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Christopher und Hannah sind Chirurg und Krankenschwester und ein glücklich verheiratetes Paar, das ein perfektes Leben führt. Alles, was ihnen noch fehlt, ist ein Kind. Als Janie, eine ausgesetzte Sechsjährige, in ihrem Krankenhaus auftaucht fühlt Christopher sofort eine Verbindung zu ihr, und überzeugt Hannah, sie als ihr eigenes Kind mit nach Hause zu nehmen. Aber Janie ist kein gewöhnliches Kind, und ihre gestörte Psyche stellt sich als mehr heraus, als ihre neuen Eltern erwartet haben. Janie ist Christopher zutiefst verfallen, verhält sich aber immer verstörender und richtet ihre ganze Wut gegen Hannah. Hannah weiß, dass Janie Christopher manipuliert und ihn von ihr isoliert, obwohl sie versucht, sie alle zusammenzubringen. Doch als Janies Verhalten Christopher und Hannah auseinanderzureißen droht, könnte die Wahrheit hinter Janies Vergangenheit ausreichen, um sie alle über die Klinge springen zu lassen.
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Lucinda Berry
Das perfekte Kind
Übersetzt von Patricia Buchwald
DAS PERFEKTE KIND
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»The Perfect Child«
Text Copyright © 2019 Heather Berry
All rights reserved.
No part of this book may be reproduced, or stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical,
photocopying, recording, or otherwise, without express written
permission of the publisher.
Published by Thomas & Mercer, Seattle
This edition is made possible under a license arrangement originating with Amazon Publishing, www.apub.com, in collaboration with Literarische Agentur Hoffman GmbH.
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe © 2025
Das perfekte Kind
by VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Patricia Buchwald
Korrektorat: Lara Gathmann und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Satz: VAJONA Verlag GmbH
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Das Perfekte Kind
»Ein fesselnder, unerträglich spannender Thriller, bei dem du über deine Schulter schauen und mit einem offenen Auge schlafen wirst. Diese gruselige, listige Geschichte erforscht die dunkelsten Ecken der Elternschaft und die zutiefst beunruhigenden Sachen, die man auf sich nimmt, um eine Familie zusammenzuhalten – ungeachtet der Konsequenzen. Dieser dunkle Juwel eines Romans ist elektrisierend und stimmungsvoll, und ich konnte ihn nicht aus der Hand legen.« - Heather Gudenkauf, New York Times-Bestsellerautorin
»Eine tiefgründige, dunkle und gefährlich süchtig machende Lektüre. Fesselnd bis zum Schluss!« – Minka Kent, Washington Post-Bestsellerautorin
An meine Lesenden, die mich von Anfang an begleitet haben
Interview: Piper Goldstein
»Ist das Ihr erster Mordfall?«, fragte er schneidend, mit geschäftiger Stimme. Seine Brustmuskeln zeichneten sich unter seinem Hemd ab.
Egal, wie oft ich von der Polizei befragt wurde, es wurde nie einfacher. Meine Nerven lagen automatisch blank. Sie gaben mir immer das Gefühl, dass ich log, selbst wenn ich die Wahrheit sagte.
Ich räusperte mich. »Ich war an anderen Fällen dran.«
Ich wünschte, ich würde in einer Welt leben, in der ich Gewalt nicht aus nächster Nähe kennen würde, aber durch meine Arbeit hatte ich mehr als genug davon gesehen. Ich hätte nur nie erwartet, dass die Bauers in etwas so Schreckliches verwickelt sein könnten.
»Wie haben Sie herausgefunden, dass es in dem Fall einen Durchbruch gab?«
Ich warf einen Blick auf den halbdurchlässigen Spiegel hinter uns. Obwohl wir die einzigen beiden im Raum waren, wusste ich, dass wir nicht allein waren.
»Claire hat es mir erzählt.«
Er hob die Brauen. »Claire?«
»Meine Kollegin«, antwortete ich schnell.
Es war kaum zu glauben, dass Claire vor weniger als einer Stunde mein Büro betreten hatte. Wir waren morgens immer die Ersten, und ich hatte angenommen, dass sie vorbeikam, um sich zu erkundigen, wie mein Date letzte Nacht gelaufen war. Sie freute sich nämlich mehr darüber als ich. Sie war seit zwanzig Jahren verheiratet und lebte gerne indirekt durch mich, aber ihr Eheleben musste ziemlich langweilig sein, wenn sie so aufgeregt über mein Leben war. Mein Liebesleben war nichts, worüber man aufregt sein konnte.
Die Augen des Offiziers bohrten sich in mich hinein. Er wollte mehr von mir, aber ich wollte nicht zu viel sagen. Er stützte seine Ellbogen auf den Tisch und lehnte sich vor. »Was hat sie gesagt, als sie es Ihnen erzählt hat?«
Er musste neu sein, denn ich hatte ihn noch nie gesehen. In einer so kleinen Stadt wie Clarksville war selbst die Polizei bekannt. Er hatte mir seinen Namen gesagt, als er in den Warteraum gekommen war, aber mir war wegen des Schocks schwarz vor Augen geworden und ich hatte ihn nicht registriert.
Ich zuckte mit den Schultern und verschränkte ängstlich meine Hände unter dem Tisch. »Sie hat nicht viel gesagt, aber ich habe sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, als sie in mein Büro kam.«
Ich hatte mich gerade in meinen Computer eingeloggt und war dabei gewesen, meine Dateien für den Tag zu ordnen, als Claire ihren Kopf durch die Tür gesteckt hatte, noch bevor ich meine erste Tasse Kaffee getrunken hatte. »Mensch, Girl, warum gehst du nicht einfach für mich zu meinen Dates?« Ich hatte gescherzt, aber mein Scherz war beim Anblick ihres Gesichts verraucht.
Jeglicher Anschein von Verspieltheit war verschwunden und durch ihren ernsten Gesichtsausdruck ersetzt worden. Wir alle hatten ihn. Das Gesicht, das wir trugen, wenn der Fall so schrecklich war, dass wir wussten, er würde uns nachts wach halten und in unsere Träume eindringen, nachdem wir endlich einen Weg gefunden hatten, einzuschlafen – die Fälle, die die Sozialarbeiter mit Kindern dazu brachten, sie fester zu umklammern.
»Sie haben es also einfach gewusst?« Sein Ton verriet, dass er nicht sicher war, ob er mir glauben sollte.
Ich hasste es, wenn wir nicht im selben Team waren. Man konnte nicht auf der anderen Seite des Gesetzes stehen und sich nicht wie ein Krimineller fühlen. Das war unmöglich.
»Ich wusste, dass etwas Ernstes passiert war, aber ich hatte keine Ahnung, was es war oder wer darin verwickelt war.« Ich schaute zum dritten Mal auf mein Handy und wünschte mir, dass es vibrierte. Es war ja nicht so, dass ich verhaftet worden wäre. Ich könnte jederzeit gehen, aber es gab keine Möglichkeit, zu gehen, ohne dass es so aussah, als würde ich etwas verbergen.
»Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass es die Familie Bauer ist?«
Ich schluckte an den Emotionen vorbei, die sich ihren Weg durch meine Kehle bahnten. »Ich habe gehofft, dass sie dadurch endlich ein paar Antworten bekommen würden. Sie sind wie eine Familie für mich.«
Er blickte auf die offene Akte, die vor ihm ausgebreitet lag. »Hier steht, dass Sie ursprünglich die Sozialarbeiterin waren, die dem Fall zugeteilt war?«
Ich nickte, dann erinnerte ich mich schnell daran, dass ich aufgenommen wurde. »Ja.«
»Wie war das?«
Wie konnte ich beschreiben, wie die letzten zwei Jahre gewesen waren? Es war der komplizierteste Fall meiner Karriere, und er war mit dem schlimmstmöglichen Ergebnis geendet. Ich hatte in so vielen Momenten an mir selbst gezweifelt und mich gefragt, ob ich für alle Beteiligten die richtigen Entscheidungen getroffen hatte – was, wenn ich mich geirrt hatte? Was, wenn ich für all das teilweise verantwortlich war? Ich atmete tief durch und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
»Sie hätten sich kein besseres Zuhause für Janie wünschen können. Ich arbeite seit über zwanzig Jahren im Jugendamt, und es gibt viele schlechte Pflegefamilien. Viele Pflegeeltern tun es nur des Geldes wegen und führen ihre Familien wie Unternehmen, aber die Bauers waren eine von der guten Sorte. Sie wollten einfach nur helfen.« Tränen sammelten sich in meinen Augen, und ich konnte sie nicht zurückhalten, obwohl ich es versuchte. Ich wischte sie schnell weg, weil es mir peinlich war, in seiner Gegenwart so verletzlich zu wirken. »Es tut mir leid. Das alles passiert einfach so schnell.«
»Ich verstehe«, sagte er, aber ich wusste, dass er es nicht tat. In all den Jahren hatte ich noch nie einen Polizisten weinen sehen. Er wartete einige Herzschläge, bevor er fortfuhr. »Wäre es einfacher für Sie, wenn wir am Anfang beginnen würden?«
Es spielte keine Rolle, wo wir anfingen. Nichts davon würde einfach sein.
Hannah Bauer
»Das würde ich ihm nicht durchgehen lassen. Ich würde ihn ignorieren, bis er sich entschuldigt«, sagte Aubrey in der selbstgerechten, kompromisslosen Art und Weise, wie es alle Unverheirateten taten, ohne überhaupt von ihrem Handy aufzusehen. Die Hälfte der Zeit vergaß ich, dass sie da war, denn ihre Augen klebten auf ihrem Handy, seit wir alle den Aufenthaltsraum des Krankenhauses betreten hatten, und ihre Finger glitten mit wahnsinniger Geschwindigkeit über das Display.
Stephanie und ich rollten gleichzeitig mit den Augen. Stephanie hatte gerade die letzten zehn Minuten damit verbracht, ihren aufgestauten Frust über ihren Mann abzuladen – angefangen bei seinen schmutzigen Socken, die er im ganzen Haus liegen ließ, über den Müll, den er regelmäßig rauszubringen vergaß, bis hin zu seinen dicken schwarzen Haaren, die er nach dem Rasieren nicht im Waschbecken wegspülte. Sie hatte ihn darauf angesprochen, was zu dem uralten Streit geführt hatte, dass sie eine Nervensäge sei und er sich nicht um die Pflichten im Haushalt kümmere. Ein Streit, den jeder, der länger als ein Jahrzehnt verheiratet war, gut kannte. Ihr Streit endete in einem großen Knall.
»Er ist so manipulativ, wenn er wütend ist. Er führt mich auf diese wilden Pfade und versucht, alles auf mich zu schieben, und bevor ich es realisiere, bin ich diejenige, die sich entschuldigt. Ich falle jedes Mal darauf herein. Das macht mich wahnsinnig«, fuhr Stephanie fort und schaufelte sich die aufgewärmten Nudeln in den Mund, während sie sprach.
»Siehst du, genau das habe ich gestern Abend gesagt - wir brauchen ein Mädelswochenende. Es ist schon viel zu lange her«, sagte ich. Das letzte Mal hatten wir für ein Wochenende im Four Seasons eingecheckt und nichts anderes getan, als am Pool Wein zu trinken und im Spa die Seele baumeln zu lassen. Ich liebte ihre Papaya-Gesichtspeelings und war schon lange für eines überfällig.
»Auf jeden Fall. Sag einfach, wann«, antwortete Stephanie.
Einer unserer anderen Kollegen, Carl, steckte seinen Kopf durch die Tür. »Wir brauchen euch, Leute.«
In Sekundenschnelle hatten wir unser Chaos beseitigt und desinfizierten unsere Hände, als wir zur Tür hinausgingen. Die Schwesternstation surrte vor Aktivität und Erwartung, alle waren in erhöhter Alarmbereitschaft. Stephanie schaltete in den Krankenschwester-Manager-Modus und ging schnurstracks auf Dr. Hall zu. Die beiden leiteten die Notaufnahme wie eine gut geölte Maschine.
Ich lehnte mich zu Carl. »Was ist passiert?«
Er zuckte mit den Schultern. »Bin mir nicht sicher. Ich weiß nur, dass es sich um ein verlorenes Kind oder so etwas handelt und dass sie in wirklich schlechtem Zustand ist. Der Krankenwagen bringt sie mit einer Polizeieskorte her.«
Mir drehte sich der Magen um. Kranke Kinder zu behandeln, war eine Sache. Verletzte zu behandeln, eine andere, und die Anwesenheit der Polizei bedeutete immer eine ernsthafte Verletzung. Das war der Teil meiner Arbeit, der nie einfacher geworden war. Ich warf einen Blick auf die Tafel, um zu sehen, wie viele der mir zugewiesenen Zimmer frei waren, und atmete erleichtert auf, als ich sah, dass alle meine Betten belegt waren. Der Rufknopf an Bett acht blinkte, und ich ging hinein, um zu sehen, was Eloise wollte.
Sie war eine unserer Vielfliegerinnen. Sie war Witwe und kam oft in die Notaufnahme, weil sie einsam war. Es war nie etwas Ernsthaftes bei ihr. Sie war eine der gesündesten Einundachtzigjährigen, mit denen ich zu tun hatte, aber sie kam alle paar Wochen in der Überzeugung in die Notaufnahme, dass sie sterben würde. Dieses Mal klagte sie über pochende Schmerzen im Bein und hatte Angst, dass sie ein Blutgerinnsel hatte.
Sie lächelte mich vom Bett aus an, unter ihren Augen zeichneten sich Fältchen ab. Sie gab mir ein Zeichen, näherzukommen. Ich beugte mich vor, um ihr die übliche Umarmung zu geben, die sie von mir gewohnt war. Der vertraute Duft von Vanille-Moschus und Babypuder stieg mir in die Nase. Sie drückte mich fest an sich, bevor sie sich auf eine Armlänge entfernte, sich aber immer noch an meinem Unterarm festhielt. »Hallo, Liebes. Ich will Sie nicht weiter belästigen, aber haben wir schon irgendwelche Ergebnisse von meinen Untersuchungen bekommen?«
Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich über ihr Bett, um den Tropf an ihrer Infusion einzustellen. »Wir warten immer noch darauf, dass der Ultraschalltechniker sie schickt. Tut mir leid. Es wird wahrscheinlich noch ein paar Minuten dauern, weil wir heute Abend ziemlich viel zu tun haben.«
Wie aufs Stichwort unterbrach das Geräusch von Polizeifunk unser Gespräch. Eloise lugte hinter ihrem Vorhang hervor und versuchte, einen Blick auf die Polizei zu erhaschen. »Was ist denn da draußen los?«
Ich lächelte. »Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen kann.«
Sie beugte sich vor, um einen besseren Überblick zu bekommen. »Da sind einfach so viele Polizisten. Warum sind es so viele? Bin ich in Gefahr?«
»Nein, Ihnen droht keine Gefahr. Ich würde nie zulassen, dass Ihnen etwas Schlimmes zustößt.« Ich tätschelte ihren Handrücken. An dem teigigen Gefühl auf ihrer Haut konnte ich erkennen, dass sie wieder dehydriert war. »Und Sie, Miss Thing«, ich hob spielerisch meinen Finger, »müssen tagsüber mehr trinken. Wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt?«
Sie ließ den Kopf hängen, konnte aber das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, nicht verbergen. Ich überprüfte ihre Vitalwerte und notierte sie in ihrer Akte. »Ich werde Ihre Berichte im Auge behalten und Ihnen Bescheid geben, sobald ich etwas weiß. Abgemacht?«
»Abgemacht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und machte es sich bequem. Dann schloss sie die Augen und einige der Falten in ihrem Gesicht glätteten sich. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie allein nicht gut schlief und jede Nacht Stunden damit verbrachte, Angst zu haben, dass jemand in ihr Haus einbrechen würde, während sie schlief. Es war keine Überraschung, dass sie nur nachts ins Krankenhaus kam. Sie öffnete nicht einmal ihre Augen, als sie sagte: »Und versuchen Sie etwas darüber herauszufinden, was es mit den ganzen Polizisten auf sich hat.«
»Das werde ich«, versprach ich, als ich mich auf den Weg machte, um nach meinen anderen Patienten zu sehen, mit dem Wissen, dass ich ihr nichts sagen konnte, selbst wenn ich es herausfinden würde.
Im Laufe der Nacht wurde es immer voller, und ich kam erst nach vier Uhr dazu, mich hinzusetzen. Ich schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und meldete mich am Computer an, da ich in der kurzen Zeit, in der ich eine Pause hatte, mit meinen Notizen beginnen wollte. Stephanie schnappte sich einen Stuhl und ließ sich neben mir nieder. »Hast du irgendetwas darüber gehört, was passiert ist?«, fragte sie.
Ich hatte die Polizisten von vorhin ganz vergessen. Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte nicht einmal Zeit zum Atmen. Am Ende haben wir eine Lumbalpunktion in Bett sechs gemacht.« Ich rief meinen ersten Patienten auf und blätterte durch die Ergebnisse der Blutgruppenuntersuchung, um das zu finden, was ich für meinen Bericht brauchte. »Was habe ich verpasst?«
»Die Polizei hat ein ausgesetztes Kleinkind hergebracht. Sie wurde ziemlich zugerichtet. Sie fanden sie auf einem Parkplatz herumspazierend. Sie trug nur eine Windel und eine Art seltsames Halsband um ihren Hals. Wie traurig ist das denn?« Sie sprach schnell, wollte die Geschichte loswerden, bevor sie zur nächsten Krise gerufen wurde. »Sie wollte die Polizei nicht in ihre Nähe lassen. Es waren drei Beamte nötig, um sie in den Wagen zu locken. Sie ist schmutzig, hat Blut an Händen und Armen, aber wir können sie nicht waschen, bevor sie nicht alle Beweise gesammelt haben, die sich auf ihr befinden könnten. Sie haben keine Ahnung, wer sie ist oder woher sie kommt.«
Der wütende Knoten der Ungerechtigkeit setzte sich in meinem Magen fest. Warum erlaubte das Universum Menschen, die Kinder verletzten, sie zu haben? Warum konnte das Universum sie nicht Menschen wie mir geben, die sie haben wollten?
Mein Mann Christopher und ich hatten jahrelang versucht, schwanger zu werden, aber es folgte eine Enttäuschung nach der anderen. Wir haben eine zweite Meinung eingeholt, nachdem unser Arzt bei mir eine Fehlbildung der Gebärmutter diagnostiziert hatte, aber diese stimmte dem ersten Arzt zu – es war mir unmöglich, ein eigenes Kind zu gebären. Ich schluckte die Bitterkeit hinunter. An manchen Tagen war es besser als an anderen. Heute war keiner dieser Tage.
»Haben sie irgendwelche Hinweise auf ihre Eltern?«, fragte ich.
»Nö. Nicht das Geringste. Sie glauben, dass sie entweder von der Wohnwagensiedlung auf der anderen Straßenseite dorthin gelaufen ist oder von jemandem dort abgesetzt wurde.«
Sie verzog angewidert das Gesicht. »Sie ist so mager, sieht aus, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen.«
»Armes Ding. Hoffentlich finden sie ihre Eltern und es stellt sich heraus, dass es sich um einen seltsamen Unfall oder ein Missverständnis handelt.«
Stephanie hob die Brauen. »Missverständnis? Was für ein Missverständnis führt dazu, dass dein Kleinkind auf einem Parkplatz verloren geht und nur eine Windel trägt? Und Blut. Hast du den Teil vergessen?«
»Irgendjemand muss ja der Optimist sein.«
Ich wünschte, ich wäre so optimistisch, wie ich vorgab. Ich bin es mal gewesen. Jetzt nicht mehr.
Stephanie brach in Gelächter aus und drückte meinen Arm. »Das liebe ich so an dir«, sagte sie, bevor sie davoneilte.
Als ich nach Hause kam, wartete Christopher mit einer Tasse Kamillentee auf mich. In der einen Hand hielt er seine Tasse Morgenkaffee, in der anderen meine Lieblingstasse, auf dem PUG LIFE stand, obwohl ich nie einen Hund besessen hatte. In den letzten zwei Jahren hatte ich in der Nachtschicht gearbeitet, und er arbeitete tagsüber – es sei denn, es gab einen Notfall – weshalb wir gegensätzliche Arbeitszeiten hatten, aber es funktionierte. Das gab uns die Möglichkeit, uns gegenseitig zu vermissen, und manchmal brauchte man das in einer Beziehung, selbst wenn man sich so sehr liebte wie wir.
Ich schnappte mir die Tasse aus seinen Händen, während ich meine Schuhe auszog und ihm ins Wohnzimmer folgte. Ich ließ mich neben ihm auf das Sofa plumpsen und sank hinein, wobei sich die Daunenfedern meinem Körper anpassten. Es war das Möbelstück, um das wir uns am meisten gestritten hatten, als wir das Haus kurz nach dem Kauf eingerichtet hatten. Das Wohnzimmer war das erste Zimmer, das man sah, wenn man das Haus betrat, und er war der Meinung, dass wir eine formelle Couch haben sollten, damit es makellos und schön aussah. Aber unser Haus war zu klein für einen weiteren Hauptwohnbereich, und ich hatte gewusst, dass wir unsere ganze Zeit dort verbringen würden, und wollte, dass es gemütlich war. Am Ende hatte ich gewonnen und er hatte mehr als einmal gesagt, dass er froh darüber war, weil er sich nicht vorstellen konnte, zu einer steifen Couch nach Hause zu kommen.
Er setzte sich auf das andere Ende und ich streckte meine Füße auf seinen Schoß. Er zog mir die Socken aus und begann, meine Füße zu massieren. Als ich meiner Schwester zum ersten Mal von seinen Fußmassagen nach der Arbeit erzählt hatte, war sie sich sicher gewesen, dass es nur daran lag, dass wir frisch verheiratet waren, aber er tat es nach all den Jahren noch immer. Wenn er am Ende meiner Schicht da war, massierte er mir die Füße. Punkt. Es spielte keine Rolle, ob er zwölf Stunden im OP gewesen war.
»Und?« Er hob fragend die Brauen.
Man konnte nicht als Arzt arbeiten, ohne davon betroffen zu sein. Im Laufe der Jahre waren wir zu Therapeuten des jeweils anderen geworden. Wir verstanden, wie es war, für das Leben anderer Menschen verantwortlich zu sein, wie es kein Außenstehender konnte.
»Eloise war heute Abend wieder da.«
»Was war es dieses Mal?«
»Ein Blutgerinnsel.«
»Und?«
»Negativ.«
Er lächelte. Sein dunkles Haar war glatt nach hinten gekämmt, ein paar Strähnen verdeckten eine schüttere Stelle an seinem Hinterkopf. Er war verlegen wegen seines Haarausfalls, aber das war mir egal. Ich mochte sein älteres Aussehen und meiner Meinung nach wurde er mit dem Alter immer hübscher. Männer hatten einfach Glück. Sogar seine Falten waren niedlich.
»Wie sieht dein Tag heute aus?«, fragte ich.
»Zwei Operationen. Drei Beratungen.«
Christopher war orthopädischer Chirurg im Northfield Memorial, demselben Krankenhaus, in dem ich arbeitete. Northfield war das größte regionale Krankenhaus in Ohio und wir hatten uns in der Cafeteria kennengelernt, als er noch Medizinstudent im ersten Jahr gewesen war und den ganzen Tag gearbeitet und die ganze Nacht gelernt hatte. Er war so konzentriert und zielstrebig gewesen, dass er mich fast nicht bemerkt hätte, aber seine Arbeitsmoral hatte sich ausgezahlt. Sie hatte ihm eine Facharztausbildung und anschließend eine Spezialisierung eingebracht.
»Irgendetwas Interessantes?«, fragte ich nach.
Er schüttelte den Kopf. »Oh, bevor ich vergesse, es dir zu sagen, lies unbedingt die E-Mail von Bianella. Sie möchte, dass wir nächstes Wochenende zu einem Seminar über internationale Adoption gehen. Dort soll es eine Diskussionsrunde mit Eltern geben, die über einige der versteckten Herausforderungen bei internationalen Adoptionen sprechen«, sagte er.
Bianella war unsere Adoptionsspezialistin. Wir hatten uns mit ihr in Verbindung gesetzt, nachdem unser Fruchtbarkeitsarzt uns ein letztes Mal die düstere Statistik erklärt hatte. Christopher und ich hatten uns schon immer Kinder gewünscht, also war Adoption für uns eine logische Entscheidung und wir hatten uns sofort auf die Suche nach Einrichtungen gemacht, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, als wir es ohnehin schon getan hatten. Ich war damals fast vierzig gewesen und keiner von uns hatte ursprünglich gewollt, ältere Eltern zu sein. Ich hatte geglaubt, ein Kind zu adoptieren, wäre einfach, so wie ich damals auch geglaubt hatte, schwanger zu werden, wäre einfach. Wir hatten bereits eine gescheiterte Adoption hinter uns und das hatte genauso wehgetan wie jede Fehlgeburt.
»Ich bin immer noch unschlüssig, ob ich den internationalen Weg einschlagen soll«, sagte ich. »Ich weiß. Ich auch. Lies es einfach und lass mich wissen, was du davon hältst.«
Christopher ließ meine Beine von seinem Schoß gleiten. »Ich muss jetzt los.«
Er ging in die Küche, um seine Tasse in den Geschirrspüler zu stellen, und ich ging in Richtung des Flurs, der zum Schlafzimmer führte, als ich mich plötzlich erinnerte.
»Hey, Christopher«, rief ich.
»Was?«
»Ich habe vergessen, dir eine Sache zu erzählen, die heute Nacht passiert ist.« Ich hielt inne, um mich zu vergewissern, dass ich wieder seine Aufmerksamkeit hatte. »Die Polizei hat ein misshandeltes Kleinkind eingeliefert.«
Christopher Bauer
Ich war gerade nach einer zermürbenden, sechsstündigen rekonstruktiven Handoperation, die sich als unerwartet kompliziert herausgestellt hatte, in mein Büro zurückgekehrt. Ich machte mir gerade eine Tasse Kaffee, als Dan, der Chefarzt der Chirurgie, aufgeregt hereinkam.
»Kann ich mit dir reden?«, fragte er und schloss die Tür hinter sich.
»Willst du dich setzen?« Ich zeigte auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Wir hatten nur selten Besprechungen hinter verschlossenen Türen, also musste es ernst sein.
Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Händen durch sein dunkles Haar. Seine Stirn war vom Stress gezeichnet. »Was zum Teufel ist mit den Menschen los? Wie können sie nur solche Monster sein?« Er tigerte durch mein Büro, während er sprach.
Wir arbeiteten schon jahrelang zusammen, und ich hatte ihn noch nie so durch den Wind erlebt. »Bist du dir sicher, dass du dich nicht setzen willst?«
»Nein, nein, mir geht’s gut. Was ich wirklich will, ist ein Drink.« Er lachte bitter. »Gestern Abend wurde ein kleines Mädchen in die Notaufnahme gebracht, und ihr Fall ist furchtbar. Ich habe in all meinen Jahren hier noch nie etwas Derartiges gesehen. Noch nie.« Er rang mit seinen Emotionen, dachte wahrscheinlich an seine eigenen drei Töchter, deren Bilder auf dem Schreibtisch in seinem Büro standen. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand einem Kind so etwas antut. Ich kann es einfach nicht.«
»Worüber reden wir genau?«, fragte ich, als meine Neugierde mich übermannte.
»Vielleicht ist es besser, wenn du derjenige bist, der sich setzt«, sagte er, nur halb im Scherz. »Sie wurde von der Polizei und dem Jugendamt hergebracht. Anscheinend wurde sie auf einem Parkplatz westlich der Park’s Station gefunden. Weißt du, von welchem ich spreche?«
Ich nickte. Jeder kannte Park’s Station und die Wohnwagensiedlungen, die die Straßen dahinter säumten. Dort wuchs und gedieh die Meth-Sucht der Stadt. Man ging nur für eine Sache in diesen Teil der Stadt.
»Ihr ganzer Körper ist mit alten Narben und blauen Flecken übersät. Sie muss lange Zeit misshandelt worden sein.« Er hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. »Sie ist stark unterernährt und dehydriert, weshalb sie aussieht wie diese verhungerten Waisenkinder, die man im Fernsehen sieht. Weißt du, was ich meine?« Er wartete nicht auf eine Antwort von mir, bevor er fortfuhr. »Sie hat seltsame Ausschläge an den Beinen, als ob sie eine septische Infektion haben könnte. Ihre Röntgenbilder zeigen mehrere Frakturen am ganzen Körper. Einige von ihnen sind alt. Andere sind relativ neu. Wahrscheinlich war sie noch nie bei einem Arzt, also wer weiß, was wir finden, wenn wir anfangen, zu suchen.« Er räusperte sich. Räusperte sich noch einmal und wechselte in den Projektmanagement-Modus. »Wir werden ein großes Team zusammenstellen und wir brauchen all unsere besten Leute, deshalb möchte ich, dass du ihren Fall übernimmst. Wir werden uns gleich morgen früh alle versammeln, also sag bitte deinen Morgen ab.«
»Okay, sicher. Ich kann Alexis bitten, alles umzuorganisieren.« Ich zog mein Handy heraus und tippte schnell eine E-Mail an meine Sprechstundengehilfin, bevor ich es wieder in meine Tasche steckte.
»Komm, lass uns gehen.« Dan ging zur Tür und ich folgte ihm nach draußen. Er redete, während wir gingen. »Das wird ein kompletter Medienzirkus werden, sobald es sich herumgesprochen hat. Bis jetzt ist noch nichts durchgesickert. Wir versuchen, ihre Privatsphäre so lange wie möglich zu schützen, aber im Ernst, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie davon Wind bekommen. Du verstehst die Schweigepflicht in diesem Fall, oder?«
»Natürlich.« Ich nickte, obwohl ich noch nie einen Fall mit hohem Bekanntheitsgrad gehabt hatte. In einer Stadt unserer Größe gab es keine prominenten Fälle, und die meisten Kinder, die ich behandelte, waren Opfer von Autounfällen oder hatten Sportverletzungen. Ich war aufgeregt, weil ich in etwas so Ungewöhnliches involviert war, aber ich konnte es nicht zugeben.
Wir betraten den Aufzug am Ende des Flurs. Er war überfüllt, weshalb wir auf der Fahrt in den dritten Stock nicht weitersprachen. Dan hielt die Tür auf und gab mir ein Zeichen, auszusteigen.
»Was macht sie denn hier unten?«, fragte ich. Der dritte Stock war die neurowissenschaftliche Station, in der Schlaganfall- und Herzinfarktpatienten untergebracht wurden.
»Niemand wird auf die Idee kommen, hier nach ihr zu suchen«, sagte er.
»Du meinst die Medien?«
»Wir machen uns keine großen Sorgen wegen der Medien. Die lassen sich leicht fernhalten. Sie versuchen, sie in Sicherheit zu bringen, nur für den Fall, dass derjenige, der ihr das angetan hat, nach ihr sucht. Sie wissen nicht, wer sie verletzt hat oder ob sie noch in Gefahr ist. Sie wissen noch nicht einmal, wer sie ist. Sie sagte, ihr Name sei Janie, aber wer weiß. Vielleicht hat sie sich den Namen nur ausgedacht. Vielleicht ist sie sogar entführt worden. Wir werden mehr über sie wissen, wenn sich der Fall weiterentwickelt.«
Dan nickte den Krankenschwestern zu, die durch die Station wuselten, als wir an ihnen vorbeiliefen. Zwei uniformierte Beamte standen vor einer Tür in der Mitte des Flurs. Dan schritt auf sie zu und zeigte seinen Krankenhausausweis vor. Ich tat das Gleiche. Er drehte sich zu mir und sah mich an, bevor er die Tür öffnete.
»Mach dich bereit«, sagte er.
Er stieß die Tür auf, und eine Welle der Traurigkeit überkam mich, als ich auf ein kleines Kind starrte, das auf dem Bett lag. Nichts hätte mich auf sie vorbereiten können. Dan hatte gesagt, sie sei ein Kleinkind, aber das Kind auf dem Bett sah aus, als sei es kaum älter als ein Jahr. Ihre Arme und Beine waren zerbrechlich, als könnten sie sie nicht tragen, wenn sie stehen würde. Ihr Bauch war aufgebläht und ihr Kopf war im Verhältnis zu ihrem winzigen Körper riesig, viel zu groß, als dass ihr zerbrechlicher Körper ihn halten könnte. Sie war fast kahl. An den Stellen, wo eigentlich Haare hätten sein sollen, waren nur kurze blonde Büschel zu sehen. Sie drehte sich um und sah uns mit den blassesten blauen Augen an, die ich je gesehen hatte.
»Hallo.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem schüchternen Lächeln, das vorn einen verfaulten Zahn enthüllte.
»Hi, Janie.« Dan ging zu ihrem Bett hinüber und beugte sich zu ihr herunter.
Sie streckte ihre Arme nach oben. »Umarmung?«
Er lehnte sich zu ihr und legte zärtlich seine Arme um sie, aus Angst, sie zu verletzen. Sie klammerte sich an seinen Laborkittel. Dan sah aus, als fühlte er sich unwohl.
»Ich mag deinen Geruch«, sagte sie mit leiser Stimme, kaum mehr als ein Flüstern.
Sie weigerte sich, ihn loszulassen, also drehte er sich zu mir um und winkte mich heran. Ich trat um eine der Krankenschwestern herum und in ihr Blickfeld.
»Hi, Janie. Mein Name ist Christopher. Ich werde einer deiner Ärzte sein«, sagte ich und wählte meine Worte sorgfältig. »Ich werde helfen, dich zu versorgen.«
Sie ließ Dan los und griff nach meiner Hand. Ihre Nägel waren lang und voller Schmutz. Ihre Finger waren so gekrümmt, dass sie sich nicht natürlich um meine schlingen konnten.
»Hallo«, sagte sie zögernd. »Wirst du mich heilen?«
Ich nickte. »Mach ich, Sweetheart. Ich verspreche es.«
Hannah Bauer
Ich stand in der Küche und packte mein Mittagessen für meine Schicht ein, als die Haustür aufging und Christopher hereinkam. »Hey, Schatz, ich bin hier. Ich bin immer noch nicht mit meinen Sachen für heute Nacht fertig geworden. Ich wurde von einer blöden Dokumentation aufgehalten.«
Er stellte sich hinter mich und legte seine Arme um mich. Er küsste mich auf den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ich trocknete meine Hände ab und drehte mich um. Traurigkeit verdunkelte sein Gesicht.
»Hast du einen Patienten verloren?«, fragte ich. Er verlor selten Patienten, aber manchmal geschah es, wenn sie andere Komplikationen hatten.
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe das verlassene Mädchen getroffen.«
»Hast du?« Ich bedeutete ihm, sich an den Tisch zu setzen.
»Das arme kleine Mädchen. Sie ist ziemlich schlimm zugerichtet und ausgehungert.« Seine Stimme blieb ihm im Hals stecken. »Die Leute behandeln ihre Haustiere besser, als sie behandelt wurde.«
»So schlimm ist es?«, fragte ich.
Er nickte.
Ich stellte ein Glas mit seinem Lieblingsscotch bereit und nahm ihm gegenüber Platz. Er nahm einen kleinen Schluck, dann ließ er seinen Finger über den Rand des Glases gleiten, während er aus dem Fenster über dem Waschbecken starrte. Ich griff über den Tisch, nahm seine Hand in meine und rieb mit meinem Daumen über die Oberseite seiner Hand. Ich verstand seine Empfindlichkeit gegenüber Kindern. Keiner von uns beiden hatte sie, als wir heirateten, aber die jahrelangen Probleme mit der Unfruchtbarkeit hatten uns bei fast allem, was mit Kindern zu tun hatte, emotional werden lassen, vor allem bei kleinen Kindern.
»Ihr Name ist Janie und sie ist bezaubernd. Sie hat diese großen blauen Augen, die einen umhauen.« Er nahm noch einen Schluck. »Ich habe mir ihre Aufzeichnungen angesehen, bevor ich gegangen bin, und sie hat so lange gehungert, dass ihr Körper angefangen hat, sich selbst zu essen. Sie hat so viele alte Brüche, die nicht behandelt wurden und nie richtig verheilt sind, sodass einige der Knochen miteinander verwachsen sind. Es gab keinen Teil von ihr, der unberührt geblieben ist.« Seine Augen blitzten vor Wut. »Wer würde so etwas tun?«
Wir beide kannten die Antwort auf seine Frage – ein Monster. Es stand außer Frage.
»Sie wird am Ellbogen operiert werden müssen. Es war ein komplizierter Bruch, der in einem Winkel von fast neunzig Grad verheilt ist, weil er nie richtig gerichtet wurde. Dan und ich werden gleich morgen früh einen Plan ausarbeiten.«
»Du schaffst das«, sagte ich. Wir saßen schweigend da und genossen unsere kurze gemeinsame Zeit, bevor ich zu meiner Schicht aufbrechen musste. »Übrigens, ich habe mir alle Informationen durchgelesen, die Bianella uns über das Seminar geschickt hat, von dem du mir erzählt hast. Ich habe mir sogar die Videos angesehen. Ich denke, wir sollten hingehen«, sagte ich nach einigen Minuten.
»Wirklich?«
Ich nickte. »Egal, in welche Richtung wir gehen, es wird Herausforderungen geben, und wir werden den Rat anderer Leute brauchen, die das schon einmal gemacht haben. Denk nur daran, wie hilfreich unsere Entschlossenheitstreffen waren.«
Nach unserer dritten gescheiterten IVF-Behandlung hatte unser Arzt vorgeschlagen, eine Selbsthilfegruppe für Eltern zu besuchen, die ähnliche Herausforderungen zu bewältigen hatten. Niemand verstand die dramatischen Höhen und Tiefen der Unfruchtbarkeit, wenn er sie nicht selbst durchgemacht hatte. Christopher hatte sich anfangs gegen die Idee gesträubt, weil ihm der Gedanke nicht gefiel, unsere Seelen in einem Raum voller Fremder zu entblößen, aber er hatte sich daran gewöhnt. Ein paar der Paare waren zu unseren engsten Freunden geworden, und wir gingen regelmäßig gemeinsam aus.
»Willst du, dass ich uns anmelde, oder machst du das?«, fragte er.
»Das kann ich heute in meiner Pause machen. Warum entspannst du dich nicht einfach und bereitest dich auf morgen vor?«
»Janie ist nicht mehr in der Notaufnahme«, sagte er und las meine Gedanken, bevor ich die Frage stellen konnte.
Ich atmete erleichtert auf.
»Sie haben sie in den dritten Stock verlegt. Sie ist bei all den geriatrischen Patienten untergebracht, um sie zu schützen.«
Ich hob meine Augenbrauen. »Glauben sie wirklich, dass jemand nach ihr suchen wird?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie sind nur besonders vorsichtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der sein Kind mitten in der Nacht auf einem Parkplatz abgesetzt hat, später auftaucht, um es abzuholen, aber man weiß ja nie.«
Interview: Piper Goldstein
»Wann haben Sie Janie zum ersten Mal getroffen?« Zu dem ersten Beamten hatte sich ein ehemaliger Polizist gesellt, der nun Privatdetektiv war und sich mit festem Händedruck als Ron vorgestellt hatte. Er versuchte, sich als Polizistenkollege auszugeben, aber seine Zivilkleidung verriet ihn. Ich hatte keine Ahnung, warum er so wichtig für den Fall war.
»An ihrem dritten Tag im Krankenhaus.«
»Dauert es normalerweise so lange, bis ein Sozialarbeiter seinen Klienten trifft? Ich dachte, Sozialarbeiter sind verpflichtet, innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach dem Vorfall mit dem Opfer zu sprechen.«
Ich hasste es, wenn sie mir Fragen stellten, auf die sie die Antworten bereits kannten. »Das stimmt, aber sie war nicht stabil genug, damit ich sie sehen konnte.« Das schlechte Neonlicht bereitete mir langsam Kopfschmerzen. Ich rieb mir die Schläfen und versuchte, sie so lange wie möglich abzuwehren.
»War sie so krank?«, fragte der Beamte Luke. Ron hatte mich auf seinen Namen aufmerksam gemacht.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht krank – ausgehungert. Wissen Sie, dass man einen hungernden Menschen nicht einfach so füttern kann, weil man ihn damit sogar töten könnte?« Ich wartete nicht auf eine Antwort. »Ich hatte keine Ahnung, dass das passieren kann. Sie erlitt wenige Stunden nach ihrer Einlieferung einen Herzstillstand, weil man ihr zu viel zu essen gegeben hatte. Es dauerte zwei Tage, um sie zu stabilisieren, also konnte ich sie erst kennenlernen, als sie schon fast drei Tage dort war.«
»Was haben Sie über sie gedacht, als Sie sich kennengelernt haben?«
»Sie war eine totale Überraschung«, sagte ich.
»Wie das?« Luke neigte den Kopf zur Seite und sah mich fragend an. Ich wusste nicht, wie ich Janie beschreiben sollte. Es war schwierig, es für jemanden in Worte zu fassen, der nicht selbst dabei gewesen war und gesehen hatte, wie sie aussah. Zum Glück hatten sie einige der Tatortfotos gesehen, sodass die Verantwortung einer perfekten Beschreibung nicht auf meinen Schultern lag.
»Ich hatte erwartet, ein sehr verängstigtes und traumatisiertes Mädchen vorzufinden, aber Janie hat mit ihren Krankenschwestern gesprochen und gelächelt, als ich das Zimmer betreten habe.« Ihr Zimmer war an diesem Tag eine wahre Farbexplosion gewesen, gefüllt mit Luftballons und Stofftieren, die vom Krankenhauspersonal gespendet worden waren. Jeder, der ihr begegnet war, hatte etwas mitgebracht, und ich war nicht anders gewesen. Ich war mit einem kleinen Teddybären gekommen, der ein Herz in seinen Pfoten hielt. Sie hatte in der Mitte des Zimmers auf ihrem Bett gesessen, während die Krankenschwestern abwechselnd versucht hatten, ihr ein Lächeln zu entlocken. »Sie war nicht vor Angst gelähmt, wie ich erwartet hatte. Die Leute hatten sie so dargestellt, als wäre sie eine Art wildes Kind, aber das war sie nicht.«
Ich hatte mir Mühe gegeben, meinen Schock über ihre ausgemergelte Gestalt zu verbergen. Die Struktur ihres Schädels war unter der blassen Haut deutlich zu erkennen gewesen, so durchscheinend, dass man die violetten Adern hatte sehen können. Ihre Wangenknochen waren hervorgetreten und ihre blauen Augen hatten sich aus den eingesunkenen Augenhöhlen hervorgewölbt.
Ron nickte mir zu, um mir zu signalisieren, dass ich fortfahren sollte, aber es war schwer, einfach frei zu reden, ohne dass sie mir Fragen stellten. Ich wusste, was von mir erwartet wurde, wenn sie Fragen stellten. Frei und offen zu reden, könnte dazu führen, dass ich etwas sagte, was ich nicht sagen sollte. Die Nerven drehten mir den Magen um.
»Am Anfang war es schwer, mit ihr in Kontakt zu kommen, aber das ist immer so. Niemand mag Sozialarbeiter, nicht einmal die Menschen, denen wir helfen wollen. Ich wollte mit ihr allein sprechen, aber sie sah erschrocken aus, als ich die Krankenschwestern bat, zu gehen, also ließ ich sie bleiben«, sagte ich. »Wir wussten immer noch nichts über die Umstände ihres Falls – wir hatten keinen Hinweis auf ihre Eltern oder ihren Vormund oder darauf, wer für sie verantwortlich war und ob sie diejenigen waren, die ihr das angetan hatten. Die Polizei hatte alle Leute in der Wohnwagensiedlung hinter dem Laden nach möglichen Anhaltspunkten befragt, aber sie haben bis jetzt noch nichts erreicht. Soweit ich weiß, jedenfalls. Die Polizei ist nicht immer die Beste darin, mich zu informieren, was sie wissen.« Ich hielt kurz inne, als mir klar wurde, was ich gesagt hatte. »Es tut mir leid. Ich wollte nur –«
Ron tat es mit einer Handbewegung ab. »Ich hab’s verstanden. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.« Er sah Luke eindringlich an. »Wir könnten alle besser als Team zusammenarbeiten.« Er hielt seinen Blick fest, bevor er sich abwandte und seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete. »Hatten Sie irgendwelche Bedenken wegen ihrer Mutter? War jemand besorgt, dass sie in Gefahr sein könnte?«
Ich ließ verlegen den Kopf hängen. »Ich weiß, wir sollen immer unvoreingenommen bleiben und keine voreiligen Schlüsse ziehen, bevor wir nicht alle Fakten über den Fall kennen, aber alle haben angenommen, dass Janies Eltern diejenigen waren, die ihr wehgetan haben. Oder wirklich kranke Verrückte. Es kam niemandem in den Sinn, dass jemand anderes in Schwierigkeiten sein könnte. Ich wünschte, es wäre so gewesen. Vielleicht wäre es dann anders ausgegangen.«
Christopher Bauer
»Ich treffe mich am Dienstag mit Janie zu ihrer OP-Beratung und wollte fragen, ob du mich begleiten würdest, damit sie sich wohlfühlt.« Wenn möglich, besuchte ich alle meine Patienten vor der Operation. Ich wollte, dass wir uns kannten, denn die Operation verlief besser, wenn wir eine Verbindung hatten. Es war nicht das erste Mal, dass ich Hannah gebeten hatte, mir bei einem Patienten zu helfen. Manchmal kam ich zu emotionslos rüber, wenn ich nervös war, und sie war die Art von Mensch, die die Leute beruhigte, ohne es überhaupt zu versuchen.
Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich das nicht kann.«
Janies Anwesenheit im Krankenhaus war nicht lange ein Geheimnis geblieben. Sobald die Polizei begonnen hatte, in der Stadt Fragen zu stellen, hatte sich ihr Fall wie ein Lauffeuer verbreitet und jeder war davon besessen, die Geschichte über das ausgesetzte Mädchen herauszufinden. Die Polizei hielt vor ihrer Krankenhaustür rund um die Uhr Wache und niemand durfte sie sehen, es sei denn, er stand auf einer speziellen Freigabeliste. Es war höchst unwahrscheinlich, dass jemand versuchen würde, sich einzuschleichen, um sie zu sehen, aber jeder schützte ihre Privatsphäre und ihre Behandlung.
»Ich habe dich auf ihre Liste setzen lassen«, sagte ich.
»Wirklich? Stephanie hat mir gesagt, dass sie da sehr streng sind.«
»Sie machen immer Ausnahmen, wenn ich ihnen sage, dass ich die talentierteste Krankenschwester der Welt an meiner Seite brauche.« Ich zwinkerte ihr zu.
Sie rollte mit den Augen. »Ich versuche, mich so weit wie möglich von ihr fernzuhalten. Das weißt du doch.«
Sie war nicht die Einzige. Es gab Praktikanten und Assistenzärzte, die sich während Janies Updates von der Visite abmeldeten. Kindesmisshandlung war furchtbar und manche Menschen konnten damit nicht umgehen, aber Hannah hatte nie zu diesen Menschen gehört. Zumindest nicht bis vor Kurzem.
»Bitte, bitte?«, flehte ich, obwohl ich wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass sie ihre Meinung ändern würde, wenn sie sich einmal entschieden hatte.
»Das macht mich zu traurig. Ich werde ein emotionales Wrack sein, und wir wissen beide, dass das niemandem hilft«, sagte sie kopfschüttelnd.
Ich drängte sie nicht weiter und traf mich am Dienstag allein mit Janie. Als ich ankam, saß sie zusammengekauert an der Wand hinter ihrem Bett. Sie nahm jeden Tag zu, aber sie sah immer noch so klein aus. Sie schlang die Arme um ihre Beine, zog sie an die Brust und starrte die Krankenschwester an, die damit beschäftigt war, Notizen in den Computer neben ihrem Bett einzugeben und wütend auf die Tasten zu tippen. Was konnte passiert sein, dass sie so wütend war? Die Spannung im Raum war groß. Ich blickte zwischen den beiden hin und her und wünschte, ich wäre zu einem besseren Zeitpunkt gekommen.
Ich trat näher an Janies Bett heran, aber nicht zu nahe, denn ich wollte ihren persönlichen Freiraum respektieren. Ich räusperte mich. »Hallo, Janie. Ich bin Dr. Christopher, aber du kannst mich Dr. Chris nennen, wenn du willst. Erinnerst du dich an mich?«
Sie nickte, ohne mich anzusehen, ihr Blick war auf die Krankenschwester gerichtet.
Die Krankenschwester schob den Computer zur Seite. »Janie hat gerade eine schwierige Zeit, weil die Essenszeit vorbei ist, und sie mag es nicht, wenn die Essenszeit endet.«
Ich sträubte mich, als sie das tat, was ich am meisten hasste - über Patienten in der dritten Person zu sprechen, während sie mit einem im Raum waren.
»Ich habe immer noch Hunger«, sagte Janie. Ihre Unterlippe zitterte.
Ich griff in die Tasche meines Laborkittels und suchte nach dem Proteinriegel, an dem ich vorhin geknabbert hatte. Ich hielt ihn der Schwester vor die Nase. »Kann sie den haben? Es ist ein Schokoriegel.«
Die Krankenschwester starrte mich an. »Sie hat nicht ohne Grund einen Essensplan.«
»Deshalb habe ich gefragt. Ich hatte gehofft, dass sie vielleicht ein kleines Stück haben kann.«
Sie rollte mit den Augen. »Wirklich? Ein Proteinriegel?« Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte hinaus.
Hannah hätte sich nie so verhalten. Das dachte ich nicht nur, weil sie meine Frau war. Ich erkannte eine gute Krankenschwester, wenn ich sie sah, und ich hatte Hannah im Laufe der Jahre oft in Aktion gesehen. Sie war eine der Guten – sie ging die Extrameile, räumte Essenstabletts ab, für die das Ernährungspersonal zuständig war, blieb bei den Patienten, um zu reden, wenn ihre Arbeit getan war, half den Angehörigen, nachdem sie schreckliche Neuigkeiten erfahren hatten, und tat die Dinge, die alle anderen vermieden, wie das Aufwischen von Erbrochenem.
Ich steckte den Riegel zurück in meine Tasche. Ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht auf ihrer Liste der akzeptablen Lebensmittel stand, aber einen Versuch war es wert gewesen. »Tut mir leid, Sweetheart.« Ich lächelte zu ihr hinunter und hoffte, sie konnte erkennen, dass ich es ernst meinte. »Ich bin zu dir gekommen, damit wir darüber reden können, was morgen passieren wird.« Sie starrte zu mir hoch. Ich konnte nicht sagen, ob sie an jedem meiner Worte hing oder ob sie nicht verstand, was ich sagte. »Weißt du noch, worüber du mit Dr. Dan gesprochen hast?«
»Ja.« Ihre Stimme war leise, unsicher.
»Nun, ich bin der Arzt, der deine Knochen richten wird. Morgen wird Schwester Ellie dich sehr früh wecken. Du wirst noch schläfrig sein, wenn sie dich zu mir bringen. Dann wird einer meiner Arztfreunde dafür sorgen, dass du wieder einschläfst und wunderbare Träume von all deinen Lieblingssachen hast. Ich werde all deine Knochen richten, während du schläfst.« Es war eine komplizierte Operation. Mehrere Knochentransplantationen waren nie einfach, aber ich hatte vor, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um alles zu richten, damit sie keine weiteren Operationen brauchte.
»Wird es wehtun?«, fragte sie und ihre Unterlippe zitterte erneut.
Ich schüttelte den Kopf und zeigte auf einen Platz auf dem Bett neben ihr. »Darf ich mich hier hinsetzen?«
Sie nickte. Ich hockte mich auf die Kante.
»Die Operation wird nicht wehtun, weil du die ganze Zeit schlafen wirst, aber ich will nicht lügen – dein Arm wird wehtun, wenn du aufwachst. Es tut mir leid, Sweetheart. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, es ohne Schmerzen zu machen.«
Ich hätte alles dafür gegeben, sie nicht noch mehr zu verletzen, als sie bereits verletzt war. Es gefiel mir nicht, einem Kind, das schon so gebrochen war, die Knochen zu brechen, aber wir hatten keine andere Wahl, wenn sie ihren Arm wieder benutzen wollte.
Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange. Ich streckte die Hand aus und wischte sie mit meinem Daumen weg. Ich wollte sie auf meinen Schoß ziehen und festhalten, aber ich hatte Angst, dass sie sich erschrecken könnte. »Hey, ist ja gut, Sweetheart. Du wirst wieder gesund.«
»Versprochen?«
»Dafür werde ich sorgen. Wir werden dir eine magische Medizin besorgen, mit der sich deine Schmerzen so viel besser anfühlen werden. Weißt du, welche Farbe die magische Medizin hat?« Sie sah mich mit großen Augen neugierig an und wartete. »Sie wird rot sein. Magst du die Farbe Rot?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ich täuschte Überraschung vor. »Du magst sie nicht? Wie kann man Rot nicht mögen?«
»Ich mag Lila«, sagte sie.
»Hmm …« Ich kratzte mich am Kinn und tat so, als würde ich nachdenken. »An der magischen Medizin kann ich nichts ändern. Sie muss rot bleiben, aber ich sag’ dir was – warum machen wir deinen Gips nicht lila? Würde dir das gefallen?«
»Lila?«, fragte sie erneut, als wäre es zu schön, um wahr zu sein.
»Ja. Und ich werde nach deiner Operation jeden Tag nach dir sehen, um sicherzustellen, dass es dir besser geht.«
Sie quiekte vor Freude. Dann krabbelte sie auf mich zu und ich öffnete meine Arme, damit sie sich auf meinen Schoß setzen konnte. Sie kuschelte sich an mich. Ich schlang meine Arme um ihren winzigen Körper. Ich hatte mich noch nie so groß gefühlt. Ich wollte mich nicht zu viel bewegen, weil ich Angst hatte, sie aus Versehen zu verletzen. Sie war so zart wie jedes Neugeborene, das ich je gehalten hatte.
Ich war bei ihrer Operation genauso nervös wie bei meiner ersten Solo-OP während der Facharztausbildung. Ich wollte, dass es perfekt lief. Ernährungsexperten aus aller Welt waren eingeflogen, um zu beraten. Sie versicherten mir, dass sie stabil genug wäre, um operiert zu werden, aber das linderte meine Sorgen nicht. Ich wollte nicht, dass sie noch mehr durchmachen musste, als sie bereits durchgemacht hatte. Jedes Mal kochte die Wut in mir hoch, wenn ich nur an die Person dachte, die ihr das angetan hatte. Die Polizei war dem Täter nicht nähergekommen, aber ich weigerte mich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie die Person, die sie verletzt hatte, nicht finden würden. Jemand musste bestraft werden.
Janie drückte ihren Lieblingsdinosaurier an ihre Brust, als ich den Vorbereitungsraum betrat. Sie lächelte mich an, als ich hereinkam, und erkannte mich in meiner ganzen OP-Ausrüstung sogar. Sie hatte jetzt eine Zahnlücke. Man hatte ihr vor ein paar Tagen den verfaulten Zahn entfernt. »Dr. Chris!« Ihr Gesicht hellte sich auf.
»Hey, Sweetheart. Wie ich sehe, hast du Fred mitgebracht.« Ich beugte mich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Normalerweise würde ich nicht daran denken, einen Patienten auf die Stirn zu küssen, aber für Janie galt keine der üblichen Regeln.
»Ich möchte Fred behalten.« Sie drückte ihn fest an ihre Brust.
»Natürlich kann Fred mitkommen.« Ich wackelte dramatisch mit einem seiner Arme. »Ich glaube, er hat auch einen gebrochenen Arm. Wir müssen etwas dagegen tun.«
Sie kicherte. Es war das erste Mal, dass ich sie zum Kichern gebracht hatte, und mein Herz schmolz dahin.
»Hast du noch weitere Fragen an mich?«, fragte ich, obwohl es noch keine zwölf Stunden her war, dass wir die Operation besprochen hatten.
Sie schüttelte den Kopf und hielt Fred fester. Ich drückte ihr einen weiteren Kuss auf den Kopf. »Du wirst das toll machen. Wir sehen uns bald wieder.«
Ich hatte noch nie eine Operation vor Publikum durchgeführt, aber der angrenzende Raum war mit Assistenzärzten und Praktikanten gefüllt. Es lief besser, als ich erwartet hatte. Sie vertrug die Narkose gut und der Bruch ihres Ellbogens war sauber, ohne Splitter, wegen der ich so nervös gewesen war. Ich richtete ihn wieder, so wie es beim ersten Mal hätte gemacht werden sollen. Ich fusionierte und löste die vier Stellen, an denen ihre Muskeln und Sehnen miteinander verkalkt waren. Ehe ich mich versah, war es vorbei, und sie wurde in den Aufwachraum gerollt. Ich wickelte Freds Arm in einen passenden lilafarbenen Gips und brachte ihn mit in den Aufwachraum.
Ich beugte mich über ihr Bett und legte meine Hand auf ihre Stirn. Ihre Augenlider flatterten, während sie darum kämpfte, aufzuwachen. »Sieh mal, wen ich mitgebracht habe.« Ich hielt den Dinosaurier hoch, damit sie ihn besser sehen konnte. Sie war von der Narkose noch verwirrt. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie nahm ihn in die Hand und führte ihn vor ihr Gesicht. »Siehst du, er wurde genauso operiert wie du. Ich habe seinen Gips genau wie deinen gemacht, damit ihr zusammenpasst.«
Ein weiteres benebeltes Lächeln. Ihre Augen sahen komisch aus. Ihre Brust hob sich schwer, und gelbe Flüssigkeit spritzte aus ihrem Mund. Ich griff nach der grünen Schüssel und setzte Janie schnell auf. Ich hielt sie fest, während sie in die Schüssel würgte. In ihrem Magen war nichts mehr, da sie in der Nacht vor der Operation nichts mehr hatte essen dürfen. »Ist schon gut, Kleine. Das ist nur die Medizin, die dir übel werden lässt.«
Ich zog ihr den schmutzigen Kittel aus und deckte sie mit einer neuen Decke zu. Ich streichelte sanft ihren Arm. »Du machst das großartig, Sweetheart. Einfach großartig.«
Sie schloss ihre Augen und schlief wieder ein. Ab und zu öffnete sie ihre Augen, um sich zu vergewissern, dass ich noch da war. Normalerweise saßen die Krankenschwestern mit den Kindern im Aufwachraum, aber ich wollte, dass sie ein vertrautes Gesicht hatte, das sie ansah, wenn sie aufwachte.
Ich zog einen Stuhl neben sie und stützte meine Beine auf das Ende ihres Bettes. Sie sah so friedlich aus, verloren in ihrer Traumwelt. Die Stille umhüllte sie, und Janie war nie still. Sie bewegte sich ständig, zappelte immer herum. Es war so schön, sie sich ausruhen zu sehen, auch wenn es an den Drogen lag, die durch ihren Körper flossen. Ich konnte mich nicht von ihr losreißen. Ich schloss meine Augen, und es dauerte nicht lange, bis ich neben ihr einschlief.
Hannah Bauer
Wo war Christopher, und warum brauchte er so lange? Er war derjenige, der einen Tisch fürs Abendessen reserviert und es an all unsere Kalender geschickt hatte, also konnte er es auf keinen Fall vergessen haben. Ich schaute zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten auf meine Uhr. Es war so untypisch für ihn, sich zu verspäten und mich nicht wissen zu lassen, dass etwas dazwischengekommen war. Ich hatte mir schon mehr als einmal vorgestellt, wie er auf dem Highway 12 einen Autounfall hatte.
Meine Schwester Allison schenkte mir ein Glas Wein ein, ihre Fingernägel waren perfekt manikürt und leuchteten Rosa. Ich wusste nicht, wie sie die Zeit fand, sie sich machen zu lassen, wo sie doch so beschäftigt war. »Mach dir keine Sorgen. Er wird bald hier sein.«
Natürlich war Christophers Verspätung für sie keine große Sache, weil ihr Mann Greg immer zu spät kam. Immer, wenn Christopher und ich sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort brauchten, sagten wir ihnen, dass es dreißig Minuten früher sei, als es tatsächlich war, und selbst dann schafften sie es manchmal, zu spät zu kommen. Heute Abend war Christopher sogar so spät dran, dass Greg bereits hier war.
Greg war es unangenehm, nur mit Allison und mir zu Abend zu essen, obwohl er nichts tat oder sagte, was darauf schließen ließ, dass er dieses Gefühl hatte. Allison hatte mir erzählt, dass er gesagt hatte, mit uns allein zu sein, sei so, als wäre man das unbeholfene dritte Rad bei einem Date. Er hatte recht. Es war für jeden schwer, zu Wort zu kommen, wenn wir beide loslegten, aber so war das nun mal, wenn man einen Altersunterschied von nur elf Monaten hatte. Wir waren mehr wie Zwillinge als wie Schwestern.
»Soll ich versuchen, ihn zu erreichen?«, fragte Greg und rieb sich das Kinn. Er hatte immer einen leichten, hellen, struppigen Bart – nie glatt rasiert und nie einen Vollbart. Er richtete seine Frage an Allison, als bräuchte er ihre Erlaubnis mehr als meine.
Allison warf die Haare über die Schultern und rollte dramatisch mit den Augen. »Er ignoriert sie nicht, weil er sauer ist. Nicht wie jemand, den ich kenne.«
»Als ob ich der Einzige wäre, der diese Taktik anwendet«, schnauzte er zurück.
Sie hatten kein Problem damit, sich in der Öffentlichkeit zu streiten. Ich hatte ihr schon mal gesagt, wie unangenehm mir das war, aber sie hörte nicht zu. Christopher eilte an unseren Tisch, kurz bevor es in einem ausgewachsenen Streit enden konnte. Ich atmete erleichtert auf – nicht nur, weil ich sein Gesicht sah, sondern auch, weil ich den Streit zwischen Allison und Greg nicht mehr mitanhören musste.
»Es tut mir so leid, dass ich zu spät bin.« Er beugte sich vor, um mich zu küssen, aber ich drehte meinen Kopf so, dass der Kuss auf meiner Wange statt auf meinen Lippen landete, wobei meine Sorge sofort durch Verärgerung ersetzt wurde.
»Das ist völlig in Ordnung«, sagte Greg. Er deutete auf das volle Getränk, das vor Christophers Platz stand. »Ich habe für dich gesorgt.«
Christopher lachte und ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Danke.«
»Und wo warst du?«, fragte ich, nicht bereit, ihn so einfach davonkommen zu lassen.
»Ich bin nach Janies Operation eingeschlafen«, sagte er.
»Du bist nach ihrer Operation eingeschlafen?«
»Ich weiß, nicht wahr? Ziemlich unfassbar. Ich weiß nicht einmal, wie es passiert ist. In der einen Minute saß ich noch neben ihrem Bett und sah ihr beim Schlafen zu, und in der nächsten Sekunde war ich weg.« Er griff unter den Tisch und drückte mein Knie. »Sei nicht sauer.«
Allison langte über den Tisch und gab mir einen Klaps auf meine Hand. »Sie wird nicht sauer sein. Wir sehen euch nicht oft genug, damit sie wütend wird und uns den Abend verdirbt.«
»Gut, aber nur, weil sie recht hat. Aber nur zur Information: Ich bin immer noch sauer auf dich.« Ich streckte ihm die Zunge raus.
»Wie ist ihre Operation verlaufen?«, fragte Allison.
Obwohl wir uns nicht so oft sehen konnten, wie wir wollten, schrieben Allison und ich uns ständig SMS, damit wir immer auf dem Laufenden blieben, was im Leben der anderen vor sich ging. Ich hatte sie die ganze Woche über die Details von Janies Fall informiert, sobald sie herauskamen. Zunächst hatten die Ermittler sie für ein vernachlässigtes Kleinkind gehalten, aber die Wunden an ihrem Körper erzählten eine schmerzhaftere Geschichte.