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Der Nummer-1-Bestseller aus Schweden Schweden in den achtziger Jahren. Die gescheiterte Polizistin Ingrid Wolt zieht in das Sommerhaus eines Freundes, um sich vor der Welt zu verstecken. Doch als ihr Freund, auch er Polizist, in einem Fall vermeintlichen Suizids von oberster Stelle an weiteren Ermittlungen gehindert wird, ist Ingrid als Privatdetektivin zur Stelle: Die verzweifelten Eltern der gerade 30-jährigen Lena, die mit der Familie ihres verstorbenen Mannes auf einem idyllisch gelegenen Bauernhof lebte, glauben nicht an Selbstmord. Und tatsächlich findet Ingrid bald immer mehr Hinweise darauf, dass Lena vor allem eines wollte: raus in die Welt – um jeden Preis ... Ingrid Wolt ermittelt in folgenden Fällen: - Den Tod belauscht man nicht (Band 1) - Das Paradies verrät man nicht (Band 2)
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ninni Schulman
Schwedenkrimi
Krimi
Susanne Dahmann
Ingrid Wolt schob ihren Putzwagen in die Abseite und wechselte von der Hoteluniform zu ihrer normalen Kleidung: Jeans, Trainingsjacke und Sportschuhe.
Bevor sie den Umkleideraum verließ, warf sie einen raschen Blick in den Spiegel, um zu kontrollieren, ob die dunkle Perücke richtig saß. Im Vorbeigehen verabschiedete sie sich von Tanja und eilte dann, ohne irgendjemanden zu grüßen, durch die feuchtwarme Waschküche und weiter durch das Wäschelager.
Langsam schob sie die schwere Hintertür auf und spähte auf die Straße hinaus.
Der Parkplatz vor dem Mora Hotel war ruhig. Keine Menschen in den Autos. Auch auf der Straße war niemand unterwegs. Nur im Tingsparken war eine Dame im Mantel zu sehen, die einen Pudel an der Leine führte. Ingrid sah sie eingehend an, dann setzte sie die Sonnenbrille auf und ging rasch zu ihrem neuen Auto, einem gebrauchten Volvo 240, an dessen Rückspiegel ein Bund Würfel hing. Als sie zu Beginn des Sommers aus dem Gefängnis Hinseberg entlassen worden war, hatte sie ihren alten Saab sofort gegen diesen Volvo eingetauscht, den Thomas ihr gekauft hatte. Rein prestigemäßig war das ein schlechter Tausch gewesen, aber das ließ sich nicht ändern. Der Volvo mit seinem abgeschabten Aufkleber des örtlichen Fußballvereins auf der Heckscheibe war definitiv die bessere Tarnung.
Sie setzte sich ins Auto und verriegelte die Türen, ließ den Blick über die umliegenden Straßen und das Amtsgericht wandern. Das Schlagholz aus ihren Brennballzeiten lag auf dem Beifahrersitz bereit. So schnell sie konnte, startete sie den Wagen und fuhr auf die Strandgatan hinaus.
Erst als sie das Stadtgebiet und auch die Reitschule hinter sich gelassen hatte, nahm sie die Sonnenbrille ab. Die Perücke musste auf dem Kopf bleiben, obwohl sie nach dem langen Arbeitstag höllisch juckte.
Auf der Höhe des Waldmuseums in Siljansfors bemerkte sie einen schwarzen Audi, der direkt nachdem sie vorbeigefahren war vom Parkplatz auf die Straße einbog. Er hatte schnell aufgeholt, blieb aber hinter ihr, obwohl die Strecke am Gutshof vorbei schnurgerade war.
Bei der Abzweigung zur Hütte hing er noch immer dicht hinter ihr. Ingrid wagte nicht abzubiegen, sondern fuhr in mäßiger Geschwindigkeit weiter auf der Landstraße.
»Jetzt überhol doch«, sprach sie in den Rückspiegel. »Kleb nicht einfach nur so hinter mir.«
Sie versuchte den Fahrer zu erkennen, aber dessen Sonnenblende war heruntergeklappt.
Erst als sie sich Kättbo näherten, blinkte der Wagen und wechselte die Spur. Ingrid stellte sich darauf ein, abgedrängt zu werden, sie umklammerte fest das Lenkrad, doch der Wagen fuhr geradeaus und verschwand hinter der nächsten Kurve. Sie bog etwas weiter auf einen Parkplatz ein und atmete tief durch, ehe sie wieder kehrtmachte.
Jetzt war niemand mehr hinter ihr, da war sie fast sicher, warf aber dennoch einen letzten Blick in den Rückspiegel, ehe sie auf den Traktorweg zur Hütte hinunter bog. Der dichte Wald reichte von allen Seiten bis an den Weg heran, aber das Grundstück, das hauptsächlich aus Blaubeersträuchern und spärlichem Gras bestand, hatte einen Uferstreifen am See, mitsamt Steg und ein paar glatten Felsen am Wasser, die im Sonnenschein immer noch lauwarm waren.
Hier konnte sie sich noch eine Weile vor der Welt verstecken.
Als Benny ihr angeboten hatte, sie könne, bis sie eine andere Lösung finde, gratis in der Sommerhütte wohnen, hatte sie das erleichtert angenommen.
Ingrid wünschte, sie könnte Anna einmal mit hierhernehmen, aber wenn das Jugendamt sehen würde, wie sie jetzt wohnte, mit Plumpsklo und ohne warmes Wasser, würde es noch länger dauern, ehe sie das Sorgerecht zurückbekäme. Sie hatte sich auf die Liste für die Wohnungsvermittlung in der Gemeinde eingetragen, und wenn sie wenigstens eine halbe feste Stelle im Hotel bekommen würde, dann müsste auch irgendwann mal ein Mietvertrag möglich sein.
Ingrid stellte den Motor ab, verließ das Auto und streckte sich.
Es roch nach warmem Moos und Kiefernnadeln, und aus der Entfernung war der Verkehr der Landstraße auf der anderen Seite des Sees zu hören. Das Geräusch gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Offenbar war sie doch nicht ganz allein im Universum, auch wenn es sich die meiste Zeit so anfühlte.
Als sie in die Hütte kam, nahm sie als Erstes die Perücke ab und platzierte sie auf dem eigens dafür angefertigten Ständer im Schlafzimmer. Es war ein teures Ding, bei einem richtigen Perückenmacher in Stockholm gekauft. Wieder einmal war es Thomas gewesen, der ihr geholfen hatte. Manchmal fragte sie sich, wie sie ohne ihren kleinen Bruder klarkommen würde.
Sie zog den Nylonstrumpf ab, der ihr echtes Haar am Platz hielt, und fuhr sich mit den Fingern durch den Haarschopf. Dann nahm sie den Bademantel, schlüpfte in die alten Holzschuhe von Bennys Großmutter und ging zum Steg hinunter. Die Birken am Ufersaum hatten schon gelbe Blätter bekommen, und Ingrid zitterte, als sie sich nach und nach auszog.
Der kleine See war auf allen Seiten von Wald umgeben. Weiter südlich konnte man zwischen den Baumstämmen ein paar Hütten erkennen, doch zu dieser Jahreszeit, Mitte September, standen sie alle leer. Ingrid hatte in den letzten Wochen keinerlei Anzeichen von Leben dort gesehen.
Der Kleiderhaufen zu ihren Füßen erinnerte sie an ihren ersten Tag auf Hinseberg, als die Chefwärterin Evy sie gezwungen hatte, in der gigantischen Wanne mitten im Waschraum heiß zu baden, während sie daneben stehen blieb und zuschaute. Als ob Ingrid entlaust und desinfiziert werden müsste, ehe sie die Anstalt betreten durfte. Der gekachelte Raum hatte mehr wie eine Anstalt für Geisteskranke aus früheren Zeiten ausgesehen als wie ein modernes Gefängnis.
Ingrid hatte zu argumentieren versucht, dass sie mindestens ebenso sauber würde, wenn sie duschte – immerhin gab es entlang der Wand eine Reihe dafür vorgesehener Nasszellen –, doch da hatte Evy sie auf die Regeln hingewiesen und ihr klargemacht, dass Ausnahmen keine Option waren, nicht einmal für sie, falls sie das glaube, nur weil sie Polizistin gewesen sei.
Evys Blick hatte sich in Ingrids nackte Haut gebrannt, und sie hatte ihr Bestes getan, nicht an die raue Emaille der Wanne zu denken und an die Hunderten von Frauenleibern, die schon vor ihr darin geschrubbt worden waren. Danach hatte sie sich schmutziger denn je gefühlt.
Jetzt ließ sie ihren BH und auch die Unterhose ganz oben auf den Kleiderhaufen fallen. Der See lag spiegelglatt, und das Wasser war so klar, dass sie einen Schwarm Stichlinge vorbeihuschen sehen konnte. Sie zählte auf drei, holte tief Luft und tauchte ein.
Wie man es Benny und Kenneth angekündigt hatte, hing die Leiche im Schlafzimmer. Die Schnur um den Hals der Frau, anscheinend eine Wäscheleine, war am Lampenhaken befestigt, und der Stuhl, auf dem sie gestanden hatte, lag umgeworfen am Fußende des Bettes.
Der Kopf war in einem spitzen Winkel zur Seite gekippt, und das lange Haar fiel ihr über die Schulter.
Wie eine Schlenkerpuppe, dachte Benny und vermied es, das bleiche Gesicht anzusehen. Die Deckenlampe, ein altmodischer Kronleuchter, stand neben dem Bett auf dem Fußboden.
Das Schlafzimmer war genau wie der Rest des Hauses sauber und aufgeräumt, am Fenster standen gepflegte Topfpflanzen. Das massive Doppelbett war sorgfältig gemacht und mit einem farbenfrohen Überwurf bedeckt.
Anscheinend hatte sie bis zum Schluss einen guten Eindruck machen wollen.
Kenneth richtete den Stuhl wieder auf und stieg darauf.
»Hältst du fest, dann schneide ich, okay?«, sagte er.
Benny nickte, umfasste fest die Taille der Frau und atmete durch den Mund. Als die Wäscheleine durchtrennt wurde, schwankte er, obwohl er darauf vorbereitet gewesen war, dennoch unter dem Gewicht. Kenneth sprang vom Stuhl, und gemeinsam legten sie die Leiche auf den Holzfußboden.
Benny schätzte, dass die Frau um die dreißig Jahre alt war. Obwohl das Kinn heruntergefallen und der Mund damit weit aufgerissen war, konnten sie sehen, dass sie hübsch gewesen war. Normal gebaut, gepflegte Fingernägel und gefärbtes Haar.
»Ich kenne sie«, sagte Benny. »Aber ich weiß nicht mehr, woher.«
»Ich auch«, erwiderte Kenneth. »Ich war hier, als ihr Mann vor ein paar Jahren gestorben ist. Sie heißt Lena.«
Benny ging in die Küche, während Kenneth einen neuen Film in die Kamera einlegte, um das Zimmer zu fotografieren. Kariertes Tischtuch und Bistrogardinen aus demselben Stoff. Die Pelargonien auf der Fensterbank blühten.
Die ältere Frau, die sie gerufen hatte, zupfte an einem Stück Küchenpapier herum. Auch sie kam ihm bekannt vor. Neben ihr am Tisch saß ein breitschultriger Mann in Arbeitshosen mit einer Kappe in der Hand.
Benny holte Notizblock und Stift heraus.
»Wir können mal mit Ihren Namen beginnen«, sagte er.
Die Frau schnäuzte und räusperte sich.
»Also, ich heiße Gunnel Nilsson, und ich bin Lenas Arbeitskollegin. Wir arbeiten zusammen im Coop hier auf der Insel.«
Natürlich, der kleine Supermarkt auf Sollerön. Jetzt fiel Benny wieder ein, wo er sie schon mal gesehen hatte. Er notierte ihren Namen und wandte sich dann an den Mann.
»Rune Hedström, Lenas Schwager. Und Nachbar. Lena war mit meinem jüngsten Bruder Eskil verheiratet, der leider vor ein paar Jahren verstorben ist. Meine beiden anderen Brüder wohnen auch auf diesem Hof.«
Er nickte aus dem Fenster zum Hauptgebäude hin.
Benny war von dem Haus, das mit seinen kunstvollen Holzschnitzereien im Giebel einem Gutshof ähnelte, beeindruckt und hatte zunächst angenommen, dass sie dorthin gerufen worden seien. Doch Lenas kleines Häuschen lag ein wenig abseits neben einem größeren Schuppen. Eine hohe Scheune rahmte das Grundstück auf der anderen Seite des Hofes ein.
»Aber Sie waren es, die die Polizei gerufen hat«, sagte Benny zu Gunnel.
»Ja. Ich arbeite schon lange mit Lena zusammen, und sie ist immer kerngesund und kommt nie zu spät zur Arbeit. Als sie nicht aufgetaucht ist, gestern nicht und heute auch nicht, und auch nicht ans Telefon gegangen ist, da habe ich mir Sorgen gemacht und bin hierhergefahren. Ich habe mehrmals geklopft, ganz laut, aber als keiner aufgemacht hat, habe ich die Klinke probiert, und die Tür war nicht verschlossen, also bin ich reingegangen. Vielleicht liegt sie hier und ist krank, dachte ich. Deshalb bin ich ins Schlafzimmer. Ich kann es gar nicht fassen …«
Gunnel schlug sich die Hand vor den Mund und holte ein paarmal tief Luft, ehe sie weiter sprach.
»So etwas Schlimmes habe ich noch nie gesehen, das muss ich sagen. Mir war sofort klar, dass sie tot ist, also bin ich in die Küche und habe mich aufs Telefon gestürzt. Dann bin ich rausgegangen. Hab’s einfach nicht ausgehalten, alleine hier drin zu sein. Als ich Rune vor der Scheune sah, bin ich hingelaufen und hab es ihm erzählt.«
Rune drehte seine Kappe in der Hand und schluckte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So jung und so was mit sich machen«, sagte er leise. »Bevor Sie gekommen sind, haben wir nach einem Abschiedsbrief gesucht, aber nichts gefunden.«
»Längst nicht alle schreiben einen«, versicherte Benny ihm.
»Sie war so nett«, sagte Gunnel. »Hilfsbereit und in jeder Hinsicht ordentlich und tüchtig.«
»Was würden Sie sagen, wie es ihr in letzter Zeit gegangen ist?«, erkundigte sich Benny.
»In der letzten Woche war sie irgendwie traurig oder … ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll … unruhig vielleicht. Ich habe sie gefragt, ob irgendetwas sie bekümmert, aber da hat sie gesagt, es sei nichts. Typisch Lena.«
Gunnel wischte sich die Augen.
Benny nickte und wandte sich an Rune.
»Ja, also, ich hab keine Ahnung. Sie war übers Wochenende verreist gewesen, das weiß ich, aber es ist lange her, seit ich richtig mit ihr gesprochen habe.«
Kenneth kam in die Küche und begrüßte die beiden.
»Mein Beileid«, sagte er, dann wandte er sich an Benny.
»Ich bin langsam fertig und ruf jetzt mal die Kripo an. Der Gemeindearzt dürfte auch innerhalb der nächsten Stunde hier sein.«
Kenneth verschwand durch die Tür.
»Hatte Lena Kinder?«
»Nein«, antwortete Rune. »Also, keines, das lebt. Sie hatten einen Jungen, der ist kurz nach der Geburt gestorben.«
»Was ist mit Eskil passiert?«, fragte Benny.
»Irgendwas mit dem Herzen«, meinte Rune. »Ist Knall auf Fall einfach so gestorben. Stark und gesund war er. Oder zumindest haben wir das gedacht.«
Manche Leute haben einfach schwer zu tragen, dachte Benny. Vielleicht war es nicht so verwunderlich, dass Lena sich entschieden hatte, ihr Leben zu beenden.
»Wer sind die nächsten Angehörigen, die wir informieren müssen?«, fragte er. »Mal abgesehen von Ihnen hier auf dem Hof?«
»Ihre Mutter und ihr Vater wohnen in Örnsköldsvik«, erklärte Rune. »Soweit ich weiß, sind das die einzigen Verwandten, die sie hat.«
Benny notierte die Namen der Eltern. Die Kollegen da oben im Norden würden es auf sich nehmen müssen, die Todesnachricht zu überbringen.
»Ja, also, wenn Sie mich nicht mehr brauchen, dann sollte ich zurück zur Arbeit fahren«, sagte Gunnel und erhob sich. »Die wundern sich bestimmt schon, wo ich bin. Was für ein schrecklicher Tag. Die arme Lena. Dabei war sie so nett.«
Ingrid hatte gerade Feuer im Kamin gemacht, als Benny auf den Hof gefahren kam. Inzwischen konnte sie das richtig gut, sie wusste genau, wie viel Zeitungspapier unter den Spänen nötig war und wie weit die Luke geöffnet werden musste, damit das Feuer in Gang kam.
Als die Holzkloben ordentlich brannten, schob sie die Luke wieder zu, erhob sich und wischte die Hände an ihrer Hose ab.
Benny stampfte die Treppe hinauf, blickte Ingrid schon durchs Fenster an und öffnete die Tür, ohne zu klopfen. Ein kühler Windzug wischte durch den Raum.
»Guten Abend in der Stube«, sagte er und legte einen Umschlag und eine Postkarte auf den Klapptisch. »Den Anrufbeantworter hab ich auch abgehört, aber da war nichts drauf.«
»Auch keine Nachricht vom Jugendamt?«
»Nix.«
Fast drei Wochen war es jetzt her, seit Ingrid Anna das letzte Mal hatte treffen dürfen. Normalerweise wartete Berit Sundhed nicht so lange damit, sich zu melden, um einen neuen Termin auszumachen. Vielleicht lag es daran, dass Anna gerade eingeschult worden war und sich jetzt an so viele neue Dinge gewöhnen musste. Auch wenn es schwer auszuhalten war, tat Ingrid ihr Möglichstes zu akzeptieren, dass ihre Tochter noch eine ganze Weile bei der Pflegefamilie in Sigtuna bleiben würde.
Sie schaute die Post durch. Der Brief war von Thomas, und die Karte, auf der das schwedische Königspaar zu sehen war, stammte von Majsan, mit der sie zusammen in Hinseberg gesessen hatte.
Mehrmals die Woche leerte Benny Ingrids Postfach in Mora und fuhr dann zu dem Hof in Kumbelnäs hinaus, wo sie im Sommer gewohnt hatte, um dort ihren Anrufbeantworter abzuhören. Sie waren übereingekommen, dass es am besten sei, wenn alle glaubten, sie würde immer noch dort wohnen.
»Sonst nichts?«, fragte Ingrid. »Nichts von Kjell?«
»Nein«, meinte Benny.
Kjell rief mindestens einmal in der Woche an und hinterließ Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Als Polizist wusste er natürlich, dass er sie nicht direkt bedrohen durfte, aber schon seine scheinheilig sanfte Stimme genügte, um ihr Todesangst einzujagen.
Auch wenn das nichts bedeutete, seufzte Ingrid erleichtert.
»Möchtest du etwas?«, fragte sie. »Kaffee? Ein Butterbrot?«
»Nein, alles gut«, sagte Benny und winkte ab. »Ulrika wartet mit dem Essen. Obwohl, einen schnellen Kaffee würde ich nehmen. Wenn du auch einen trinkst.«
Ingrid begann mit der Kaffeemaschine zu hantieren, füllte Wasser ein und maß Kaffeepulver ab.
»Manchmal phantasiere ich darüber, ihm eine Falle zu stellen«, gestand sie.
»Eine Falle? Willst du ihn von der Klippe schubsen?«
Benny sah aufrichtig besorgt aus.
Ich würde keine Sekunde zögern, wenn ich damit davonkommen könnte, dachte Ingrid, sagte es aber nicht.
»Nein, aber dass ich so tun könnte, als würde ich an seine guten Absichten glauben und dass wir uns mal aussprechen sollten. Und wenn wir uns dann sehen, würde ich alles heimlich aufnehmen.«
Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie ein solches Treffen überleben würde, aber irgendwie musste dieser Terror ein Ende haben.
»Das klingt wie eine richtig schlechte Idee«, entgegnete Benny.
»Ich weiß. Aber irgendwas muss ich tun. Ich kann mich nicht den Rest meines Lebens vor diesem Schwein verstecken.«
»Gibt es denn niemanden sonst, der bezeugen könnte, wie brutal er sein kann?«, fragte Benny. »Zusammen mit den ganzen Nachrichten würde das in einem Gerichtsverfahren vielleicht etwas nutzen.«
»Höchstens Conny«, erwiderte Ingrid, »sein bester Kollege. Aber der ist ja fast genauso übel. Die beiden sind mehrere Male wegen Übergriffen angezeigt worden, aber du weißt ja, wie das ist. Ein armer Besoffener gegen zwei Polizisten, die sich gegenseitig den Rücken freihalten.«
Ingrid schenkte Kaffee in zwei Becher und stellte den einen vor Benny hin. Erst jetzt bemerkte sie, wie fertig er aussah.
»Hattest du einen anstrengenden Tag?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Benny. »Ein Selbstmord, draußen auf Sollerön. Das schüttelt man nicht so leicht ab. Das weißt du ja.«
»Ich hab Zeit, wenn du reden möchtest.«
»Zu Hause erhängt. Eine Frau, gerade dreißig geworden. Ihre Arbeitskollegin hat sie gefunden.«
»War sie schon lange tot?«
Ingrid wusste, dass die Zeit nicht sehr rücksichtsvoll mit Leichen umging.
»Sie war seit gestern nicht bei der Arbeit erschienen, also könnte sie schon einen Tag dort gehangen haben. Es war kein schöner Anblick.«
Ingrid stellte die Kanne zurück in die Maschine und setzte sich. Diesen Teil der Polizeiarbeit vermisste sie überhaupt nicht. Fast alles andere fehlte ihr, aber das nicht.
»Irgendwie ist es immer besonders schlimm bei Selbstmorden«, fuhr Benny fort. »So unglaublich traurig und unnötig.«
Er nahm einen Schluck von dem heißen Kaffee und sah sie über den Becher hinweg an.
Sein neuer Ehering, noch völlig ohne Kratzer, glänzte im Licht des Fensters. Ingrid war immer noch jedes Mal irritiert, wenn sie ihn sah.
»Ja, furchtbar«, sagte sie. »Hatte sie Familie und Kinder?«
»Sie war Witwe«, antwortete Benny. »Kein lebendes Kind.«
Als Ingrid die Augenbrauen hochzog, erklärte er: »Sie hatte einen Sohn, der direkt nach der Geburt gestorben ist. Und dann der Ehemann, ganz plötzlich vor ein paar Jahren. Sie hatte Arbeit, ein schönes Häuschen auf dem Hof da draußen mit Verwandten um sich herum, aber trotzdem konnte sie nicht mehr.«
»Erinnerst du dich an den Mann auf den Gleisen in Kristineberg?«, fragte Ingrid.
»Oh ja, vielen Dank.«
Während ihrer gemeinsamen Zeit im Streifenwagen in Stockholm waren Ingrid und Benny mit einigen Selbstmorden konfrontiert worden. Ingrid erinnerte sich an die meisten davon, aber am schlimmsten war der junge Vater gewesen, der sich auf die S-Bahn-Gleise gelegt hatte. Ingrid hatten danach wochenlang Albträume geplagt, aber das hatte sie niemandem erzählt, aus Angst, als schwach und für die Polizeiarbeit nicht geeignet zu gelten.
»Ich denke immer noch manchmal an seine Familie«, sagte Benny. »Die Kinder müssen jetzt schon groß sein.«
Für Ingrid hatte die Hauptaufgabe als Polizistin darin bestanden, den Menschen zu helfen, aber manchmal kam jede Hilfe zu spät. Keine Antworten, keine Gerechtigkeit, keine Linderung. Alles, was dann blieb, war Trauer.
»Wird es nicht langsam kalt nachts?«, erkundigte sich Benny.
»Noch geht’s. Aber ich habe in der Kammer die Heizung angemacht.«
»Wir sollten bald die Innenfenster einsetzen. Die stehen im Schuppen. Ich kann dir dabei helfen.«
»Wenn du Zeit hast, gerne«, sagte sie.
»Das dauert nicht lange. Fehlt dir sonst irgendetwas hier? Mal abgesehen von Toilette und Badezimmer«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.
»Höchstens Musik«, erwiderte Ingrid. »Es gibt einen Kassettenrekorder, aber ich habe keine Kassetten.«
»Ich kann dir welche aufnehmen, wenn du willst«, sagte Benny.
»Ehrlich? Das wäre total nett.«
Ingrid ging ins Schlafzimmer und holte die Bowie-Platte, die sie gekauft hatte, als sie gerade aus dem Gefängnis gekommen war, und die sie während des Sommers in Kumbelnäs tagein, tagaus gehört hatte.
»Das kriege ich hin«, sagte Benny und betrachtete das Cover. »Kein Problem.«
Er leerte die Tasse in zwei großen Schlucken, stellte den Becher mit einem kleinen Knall auf den Tisch und erhob sich.
»So, jetzt ist es aber höchste Zeit für mich.«
Benny schob den Stuhl unter den Tisch und klemmte sich die Schallplatte unter den Arm.
»Warte«, sagte Ingrid und huschte an ihm vorbei in die Diele, wo ihre Handtasche hing. Sie holte ihr Portemonnaie hervor und hielt ihm zwei Zehnkronenscheine hin.
»Hier«, sagte sie. »Benzingeld.«
»Aber das musst du doch nicht.«
Er legte die Schallplatte auf die Hutablage und zog seine Jacke an.
»Nein, aber ich möchte es gerne. Du fährst mehrmals in der Woche wegen mir hin und her. Es ist schon genug, dass ich kostenlos hier in der Hütte wohnen kann.«
»Der Hütte tut es nur gut, wenn jemand hier wohnt und sich drum kümmert«, erklärte er, »jemand, der Feuer macht und lüftet und die Mäuse fernhält.«
»Das kann sein. Aber das Benzin kostet Geld, und ich möchte das geregelt haben. Sonst fühlt es sich nicht gut an. Und was sollte dann Ulrika sagen?«
Benny sah sie an und öffnete den Mund, doch es kamen keine Worte heraus.
»Bitte, nimm das Geld«, beharrte sie und trat einen Schritt näher. »Um meinetwillen.«
Widerwillig hob er die Hand und nahm die Scheine entgegen, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
»Es macht mir wirklich nichts aus hierherzufahren«, sagte er.
Mehrere Augenblicke stand er reglos da, dann trat er einen Schritt auf sie zu und legte seine Arme um sie. Ingrid kroch in seine Umarmung, sog den Geruch von Shampoo ein und schloss die Augen. Er musste nach der Arbeit auf dem Revier geduscht haben.
»Ingrid?«, fragte Benny und ließ sie los.
»Ja?«
Sie sah ihn an.
»Ja?«, fragte sie noch einmal.
Benny strich ihr sanft übers Haar, als wäre sie ein Kind, das man beruhigen müsste, dann drehte er sich um und zog sich die Schuhe an.
»Ich muss los. Wir hören.«
Noch ehe Ingrid etwas erwidern konnte, war er verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Auf dem Fußboden lagen noch die beiden Zehnkronenscheine.
Ulrika saß am Küchentisch und korrigierte Klassenarbeiten, als Benny in die Wohnung kam. Es duftete nach Essen, aber die Arbeitsfläche in der Küche war sauber, und das Geschirr stand tropfend und mit einem Handtuch darüber auf dem Gestell.
»Entschuldige, dass ich so spät bin«, sagte er und legte die Bowie-Platte auf die Kommode in der Diele. Schnell blätterte er durch die Tagespost, dann ging er zu Ulrika und legte seine Hand auf ihren Rücken.
»Ich hab mich schon gefragt, wohin du wohl verschwunden bist«, sagte sie und hob den Kopf, sodass er ihr einen Kuss geben konnte. »Ich war hungrig wie ein Wolf, deswegen habe ich schon vor einer Weile gegessen, aber das Essen steht im Ofen. Ist wahrscheinlich noch warm.«
Benny nahm die Form mit Hackbraten heraus und holte sich einen Teller. Ohne dass es ihm bewusst war, gab er einen Seufzer von sich.
»Bist du müde?«, fragte Ulrika.
»Es war ein anstrengender Tag«, erwiderte Benny und setzte sich an die freie Seite des Küchentisches, die nicht mit Papier bedeckt war.
»Ich war noch kurz draußen bei Ingrid und habe ihr Post gebracht.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Ulrika und korrigierte weiter.
»Wie immer. Aber es wird langsam kalt, ich muss ihr spätestens am Wochenende helfen, die Innenfenster einzusetzen.«
»Ich begreife ja nicht, wie sie das aushält, ganz allein da draußen im Wald zu wohnen. Aber klar, verglichen mit Hinseberg ist wahrscheinlich das meiste besser.«
»Ja, das kann man annehmen.«
Benny aß schweigend, während Ulrika sich den letzten Klassenarbeiten auf dem Stapel mit ihrem besonderen Korrekturstift widmete. Rot an einem Ende, blau am anderen.
Ulrika wusste alles über Ingrid. Fast alles. Dass Benny und sie viele Jahre in Stockholm zusammengearbeitet hatten, dass sie in Hinseberg gesessen hatte, nachdem sie aus Notwehr ihren Exmann angeschossen hatte, und dass sie sich jetzt vor ihm versteckte.
Aber dass Benny und Ingrid vor langer Zeit ein Paar gewesen waren und dass Ingrid ihm das Herz gebrochen hatte, das wusste Ulrika nicht.
Benny war völlig überrumpelt gewesen, als sie sich zufällig im Sommer in Mora begegnet waren. Ingrid war auf gut Glück hierhergezogen, ohne irgendjemanden zu kennen. Die Jahre im Gefängnis hatten sie rauer gemacht, entschlossener, aber unter der Oberfläche war sie immer noch dieselbe. Er hatte ihr bei einem Fall geholfen, den sie übernommen hatte, und bald musste er einsehen, dass er sich in ihrer Nähe immer noch so wohl fühlte wie früher.
In der Woche vor der Hochzeit hatte er jede Nacht wach gelegen und über die Situation gegrübelt.
»Natürlich hast du Bedenken«, hatte Kenneth gesagt, als Benny eines Morgens so sehr gähnte, dass er sich fast den Kiefer ausrenkte. »Dein Leben, wie du es kennst, ist bald aus und vorbei.«
Das hatte er mit Wärme in der Stimme gesagt, mit der Weisheit und Erfahrung eines glücklich verheirateten Vaters von vier Kindern. »Es wird schon gut werden«, hatte er hinzugefügt und Benny auf die Schulter geklopft. »Glaub mir. Eine bessere Frau als Ulrika ist schwer zu finden.«
Und Benny hatte sich entschieden, auf Kenneths Einschätzung zu vertrauen. Die nächtlichen Hirngespinste, das waren doch nur die Nerven.
Doch es half nichts. In der darauffolgenden Nacht lag er wieder hellwach im Bett.
Die Hochzeit war seit einem halben Jahr geplant, alles war vorbereitet. Die alte Dalarna-Tracht seines Großvaters hing frisch gebügelt im Schlafzimmer, der Gemeinderaum war gebucht. Aus allen Himmelsrichtungen würden Verwandte und Freunde kommen. Benny hatte nicht die Kraft gehabt, das alles aufzuhalten.
Ulrika hatte die letzte Arbeit fertig korrigiert, und ihre Lippen bewegten sich lautlos, als sie die Punkte zusammenzählte.
»Was ist denn?«, fragte sie und schob das Papierbündel in eine Plastiktasche.
Benny sah sie verständnislos an.
»Du sitzt da und seufzt.«
Benny hatte nicht bemerkt, dass er geseufzt hatte, und auch nicht, dass er gegessen hatte, aber der Teller vor ihm war leer.
»Wir hatten heute einen Selbstmord«, sagte er. »Das kann man nur schwer vergessen.«
»Okay«, sagte sie und legte den Kopf schief. »Das verstehe ich.«
Und ich glaube nicht, dass du das tust, dachte er. Du hast noch niemals einen kalten und leblosen Körper in deinem Arm gehalten, an deine Wange gedrückt. Hast noch nie den Geruch des Todes verspürt.
»Sie hat sich mit einer Wäscheleine im Schlafzimmer erhängt«, erzählte er.
Ulrika verzog das Gesicht.
»Igitt. Ich kriege Albträume, wenn du so was erzählst.«
»Ich weiß«, sagte er. »Entschuldige.«
»Sollen wir nicht versuchen, die Gedanken zu vertreiben? Was meinst du? In einer Stunde fängt Falcon Crest an. Das wäre doch gemütlich, oder?«
Ingrid setzte sich an den Küchentisch, zog sich die Decke über die Schultern und legte das Tagebuch vor sich hin. Im Kamin knackte das Feuer und verbreitete eine behagliche Wärme, die trotzdem nicht gegen die abendliche kalte Zugluft ankam. Die zusätzlichen Innenfenster einzusetzen, war sicher keine schlechte Idee.
Etwas abwesend fuhr sie mit dem Zeigefinger über den Text auf der ersten Seite des Buches: Für Anna.
Noch immer klang in ihr das starke Gefühl nach, das Bennys Umarmung und sein zärtliches Streicheln bei ihr ausgelöst hatte. Was hatte er sagen wollen?
Ingrid hatte bis zum Schluss gehofft, dass er die Hochzeit im Sommer absagen würde, doch das hatte er nicht getan und das musste natürlich auch etwas bedeuten. Was also war das hier?
Ein weiteres Mal verfluchte sie sich selbst dafür, dass sie damals, vor langer Zeit, in einem völlig anderen Universum sich von Kjells Blick hatte hypnotisieren lassen. Wie viel besser wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie an jenem Abend in eine andere Richtung geschaut hätte. Aber das hatte sie nicht getan, und Reue half ihr auch nicht weiter.
Die Küchenlampe warf einen sanften Lichtkreis um den Tisch, der Rest des Zimmers lag im Dunkeln. In der hinteren Ecke thronte ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher auf einer Kommode. Daneben stand ein Sofa mit kratzigem Bezug, auf dem Ingrid so gut wie nie saß – es war unbequem, und außerdem musste man den Kopf zur Seite drehen, wenn man den Bildschirm sehen wollte. Wenn sie fernsah, zog sie sich einen Holzstuhl vor den Apparat.
Außer dem großen Raum gab es noch zwei kleine Schlafzimmer, eines mit einem Doppelbett und eines mit einem eingebauten Etagenbett mit Vorhängen, die man zuziehen konnte, sodass es sich wie eine Höhle anfühlte. Anna würde es lieben, in so einem Bett zu schlafen. Ingrid gefiel es, dass die Hütte nicht so groß war. Der begrenzte Raum gab ihr ein Gefühl von Kontrolle.
Das Haus in Kumbelnäs hatte überall geknarrt und gequietscht und ihr abends oft einen Schreck eingejagt. Manchmal hatte sie den Eindruck gehabt, im oberen Stockwerk würde jemand gehen. Hier war es still. Nur das Knacken des Feuers im Kamin war zu hören, und das klang einfach nur gemütlich.
Ingrid schlug das Buch auf, nahm den Kugelschreiber und beugte sich vor.
Liebe Anna,
jetzt ist es schon viele Wochen her, seit wir uns gesehen haben, aber ich denke die ganze Zeit an dich und frage mich, wie es dir wohl geht. Dass du nun schon ein großes Schulmädchen bist! Ich wünschte, ich hätte an deinem ersten Schultag dabei sein können, doch das ging nicht. Nächstes Mal, wenn wir uns sehen, will ich alles über deine Klassenkameraden und über deine Lehrerin erfahren, und außerdem will ich deine Schulbücher anschauen.
Bereits im Gefängnis hatte Ingrid begonnen, an ihre Tochter zu schreiben. Damals war Anna vier Jahre alt gewesen, und auch wenn man ihr noch nicht erklären konnte, was passiert war und wie furchtbar falsch damals alles gelaufen war, wollte Ingrid es dennoch versuchen. Eines Tages würde sie Anna das Buch geben. Selbst wenn sie es nicht verstand, würde sie dennoch wissen, wie sehr sie geliebt worden war und wie viel Ingrid an sie gedacht und sich danach gesehnt hatte, wieder mit ihr zusammen zu sein.
Bei ihrem ersten Treffen nachdem Ingrid wieder draußen war, verhielt sich Anna sehr zurückhaltend und traute sich kaum, etwas zu sagen. Ihr kleines Mädchen war in den Jahren, die vergangen waren, zu einer anderen geworden, zu dem Kind einer anderen. Ihr Zuhause, ihr sicherer Rückzugsort, war jetzt bei den Pflegeeltern in Sigtuna, doch Berit vom Jugendamt hatte ihr Bestes getan, um Ingrid und Anna zu helfen, sich neu kennenzulernen.
In ihren dunkelsten Stunden zweifelte Ingrid daran, ob sie überhaupt ein Recht auf ihre Sehnsucht hatte oder ob sie sich nicht besser zurückziehen und Anna weiterhin mit ihrer neuen Familie in Frieden leben lassen sollte. Doch wenn sie sich gegen Anna entschied, gab es nicht mehr viel, wofür es sich zu leben lohnte. Dann könnte sie genauso gut aufgeben, wie die Frau auf Sollerön.
Ich hoffe, dass du schnell lesen und schreiben lernst, sodass wir bald anfangen können, uns Briefe zu schreiben, einander Dinge zu erzählen, die kein anderer wissen muss. Bis dahin schreibe ich weiter in dieses Buch hier.
Berit könnte sich jeden Tag wegen einer neuen Verabredung melden. Am folgenden Tag hatte Ingrid vor, zum ersten Mal, seit sie von dort geflohen war, wieder selbst nach Kumbelnäs zu fahren, um den Anrufbeantworter abzuhören. Sie durfte keine Nachricht verpassen, und sie konnte Benny nicht schon wieder darum bitten.
Und wenn sie sowieso schon mal da war, würde sie die Gelegenheit nutzen, um Anna selbst anzurufen. In den letzten Wochen hatten sie mehrmals am Telefon miteinander gesprochen, und das ging immer besser, auch wenn Anna immer noch recht einsilbig war.
Ingrid schrieb noch ein paar Zeilen, dann klappte sie das Buch zu. Alles würde gut. Sie musste nur Geduld haben. Diese Worte wiederholte sie wie ein Mantra: Geduld haben. Geduld haben. Das war leicht zu sagen, aber unendlich schwer zu tun.
Kjell schloss den Wagen ab und ruckelte zur Sicherheit noch einmal am Türgriff. Eigentlich hätte er genauso gut die U-Bahn nehmen können, von seiner Wohnung in Skärmarbrink bis zur Polizeizentrale auf der Kungsholmsgatan brauchte man nicht länger als eine Viertelstunde, aber er hasste es, sich zwischen die Leute drängen zu müssen. Und am meisten hasste er, wenn sie aufstanden und ihm einen Platz anboten, weil sie den Stock sahen.
Conny kam auf dem Weg über den Parkplatz mit raschen Schritten hinter ihm her.
»Hallöchen«, sagte er und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Wie geht’s?«
Während der Jahre im Einsatzbus waren sie gute Kollegen gewesen, und Conny war einer der wenigen, denen er in jeder Situation vertraute. Im Unterschied zu manchen anderen schreckte er vor nichts zurück. Da waren sie sich ähnlich.
»Na, wie soll’s schon gehen?«, erwiderte Kjell. »Großartig natürlich.«
Er hasste Connys mitleidige Miene, wusste genau, was der dachte. Kjell war zu einem alten Mann, einem Erbsenzähler hinterm Schreibtisch verkommen, eine Belastung für die ganze Truppe. Richtige Polizisten arbeiteten draußen. So war es, Punkt.
»Du lebst«, war Connys Standardkommentar, wenn sie sich ab und zu dem Thema näherten. »Sei froh.«
Aber Kjell war nicht froh. Er wäre lieber gestorben, als in diese Parodie eines Polizisten und Mannes verwandelt zu werden. Die Schmerzen plagten ihn rund um die Uhr und ließen ihn nächtelang in der Wohnung auf- und abwanken. Nein, er war wirklich nicht froh.
Seine religiöse alte Großmutter pflegte immer über das Verzeihen zu predigen und meinte, er müsse sich mit seinem Schicksal versöhnen, um wieder glücklich zu werden. Dann zitierte sie gerne Jesaja: »Ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.«
Ein lächerlicher Gedanke.
Er hatte alles verloren, und das Einzige, was ihn am Leben erhielt, war der Gedanke an Rache. Die detaillierten Phantasien darüber, was er tun würde, waren der einzige Grund, warum er morgens aus dem Bett stieg, obwohl ihm von Schmerztabletten und Schlafmangel schwindlig war. Denn es musste doch eine Gerechtigkeit im Leben geben. Was hatte das alles denn sonst für einen Sinn?
Auge um Auge, Zahn um Zahn, das war ein Bibelwort nach seinem Geschmack.
»Ein schönes Wochenende gehabt?«
Conny lächelte sein Colgate-Lächeln und schwang die Trainingstasche über die Schulter.
»Die Fotze ist aus dem Gefängnis raus«, entgegnete Kjell.
»Ja, ich weiß. Ich habe sie und die Tochter irgendwann im Sommer auf Gröna Lund getroffen.«
»Was? Warum hast du das nicht erzählt?«
Conny zuckte mit den Schultern.
»Das war in den Ferien, und als ich zurückkam, hatte ich es schon wieder vergessen. Wusstest du nicht, dass sie draußen ist?«
»Nein, aber jetzt weiß ich es.«
Conny ging vor ihm durch die Eingangstür und hielt sie auf, sodass Kjell hinterherhumpeln konnte.
»Ich habe angefangen, sie zu treffen«, sagte er.
»Ingrid?«
»Nein, verdammt noch mal. Anna.«
Conny hielt inne.
»Was ist denn?«, fragte Kjell. »Ich bin ihr Vater. Warum sollte ich nicht?«
»Ach nichts.«
»Raus mit der Sprache. Glaubst du, ich sehe dir nicht an, dass du was denkst?«
»Ich meine nur, vorher warst du ja nicht sonderlich interessiert«, meinte Conny. »Also, bis später dann.«
Mit raschen Schritten verschwand der Kollege die Treppe hinauf.
Wie üblich dauerte es ewig, bis der Fahrstuhl kam. Was war hier eigentlich das Problem? Kjell hämmerte auf den Knopf.
Als die Tür endlich aufging, schob er sich in die Kabine. Den ganzen Weg nach oben starrte er sich selbst im Spiegel an. Sein Oberkörper sah fast so aus wie früher, er trainierte nach wie vor mehrmals in der Woche auf Kraft. Aber mit den Beinen war nicht viel los. Ein Krüppel. Er hatte überhaupt keine Probleme, an einem Bartresen Bräute aufzureißen, aber wenn er dann nach einem Gang zum Klo wieder zurückkam, hatten die jedes Interesse verloren.
Inzwischen hatte er das Zimmer ganz am Ende des Korridors. Das war ihm recht, denn so kamen nicht ständig irgendwelche Kollegen vorbei, um Small Talk mit ihm zu machen. Das Wirtschaftsdezernat. Etwas Langweiligeres gab es nicht, auch wenn es natürlich schön war, das ein oder andere Oberschichtschwein in den Knast zu bringen.
Das Adrenalin fehlte ihm, die Demonstrationen und die Hooligans, die aufgewühlten Massen, die einem das Blut in den Ohren rauschen ließen. Oder wenn sie die Tür zu einem Gangsterunterschlupf aufbrachen und er mit Conny an seiner Seite reinstürmte. Hinterher das Plaudern mit den Kollegen. Das waren Erfahrungen, die niemand in dieser Abteilung von Schwächlingen auch nur annähernd besaß.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und wippte mit dem Stuhl. Die Putzfrau schaffte es einfach nie, das gerahmte Foto von Anna an den richtigen Platz zurückzustellen. Das war jetzt wirklich langsam lächerlich. Er schob das Bild ein wenig zur Seite, nahm den Hörer ab und wählte die Nummer, die er inzwischen auswendig wusste. Als er Ingrids Stimme auf dem Anrufbeantworter hörte, stieg sein Puls.
»Hallo, Ingrid. Ja, ich bin es wieder. Kjell.«
Benny spannte ein Anzeigenformular in die Schreibmaschine ein und suchte nach seinen Notizen zu der Sachbeschädigung in Nusnäs. Er blinzelte ein paarmal, um die Müdigkeit nach einer erneuten schlaflosen Nacht zu vertreiben, während er versuchte, sein eigenes Gekrakel zu entschlüsseln.
Nach drei eingehackten Wörtern wurde er von Margarita vom Empfang unterbrochen, die in den Dienstraum kam.
»Da draußen ist ein Paar, das nach dir fragt«, sagte sie.
»Nach mir?«
Es war eher ungewöhnlich, dass auf dem Revier jemand ausgerechnet nach ihm fragte. Meist war er nur ein anonymer Polizist in Uniform, irgendjemand, ein Rädchen im Getriebe. Ein wichtiges Rädchen, so dachte er gerne, aber doch nur ein namenloses Rädchen.
»Es geht um einen Selbstmord auf Sollerön«, erklärte Margarita. »Es sind die Eltern, die ein paar Fragen haben.«
Benny erhob sich und schaute durch die Glasscheibe. Dort stand ein älteres Ehepaar und sah sich um. Sie in pflanzengefärbtem Rock und die Haare zu einem Knoten im Nacken gebunden, er im karierten Hemd und mit einer marineblauen Sportjacke, die neu aussah.
»Wir gehen in das kleine Besprechungszimmer«, sagte Benny und stand auf, um ihnen entgegenzugehen.
Der Mann streckte ihm eine große Hand hin und stellte sich als Birger vor. Die Frau, Elsa, besaß einen fast ebenso kräftigen Händedruck. Körperliche Arbeit, dachte Benny. Diese zwei sind es gewohnt zuzupacken.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte er und machte eine Geste zum Tisch.
»Danke«, sagte Birger und setzte sich.
Seine Ehefrau ließ sich neben ihm nieder und rückte den Stuhl näher zu ihrem Mann.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«
Wahrscheinlich wollten die beiden hören, wie das alles vor sich gegangen war, um es auf diese Weise etwas realer zu machen.
»Also, wir haben gehört, dass Sie es waren, der sie gefunden hat«, erklärte Birger und sah Benny mit rot geränderten Augen an.
»Das stimmt«, sagte Benny. »Ihre Arbeitskollegin Gunnel Nilsson hat uns alarmiert, und dann sind mein Kollege und ich hingefahren.«
Mehr wollte er nicht sagen. Nichts über die Wäscheleine am Lampenhaken, nichts von dem umgeworfenen Stuhl. Nur auf Fragen antworten.
Birger griff unter dem Tisch nach Elsas Hand und fragte dann:
»Wie lange ist sie schon tot gewesen?«
»Das ist schwer zu sagen, aber wahrscheinlich zwischen zwölf und vierundzwanzig Stunden.«
»Sie kann sich nicht umgebracht haben«, sagte Elsa. »Das ist nicht möglich.«
Benny faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und wartete ruhig auf die Fortsetzung. Mit dieser Reaktion war er vertraut. Der erste Schock, der in Unglauben überging, oft vermischt mit einer großen Dosis Schuldgefühle. Hätten sie etwas tun können? Warum hatte ihre Tochter ihnen nicht erzählt, dass es ihr schlecht ging?
»Wenn das in dem Jahr passiert wäre, als sie das Kind verloren haben, oder nachdem Eskil gestorben ist, dann wäre es etwas anderes«, sagte Elsa. »Da ging es ihr richtig schlecht, aber jetzt … So fröhlich wie in diesem Sommer hat sie seit Jahren nicht geklungen.«
»Es gab auch keinen Abschiedsbrief«, schob Birger ein.
»Nicht alle schreiben einen«, gab Benny zu bedenken. »Ich verstehe, dass Sie schockiert sind. Selbstmord kommt oft ohne Vorwarnung für die Angehörigen, aber ihre Arbeitskollegin, die sie gefunden hat, meinte, sie habe in der letzten Woche traurig und besorgt gewirkt.«
»Aber in ihrem Haus hat so viel nicht gestimmt«, sagte Elsa. »Da lagen Bücher aus der Bibliothek, die sie erst letzte Woche ausgeliehen hatte, der Kühlschrank war voller Essen, und in der Waschmaschine war sogar noch nasse Wäsche. Hätte sie sich denn das Leben genommen, während sie gleichzeitig dabei war, Wäsche zu waschen?«
Benny wusste nicht, was er sagen sollte. Weder Kenneth noch ihm selbst war irgendetwas in dem Haus seltsam vorgekommen. Es gab zwar keinen Abschiedsbrief, aber auch keine Anzeichen dafür, dass es sich um einen Mord handeln könnte. Im Badezimmerschrank hatten mehrere Döschen mit Beruhigungsmitteln gestanden, und auf dem Nachttisch hatte eine Schachtel mit Tabletten gegen Unruhezustände und Schlafstörungen gelegen, was man so interpretieren konnte, dass sie vielleicht depressiv gewesen war.
In die Waschmaschine zu schauen, war ihnen nicht in den Sinn gekommen.
»Haben Sie denn den Tatort nicht untersucht?«, fragte Birger.
»Wir haben Fotos gemacht und sind nach dem üblichen Prozedere vorgegangen«, sagte Benny.
Es hatte keinen Grund gegeben, das Haus als einen Tatort zu betrachten.
»Ich würde die Fotos gerne sehen«, sagte der Vater.
Benny nickte und stand auf, um den Bericht zu holen. Vielleicht würden sie den Tod ihrer Tochter eher realisieren, wenn sie die Fotos sahen.
Als Benny mit dem Ordner zurückkam, weinte Elsa leise, und Birger strich ihr sanft über den Rücken. Beide erstarrten, als er auf Anhieb die richtige Seite aufschlug. Er legte den Ordner ein Stück von ihnen entfernt auf den Tisch, damit sie sich dem schrecklichen Anblick in ihrem Tempo und auf ihre Weise nähern konnten. Elsa schlug die Hand vor den Mund und wandte sich ab, doch Birger beugte sich vor.
Das erste Bild, das aus einiger Entfernung aufgenommen worden war und das ganze Schlafzimmer zeigte, konnte er noch ansehen, aber als es zu den Nahaufnahmen von Lenas blassem Gesicht und dem grotesk aufgerissenen Mund kam, schob auch er den Ordner weg und schlug sich die Hände vor die Augen. Seine Schultern bebten. Jetzt war es Elsa, die ihn mit einer Hand auf seinem Arm zu trösten versuchte.
Benny ging und holte Papiertücher, die er ihnen auf den Tisch legte.
Als das Weinen etwas verebbt war, schaute Birger auf. Seine Wangen waren noch feucht.
»Sie müssen eine Ermittlung einleiten«, sagte er und wischte sich übers Gesicht.
Ehe Benny antworten konnte, klopfte es an der Tür, und Kenneth steckte den Kopf hinein.
»Wir müssen los«, sagte er. »Eine Massenkarambolage in Färnäs, die brauchen Verstärkung.«
»Okay«, sagte Benny. »Ich komme.«
Als Kenneth die Tür geschlossen hatte, wandte er sich wieder Birger und Elsa zu.
»Wurde sie auf irgendeine Weise bedroht?«, fragte Benny. »Haben Sie jemanden im Verdacht?«
»Nein«, sagte Birger. »Das haben wir nicht. So ist es nicht.«
»Irgendwas stimmt einfach nicht«, erklärte Elsa und machte eine hilflose Geste mit den Armen. »Wir spüren es beide. Unsere Lena würde so etwas nicht tun.«
»Leider muss ich jetzt los, aber Sie können natürlich, wenn Sie wollen, eine Anzeige erstatten«, sagte Benny. »Dann ginge der Fall an das Gewaltdezernat. Ich selbst bin nur Ordnungspolizist.«
»Das werden wir tun«, sagte Birger. »So kann es jedenfalls nicht stehen bleiben.«
Ingrid behielt die Perücke auf, als sie sich nach der Arbeit Richtung Kumbelnäs aufmachte, um den Anrufbeantworter abzuhören. Seit ihrer überstürzten Flucht war sie nicht mehr dort gewesen, und es fühlte sich wie eine Zeitreise an, wieder auf der schmalen Straße durch Bonäs zu fahren. Beim letzten Mal war noch Hochsommer gewesen, jetzt leuchteten die Birken schon in sattem Gelb.
Am Mittsommerbaum, der ihr schon bei ihrem ersten Besuch in Våmhus als Wegweiser gedient hatte, bog sie nach rechts ab. Langsam fuhr sie durch den Ort mit seinen alten Scheunen und Höfen, den kunstvoll gemauerten Schornsteinen aus Ziegelstein, den roten Häusern mit ihren grasbewachsenen Dächern.
Ein Stück weiter auf der Straße entdeckte sie Donna, die Stöberhündin, mit der sie immer Gassi gegangen war, als ihr Herrchen sich das Bein gebrochen hatte. Jetzt war Sixten wieder gesund und konnte ohne Beschwerden mit ihr spazieren gehen.
Obwohl sie ganz sicher war, dass sie mit dem dunklen Pagenkopf niemand erkennen würde, setzte Ingrid sich doch die Sonnenbrille auf, als sie sich den beiden näherte. Auch wenn sie so gern angehalten und sie begrüßt hätte, rollte sie mit heruntergeklappter Sonnenblende an ihnen vorbei. Je weniger Leute wussten, dass sie in der Gegend war, desto besser.
Verdammter Kjell. Auch das hatte er ihr genommen.
Ingrid schaute sich in alle Richtungen um, bevor sie auf den Hof einbog, der von Scheunen, Schuppen und kleinen Gebäuden aus verschiedenen Jahrhunderten umgeben war. An ihrem ersten Abend dort hatte sie mit einem Glas Wein auf der Treppe zum alten Speicher gesessen und über das Wohnhaus und die blühenden Beete geschaut. Über allem hatte ein romantischer Schimmer gelegen, und sie hatte zum ersten Mal seit Jahren ausatmen können. Jetzt war dieses Gefühl verschwunden.
Ingrid drehte eine Runde mit dem Volvo über den Hof und suchte nach Anzeichen, ob jemand dort gewesen war. Doch die Fenster waren verschlossen, und im hohen Gras waren keine Reifenspuren zu entdecken.
Sie parkte vor der Eingangstür mit der Schnauze des Wagens in Richtung Straße, bereit zur Flucht, falls es nötig sein sollte. Dann nahm sie ihr Schlagholz vom Beifahrersitz und stieg mit dem Autoschlüssel in der Hand vorsichtig aus. Die Fahrertür ließ sie offen stehen.
Ingrid sah sich um, als sie die Eingangstür aufschloss, öffnete sie dann vorsichtig und horchte.
Eine Weile stand sie ganz still auf der Schwelle, richtete ihre Aufmerksamkeit auf das obere Stockwerk. Knarrte da oben der Holzfußboden?
Sie ließ die Eingangstür weit offen stehen, schob einen mit Dala-Malereien verzierten Stein als Türstopper davor und ging mit dem Schlagholz im Anschlag direkt durch die Küche und dann weiter in den Saal, wie sie das Wohnzimmer immer genannt hatte, wo das Telefon stand.
Der Anrufbeantworter blinkte.
Ohne das Holz wegzulegen, drückte Ingrid auf den Abspielknopf. Während das Band anlief, ließ sie ihren Blick über das Zimmer schweifen, dann schaute sie unter das Sofa, hinter den großen Holzschrank und spähte schließlich aus dem Fenster.
»Hallo. Hier ist Berit Sundhed vom Jugendamt. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ich finde, es ist höchste Zeit, das nächste Treffen zu vereinbaren. Freitags hat Anna bereits mittags Schule aus, und das wäre vielleicht ein guter Tag. Rufen Sie mich gerne zurück, wenn Sie das hier hören. Viele Grüße und tschüs.«
Ingrid schloss die Augen vor Dankbarkeit. Die gute Berit. Hinter der strengen Beamtenfassade wollte sie wirklich das Beste.
Das Band lief weiter, und die nächste Nachricht wurde abgespielt.
»Hallo, Ingrid. Ja, ich bin es wieder. Kjell.«
Ingrid wurde eiskalt, als sie seine Stimme hörte, ihre Muskeln erstarrten.
»Du hast nicht zurückgerufen, und ich kann mir vorstellen, dass du meinst, ich wäre dir immer noch böse, aber das bin ich nicht. Vielleicht hat alles auf irgendeine Weise einen Sinn. Aber ich denke auch, dass wir uns sehen und aussprechen sollten. Immerhin haben wir ein Kind zusammen.«
Das war die sanfte Stimme, die trügerisch freundliche Stimme.
»Wenn Anna und ich uns das nächste Mal treffen, ist der Plan, dass sie hier übernachtet, in ihrem alten Zimmer. Mit meiner Gesundheit geht es aufwärts, deshalb kann sie vielleicht bald ganz zu mir ziehen. Was hältst du davon? Wie auch immer, ich denke, dass es an der Zeit ist, dass wir uns sehen und reden. Pass auf dich auf.«
Ingrid stützte sich am Telefontisch ab. Der Fußboden unter ihr schwankte, die Wände fuhren Karussell. Ohne das Schlagholz loszulassen, wankte sie in die Diele und hinaus aus der Tür. Der Schweiß klebte unter der Perücke, und es fühlte sich an, als würde sich ihr Magen umdrehen. Mit der Hand vor dem Mund stolperte sie die kleine Treppe hinunter und übergab sich in das Blumenbeet.
Anna durfte nicht bei Kjell übernachten. Niemals. Das war völlig ausgeschlossen.
Ihre Beine zitterten, und sie sackte auf der untersten Treppenstufe in sich zusammen.
Nein, Anna durfte nicht dort schlafen.
Als Ingrid sich den Mund abgewischt und wieder zu Atem gekommen war, ging sie hinein, um Berit anzurufen. Während es klingelte, trat sie ungeduldig auf der Stelle, bis schließlich eine Telefonistin ranging.
»Sie rufen Berit Sundhed an, aber sie ist den Rest des Tages dienstlich unterwegs. Soll ich ihr eine Nachricht hinterlassen?«
»Ja, gerne«, sagte Ingrid. »Also hier ist Ingrid Wolt. Schreiben Sie ihr, dass meine Tochter Anna nicht bei ihrem Vater übernachten darf. Absolut nicht. Unter keinen Umständen.«
»Okay«, sagte die Telefonistin, »ich werde es weiterleiten.«
Ingrid legte auf und sank auf den Hocker neben dem Tisch. Ihre Knie waren immer noch weich.
Als das Telefon klingelte, starrte sie es an, wagte aber nicht, den Hörer abzunehmen. Nach fünfmaligem Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Jemand räusperte sich, dann sagte eine Stimme:
»Hallo. Ja. Also, ich wollte Kontakt mit dem Siljan Büro für Privatermittlung aufnehmen. Mein Name ist Birger Svensson, und es ist so, dass unsere Tochter sich vor ein paar Tagen aufgehängt hat. Oder zumindest glaubt das die Polizei. Wir, also ihre Mutter und ich, glauben, dass sie getötet wurde. Wir werden jetzt noch einen Tag in ihrem Haus auf Sollerön sein. Wir wären dankbar, wenn Sie uns zurückrufen könnten.«
Der Mann las eine Telefonnummer vor und legte dann auf.
»Das Siljan Büro für Privatermittlung gibt es leider nicht mehr«, flüsterte Ingrid leise.
Ein Ermittlungsbüro aufzumachen, war ein letzter Ausweg gewesen, um sich versorgen zu können, weil sie keine andere Arbeit hatte finden können. Eigentlich wollte sie aber einen normalen Job mit festem Lohn und geregelten Arbeitszeiten, sie wäre so gern eine ganz normale Bürgerin. Ihr Putzjob im Hotel war ein erster Schritt in diese Richtung.
Sie konnte die Verzweiflung des Mannes deutlich spüren, und seine Geschichte berührte sie, aber sie notierte seine Telefonnummer nicht. Stattdessen holte sie die Kassette aus dem Anrufbeantworter und legte ein neues Band ein. Benny hatte eine Zehnerpackung gekauft, die auf dem Tisch lag. Sie hatten beschlossen, alle Nachrichten von Kjell aufzuheben, ganz gleich, was er sagte. Wenn es nur genügend wurden, sodass es bedrohlich wirkte, würde man sie vielleicht in einem Gerichtsverfahren gegen ihn verwenden können. Ingrid wagte nicht zu viel Hoffnung, aber es war ein Plan, etwas, woran sie sich festhalten konnte.
Sie steckte die Kassette ein, schnappte sich das Schlagholz und verließ, so schnell sie konnte, das Haus.
Nach Dienstende ging Benny in den zweiten Stock hinauf und drückte den Knopf an der Tür von Frank Olars, Chef des Gewaltdezernats. Wenn in dem Todesfall auf Sollerön ermittelt werden sollte, mussten sie das sofort tun, ehe mögliche Spuren verwischt würden. In diesem Fall wollte Benny sich gleich dafür anbieten.
Als das grüne Licht aufleuchtete, trat er ein.
»Ah, du bist es«, sagte Frank und drückte eine Zigarette im vollen Aschenbecher aus.
Die Ereignisse des Sommers hatten die Beziehung zwischen ihnen verändert. Der Fall des verschwundenen Mattias Holm, für den Frank keine zusätzlichen Ressourcen hatte aufbringen wollen, den Ingrid dann aber aufklären konnte, hatte ganz Mora erschüttert. Benny wusste nicht, wie Frank jetzt zu ihm stand.
»Ich habe gehört, dass es eine Anzeige wegen Verdachts auf Mord auf Sollerön gibt«, erklärte Benny. »Was hältst du davon? Kenneth und ich waren vor Ort.«
Frank lehnte sich im Stuhl zurück und faltete die Hände vorm Bauch.
»Was denkst du denn selbst? Glaubst du, dass da noch mal ermittelt werden muss?«
»Auf den ersten Blick nicht«, gestand Benny und setzte sich auf den Besucherstuhl. »Aber vielleicht würde es nicht schaden, die Umstände noch mal genauer unter die Lupe zu nehmen, sodass wir alle Verdachtsmomente ausräumen können.«
»Denkst du an was Bestimmtes?«
»Das mit der nassen Wäsche in der Waschmaschine haben wir zum Beispiel übersehen. Das ist schon sehr seltsam. Findest du nicht?«
»Wenn ich etwas in meinen dreißig Jahren im Dienst gelernt habe, dann, dass ein Selbstmord sowohl sehr gut geplant, aber auch ganz spontan und im Affekt begangen sein kann.«
»Da bin ich deiner Meinung«, sagte Benny. »Aber Letzteres passiert eher, wenn jemand betrunken ist. In diesem Fall gibt es aber keine Hinweise auf Alkohol. Das Haus war sauber, völlig in Ordnung.«
»Vielleicht hat sie eine schlimme Nachricht erhalten«, meinte Frank. »Hat eine große Enttäuschung erlitten. Soweit ich die Eltern verstanden habe, ist ihr Mann vor nicht allzu langer Zeit gestorben, und davor hatten sie ein Kind verloren. Es gibt Menschen, die wegen weniger in die Knie gehen.«
»Das stimmt«, sagte Benny. »Aber meine Erfahrung ist, dass diese Art Selbstmord während der Feiertage oder in der Urlaubszeit passiert, wenn der Verlust besonders schwer wiegt. Hier ist es genau umgekehrt. Ein ganz normaler Wochentag im September.«
»Ich verstehe, was du denkst«, sagte Frank, und das erstaunte Benny, »aber es gibt nichts, dem wir nachgehen können. Weder du noch Kenneth noch die Eltern haben irgendetwas Konkretes in der Hand.«
Franks Hinweis konnte er wenig entgegenhalten, und Benny wünschte, er möge recht haben. Aber was, wenn sie trotz aller Sorgfalt etwas Wichtiges übersehen hatten?
»Die Leiche wird obduziert«, fuhr Frank fort. »Wenn die Obduktion irgendwelche Ungereimtheiten aufweist, dann werden wir natürlich eine neue Einschätzung des Falls vornehmen, aber so, wie es momentan aussieht, können wir keine Zeit darauf verwenden. Du weißt selbst, wie knapp unsere Ressourcen sind.«
Das Faxgerät begann zu piepen. Frank stand auf, trat an den Apparat und riss das Papier ab. Dann drehte er Benny den Rücken zu und begann zu lesen.
Diese Geste konnte nicht missverstanden werden. Ihr Gespräch war beendet.
Ingrid ging ganz weit auf den Steg hinaus und stand eine Weile ganz still. Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden, und aus der Ferne konnte sie das Rauschen der Landstraße hören. Der See lag spiegelglatt im Abenddunkel. Nur ein paar leichte Kräuselungen glitzerten im Mondlicht.
Sie hatte beschlossen, solange sie hier in der Hütte wohnte, ungeachtet Wetter oder Temperaturen jeden Tag im See zu schwimmen – eine Routine. Routinen halfen, den Wahnsinn auf Abstand zu halten, vor allem wenn man isoliert war. Das war eine der Lehren aus ihrer Zeit im Gefängnis. Schlafen und Essen zu bestimmten Zeiten. Der Körperhygiene nachgehen, auch wenn man niemanden trifft und eigentlich auch keine Lust dazu hat. Das Bett machen und die Zelle sauber halten. Sich in der Zeit dazwischen mit etwas beschäftigen.
Den ganzen Abend hatte sie damit zugebracht, wie verrückt das kleine Rasenstück vor der Hütte zu harken, aber trotzdem bekam sie Kjells widerliche Stimme nicht aus dem Kopf.
Sie musste mit Berit sprechen. Kjell hatte sich noch nie um Anna gekümmert. Als sie noch ein Baby war, hatte er es gehasst, wenn sie schrie, sogar wenn sie krank war. Hier ging es nicht um Anna, das alles war nur ein Manöver, um Macht über Ingrid zu gewinnen. Um ihr wehzutun.
Sie stieg aus den Holzschuhen, ließ den Bademantel fallen und legte die Seife auf den Steg.
Ein Teil von ihr weigerte sich zu glauben, dass Kjell es ernst meinte. Vielleicht klopfte er nur auf den Busch, um sie aus ihrem Versteck zu locken oder sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das war ihm bereits gelungen. Aber man wusste es nie. Kjell war unberechenbar.
Ingrid warf sich rückwärts in das kalte Wasser und schnaubte. Die Kälte ließ ihre Gedanken erstarren. Sie machte einige Schwimmzüge auf dem Rücken und kehrte dann zum Steg zurück. Allmählich war es zu kalt, um sich im See zu waschen, aber sie seifte sich trotzdem rasch ein und sprang noch einmal ins Wasser.
Kjell durfte niemals das Sorgerecht für Anna bekommen. Dafür würde sie sorgen.
Als sie gerade wieder auf den Steg kletterte, sah sie Bennys Auto den Weg zur Hütte hinunterschaukeln. Ingrid zog den Bademantel über. Sie stieg in die Holzschuhe und ging ihm entgegen.
»Du bist ja eine ganz schöne Freiluftenthusiastin geworden«, sagte er.
»Es ist schön«, sagte sie und knotete den Gürtel des Bademantels zusammen. »Zumindest hinterher.«
Als sie ungewollt mit den Zähnen klapperte, lachte Benny.
»Ja, scheint superschön zu sein. Wirklich.«
Dann wurde er wieder ernst und senkte den Blick. Er schien etwas sagen zu wollen, seufzte aber nur.
Ingrid ging an ihm vorbei zur Hütte.
»Ich zieh mir eben was anderes an«, sagte sie.
Sie machte die Schlafzimmertür hinter sich zu, trocknete sich ab und zog eine Trainingshose, einen Strickpullover und die Lammfellpuschen an, die wahrscheinlich Bennys Großmutter gehörten. Als sie in die Küche kam, zitterte sie noch immer. Benny schob gerade einen Holzkloben in den Ofen und hantierte mit dem Feuerhaken in der Luke.
»Ich glaube, ich habe einen Auftrag für Siljans Privatermittlungsbüro«, sagte er.
»Das Büro gibt es nicht mehr«, gab Ingrid zurück und rieb sich das feuchte Haar mit dem Badehandtuch. »Auf unbestimmte Zeit geschlossen.«
»Vielleicht könntest du es wieder öffnen.«
»Glaube nicht. Übrigens haben sie bereits angerufen«, sagte sie. »Wenn du die von Sollerön meinst.«
»Ehrlich?«, sagte Benny erstaunt. »Und, was meinst du?«
»Ich war heute Nachmittag oben in Kumbelnäs, um zu hören, ob es eine Nachricht vom Jugendamt gibt. Als ich dort war, rief der Vater an und hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen. Unter anderen Umständen würde ich gerne helfen, aber es geht nicht.«
»Du kannst doch mal hinfahren und mit ihnen reden«, sagte Benny. »Wenn da irgendwas nicht stimmt, bin ich ganz sicher, dass du es bemerken wirst. Die Eltern werden diese Sache sonst nicht loslassen können. Und schlimmstenfalls bekommen sie eine Erklärung dafür, warum sich die Tochter entschieden hat, ihr Leben zu beenden. Außerdem glaube ich, dass es gut für dich wäre, mal an etwas anderes zu denken als an Anna und Kjell.«
Das stimmte. Sie brauchte wirklich etwas, womit sie ihren Kopf beschäftigen konnte. Der Putzjob reichte da bei weitem nicht aus.
»Du bist also bereit, eure Polizeiarbeit infrage stellen zu lassen?«, meinte sie.
Benny zuckte mit den Schultern.
»Man ist doch nur ein Mensch. Als Kenneth und ich da waren, hat keiner von uns beiden den Eindruck gehabt, dass irgendetwas nicht stimmte, aber die Eltern haben von einer Reihe seltsamer Details erzählt. Ich habe auch schon mit Frank gesprochen, aber der meint, wir hätten keine Ressourcen dafür, und findet, wir könnten warten, bis die Obduktion beendet ist.«
Ingrid zog einen Stuhl an den Holzofen und hängte das nasse Handtuch über die Rückenlehne.
»Okay«, sagte sie. »Ich fahre morgen Nachmittag mal raus und spreche mit ihnen, dann werden wir weitersehen.«
Lena hatte sich eben im Personalraum einen Kaffee geholt, als Kicki sich neben sie setzte und anfing, in der neuen Mitt Liv zu blättern.
»Das Liebeshoroskop 1983«, las Kicki. »Na, dann woll’n wir mal sehen. Wir fangen mit dir an, Lena. Okay, Fische.«
Sie begann mit feierlicher Stimme und vorgeschobenem Kinn vorzutragen, als würde sie aus der Bibel lesen. Lena warf Gunnel einen vielsagenden Blick zu, um zu zeigen, dass sie das alles für Blödsinn hielt, einerseits die Sache mit der Astrologie, aber vor allem Kickis naive Romantik. Was weiß dieser Grünschnabel schon vom Leben?, sagte ihr Blick. Nichts.
In Wirklichkeit aber hatte Lena das Jahreshoroskop bereits gelesen, sowohl das in der Allas als auch das in Min Värld, aber das würde sie natürlich niemals zugeben. In ihrem tiefsten Innern glaubte sie nicht daran, dass irgendwelche mehrere Millionen Kilometer entfernten Sterne ihre Chancen, einen neuen Mann kennenzulernen, beeinflussen konnten, aber es war trotzdem tröstlich, sich vorzustellen, dass nicht die ganze Verantwortung allein bei ihr lag. Es gab Rätsel, die größer waren, als irgendjemand sich vorstellen konnte, und eines schönen Tages konnten wunderbare Dinge geschehen.
Sie griff nach Eskils Ehering, der immer noch an einer Goldkette um ihren Hals hing. Er war so groß, dass sie fast sowohl ihren Ringfinger als auch den kleinen Finger hineinbekam.