das Lager zurück. In unserem Zimmer hat sich die ganze Clique am Tisch versammelt. Da sind meine Mutter, Stiefvater, Grischa und David. Sie beugen sich über den Tisch und diskutieren dabei heftig. Auf dem Tisch liegt eine Deutschlandkarte. Grischa und David Liebermann schauen sich gegenseitig mit blankem Hass an. Ich ahne, warum: Grischa verkündete neulich dem ganzen Flüchtlingslager, dass wir verlobt seien und bald heiraten würden. Da hat der intelligente Grischa einen meiner harmlosen Witze gründlich falsch verstanden und aus einem mir unbekannten Grund für bare Münze gehalten. David Liebermann dagegen durchschaut es direkt. Deswegen bringt ihn die Nachricht nicht davon ab, mir weiterhin den Hof zu machen.

Im Lager erzähle ich gern herum, was unser Hausmeister über das Städtchen N. gesagt hat. Mit großer Begeisterung hat er es als einen beinahe paradiesischen Ort beschrieben: mit Bergen, Wald und Fluss. Ein anderes nicht weniger wichtiges Argument: In einer Kleinstadt kann man angeblich viel leichter eine Wohnung finden. Dank dieser gezielten Propaganda will uns bald noch eine Familie nach N. folgen, bestehend aus Mutter, Vater, Sohn und Großmutter. Der Sohn ist siebzehn und hat in Russland gerade sein Abitur gemacht. Die Großmutter ist pensioniert, die Mutter und der Vater sind Ärzte. Die beiden sind Anfang vierzig und haben hinsichtlich ihrer beruflichen Laufbahn noch viel vor. Klein sind die beiden, schlank, gutaussehend und flink.

Grischa hat sie mir vor kurzem während eines Spaziergangs durch das Lagerterritorium vorgestellt. Notgedrungen. Eigentlich wollte Grischa mir nur das Häuschen zeigen, in dem er wohnt. Aber vor dem Hauseingang hat sich zufällig die ganze Nachbarsfamilie versammelt. Wahrscheinlich wollten sie so sicherstellen, dass auch der Sohn mal an die frische Luft kommt und seine Zeit nicht ausschließlich hinter Büchern in der staubigen Wohnung verbringt. Und da saßen sie nun auf der Bank vor dem Hauseingang: Max, ein schmaler Junge mit Lockenschopf, der sich über ein dickes Wahrig-Wörterbuch beugte und gleichzeitig irgendetwas in seinem Schreibblock notierte, der Vater, der sichtlich stolz auf seinen Schnauzer war und darum permanent an ihm drehte, die Großmutter, die mich skeptisch musterte, und die Mutter von Max, deren blaue Augen intensiv leuchteten. Und als Max hochschaute und mich ansah, fiel mir sofort auch seine Augenfarbe auf. Stachelbeergrün! Grischa witterte Unheil. Er schaute zuerst in meine Richtung, dann zu Max. Grischas Gesicht ist wie ein offenes Buch. Die Gedanken stehen ihm förmlich auf der Stirn geschrieben. Und so konnte man ganz deutlich sehen, dass er es schon bereute, mich und Max miteinander bekannt gemacht zu haben. Aber die Zeit kann man nicht zurückdrehen, und Grischas Zug fuhr gerade mit Lichtgeschwindigkeit ab. Max und ich blieben auf dem Gleis zurück, Grischa war so gut wie vergessen.

Dabei fügten sich die Dinge doch so gut für Grischa! David würde das Lager bald verlassen, und so könnte man meinen, dass nun er endlich an der Reihe wäre, mich exklusiv zu unterhalten. Tagsüber würden wir Tischtennis spielen und bei Dunkelheit auf der Hüpfburg herumspringen. Nun war der Traum aus. Grischa knirschte mit den Zähnen, aber es half nichts.

Max ist ein Wunderkind und Computerfreak. Er spielt Gitarre, hört die Beatles und Progressive Rock. Bevor wir uns trafen, verbrachte er den größten Teil seiner Zeit in Gesellschaft von dicken Nachschlagewerken. So eifrig lernt er die deutsche Sprache. Er möchte Wissenschaftler werden, und je eher man die Sprache beherrscht, desto schneller kommt man ans Ziel. Jetzt lenke ich Max gerne davon ab.

Max ist scharfzüngig. Seine Ironie kennt keine Nächstenliebe und von zahnlosen Witzen hält er nichts. Diese Einstellung hat er genauso wie den Musikgeschmack von seinem Vater geerbt. Wenn die Familie für sich alleine ist, tritt der Vater als Alleinunterhalter auf. Aktuell sind seine Sketche dem Leben im Flüchtlingslager gewidmet. Allzu gern parodiert er manche ausgefallene Bewohner. Solche wie Grischa, David, meinen Stiefvater oder die zahlreichen Typen aus der tiefen Provinz, die selbst im Flüchtlingslager täglich saufen. Seitdem Max und ich uns kennengelernt haben, verbringen wir die meiste Zeit zusammen.

DER UNERWARTETE GAST

Wie es oft der Fall ist, greift plötzlich das Schicksal ein, und die Idylle ist abrupt zu Ende. Unerwartet schnell bekommt Grischa irgendwelche Papiere, aus denen hervorgeht, dass er am darauffolgenden Tag nach N. verlegt wird. Dies verstößt gegen die gängigen Regeln, nach denen die Benachrichtigung mindestens drei Tage vor dem Umzug ausgehändigt werden soll. Am nächsten Tag geht Grischa zur Verwaltung und beschwert sich. So gewinnt er zumindest einen Tag. Wir vereinbaren, dass er uns nach der Ankunft in N. anruft. Max und ich warten eine geschlagene halbe Stunde lang in der Telefonzelle. Vergebens. Enttäuscht erfinden wir allerhand Schimpfnamen für »Onkel Grischa«. Doch später wird klar, dass die Uhr von Max falsch geht.

Am nächsten Abend, als ich nach einem Spaziergang nach Hause komme, begrüßt mich Mutter mit einem seltsamen Lächeln.

»Hast du Grischa schon gesehen?«, fragt sie ohne jegliche Erklärung.