Das Opernhaus: Rot das Feuer - Anne Stern - E-Book

Das Opernhaus: Rot das Feuer E-Book

Anne Stern

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der zweite Teil des groß angelegten Dresden-Epos von Bestsellerautorin Anne Stern.  Dresden 1849: Elise lebt als gefeierte Violinistin und angesehene Ehefrau des Komponisten Adam Jacobi in Dresden. Doch eine schicksalshafte Begegnung mit dem Kulissenmaler Christian droht, das fragile Gleichgewicht ihres Lebens zu erschüttern. Mit dem aufstrebenden Künstler an der Semperoper verbindet sie eine große Sehnsucht, eine Leidenschaft für die Kunst – und eine romantische Erinnerung. Elise spürt, dass ihre Liebe auch nach Jahren noch stärker ist als alle Konventionen. Doch bevor sie das Unmögliche wagen kann, brechen blutige Aufstände in der Stadt aus. Unzufriedene Arbeiter und Dienstmädchen, Künstler und Intellektuelle, Männer und Frauen ziehen für ihre Rechte in den Kampf. Auch das prächtige königliche Hoftheater im Herzen der Stadt wird zum Schauplatz der widerstreitenden Gegner. Denn selbst Kapellmeister Richard Wagner und Gottfried Semper rufen zum Widerstand gegen die Obrigkeit auf. Dann bittet der König die preußische Armee um Hilfe. Es kommt zum Äußersten. Und Elise muss sich in den blutigen Wirren entscheiden, auf welcher Seite sie steht – und wie viel zu opfern sie bereit ist. Die Semperoper als Schauplatz von politischen Wirren und dramatischen Schicksalen. Und eine Liebe – stärker als alle Konventionen und Gefahren der Zeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 464

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne Stern

Das Opernhaus: Rot das Feuer

Historischer Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Liebe – stärker als alle Gefahren der Zeit

 

Dresden 1849: Elise lebt als gefeierte Violinistin und angesehene Ehefrau des Komponisten Adam Jacobi in Dresden. Ihr Herz schlägt für die Semperoper. Doch eine schicksalhafte Begegnung mit dem Kulissenmaler Christian droht ihr bisheriges Leben zu erschüttern. Mit dem aufstrebenden Künstler verbindet sie eine große Sehnsucht, eine Leidenschaft für die Kunst – und eine romantische Erinnerung. Elise spürt, dass ihre Liebe auch nach Jahren noch stärker ist als alle Konventionen. Aber in der Stadt brodelt es. Unzufriedene Arbeiter und Dienstmädchen, Musiker und Gelehrte wollen für ihre Rechte kämpfen. Schon bald muss Elise sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht – und wie viel zu opfern sie bereit ist.

 

Der zweite Teil des groß angelegten Dresden-Epos von Bestsellerautorin Anne Stern.

Vita

Anne Stern wurde in Berlin geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Sie ist Historikerin und promovierte Germanistin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller. Nach «Das Opernhaus: Goldhell die Melodie» hat Anne Stern mit diesem Roman den zweiten Band ihres groß angelegten Dresden-Epos geschrieben. Sie erzählt darin die wechselvolle Geschichte der Semperoper und der Stadt Dresden im 19. Jahrhundert. Der dritte Band ist in Planung.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte © Peter Palm, Berlin

Covergestaltung U1berlin, Patrizia Di Stefano

Coverabbildung Ginette Beaulieu, AdobeStock

ISBN 978-3-644-01535-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Heiter soll die Bühne sein,

denn das Leben selbst

ist finster und trübsinnig genug.

 

Wilhelm Tieck, 1825

Prolog

Ein Dorf bei Leipzig, Oktober 1813

Als die Soldaten weiterzogen, senkte sich Stille über den zerwühlten schwarzbraunen Acker, über die Katen und Scheunen des Dorfes. Eine große Qualmwolke hob sich in den herbstlichen Dunst hinein. Sie stieg langsam höher zum hellblauen Himmel, der sich ungerührt über das sächsische Land spannte, als wäre nicht soeben die größte Katastrophe über die Menschen hier hereingebrochen. Der Rauch wich jedoch nur langsam – zu gewaltig hatte das Feuer gewütet. Vielmehr schien die Luft zu schwelen, und im Gestühl der alten Kirche, deren Turm aus Holz erbaut war, knackten und prasselten noch lange die Flammen. Es klang, als feierten dort die Hexen ihr Fest.

Das Klagen und Jammern der Verwundeten erstarb nach und nach. Wen die französischen Soldaten nicht gleich getötet hatten, der hauchte im Laufe des Tages sein Leben aus, weil niemand die Wunden versorgte. Immer weniger menschliche Stimmen waren in dem zerstörten Dorf zu hören, bis alle verstummten.

Erst, als die gnädige Dämmerung sich über das Dorf senkte und die brennenden Überreste des Kirchturms mit einem letzten Seufzen in sich zusammenfielen, wagte Clementine, aus ihrem Versteck hervorzukriechen. Ihre Hände, Haare und Kleider starrten vor Schmutz, denn sie hatte sich im elterlichen Kräutergarten in die kleine Erdgrube eingegraben, die ihr Vater einst mit einem Spaten für Fleisch ausgehoben hatte, um es im Sommer zu kühlen. Die Grube hatte einen festen Holzdeckel, der mit Erde und Gras überwachsen war, und bot so die beste Tarnung. Die brandschatzenden Franzosen hatten Clementine nicht entdeckt. Starr vor Angst und mit vor den Mund gepressten Händen hatte sie dort in der Erde gekauert und verzweifelt auf die Schreie der Dorfbewohner gehorcht, bis einer nach dem anderen verstummte. Das Grauen nur zu hören, war für ein Mädchen wie sie, das eine lebhafte Vorstellungskraft hatte, beinahe schlimmer gewesen, als alles mit eigenen Augen zu verfolgen. Und noch stundenlang, nachdem Clementine ahnte, dass die Soldaten abgezogen waren, hatte sie sich nicht aus der Grube hervorgewagt. Sie war sicher, dass von ihrer Familie keiner verschont geblieben war. Niemand war zu retten.

Zitternd und stumm weinend hatte sie daher weiter ausgeharrt, um nicht doch noch einem der Soldaten, die plündernd durchs Dorf zogen, in die Hände zu fallen. Die versengte Haut an ihrer Wange und am Hals biss wie das Feuer, dem Clementine bei ihrer Flucht durch die schon brennende Kate zu nah gekommen war. Sie wagte nicht, die Wunden zu berühren. Doch selbst dieser Schmerz war nichts gegen den in ihrer Brust, der ihr den Atem nahm.

Endlich drückte sie mit letzter Kraft den Deckel nach oben und kletterte aus dem Loch.

Das Erste, was sie sah, war die Leiche ihrer Mutter. Sie lag mitten im Kerbel, den sie gemeinsam gezogen hatten, das Gesicht blicklos zum verrauchten, sich langsam violett färbenden Abendhimmel gerichtet. Clementine biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten, doch sie konnte sich nicht überwinden, sich der Mutter zu nähern und sie zu berühren. Stattdessen schleppte sie sich langsam, wie im Schlaf, zur Hintertür der Kate, in der sie lebten. Clementine schlafwandelte nachts oft durch die Schlafstube, wie ihr die Eltern erzählt hatten, während sie sich am Morgen nicht daran erinnerte. Aber so, dachte sie jetzt, als sie einen Schritt vor den anderen setzte wie dieser Seiltänzer, der einmal ins Dorf gekommen war, musste sie dabei aussehen. Sie fühlte sich, als hätte sie den eigenen Körper verlassen und sähe sich aus großer Entfernung dabei zu, wie sie besinnungslos die Kate betrat.

Am Ofen kauerte ihr Vater, zusammengekrümmt in dem letzten verzweifelten Versuch, dem Bajonett der Angreifer zu entgehen. Seine Hände waren ausgestreckt, die Augen weit aufgerissen. Neben ihm lag die Großmutter in einer Lache aus Blut. Beide waren tot.

Clementine schluchzte auf und nahm Reißaus. Ihr älterer Bruder war irgendwo auf den Schlachtfeldern, sie wusste nicht, wo, wusste nicht, ob wenigstens er lebte. Vorerst war sie mutterseelenallein.

Stolpernd lief sie zur Vordertür der Kate hinaus und den dämmrigen Dorfweg entlang. Fast alle Häuser waren verbrannt, die kärglichen schwarzen Überreste glühten und rauchten noch immer. Überall lagen reglose Körper am Boden. Menschen, die am Morgen lebendig herumgelaufen waren, Menschen, die Clementine kannte, seit sie auf der Welt war – seit zwölf Jahren. Sie hatte das Dorf nur selten verlassen, kannte nur die große Stadt Leipzig, die wenige Stunden mit dem Eselskarren entfernt war. Ein paarmal im Jahr fuhren sie und der Vater zur Messe und verkauften, was sie in ihrem Garten zogen – Rüben, Kohl, Kartoffeln. Außerdem boten sie die Spankörbe, die ihre Mutter mit ihren geschickten Händen flocht, als Ware feil. Die Leipziger Messe war jedes Mal überwältigend mit all ihren Düften, Farben, den fremdländischen Händlern, die mit lauten Stimmen ihre Waren anpriesen. Stets war Clementine froh gewesen, in die Kate zurückzukehren. Sie war immer ihre Zuflucht, ein Ort, an dem sich nie etwas änderte außer den Jahreszeiten. Ein Ort, der ihr Schutz und Nahrung bot und an dem freundliche Menschen sie erwarteten. Doch das war jetzt vorbei. Innerhalb weniger Stunden war das Dorf ihrer Kindheit in Schutt und Asche gelegt und jede Seele, die sie auf Erden kannte, vernichtet worden.

Blind vor Tränen lief Clementine über die dunklen Felder, ließ die schwelenden Trümmer und den betäubenden Geruch nach brennendem Holz und menschlichem Fleisch hinter sich. Als sie das kleine Wäldchen erreichte, das einen Acker säumte, fiel sie auf die Knie. Sie krallte die Hände in das struppige, von der Sonne des vergangenen Sommers gebräunte Gras und übergab sich krampfhaft.

Währenddessen ging der Mond am schwarzblauen Abendhimmel auf, die ersten Sterne funkelten.

Endlich beruhigte sich ihr Magen, und sie ließ sich langsam auf den Rücken sinken, legte sich erschöpft auf die Erde und betrachtete die Sterne über sich. Einige Sternbilder hatte der Bruder ihr erklärt, sie folgte den gedachten Linien zwischen den einzelnen Punkten mit den Augen, bis sie blinzeln musste. Nichts wussten die Sterne von den Nöten der Menschen hier unten, sie waren beständig wie die Felsen, die uralten Erlen dort hinten und das Meer, von dem Clementine nur gehört hatte. Die anderen Kinder im Dorf hatten sie stets verspottet, weil sie sich mit den Sternen unterhielt, mit den Bäumen und dem Regen, doch Clementine war froh, dass diese vertrauten Elemente jetzt weiter zu ihr sprachen, wenn es schon keine Menschen mehr gab. Sie war immer anders gewesen als die anderen. Und jetzt waren alle tot – der kleine Hansi Knopp mit der Steinschleuder, Gitte, die immer alles besser wusste, und die schöne Julia, die Tochter des Schmieds, die alle Knaben heiraten wollten. Nur sie, Clementine Fuchs, war noch übrig. Das Hexenbalg, wie sie gerufen wurde, weil sie seltsame Sätze von sich gab und weil ihr Haar so ungewöhnlich war – nicht weizenblond oder braun wie das der anderen, sondern golden. Was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass ausgerechnet dieses Mädchen mit den komischen Träumen und den phantastischen Geschichten die einzige Überlebende des kleinen Dorfes war?

Erst, als der Morgen graute, rappelte sich Clementine auf. Sie fror schrecklich, der Morgennebel war eiskalt. Ihre Wange brannte jetzt schier unerträglich, und sie hatte Durst – es war, als würde die rauchige Luft noch immer in ihrer Kehle ätzen. Der Winter stand vor der Tür. Was würde sie bloß anfangen, wohin sollte sie gehen? Der einzige Weg, den sie kannte, war der nach Leipzig. Sie musste versuchen, dorthin zu gelangen, sich unterwegs etwas zum Essen zu erbetteln und vielleicht ihren Bruder zu finden.

Sie warf einen letzten Blick zurück in Richtung des Dorfes. Es lag verlassen in der Morgenröte, ein schwelender, schwarzer Haufen inmitten der Schönheit eines Herbstmorgens, wie es ihn nur hier geben konnte. Sacht hob sich der Dunst, am frühen Himmel zogen Kraniche majestätisch dahin. Lieblich war das Land, durch das die fremden Soldaten gekommen waren, sanft und freigiebig. Doch sie hatten ihm tiefe Wunden geschlagen. Die Männer des Dorfes hatten, als sie von dem nahenden Heer des französischen Kaisers erfuhren, große Reden geschwungen, hatten sich mit Spaten, Lanzen und ein paar alten Jagdgewehren bewaffnet, um die Frauen und Kinder zu schützen.

Clementine lächelte bitter bei diesem Gedanken. Männer kämpften, Männer führten Kriege, Männer redeten von großen, glorreichen Taten – doch am Ende waren ihre Worte nichts wert. Alle Frauen und Kinder hatten den Tod gefunden, den Tod von Männerhand, und niemand hatte es verhindern können.

Sie raffte sich auf, sah nicht länger zurück, sondern lief am Waldrand entlang und tauchte schließlich zwischen den Birkenstämmen in das Wäldchen ein. Wenn sie die nächste Lichtung überquerte, kam sie irgendwann zu dem breiten Weg, der in die große Stadt führte. Entschlossen und das Pochen in ihrer gemarterten Haut ignorierend, marschierte sie los, schlug sich mit den Armen gegen den Leib, um sich aufzuwärmen, und nahm sich vor, niemals wieder auf den Schutz von Männern zu vertrauen, sondern alle Zuversicht nur in sich selbst zu setzen. In sich und ihre Verbündeten – die Erde, die Bäume und die Gestirne über ihr.

1.

Dresden, Mittwoch, 4. April 1849

«Geh nicht zu nah ans Wasser, Netty», rief Elise und eilte hinter ihrer Tochter her, von der sie nur wippende schwarze Locken und eine wehende Schleife am Rücken sah. Netty hatte die Enten an den Elbwiesen unten erspäht, für die sie, sooft ihre Mutter und das Kindermädchen sie auch deswegen schalten, stets Brotkrümel in ihren Kleidertaschen aufbewahrte.

«Denk daran, dass du neue Schuhe trägst!», rief Elise ihr hinterher. «Da unten ist es furchtbar schlammig.» Wie ein Aufblitzen zog eine Erinnerung an ihr vorbei – die Frau, die Netty geboren hatte, war kurz nach der Geburt des Mädchens nicht weit von dieser Stelle in die Elbe gegangen. Kurz danach war das nunmehr elternlose Kind als Adoptivtochter ins Haus der Jacobis gekommen.

Außer Atem kam Elise am Ufer an. Netty hockte bereits inmitten der Entenschar im Matsch und achtete nicht auf ihr hellblaues Kleid. Der Saum hing in den Pfützen, die der kalte Frühlingsregen dort hinterlassen hatte. Die Wasservögel, die vom Fluss heraufgekommen waren, quakten aufgeregt und umringten das Mädchen, um nur ja keinen der herrlichen Brothappen zu verpassen. Mit ihren gelben Schnäbeln scheuchten sie sich gegenseitig beiseite und schnappten nach den Krumen. Netty schlug die Hände begeistert in der Luft zusammen, warf Brot hierhin und dorthin und sprach energisch mit den aufgebrachten Tieren, als könnten sie jedes Wort verstehen.

«Kusch!», rief sie. «So seid doch nicht so ungeduldig. Es gibt für jede genug, seid artig! Nicht so schlingen!»

Elise blieb stehen und betrachtete liebevoll ihre Tochter. Sie hörte in Nettys Stimme ihre eigenen Worte, wenn sie bei Tisch versuchte, das ungestüme Kind zur Mäßigung zu rufen. Doch nichts an Netty war jemals gemäßigt oder zurückhaltend, sie war wie eine Naturgewalt, gegen die Elises mahnende Worte nichts ausrichten konnten. Groß gewachsen, mit langen, schlanken Gliedern schritt, nein, schwebte sie durch die Welt, mit ihren wilden dunklen Haaren und eindringlichen schwarzen Augen. Niemand, der sie sah, konnte annehmen, dass sie Elises leibliches Kind war – sie selbst sah mit ihrem honigfarbenen Haar und den blauen Augen ganz anders aus. Auch Adam, Elises Mann, hatte keine Ähnlichkeit mit Netty. Sein Haar war inzwischen gänzlich silbern, seine Augen funkelten nicht wie schwarze Edelsteine, sondern waren eher durchscheinend, und sein Gang steif und hölzern, vor allem, seitdem er an Gicht litt.

Die Jacobis hatten die kleine Annette an Kindes statt angenommen, als sie fast drei Jahre alt gewesen war. Elise hatte schon nach ein paar Tagen kaum noch daran gedacht, dass sie das Mädchen nicht selbst geboren hatte. Vergessen hatte sie es nicht, und das würde sie auch nie. Doch sie liebte Netty mehr, als sie es selbst fassen konnte. In Adams Miene aber bemerkte sie manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, ein leises Befremden. Er beäugte Netty so, als frage er sich, wer ihm dieses Kuckucksei ins Nest gelegt hatte. Trotzdem schien er ein stolzer Vater. In jedem Fall war er liebevoller im Umgang mit dem Mädchen, als Elise es ihm je zugetraut hätte. Sie sah ihm und Netty gern zu, wenn sie in seltenen Momenten gemeinsam über ein Buch gebeugt saßen und sich unterhielten, es brachte ihr den strengen, distanzierten Ehemann näher.

Eigene Kinder hatten sich in ihrer inzwischen sieben Jahre währenden Ehe nicht eingestellt, und Elise hatte aufgehört, darauf zu warten, dass sie schwanger würde. Manchmal befiel sie deswegen eine stille Traurigkeit. Sie hätte es gern erlebt, wie es wäre, ein Kind im eigenen Leib zu tragen, es zu gebären, es sofort danach in den Armen zu halten. Eigentlich wäre es für sie nicht zu spät – sie war noch immer eine junge Frau, keine dreißig Jahre alt. Doch sie fühlte sich manchmal bereits wie eine Matrone mit ihrer großen Tochter, die schon lange zur Schule ging, und in ihrer langjährigen Ehe mit einem deutlich älteren Mann.

Adam war inzwischen fast sechzig und kam in ein Alter, in dem er mehr Ruhepausen brauchte als zuvor, in dem er länger als früher über einem Artikel für die Zeitung brütete und oft tagelang nicht aus seiner Studierstube oder dem Musikzimmer kam, wo er am Klavier saß und komponierte. Alles fiel ihm zusehends schwerer, und Elise sorgte dafür, dass die Diener ihm viel abnahmen und ihn gut versorgten, damit er seine Kräfte schonen konnte.

Wie eine Glucke sei sie, spottete Adam manchmal, und Elise musste dann ihr Gesicht abwenden, damit er nicht ihre Verlegenheit sah. Wusste sie doch sehr wohl, dass ihre Sorge um ihren Mann nicht wirklicher Liebe entsprang, sondern eher der Ersatz für Liebe war – Fürsorge, freundliche Worte und zu viele teure Speisen für Adam anstelle von Leidenschaft, Hingabe, Seelenverwandtschaft. All das hatte es zwischen ihnen nie gegeben. Eine Ahnung solcher Gefühle kannte sie zwar auch – doch für Adam hatte Elise sie nie empfunden.

Ihr Blick wanderte über den silbrig grauen Fluss, über die mit noch spärlichem Hellgrün belaubten Bäume am Ufer bis zur Südseite der Stadt. Dort wanden sich die Treppen, Mauern und Geländer der Brühlschen Terrasse am anderen Ufer entlang. Weiter rechts ragte der Turm der Hofkirche auf, dahinter das Schloss. Und daneben lag, nein, thronte die Königliche Semperoper. Ihre goldenen Verzierungen schimmerten in der schwachen Frühlingssonne, und Elises Blick blieb wie immer daran hängen. Das prächtige Gebäude war seit jeher ein Sehnsuchtsort für sie. Nur allzu gern hätte sie dort einmal als Musikerin gewirkt. Und es gab noch einen Grund, weshalb ihr die Oper so viel bedeutete, doch dieser blieb ihr Geheimnis.

«Mama», sagte Netty, «mir ist kalt.»

Elise schrak aus ihren Gedanken auf. Ihre Tochter war von der schlammigen Wiese aufgestanden und mit verdrießlicher Miene zu ihr getreten. Sie hatte alles Brot verfüttert, und die Enten watschelten enttäuscht von dannen, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass es nichts mehr geben würde. Nettys Kleid war nass, die Feuchtigkeit der Elbwiesen hatte den Taftstoff durchweicht und dunkle Flecken auf dem Hellblau hinterlassen.

«Komm», sagte Elise und zog sich ihren eigenen Umhang von den Schultern. Sie legte ihn der zitternden Tochter um, wickelte sie fest darin ein und sah kopfschüttelnd auf den dunklen Scheitel nieder. Auch das war typisch für Netty – sobald eine Attraktion vorüber war, ging ihre Euphorie innerhalb von Sekunden in Missmut über. Ihre Launen schwankten wie das unstete Frühlingswetter, und man wusste in ihrer Gegenwart nie, was als Nächstes kam. Sie war in allem so ganz anders als Elise, die, wenn man dem Gerede der Leute Glauben schenkte, ein Ausbund an Beherrschtheit und Freundlichkeit war. Aber auch Elise hatte eine Zeit in ihrem Leben gekannt, in der sie ihren Gefühlen die Vorherrschaft über die Vernunft gegeben hatte. Und auch, wenn diese Zeit lange vorbei war, so spürte sie doch an manchen Tagen, wie sich unter dem glänzenden Taftstoff ihres Kleides in Herznähe eine Kraft zusammenballte und ausbrechen wollte.

«Bringen wir dich nach Hause», sagte sie zu ihrer Tochter, «dort kann Rosel dir eine heiße Schokolade kochen, damit du dich aufwärmst. Sicher bist du müde nach dem Unterricht.»

«Pah», sagte Netty, und ihre Augen funkelten schon wieder übermütig, «wieso denn müde? Ich weiß ja längst alles. Es ist nicht die Spur anstrengend in der Schule, Mama!»

«So?» Elise verbiss sich ein Lächeln. Die Lehrer in der Volksschule hinter dem Neustädter Markt, die Netty besuchte, hatten leider anderes zu berichten: Annette schwatze zu viel, sie sei unaufmerksam und neige zu Streitsucht – so wurde es den Jacobis tadelnd berichtet. Lediglich bei den Leibesübungen, die neuerdings auch mit den Mädchen durchgeführt wurden, glänze sie mit ihrem athletischen, biegsamen Körper und ihrem Talent zum Tanzen. «Aber Tanzen allein reicht nun einmal nicht», hatte der Lehrer grimmig erklärt. «Eine schöne Handschrift und Fleiß beim Sticken wären für ein Mädchen wichtiger, werte Frau Jacobi.»

Elise legte einen Arm um Netty. «Trotzdem, ab mit dir nach Hause. Du musst auch noch deine Klavierübungen machen, das weißt du ja.»

Nettys feine Brauen zogen sich zusammen. «Ich hasse das Klavier», sagte sie leise. «Es klingt schrecklich, wenn ich darauf spiele. Ich verstehe nicht, warum du und Papa es so unbedingt wollt, dass ich mich damit abmühe.»

«Eine musikalische Bildung ist wertvoll», sagte Elise ernst. «Nichts in meinem Leben ist mir so wichtig wie die Musik, nichts macht mich glücklicher.»

«Außer ich!» Netty hüpfte unbekümmert neben ihr her vom Ufer fort, in Richtung Markt.

«Ja, außer du», bestätigte Elise und unterdrückte wieder ein Schmunzeln. Woher nahm ihre Tochter nur diesen unerschütterlichen Gauben an sich selbst? «Aber die Musik bringt unendliche Freude in unser Leben, auch in deines, Netty.»

«Wenn ich dir auf der Geige zuhöre, spüre ich ja auch die Freude», maulte Netty, «glaub mir, Mama! Nur wenn ich selbst Klavier spiele, klingt es, als schlüge jemand mit dem Hammer auf eine Katze ein.»

Elise musste zugeben, dass Netty recht hatte. Es klang wirklich schauerlich, wenn sie übte, auch noch nach Jahren des Klavierunterrichts wurde es einfach nicht besser. Auch das Singen gelang ihr nur leidlich. So musikalisch ihre Tochter war, wenn sie sich zur Musik bewegte – sobald sie selbst auf dem Klavierschemel hockte, fiel alle Musikalität von ihr ab. Es schien, dass alle Liebe zur Musik sich nur in Nettys Armen und Beinen befand. Eigentlich tanzte sie immer, sobald sie sich bewegte. Auch jetzt lief sie nicht, sondern tänzelte neben Elise über das Trottoir. Manchmal glaubte Elise, dass Netty nicht aus Fleisch und Blut bestand, sondern aus Luft und Blütenstaub, und dass sie immer ein Stück über dem Erdboden schwebte, als gälten die Gesetze der Schwerkraft nicht für sie.

«Sieh mal», rief Netty, und Elise blieb stehen und schaute in die Richtung, in die das Kind deutete.

Am Brückenkopf, direkt vor dem Blockhaus, wie die Neustädter Wache genannt wurde, hatte ein Straßenmaler seine Staffelei aufgestellt und einige fertige Gemälde an die Hausmauer gelehnt, damit die Passanten sie betrachten und, bei Gefallen, kaufen konnten. Es gab viele wie ihn in der Stadt, Dresden lud mit seiner herrschaftlichen Architektur inmitten der lieblichen Auenlandschaft entlang der Elbe buchstäblich dazu ein, es auf Gemälden zu verewigen. Nicht alle waren ein Canaletto, viele kamen mit ihren eher stümperhaften Erzeugnissen gerade so über die Runden.

Doch dieser Mann hier, sah Elise, beherrschte sein Handwerk. Die Bilder waren von einer zurückhaltenden Schönheit und übten durch ihre klaren Farben eine große Anziehungskraft auf die Betrachter aus. Netty hatte sich vor einem Schlachtengetümmel postiert und betrachtete es mit aufgerissenen Augen. Sie interessierte sich nicht für schöne Landschaften, sondern fühlte sich von allem, was mit Krieg, Feuersbrunst und Abenteuer verbunden war, magisch angezogen. So inbrünstig lauschte sie abends den Schauermärchen der Köchin in der Küche der Jacobis, dass Elise es Rosel schließlich hatte verbieten müssen, das Kind vor dem Schlafen unnötig aufzuregen. Netty hatte nach den Geschichten derart geglüht, dass Elise Angst hatte, sie würde zu fiebern anfangen und nachts von Albträumen geplagt werden – doch nichts davon war eingetreten. Mit hochroten Wangen war Netty sofort eingeschlafen und hatte wie ein Stein geruht, um am Morgen frisch und munter aus dem Bett zu springen. Alles perlte an diesem Kind ab, nichts Böses konnte ihm etwas anhaben. Netty kannte keine Angst. Elise dagegen, die unfreiwillig einige von Rosels Märchen mit angehört hatte, wälzte sich danach stundenlang schlaflos im Bett, weil sie die Vorstellung der doppelköpfigen Ungeheuer und der untoten Waldgeister, die darin vorkamen, verfolgte. Und die alten Kriegsgeschichten, die Rosel ebenfalls äußerst plastisch erzählte, obwohl sie damals noch ein kleines Kind gewesen sein musste, erinnerten Elise daran, dass das Land seit Jahren von einer Krise in die nächste stürzte und der Boden, auf dem sie wandelten, zu wanken schien.

«Johannes aus der Schule sagt, es wird bald wieder einen Krieg hier in Dresden geben», sagte Netty eifrig und verschlang die gemalte Schlacht mit den Augen – glänzende Hellebarden, schimmernde Rüstungen, spritzendes Blut und hellrote Flammen, die in einen düsteren Himmel schlugen. «Die Soldaten üben Exerzieren und Schießen im Ostra-Gehege unten in der Südstadt, um sich zu wappnen. Stimmt das? Eine richtige Revolution wird kommen, sagt Johannes – nicht so eine halbe wie im vergangenen Jahr.» Sie zog die Nase kraus. «Was genau war denn da im letzten Jahr, Mama?»

Elise trat zu ihrer Tochter. Sie nickte dem Maler freundlich zu, der ungerührt seine Palette säuberte und nur eine Verbeugung andeutete.

«Dein Schulkamerad meint die Märzrevolution», sagte sie leise zu Netty, «als sich überall im Land Menschen erhoben haben, um für eine liberale Regierung zu kämpfen.»

«Und?», fragte Netty und riss erneut die Augen auf. «Haben sie gesiegt?»

«Nun», sagte Elise und sah aus den Augenwinkeln zu dem Maler hinüber, der so tat, als hörte er nicht zu, und weiter emsig die Farben von seiner Palette kratzte, «so genau kann man das noch nicht sagen. Immerhin wurden die Märzkabinette eingesetzt, das schon. Und sogar eine Nationalversammlung wurde einberufen, sozusagen ein Parlament für alle Deutschen.»

«In der Frankfurter Paulskirche war das», ergänzte der Maler.

Elise blickte überrascht auf.

«Das ist eine der schönsten Kirchen des Reichs», fuhr der Mann fort. «Und die Herren Abgeordneten haben dort die erste deutsche Verfassung geschrieben, junge Dame. Kennst du denn schon die Farben der neuen deutschen Flagge?»

«Natürlich», sagte Netty und klatschte in die Hände. «Schwarz-Rot-Gold. Das sieht so fein aus!» Erneut betrachtete sie das Schlachtenbild, fasziniert glitten ihre Augen über die Menschen, die sich darauf in Qualen wanden. «Dann wird also kein Krieg kommen?», fragte sie mit leiser Enttäuschung.

Die Blicke von Elise und dem Mann kreuzten sich, er schob sich die Mütze ein Stück aus der Stirn und runzelte die Brauen. «Das weiß niemand», sagte er. «Es bleibt unruhig in den deutschen Landen, das ist gewiss. Nicht alle sind zufrieden mit dem, was die Revolutionäre erreicht haben.»

Elise nahm die Hand ihrer Tochter und zog sie von dem Gemälde fort. Ein Stück weiter lehnte eine kleinere Stadtansicht von Dresden. Sie zeigte genau den Blick, den Elise aus dem Erkerfenster der Jacobis über die Elbe bis in die Altstadt hatte. Doch auf dem Bild war kein schmutzig graues Aprilwetter wie heute, sondern bereits sonniger Frühsommer. Wie ein blaues Seidenband schlängelte sich der breite Fluss durch blühende Bäume und zerschnitt die Stadt Dresden in zwei Teile – die südliche Altstadt, woher Elise stammte, und die nördliche Neustadt, in der die Jacobis seit der Hochzeit lebten. Im Hintergrund des Gemäldes erhob sich zart die Silhouette des beginnenden Elbsandsteingebirges in den hellblauen Himmel. Und davor leuchtete golden das Operngebäude.

«Guten Tag, Frau Jacobi», grüßte eine vorübereilende Frau und blieb kurz bei ihnen stehen.

Elise riss den Blick vom Bild los und sah die Dame an, die in einen kostbaren Pelzumhang gehüllt war und an der Leine ein Hündchen hinter sich herzog. Sie grüßte zurück.

Die Augen der Frau leuchteten. «Wir haben Sie vergangene Woche beim Salon im Landhaus Grahl spielen gehört, Frau Hofkompositeur. Es war ein unvergessliches Konzert.» Sie nickte Netty zu. «Deine Mutter ist eine große Geigerin», sagte sie freundlich, «du kannst stolz auf sie sein.»

«Ja, Madame», sagte Netty artig und sah zu der fremden Dame auf, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Das Hündchen sprang begeistert an ihr hoch, und sie tätschelte nachlässig sein Fell. Auch dies war ein Talent des Mädchens – sie wickelte jeden, ob Mensch oder Tier, wortlos um den Finger. Wahrscheinlich lag es an der selbstbewussten Stärke, die Netty ausstrahlte, oder an ihren langen Wimpern, die wie mit Goldstaub überzogen waren.

«Vielen Dank», sagte Elise zu der fremden Dame, die noch einmal zum Abschied grüßend nickte und weitereilte.

Sie hatte im Landhaus der Familie Grahl Mozart-Sonaten gespielt, und es war tatsächlich ein besonders schönes Konzert gewesen. Adam hatte sie am Klavier begleitet. Und so wenig innig ihre Ehe auch sein mochte, beim Musizieren harmonierten sie hervorragend. Elise legte stets einen großen Akzent auf das Sentiment, verlor sich zuweilen fast in der Musik und in ihren Gefühlen beim Spiel, während Adam sie mit sanfter Strenge am Klavier wieder einfing und durch das Stück geleitete. Dabei drängte er sich nicht in den Vordergrund, er blieb Begleiter, jedoch einer mit einer eigenen Vision davon, wie das Stück zu klingen hatte. Nur wenn sie gemeinsam spielten, waren sie sich wirklich nah. Und ihre geteilte Hingabe an die Musik hatte ihnen in Dresden und in der Umgebung mit den Jahren einen guten Namen eingebracht. Man lud sie zu exquisiten Salons und bat Elise auch des Öfteren, bei Konzerten auf den Bühnen des Landes mitzuwirken. Es war mehr, als sie sich je als junges Mädchen hätte vorstellen können. Sie hatte so viel erreicht, hatte sich entwickelt und ihr Violinspiel perfektioniert – sie hätte wahrlich zufrieden sein können.

Aber leider stellte sich das Gefühl der Zufriedenheit dennoch nicht ein. Ein bisschen verhielt es sich mit ihr so wie mit den Revolutionären von 1848, dachte sie bitter und erinnerte sich an das kurze Gespräch mit dem Maler, der inzwischen eine leere Leinwand auf die Staffelei gestellt hatte und begann, sie mit den ersten Pinselstrichen eines zarten Blumenstilllebens zu füllen. Sie hatte mit ihrem Violinspiel einiges erstritten, mit List und Willenskraft erkämpft, hatte ihren Jungmädchentraum wahr gemacht und mehr erreicht, als es die meisten Frauen von sich sagen konnten. Denn so undenkbar es in ihrer Jugend gewesen war, dass eine Frau als Geigerin auf einer Bühne stand, so gefeiert war ihr Spiel heute in der Stadt und den umliegenden Orten. Doch es reichte nicht. Es war, wie der Maler über die halbherzigen Versuche, einen deutschen Staat zu erschaffen, geurteilt hatte, nur Flickwerk.

Plötzlich fiel ihr Blick auf den durchweichten Rocksaum ihrer Tochter, und sie gab sich einen Ruck.

«Wir müssen wirklich so schnell wie möglich nach Hause, Netty», sagte sie, griff nach der Hand des Mädchens und verabschiedete sich mit einem hastigen Nicken von dem Maler.

Ein letztes Mal sah sie zu dem kleinen Landschaftsbild hinüber. Ein Sonnenstrahl hatte sich durch die dicken Wolken am Himmel über ihren Köpfen gekämpft und ließ die Goldfarbe des Operngebäudes aufleuchten.

Elise tastete nach ihrer Geldbörse, die sie in der Tasche ihres Umhangs mit sich führte, bis ihr einfiel, dass dieses Kleidungsstück um die Schultern ihrer Tochter hing. Rasch griff sie in die Falten und förderte das Geld zutage.

«Aber vorher kaufe ich noch dieses kleine Bild dort», sagte sie zu dem Maler, der sofort innehielt, sich die Hände an seinem Kittel abwischte und sich verbeugte. Er wirkte höchst erfreut, allzu viel verkaufte er wohl nicht. Ehrerbietig bückte er sich nach dem Bild und wollte es in bereitliegendes Zeitungspapier einpacken, doch Elise winkte ab.

«Ich wohne gleich dort drüben», sagte sie und zeigte in die Richtung, in der das prächtige Stadthaus lag, in dem Adam kurz nach ihrer Hochzeit eine Wohnung für seine Schwester und seine zukünftige Familie gemietet hatte. Dass diese Familie kleiner geblieben war, als er und auch Elise es sich am Anfang ihrer Ehe vorgestellt hatten, war damals nicht zu ahnen gewesen.

Sie griff nach dem Bild und zahlte den genannten Preis, der erwartungsgemäß niedrig war.

«Können wir nicht lieber das da nehmen?», fragte Netty bittend und deutete auf das riesige Schlachtengetümmel.

Elise lächelte und schüttelte den Kopf. «Nein», sagte sie, «wir nehmen das mit der Oper und der Elbe. Ich werde es mir in den Musiksalon hängen, damit ich es beim Geigenspiel ansehen kann.»

«Die Oper ist das schönste Kleinod, das wir in der Stadt haben», sagte der Maler. «Und auch noch erbaut von Gottfried Semper, dessen Herz ebenfalls für die Sache der Revolution schlägt. Ich hoffe, der Anblick wird Ihnen beim Spielen Flügel wachsen lassen.» Er verbeugte sich ein letztes Mal, ehe er sich wieder seinem Stillleben zuwandte.

«Ganz sicher», sagte Elise mit belegter Stimme.

Sie nahm das Bild unter den Arm und zog Netty mit sich fort. Vor ihrem inneren Auge tauchte der vertraute prächtige Saal des Königlichen Theaters auf, der glitzernde Kronleuchter, die mit rotem Samt bespannten Sessel in den Logen. Und auch die Erinnerung an ein Gesicht stieg auf, doch sie ließ nicht zu, dass es sich in ihrer Phantasie allzu sehr ausbreitete. Sie war geübt darin, solche Gedanken wieder zu vertreiben oder sie zumindest so lange zurückzuhalten, bis sie allein war. Dann erst, während sie mit ihrer Geige am Kinn durch den leeren Salon ging und nur für sich spielte, erlaubte sie sich, an die Vergangenheit zu denken.

2.

Dresden, Donnerstag, 5. April 1849

«So darf es nicht weitergehen!», rief Carl und hieb wütend mit der Faust auf die klebrige Tischplatte. «Wie lange sollen wir uns noch hinhalten lassen?»

«Bleib ruhig!», Christian legte dem Freund beschwichtigend eine Hand auf den Arm.

Einige Köpfe an den Nebentischen drehten sich nach ihnen um, doch niemand schien sich besonders zu wundern, dass sich einer der Arbeiter über seinem Bier echauffierte. Hier im Goldenen Fass war es seit einiger Zeit an der Tagesordnung, dass politische Reden und erhitzte Diskussionen geführt wurden. Und während dies noch vor ein paar Jahren mit verstohlenem Gemurmel und in aller Heimlichkeit geschehen musste, war es seit der Revolution im vergangenen Frühjahr ganz offen möglich. Die Pressefreiheit war eingeführt worden, politische Zeitungen und zahlreiche Vereine waren aus dem Boden geschossen, und man atmete freiere Luft. Zwar hatte der König vor vier Jahren alle politischen Vereine in Sachsen verboten, doch unter dem Mantel von neu entfachter Musik- und Turnbegeisterung fand man sich weiterhin recht unbehelligt zusammen, um auch das politische Tagesgeschehen zu diskutieren.

Aber Carl war nicht zufrieden. Und Christian musste ihm innerlich recht geben. Sie ließen sich hinhalten, mussten sich seit der Revolution mit Pfusch und halbherzigen Reformen begnügen. Es ging nicht voran mit dem großen deutschen Traum, auf den sie so viele Jahre hingearbeitet hatten – sie und viele andere, besonders hier in Dresden und dem nicht allzu weit entfernten Leipzig, wo es ebenfalls viele demokratische Vereine und Turnverbände gab, eine liberale Presse und engagierte Wortführer.

Er sah zu seinem Bekannten Bernhard Hirschel hinüber, der ein paar Tische weiter in der Nähe der dunklen Schanktheke mit zwei Männern vom Dresdner Vaterlandsverein saß. Seine kleinen Brillengläser funkelten, er sprach mit raschen, lebhaften Gesten auf seine beiden Zuhörer ein. Als die Bedienung kam und drei weitere Becher mit Bier auf dem Tisch ablud, sah Bernhard auf und bedankte sich höflich bei der jungen aschblonden Frau mit dem nachlässig geschnürten Mieder. Hirschel war ein Arzt aus bürgerlichem Hause, er hatte Manieren und war nicht aus solch grobem Holz geschnitzt wie Carl. Christian lächelte. Seit Kurzem war sein Bekannter sogar Vorsitzender des revolutionären Vereins, und das, obwohl er Jude war. Hatte Bernhard recht, standen sie in Sachsen wirklich kurz vor der Gleichstellung von Juden und Christen? Dann könnte sich nicht einmal mehr Carl weigern, mit Bernhard an einem Tisch zu sitzen, was er leider immer noch tat und womit er Christian schon ein ums andere Mal in Verlegenheit gebracht hatte.

«Hier steht es», knurrte Carl und deutete mit seinem schmutzigen Finger, unter dessen Nagel schwarzes Schmieröl von den Bühnenwagen des Königlichen Theaters klebte, auf einen Artikel in der Dresdner Zeitung für sächsische und allgemeine deutsche Zustände.

Christian riss seinen Blick von Bernhard los und beugte sich vor. Er ignorierte die fettigen Fingerabdrücke, die zahlreiche Leser des heutigen Tages auf dem Papier hinterlassen hatten. Revolutionshimmel, lautete die Überschrift. In seinem Artikel wetterte der berühmte russische Revolutionär Michail Bakunin, der häufig für die junge Zeitung schrieb, gegen die Schwachbrüstigkeit des Paulskirchenparlaments und beschwor eine neue, dringend benötigte Revolution herauf, um endlich ein sozialistisches Deutsches Reich zu errichten.

Christian schob das Blatt zurück zu Carl. «Vielleicht nimmt der preußische König ja doch noch die Kaiserwürde an», murmelte er. «Dann kann sich alles zum Guten wenden.»

Carl ließ zischend Luft aus seinem Mund entweichen, sein Atem roch nach Bier und Schnaps. Während Christian noch immer an seinem ersten Becher nippte, hatte sein Freund schon mehrfach Nachschub bestellt. «Aber wozu brauchen wir denn überhaupt noch einen Kaiser?», fragte er aufgebracht. «Wir sollten die Adligen allesamt zum Teufel jagen und endlich eine richtige Volksregierung errichten. Eine, die von uns Arbeitern geführt wird, verstehst du?» Er schnaubte unwillig. «Dafür sind schon viele aus unseren Reihen gestorben. Denk nur an Robert Blum, den sie im letzten November einfach so erschossen haben.»

Christian rutschte nervös auf seinem Schemel hin und her und betrachtete nachdenklich seine eigenen, farbverschmierten Hände. Längst war er vom sächsischen König, Friedrich August II., zum zweiten Dekorationsmaler neben seinem früheren Lehrer Anton Arrigoni ernannt worden, nachdem er seine Gesellenzeit beendet und sogar seine Meisterprüfung bestanden hatte. Er und der Maestro wirkten jetzt gemeinsam im Malersaal des Königlichen Theaters an den Kulissen und Festvorhängen für die Opern. Und da Arrigoni langsam älter wurde, hatte sich Christian immer mehr Raum vor den Staffeleien und Holzkulissen erobert und traf eigene künstlerische Entscheidungen. Er war kein reiner Arbeiter mehr wie Carl und Fritz, die als Maschinenbauer arbeiteten, er gehörte nicht mehr zu ihrem Stand. Auch, wenn er ihnen trotz allem noch näher stand als den Bürgerlichen, den Gelehrten, den Bewohnern der schönen Stadthäuser rund um Neumarkt, Zwinger und Schloss.

Am ehesten fühlte er sich den Künstlern verbunden, doch auch das war eine Gruppe für sich, voller exaltierter Persönlichkeiten und Ehrgeizlingen, die ihn, Christian Hildebrand, Emporkömmling und ehemaliges Waisenkind, nicht für voll nahmen. Denn anders als die anderen Hofmaler hatte er niemals die Akademie besucht, hatte seine Fähigkeiten nur einem gewissen Talent, seinem Arbeitseifer und der Gunst der Mächtigen zu verdanken. Es würde für immer sein Schicksal sein, zwischen den Stühlen zu sitzen und nicht zu wissen, wohin er wirklich gehörte. Das machte ihn dem früheren Abgeordneten Robert Blum ähnlich, von dem Carl gerade gesprochen hatte. Auch Blum war von ganz unten gekommen und hatte sich hochgearbeitet. Doch anders als Christian hatte er nicht nur sein eigenes Wohl im Kopf gehabt, sondern vor allem das der deutschen Nation. Was ihm schließlich zum Verhängnis geworden war.

Seufzend wandte Christian sich erneut Carl zu. Die Augen seines Freundes glänzten glasig, und er schnippte schon wieder nach der Bedienung. Die fünfundzwanzigjährige Tochter des Wirts hantierte geschickt hinter der Theke und versorgte die durstigen Kehlen derer, die mehr oder weniger standfest am Holztresen lehnten. Hinter ihr hing das gerahmte Bild eines Segelschiffs. Es fuhr mit geblähten Segeln über ein Meer, das sich aus einer Weinbrandflasche ergoss.

«He, Line», rief Carl.

Die junge Frau blickte auf, strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und kam zu ihnen. Ihr Rocksaum starrte vor Schmutz, sie war bereits seit Stunden im Gasthaus auf und ab gelaufen, um die Gäste an diesem Freitagabend zu bedienen. Ihre Wangen leuchteten von der Anstrengung und der Wärme im Schankraum.

«Noch eine Runde, Carli?», fragte sie und wischte sich die Hände am groben Stoff ihrer Schürze ab.

Carl nickte und hielt ihr den leeren Becher hin.

Christian konnte nicht verhindern, dass sein Blick einen Moment höher hinauf wanderte, dorthin, wo Line sich die Schnüre des Mieders knapp über der Brust zu einer Schleife gebunden hatte. Dort schimmerte ihre Haut bräunlich.

Line erwiderte frech seinen Blick, und Christian spürte ein bekanntes Kribbeln. Das Schankmädchen und er kannten sich schon lange und hatten sich immer gut leiden können. Einmal, vor etwa drei Jahren, hatte sie ihn spätnachts in den Hof hinter der Wirtschaft gezogen und geküsst, und seitdem kam sie ab und zu mit ihm in sein kleines Zimmerchen in dem Gasthof in der Ostra-Allee, in dem er schlief. Line war ein feiner Kerl und wusste überdies, wie man mit einsamen Männern umging. Und auch, wenn Christian sich nach ihren flüchtigen Begegnungen immer ein wenig schäbig vorkam, weil er ihr nichts zu bieten hatte, weder Liebe noch Sicherheit, dachte er doch in einsamen Stunden gern an sie. An ihre Grübchen, ihre kleine vorwitzige Nase und ihre weichen Hände, die wussten, was sie taten.

Auf einmal spürte er, dass er sie heute Nacht gern wieder bei sich im Bett haben wollte, das letzte Mal war lange her.

Er war selbst überrascht davon, wie forsch er nach Lines Hand griff. Sie war warm und ein wenig feucht vom Dunst im engen, überfüllten Schankraum.

Lines Augen funkelten, und Carl, der Christians eindeutige Geste richtig deutete, grinste breit. «Bring uns beiden Nachschub», befahl er der jungen Frau, wobei seine Aussprache schon recht undeutlich war, «ich halte deinen Liebsten hier bei Laune, bis du Feierabend machst, einverstanden?»

Line lächelte huldvoll und zog die kleine Nase entzückend kraus. «Ich weiß nicht, was du meinst, Carli», flötete sie, «bin ein anständiges Mädel.» Sie zwinkerte Christian fröhlich zu und trollte sich mit wiegenden Hüften und den beiden leeren Bechern in den Händen zur Theke, wo schon weitere Durstige nach ihr riefen.

Carl stieß Christian in die Seite. «Du hast dich ja zu einem richtigen Weiberhelden gemausert», brummte er anerkennend. «Früher haben Fritz und ich uns schon Sorgen um dich gemacht.» Seine Stimme kippte ins Heisere. «Dachten, du seist am Ende noch so ein seltsamer Vogel, der …»

Christian unterbrach ihn. «Halt die Klappe, Carl. Ich hatte als junger Mann einfach Pech, das ist alles.»

«Tja, die Pechsträhne ist offensichtlich beendet», sagte Carl und sah zu Line hinüber, die in hohem Bogen einen Bierkrug füllte und dabei herzlich über die Zote eines Gastes lachte. «Line ist eine gute Partie, eines Tages gehört ihr das Goldene Fass.»

Christian schaute ihn überrascht an. «Ich habe aber nicht vor, sie zu heiraten, Carl.»

Carl riss die kleinen wässrigen Äuglein auf. «Bist du dir für eine Wirtin etwa zu schade?», fragte er spöttisch. «Strebst du jetzt, da du königlicher Dekorationsmaler bist, nach Höherem?» Er verstummte, als Line zwei volle Becher zu ihnen herüberbalancierte. Erst, als sie weg war, sprach er weiter: «Sei nicht dumm, Chrischan! So eine Schönheit bekommst du so schnell nicht wieder, noch dazu mit Haus und Hof als Erbe.»

Christian sah seinen Kumpan nachdenklich an. Hatte Carl recht? War es an der Zeit, sesshaft zu werden, ein hübsches, lustiges Mädel – und beides war Line ganz sicher – zur Frau zu nehmen und sich endlich ein Leben einzurichten? Ein bescheidenes Häuschen, vom Schwiegervater finanziert – das Goldene Fass lief gut, wie man heute Abend wieder sehen konnte, die Taler klimperten nur so in der Kasse. Ein Ehebett, ein Gemüsegarten, vielleicht ein paar Kinder, die durchs Haus tobten? Was wäre denn so schlecht daran? Sachsen steckte seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise, viele hungerten nach den Missernten der letzten Sommer oder hatten sogar alles verloren. Nur Christians Weg schien steil nach oben zu führen.

Aber je länger er versuchte, sich eine solche Existenz vorzustellen, desto weiter weg schwammen die Bilder. Es war nicht Line, mit der er die Tage und Nächte seines Lebens verbringen wollte. Ein paar flüchtige Berührungen von ihr genügten ihm vollauf. Und so wenig er sich dies eingestehen wollte – es lag noch immer, nach all den Jahren, an einer ganz bestimmten Frau: Elise. Die Zeit, als er der jungen Spielmann-Tochter nahegekommen war, als er die kleine Hoffnung genährt hatte, sie würde einst ihm angehören, war unwiederbringlich vorbei. Doch vergessen konnte er sie eben nicht. Manchmal hörte oder las er in einem Journal, dass sie öffentlich Violine spielte, und aufgrund seiner neuen Position gelang es ihm ab und zu, ein Billett zu bekommen. Dann schlich er sich in den Konzertsaal und lauschte Elise aus der letzten Reihe, peinlich darauf bedacht, dass sie ihn von der Bühne aus nicht sah. An solchen Abenden ließ er die Augen nicht von ihr, beobachtete ganz genau, wie sie sich zum Takt der Musik bewegte, sah ihre Hände über die Saiten des Instruments tanzen und war zerrissen zwischen der Sehnsucht nach ihr und der Freude, weil sie endlich das tun konnte, was sie glücklich machte. Es war ein Rest seiner alten Liebe, ein letztes Zögern, diese ganz und gar aufzugeben. Dabei wusste Christians Verstand schon lange, wie chancenlos er war.

Doch nicht nur der Gedanke an Elise hielt ihn zurück, eine Ehe mit Line einzugehen. Auch wollte er nicht als Gastwirt enden. Denn anders als Carl und Fritz zog es ihn heute nur noch selten zum Genuss von Bier und Schnaps, und er hätte wohl auch gänzlich darauf verzichten können. Oft stießen ihn die Betrunkenen ab, die lallend und bis oben hin knill auf den Schemeln hockten, stanken und wie von Sinnen grölten, und er mochte sich nicht vorstellen, sie jeden Abend zu bedienen.

Die Kunst war es, die er liebte, sie allein. Die Farben auf seiner Palette, die grobe Leinwand unter seinen Fingerspitzen, die Träume, die er mit seinen Pinselstrichen zum Leben erweckte. Auch die Gespräche mit dem alten Arrigoni über Mischungsverhältnisse, Tempera, Öle und Perspektiven begeisterten ihn. Und die unsterbliche Musik, die Abend für Abend von der großen Bühne der Semper’schen Oper ins Atelier hinüberschwebte. Das war seine Welt, nicht dieser dunkle, enge Schankraum hier, in dem gescheiterte Revolutionäre ihren nächsten Aufstand planten und einsame Männer den Huren und Harfenmädchen nachstiegen, die zu späterer Stunde hier anlandeten. Etwas Größeres war es, das Christian erreichen wollte, etwas, das über ihn als Einzelnen hinausging.

Im Geiste hörte er Ernestine über seinen Größenwahn spotten. Seine Schwester verstand es bestens, ihn von seinen galoppierenden Rössern herunterzuholen. Sie war ein paar Jahre älter als er, und obwohl Christian inzwischen auch um die dreißig war, trug sie ihm noch immer ungefragt ihren Dienst als Mutterersatz an. Dabei hatte sie, wie Christian zumindest ahnte, ebenfalls die Sehnsucht im Blut.

«Du hast recht, Carl», sagte er, «jeder Mensch braucht eine Leidenschaft, für die es sich zu kämpfen lohnt.» Er trank sein Bier aus. «Stimmt’s, mein Lieber?»

Er stieß seinen Freund an, der seltsam ruhig neben ihm saß und in den Becher vor ihm starrte. Anstelle einer Antwort grunzte Carl nur und sackte langsam, ganz langsam mit dem Oberkörper nach vorn. Sein Kopf sank auf die Zeitung, das strohblonde abstehende Haar schmiegte sich ans Papier, und ein zufriedener Schnarcher kam aus seinem Mund. Er war bierselig eingeschlafen.

3.

Dresden, Samstag, 7. April 1849

Auf und nieder fuhr die Ochsenzunge, das schwere Bügeleisen mit dem hölzernen Griff. Bertha stand über den großen Zuschneidetisch in der Garderobe der Oper gebeugt und hielt mit einer Hand den Stoff des zerknitterten Chorknabengewandes fest, das sie gerade glättete. Mit der anderen ließ sie das Eisen immer wieder über den Kragen gleiten. Doch die gewünschte Wirkung blieb aus, der helle Stoff ließ sich nicht zähmen, das Bügeleisen wurde immer schwerer, und Bertha spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach.

«Brauchen Sie eine neue Zunge für den Ochsen, Frau Heise?», fragte Ernestine Hildebrand, die am Ofen stand und mit einer verrußten Zange nach einer der Eisenplatten fischte, die in den glimmenden Kohlen lagen.

«Ja, Mädchen», sagte Bertha und richtete sich ächzend auf. Sie öffnete die Klappe, sodass die erkaltete Zunge aus dem Eisen herausfiel, hielt es der Requisitenbesorgerin hin und wischte sich mit dem Ärmel über die feuchte Stirn.

Ernestine schlug die Ofentür zu und trug mit der Zange vorsichtig eine neue glühende Eisenplatte herüber, die sie geschickt in die Öffnung des Bügeleisens schob, um die Sohle erneut zu erhitzen.

Mit einem besorgten Blick auf Berthas abgekämpftes Gesicht streckte sie die andere Hand aus.

«Lassen Sie mich weitermachen, bitte», sagte sie.

Bertha wollte erst ablehnen, überließ der jüngeren Frau dann aber doch erleichtert das Bügeleisen. Erschöpft sank sie auf einen Schemel neben dem Tisch und griff nach einem der Fächer, die überall zum Ausbessern herumlagen. Sacht fächelte sie sich Luft zu und spürte, wie die Hitze langsam, sehr langsam aus ihrem Gesicht wich. War sie nicht allmählich aus dem Alter heraus, da sie diese Anfälle plagten? Viele Frauen kannten solcherlei Aufwallungen in den Jahren nach der Fruchtbarkeit, doch Bertha schien es, als hielten die Beschwerden ausgerechnet sie besonders lange in den Klauen. Immerhin ging sie auf ihr sechzigstes Jahr zu! Wäre es nicht an der Zeit, dass sie endlich von sämtlichen weiblichen Plagen erlöst würde und ihr hohes Alter in Ruhe genießen könnte?

Müde und dankbar verfolgte sie die scheinbar mühelosen Bewegungen ihrer fleißigen Helferin. Ernestine ließ das schwere Bügeleisen sanft und nachdrücklich zugleich über den Stoff gleiten, und im Nu fügte sich ihr das störrische weiße Gewebe des Kragens, sodass Ernestine das Gewand rasch beiseitehängen und nach dem nächsten greifen konnte. Bertha hatte etwa zwanzig Gewänder geschafft, aber noch mindestens dreißig warteten auf der langen Garderobenstange.

Stöhnend streckte sie die schmerzenden Füße von sich und massierte sich den Nacken. Dann stand sie auf, trat zu dem kleinen Schränkchen, in dem sie hinter Glas stets einen guten Tropfen aufbewahrte, und schenkte sich und Ernestine ein Schlückchen ein. Sie waren zwar im Dienst, doch niemand hier an der Oper, der jetzt durch die Tür in die Garderobe platzen könnte, würde es wagen, sie deswegen zu schelten. Bertha wusste, dass ihr Stand nach all den Jahren am Königlichen Theater so felsenfest war wie nie zuvor. Und seit ihr Mann, der Damenschneider Franz, kurz vor Weihnachten unerwartet an der Cholera verstorben war – die Bertha trotz aufopferungsvoller Pflege an ihm verschont hatte –, behandelte man sie mit noch größerer, ja mitfühlender Ehrerbietung.

Bertha ließ sich wieder auf den Schemel sinken und nippte an ihrem Glas, während sie mit den Tränen kämpfte, als sie an ihren guten Franz dachte. Sie hatten gemeinsam alt werden wollen, doch er war vor ihr gegangen und hatte sie zurückgelassen. Immerhin war es ein Trost, dachte sie, dass sie einen Platz in der Welt hatte, auch wenn diese Welt dort draußen auf einmal bebte und sogar zu bersten drohte. Hier aber, in der Oper, standen die Mauern fest wie eh und je.

Durch die angelehnte Tür drangen Orchesterklänge herein, und während Bertha aufmerksam lauschte, wischte sie sich die kleine Träne mit dem Handrücken von der Wange, ehe Ernestine etwas bemerkte. Man probte für Die Zauberflöte, eine berühmte Mozart-Oper, die nach langer Zeit wieder einmal gespielt werden sollte. Jetzt schon war klar, dass der Zuschauersaal am Premierenabend bis auf den letzten Platz gefüllt sein würde, Mozarts Musik war in Dresden beliebt und sorgte immer für ein ausverkauftes Haus. So würde es auch am heutigen Abend sein, da Die Hochzeit des Figaro gegeben wurde. Umso wichtiger war es, dass bei den Aufführungen alles glattging, dass die Arien ebenso gut saßen wie die Kostüme und dass die Musiker einwandfrei spielten. Doch das, was Bertha da hörte, klang noch ein wenig wacklig – so, als suchten die Instrumente zögernd ihre Noten. Der Tenor, der die Rolle des Prinzen Tamino sang, übte im Chaos der Kakophonie den Anfang seiner Arie. «Dies Bildnis ist bezaubernd schön …» Plötzlich brach seine Stimme mitten im hohen Ton ab und ging in ein lautes Husten über.

Ernestine blickte von ihrer Arbeit auf, ihr Blick traf auf den von Bertha. Beide Frauen lächelten. Bertha deutete vielsagend auf das volle Gläschen, und Ernestine stellte das Eisen ab, hängte ein weiteres gebügeltes Gewand sorgfältig auf und kam zu ihr. Sie prostete ihr zu und kippte den Likör rasch hinunter.

Bertha beobachtete sie unauffällig. Ihr war schon oft aufgefallen, dass Fräulein Hildebrand mit ihren rotblonden Haaren und dem zarten, aber entschlossenen Gesicht trank wie ein Bursche und nicht wie eine Dame.

«Das wird schon», sagte Ernestine und deutete mit dem Kopf in Richtung Tür, wo jetzt die zaghaften ersten Takte von Papagenos Auftritt als Vogelfänger begannen. «So ist es doch immer, erst klingt es grauenhaft, aber je näher die Aufführung rückt, desto mehr reißen sich alle zusammen.»

Bertha nickte. Sie hatten es beide mehr als einmal erlebt: Erst das Lampenfieber kurz vor dem großen Moment holte alles an Konzentration und Hingabe aus den Musikern, den Sängerinnen und nicht zuletzt dem Dirigenten heraus, was für eine makellose, ergreifende Oper nötig war.

«Wer ist der Kapellmeister für Die Zauberflöte?», fragte Ernestine.

«Richard Wagner.» Bertha leckte sich die Lippen, die leicht süß schmeckten.

«Er ist immer sehr leidenschaftlich», sagte Ernestine lächelnd, was ihr etwas herbes Gesicht verzauberte. «Das Orchester wird noch einiges zu hören bekommen, ehe alles stimmt.»

«Ich will mir das mal aus der Nähe ansehen», sagte Bertha. «Kommst du hier zurecht?»

«Gehen Sie ruhig auf einen Rundgang, ich halte die Stellung.» Ernestine ging zurück zum Zuschneidetisch. «Aber mein Eisen ist kalt, ich brauche eine neue Zunge.» Sie öffnete die Ofenklappe und hustete, als ihr der Kohlenstaub ins Gesicht wehte.

Bertha verließ die Garderobe und lief leise den schummrigen Korridor entlang, in dem nur einige Gasleuchten brannten. Wenn gerade keine Vorstellung gegeben wurde, musste man auch im Königlichen Theater sparen.

Zweimal bog sie ab, dann stieg sie ein paar Stufen hinauf, wobei ihre Tritte von den dicken Teppichen gedämpft wurden, und schlüpfte durch eine rote, seidenbespannte Tapetentür. Schon stand sie in einer der Logen im ersten Rang und konnte hinunter auf die Bühne sehen. Auch hier herrschte keine volle Beleuchtung, der riesige Kronleuchter, der aus Abertausenden geschliffenen Kristalltränen bestand, hing dunkel in der Mitte der hochgewölbten Decke. Nur die Vertiefung des Orchestergrabens, eine Neueinführung des Kapellmeisters Wagner, und der vordere Teil der Bühne bildeten kleine Inseln aus Licht im dämmrigen Saal.

Bertha sah Richard Wagner mit erhobenen Händen auf dem Dirigentenpult, den Stab in der Hand, die kleine Brille vor die Augen gepresst, während er das Orchester anfeuerte. Zart umschmeichelten die Streicher den Gesang des Solisten, des Baritons, der die Rolle des Papageno sang. Und nach dem anfänglichen Straucheln klang beides jetzt recht gut zusammen. Prinz Tamino lag scheinbar schlafend in einer Ecke der Bühne in der Nähe des Vorhangs – wo er sich laut Libretto verbergen sollte, als er den Vogelfänger pfeifen hörte. Papageno dagegen schritt leichtfüßig und nur in Strumpfhosen und Unterhemd gekleidet auf der Bühne auf und ab. Er machte sogar an den richtigen Stellen ein paar Tanzschritte und fröhliche Hopser, während er von den Vögeln sang, die er fangen wollte, und von den hübschen Mädchen, die ihm ebenfalls ins Netz gehen sollten.

Bertha musste sich ein Lächeln verkneifen, als sie sah, dass sich die große Zehe des Solisten durch den Strumpf bohrte und dass auf seinen Wangen ein Bartschatten lag – besonders verführerisch wirkte er in diesem Aufzug auf die Damenwelt eher nicht. Vermutlich hatte er einen zu großen Teil der vergangenen Nacht in einer Schänke verbracht, anstatt noch einmal die Partitur zu studieren. Auch sein fertiges Kostüm musste noch angepasst werden, es lag zusammen mit der Vogelkiepe und den anderen Masken und Requisiten in Berthas Garderobe. Doch das kam alles später, wenn in wenigen Wochen Premiere gefeiert würde. Nun ging es darum, der Musik Herr zu werden.

Wieder wurde Papageno mitten in seiner Arie von einem Hustenanfall geschüttelt. Wagner brach die Probe ab und hieb wütend aufs Pult. Der Darsteller des Tamino hob kurz den Kopf aus seiner geduckten Stellung, sah sich verschlafen um, gähnte und ließ den Kopf wieder fallen, als er erkannte, dass sein Auftritt sich verzögerte.

«Meine Herren!», rief Wagner aufgebracht den Geigern zu. «Das ist forte, nicht mezzopiano! Sie sind viel zu schüchtern, viel zu leise!» Er raufte sich das braune Haar und schob sich die Brille wieder hinauf, die ins Rutschen gekommen war. «Herr Spielmann», herrschte er den Violinisten an, der am ersten Pult saß, «solange Herr Schubert unpässlich ist, sind Sie der Konzertmeister! Machen Sie Ihren Mitstreitern etwas Feuer unter dem Hinterteil, wenn ich bitten darf!»

Georg Spielmann rappelte sich auf, Bertha sah von ihrem Beobachtungsposten, dass er weiß im Gesicht geworden war. «Sehr wohl, Herr Kapellmeister», raunte er und hob die Geige zum Kinn. «Messieurs, Sie haben es gehört», blaffte er die anderen Herren im Orchester an, und murrend setzten sich einige von ihnen aufrechter hin.

Papageno auf der Bühne bohrte in der Nase, wurde fündig und schnippte seine Beute hinunter in den Bühnengraben. Von Tamino kamen inzwischen leise Schnarchgeräusche, und Bertha konnte noch immer nicht sagen, ob der Sänger alles nur spielte oder ob er tatsächlich eingeschlummert war.

«Da capo!», schnauzte Wagner.

Das Orchester begann erneut zu spielen, der Gesang setzte ein. «Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heißa hopsasa», sang der Bariton und vollführte einen halbherzigen Sprung über einen liegen gebliebenen Blumenkranz aus der gestrigen Vorstellung. Prinz Tamino hob widerwillig den Kopf. Er war in keinem besseren Zustand als der abgerissen wirkende Vogelfänger, wie Bertha jetzt erkannte, doch er fühlte sich immerhin bemüßigt, sich aufzusetzen und nach dem Grund für Papagenos Aufenthalt an diesem felsigen, unwirtlichen Ort zu fragen, wie es das Libretto vorschrieb.

«He da!», rief er schwerfällig und gähnte erneut. «Sag mir, du lustiger Freund, wer bist du?»

«Dumme Frage! Ich bin ein Mensch wie du», gab Papageno zurück. «Und wenn ich dich nun fragte, wer du seist?»

«Mein Vater ist Fürst, der über viele Menschen und Länder herrscht», leierte Tamino seinen Text herunter. «Darum nennt man mich Prinz.» Er hickste leise.