Das perfekte System - Bünyamin Özgören - E-Book

Das perfekte System E-Book

Bünyamin Özgören

4,9

Beschreibung

Haben Sie sich schon einmal gefragt, welche Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens die beste darstellt? Die gerechteste? Die glücklichste? Die vollkommenste? Wie würden Sie sich als eine Gruppe Schiffsbrüchiger auf einer einsamen Insel organisieren? Wer hat das Sagen? Und warum? Denn genau diese Fragen muss sich der gestrandete Versicherungsvertreter Karl Friedrich stellen. Statt einer geplanten erholsamen Kreuzfahrt auf hoher See findet er sich plötzlich in einem Netz aus Intrigen, Mord und Ausbeutung wieder. Doch ebenso beginnt auf diesem einsamen Inselparadies auch die spannende Suche nach der vermeintlich perfekten Gesellschaft. Schauen Sie in die Abgründe menschlicher Seelen und erblicken Sie das rücksichtslose Streben nach Macht, Reichtum und Anerkennung: Entwicklungen und Wege, die in jedem von uns stecken könnten. Begeben Sie sich auf die Suche nach dem perfekten politischen System in Form dieses mitreißenden Politthrillers!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über den Autor:

Dr. med. Bünyamin Özgören ist Arzt und Autor, welcher sich auf das Schreiben von Thrillern spezialisiert hat. Als gebürtiger Bremer zog es ihn zum Studium der Humanmedizin nach Hamburg, wo er einige Jahre seines Lebens verbrachte.

Seit jeher beschäftigt er sich mit politischen Fragestellungen und bringt die daraus entstehenden Konflikte zu Papier. So nimmt er den Leser mit auf eine spannende Reise durch die menschliche Psyche.

Inhaltsverzeichnis

Das perfekte System

Der Bund der Gerechten

Der Krieg gegen den globalen Terrorismus

Große Feste schöpfen Kraft und Freude

Seebestattung

Die Gleichberechtigung der Freien

Das Wirtschaftswunder

Der Verräter

Der Pakt mit dem Teufel

Der Kanzler ist tot, es lebe der Kanzler!

Der Endsieg!

Das perfekte System

Das perfekte System

„Wir müssen uns irgendwie organisieren! So geht das nicht weiter…“ Kapitän Weber sprach diesen entscheidenden Satz voller Tatendrang. Er stand erhöht auf einer umgestülpten Bierkiste, sodass er die versammelte Menge fest im Blick hatte. Entschlossen sah er von einem zum anderen. Im rötlichen Licht der untergehenden Sonne hatte seine Haltung etwas Heroisches, fast schon Mystisches.

Sicherlich hatte er recht. Ich ließ mich mitreißen und stimmte in den zustimmenden Jubel ein. Zeit, sich mit der Situation abzufinden, Zeit zu handeln, Zeit, das Beste daraus zu machen.

Doch ich sollte mit meinen Schilderungen früher beginnen. Am besten an dem Punkt, als alles noch in Ordnung war. Das war vor rund drei Wochen. Auf den ersten Blick eine kurze Zeitspanne, doch für mich lagen Welten dazwischen.

Mein Name ist Karl Friedrich, und ich bin Versicherungsvertreter (oder sollte ich besser sagen: ich war?).

Eigentlich hatte der sechste Kalendermonat recht verlockend für mich angefangen, nämlich mit einer Kreuzfahrt auf hoher See. Das Reiseticket dazu hatte ich gewonnen. Total überraschend, dass es tatsächlich noch Gewinnspiele gibt, bei welchen man auch wirklich etwas gewinnen kann und nicht nur von freundlichen Call-Center-Damen über den Tisch gezogen wird.

An Bord machte man sich mit seinen Mitreisenden bekannt und freundete sich an. So ist das eben auf Kreuzfahrten – wochenlang lebt man auf begrenztem Raum zusammen, kommt sich näher, knüpft Freundschaften, verabschiedet sich und sieht sich trotz gegenteiligem Beteuern nie wieder. Doch diesmal kam alles anders.

Eines Abends lag ich auf einem Liegestuhl an Deck und genoss die untergehende Sonne. Das Schiff war weit weniger luxuriös, als es auf dem Werbeprospekt ausgesehen hatte. Vielmehr handelte es sich um einen alten Containerfrachter, den man etwas herausgeputzt hatte. Neben der üblichen Handelsware unter Deck wurden nun eben noch zusätzlich zahlende Gäste transportiert, die auf der Suche nach etwas Erholung waren. Ich störte mich jedoch nicht weiter daran, denn es war schließlich einer der wenigen Urlaube, die ich mir in den letzten Jahren hatte erlauben können und für mich war der Komfort an Board mehr als ausreichend.

Gedankenverloren ließ ich meinen Blick schweifen und bemerkte Joseph, einen der Matrosen, an mir vorbeilaufen. Wir hatten uns bereits nach wenigen Tagen angefreundet und dass, obwohl es speziell bei den Gästen der ersten Klasse nicht üblich war, sich mit dem Personal über mehr als nur über die noch zu verrichtenden Tätigkeiten zu unterhalten.

„Der Kapitän befiehlt nach seinen Untergebenen“, rief er mir augenzwinkernd im Vorbeilaufen zu: „Wahrscheinlich war ihm mal wieder das Deck nicht sauber genug geschrubbt…“

Ich erwiderte sein Lächeln freundlich und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, hier Angestellter zu sein und schuften zu müssen, während alle anderen Urlaub machen können. Aber wenn man auf das Geld eben angewiesen ist, bleibt einem wohl kaum etwas anderes übrig.

Aus dem Augenwinkel schielte ich rüber zu einem dicken Erste-Klasse-Passagier, der sich die Sonne auf seinen gut genährten Bauch scheinen ließ, während er von der Bordmasseurin den Nacken gekrault bekam - ja, reich sollte man sein. Die einen bedienen, die anderen lassen bedienen. So ist unsere Welt halt aufgebaut. Entscheiden tat letzten Endes das Konto, zu welcher Gruppe man selbst gehörte. Kapitalismus – wie der Name schon sagt – die Herrschaft des Geldes.

Ich wollte mich gerade umdrehen, um mir den Rücken zu bräunen, da hastete Joseph erneut vorbei: „Doch kein Schrubben…es kommt wohl ein Unwetter auf uns zu! Da heißt es Vorbereitungen treffen!“

Während die Mannschaft ihre Vorbereitungen traf, saßen der Kapitän und die meisten Offiziere in der bordeigenen Bar und spielten Karten. Gelangweilt vom Sonnen gesellte ich mich dazu. Der dicke Erste-Klasse-Passagier saß inzwischen auch schon hier. Sein Name war Friedhelm von Wanzen. Er war gerade in ein Gespräch mit Kapitän Weber verstrickt. Man kannte sich.

Ein Offizier am Nebentisch gab den Matrosen per Funk Anweisungen. Ein angenehmer Job. Viel angenehmer jedenfalls als der der übrigen Seeleute; denn von draußen hörte man bereits die ersten Vorboten eines heraneilenden Gewitters.

An der Bar jedoch sah man jeden Abend das Gleiche und doch immer noch faszinierende Bild: Passagiere, die hier saßen und sich amüsierten sowie die Besatzung symbolisierten aus meiner Sicht eine Gesellschaft. Ich lachte innerlich, so gut passte dieser Vergleich. Draußen, im inzwischen strömenden Regen, schufteten die Matrosen. Keiner zwang sie dazu. Zumindest nicht vordergründig. Sie hatten es sich doch schließlich selber ausgesucht, auf diesem Schiff hier beschäftigt zu sein, waren vielleicht sogar noch froh darüber, den Job bekommen zu haben. Sicherlich, irgendeiner musste die Arbeit ja auch machen. Letzten Endes jedoch waren sie schmerzlich auf das hier zu verdienende Geld angewiesen und damit natürlich auch auf diesen Job. Das führte zu Abhängigkeit und diese zur Unfreiheit. Waren sie nun also freie Bürger einer freien Gesellschaft? Immerhin wurden sie ja nur indirekt zur Arbeit gezwungen. Oder waren sie eigentlich nur moderne Sklaven?

Auf der anderen Seite die Oberschicht. Die Erste-Klasse-Reisenden. Sie hatten es in der Gesellschaft zu etwas gebracht. Hatten geerbt oder den Aufstieg geschafft. Es sei ihnen gegönnt. Sicherlich hatten sie eine bessere Bildung im Vergleich zu den armen Schweinen, die man aufgrund des dichten Regens und des grollenden Donners nun nicht mehr sehen, geschweige denn hören konnten. Auch trugen sie eindeutig mehr Verantwortung. Klar sollten sie dann auch mehr Geld verdienen. Das war doch nur gerecht! Die Frage lag jedoch im Verhältnis. Diese Menschen waren im Gegensatz zu den Arbeitern draußen um einiges freier. Wenn sie mal nicht arbeiten wollten, dann taten sie dies auch nicht, denn Geld war bei ihnen genug vorhanden und selbst wenn sie arbeiteten, dann war dies in der Regel sehr viel angenehmer für sie. Geistige Arbeit ließ sich bequem in einer Bar erledigen, wie es der Offizier am Funkgerät gerade vormachte. Körperliche dagegen sah, als ich den Blick gen Unwetter schwenken ließ, weitaus unangenehmer aus, selbst wenn ich die luftzerreissenden Blitze, die man mittlerweile beobachten konnte, mal außer Acht ließ. Wäre es nicht gerechter, wenn Herr von Wanzen nur das Dreifache von dem verdienen würde, was Joseph verdiente? In Wahrheit dürfte es wohl das Dreißigfache sein.

Die Offiziere hingegen fungierten in meiner Vorstellung als Beamte. Als Schergen des Staates, die penibel auf die Durchführung der Gesetze achteten. Gesetze, die in diesem „Schiffsstaat“ vom Kapitän gemacht wurden. Doch wurden sie wirklich nur vom Kapitän gemacht? Ich sah zu ihm hinüber. In seiner schicken Uniform saß er da und plauderte noch immer ausgelassen mit Herrn von Wanzen. Hatte sich von Wanzen nicht letzte Woche über den Wein zum Abendessen beschwert? Er sei zu trocken, hatte er gesagt. Wenn das so weitergehe, dann würde er seine nächste Schifffahrt woanders buchen. Der Kapitän persönlich hatte sofort befohlen, dass ein Matrose am nächsten Tag an Land gehen musste und neuen Wein nach dem Geschmack des Herrn kaufen sollte. Jaja, die Politik als Diener der Wirtschaft; auch das könnte man Kapitalismus nennen.

Der Seegang wurde immer stärker, das Unwetter immer heftiger und langsam wurden auch die Herren in der Bar unruhig. Das Schiff begann unerträglich zu schaukeln. Tische stürzten um, Gläser zerbrachen. Unter einem erneuten schaurig hallenden Donnerschlag stürzte Herr von Wanzen in die Arme des Kapitäns. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ein eisiger Luftzug durchschoss die Bar. Wieder fielen Gläser. Ein junger Matrose stand auf der Schwelle. Sein Name war Frank. Ich kannte ihn vom Sehen. Er hatte leuchtend rotes Haar und ein rundliches, freundliches Gesicht. Doch nun war es blass vor Entsetzen.

„Mann über Bord!“, schrie er aus Leibeskräften in die angsterfüllten Gesichter. Im selben Moment brach der Tumult aus! Die Menschen begannen scheinbar alle gleichzeitig hektisch und vollkommen planlos herumzurennen und wild zu gestikulieren.

„Einer von den Passagieren?“, fragte der Kapitän schroff. Frank entgegnete: „Nein! Einer von uns: der Joseph!“

„Werft die Rettungsringe aus!“, befahl ein Offizier sofort.

Doch tatsächlich sah es schlecht aus. Joseph war nur noch als ein kleiner, sich ständig überschlagender Punkt in einigen hundert Metern Entfernung auszumachen und auf Deck traute sich sowieso keiner mehr. Alles saß zusammengekauert in den Aufenthaltsräumen oder in der Bar, um nicht weggeweht zu werden. Als dann auch noch die ersten Fensterscheiben zerbarsten, fasste sich Herr von Wanzen ein Herz. War er in wilder Angst die letzten zehn Minuten lediglich planlos gestikulierend immer im Kreis gelaufen, so bäumte er sich nun auf und rief mit vor Panik bebender Stimme: „Ich wünsche, dass das aufhört! Ich…ich will, dass dieser Unsinn sofort ein Ende hat, oder ich buche das nächste Mal meinen Urlaub woanders!“

Der Kapitän, sonst von dieser Drohung zur Unterwürfigkeit getrieben, sah jetzt nur noch verächtlich auf seinen Erste-Klasse-Gast nieder und wandte seinen Blick schließlich, ohne ein Wort zu sagen, von ihm ab. Dies schien von Wanzen das letzte bisschen Verstand zu rauben. Ohne einen Rest Farbe im Gesicht ließ er sich in einer Ecke nieder und redete wütend murmelnd mit sich selbst. In seinen Augen lag der Blick eines Wahnsinnigen.

Anstatt abzuflachen wurde der Sturm jedoch noch stärker. Blitze durchzuckten immer häufiger die tiefschwarze Wolkendecke und der starke Regen verringerte die Sichtweite enorm. Plötzlich ein gewaltiges Krachen, woraufhin die Zeit stillzustehen schien. Dann Schreie und Gekreische. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Wankend verlor ich das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Mein Kopf prallte frontal gegen etwas sehr Hartes. Plötzlich wurde mir schummrig zumute. Das Letzte, was ich noch wahrnehmen konnte, war die schallende Stimme des Kapitäns: „Das Boot sinkt! Rette sich wer kann!“

Als ich endlich wieder zu mir kam, war es schon fast Mittag. Jedenfalls stand die Sonne hoch am Himmel und weckte mich mit ihrer sanften Wärme.

„Hey, er ist wieder bei Sinnen!“ Ich blickte in das freundliche Gesicht eines der Küchenjungen.

„Verdammt, wie lange liege ich schon hier?“, fragte ich, langsam zu mir kommend.

„Ungefähr ʹne Stunde“, entgegnete der Junge.

Ich sah mich um und bemerkte verdutzt, dass ich an einem Strand lag. Überall Sand, Palmen und tiefblaues Meer. Wie im Film. Toll! Die Überraschung schien mir wohl ins Gesicht geschrieben und mein Gegenüber erklärte beklommen. „Wir sind hier gestrandet. Ein Glück, dass wir überlebt haben. Viele haben es nicht geschafft.“ Er blickte bedrückt in die Runde.

„Höchstens ein paar hundert Menschen, ein bisschen Proviant und einige Container Fracht sind uns geblieben.“

Ich richtete mich mühsam auf, und langsam dämmerte mir, in welcher Situation wir uns eigentlich befanden. Wir waren Gestrandete, irgendwo auf einer einsamen Insel.

Verzweifelt fragte ich: „Haben wir noch ein Boot oder wenigstens ein Funkgerät?“ Der Junge schüttelte beklommen den Kopf. Würde uns in dieser Einsamkeit dann jemals jemand finden? Wir schienen hoffnungslos verloren…

„Wie heißt du?“, fragte ich. „Robert“, gab er zurück. „Mein Vater ist Viktor, der Küchenchef. Er sitzt hinten bei den anderen Männern.“

Ich sah mich um. Die Gestrandeten saßen in Grüppchen zusammen und wirkten allesamt planlos und verzweifelt. Ich beschloss zu der Menschentraube zu gehen, die sich um Kapitän Weber versammelt hatte.

Beim Näherkommen hörte ich die Stimme des Kapitäns im gewohnten Befehlston. „Nein, Schulze, jetzt hilft kein Jammern. Auf, auf! Besorgen Sie uns Feuerholz! Und wir sollten uns Nahrung organisieren! Viktor, suchen Sie nach irgendetwas, das Sie später zu was Essbarem verarbeiten können und nehmen Sie am besten ihren Sohn mit.“ Dann fiel sein Blick auf mich und er ergänzte. „Aah, schön, dass Sie wohlauf sind. Wollen Sie Viktor nicht behilflich sein?“

Ich nickte stumm, wenn auch etwas irritiert, nun anscheinend auch unter der Befehlsgewalt des Kapitäns zu stehen. Was solls, wenigstens konnte ich etwas Nützlicheres tun, als nur tatenlos hier rumzusitzen.

Ich machte mich also mit Viktor und Robert auf den Weg vom Strand weg und hinein in einen angrenzenden Wald.

Die Insel war noch größer, als ich erwartet hatte. Neugierig schaute ich mich um. Ein traumhaftes Fleckchen Erde. Die Sonne stand hoch am Himmel und ihre Wärme vollendete den Eindruck von einer paradiesischen Ferieninsel. Man hätte es hier bestimmt recht schön haben können, zumindest wenn man nicht gerade ein nahrungssuchender Schiffsbrüchiger gewesen wäre.

Viktor sprach beim Laufen im Gegensatz zu seinem Sohn nicht mehr als unbedingt nötig. Er war ein breitschultriger Schrank von einem Mann, der, wenn auch recht mürrisch, einen in seinem Kern durchaus freundlichen Charakter hatte.

Wir waren kaum hundert Meter gelaufen, da sahen wir schon die ersten Sträucher mit Beeren sowie Bäume voller Obst. Während wir noch sammelten und die köstliche Ausbeute in unsere ausgezogenen und zu Beuteln zusammengewickelten Hemden gleiten ließen, lief Robert bereits weiter und suchte nach den nächsten Sträuchern.

Ich blickte unsicher zu Robert hinüber, denn mir erschien es recht unvorsichtig, den Jungen alleine vorlaufen zu lassen, doch Viktor machte es offenbar nichts aus, und so sagte auch ich nichts weiter dazu. Ohne den ständig drauflos plappernden Robert jedoch, begann mich der Kummer allmählich zu überkommen.

„Ein schöner Schlamassel“, begann ich und versuchte, zwanghaft Konversation zu betreiben, um nicht von der Stille erdrückt zu werden. Viktor blickte nur kurz von seinem Johannisbeerstrauch auf, antwortete mit einem knappen „Jo“ und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder den Beeren zu.

„Aber wenn wir alle zusammenhalten, schaffen wir das schon!“, begann ich einen zweiten, tapferen Versuch, doch nun sah Viktor nicht einmal mehr auf.

Ich schaute mich um. An Nahrung würde es uns hier erst mal nicht fehlen. Es gab Bäume und Sträucher voller Früchte und mit Sicherheit auch genügend Tiere, die man jagen könnte. Doch andererseits waren wir auch viele Menschen. Würden wir uns mit Obst durchfüttern können, bis wir gerettet werden? Würden wir überhaupt gerettet werden? Wie wahrscheinlich war es, dass man hier nach uns suchen würde und vor allem, wie lange würde es dauern, bis die Rettung eintrifft? Wochen? Monate? Vielleicht sogar Jahre?

Ich teilte meine Sorgen Viktor mit, welcher mit einem unverständlichen Grunzen antwortete. Sehr redselig schien mein neuer Freund jedenfalls nicht zu sein, daher wandte ich mich erneut der Umgebung zu. Wie lange hatte ich schon nicht mehr selbst gepflücktes Obst gegessen? Und überhaupt – eigentlich war es doch recht schön hier. Unter anderen Umständen könnte man bestimmt einen schönen Urlaub unter Palmen verbringen.

Während ich so pflückte und vor mich hin träumte, hörte ich plötzlich einen lauten Schrei! Hell, wie aus dem Mund eines Kindes! – Robert!!!

Viktor sprang sofort auf und rannte, ohne ein Wort zu sagen, los. Ich hechtete hinterher und probierte Schritt zu halten; mit nur mäßigem Erfolg. Bald schon hatte ich Viktor im dichten Wald verloren. Da war es plötzlich nochmal! Ein lauter Schrei, direkt neben mir. Der wie wild rennende Küchenchef musste vorbeigelaufen sein. Ich bog nach links ab und erreichte eine kleine Lichtung. Da sah ich Robert zusammengekauert am Boden hocken.

„Die haben mich geschlagen!“, rief der Junge empört und deutete auf zwei Männer, die mitten auf der Lichtung standen und Bananen sammelten. Ich erkannte sie sofort. Sie waren Passagiere auf unserem Schiff gewesen.

„Wieso schlagt ihr ihn?“, wollte ich wütend wissen.

Die beiden sahen mich streitlustig an. „Das sind unsere Bäume! Wir haben sie zuerst gesehen!“, erwiderte der eine trotzig.

Na wunderbar, dachte ich. Kaum sind wir eine Stunde hier, beginnen wir uns ums Essen zu streiten.

„Der Junge gehört zu mir. Wir sammeln für ALLE Gestrandeten. Ihr könnt also wieder zurückgehen. Außerdem gibt es in diesem Wald mehr als genug Bäume mit Früchten.“

„Pah!“, entgegnete diesmal der andere: „Von wegen! Wie viele Früchte, glaubst du, wirst du hier auf die Dauer finden? Genug, damit du alle durchbringen kannst? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Wir sind auf einer einsamen Insel gestrandet, man! Wer hier überleben will, muss sich durchsetzen können!“

Ich bemerkte erschrocken, dass er vielleicht Recht haben könnte. Wie hart es auch klingen mochte. Diese Strandung würde offenbar das Ende aller gewohnt geordneten Verhältnisse bedeuten. Der Anfang der Anarchie! Jeder nimmt sich was er braucht! Ohne zu fragen, ohne Rücksicht auf andere, um letztendlich derjenige zu sein, der überlebt.

Ein schrecklicher Gedanke! Oder war dies nur ein natürlicher Prozess der Auslese? Das Überleben des Stärkeren?

Ein wütender Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Wie ein gewaltiger Grizzlybär kam Viktor brüllend durch die Bäume gestürmt, erreichte die Lichtung und stand mit einem gewaltigen Satz vor den beiden völlig verschreckten Männern. Mit der Entschlossenheit eines tollwütigen Tieres holte er aus und beförderte den Ersten durch die Luft. Ich muss dazu sagen, dass ich noch nie einen Menschen soweit habe fliegen sehen. Mit einem ungesunden Krachen schlug er gegen einen Baum und blieb regungslos liegen. Der zweite Mann hatte nicht so viel Glück…

Er probierte sich auf Viktor zu stürzen, dieser wehrte ihn jedoch ohne Mühe mit dem Ellenbogen ab und stieß ihm mit der anderen Hand in die Magenkuhle, worauf sich der Ärmste schmerzerfüllt krümmte. Ein erneuter Hieb gegen den Kopf des Mannes sorgte zweifellos dafür, dass sein Kiefer gebrochen sein musste. Regungslos lagen nun beide Erste-Klasse-Kreuzfahrtgäste auf dem Boden, niedergestreckt von ihrem im Fahrtpreis inbegriffenen Fünf-Sterne-Koch.

„Nun gut“, begann ich atemlos und blickte mich völlig verunsichert um. „Sammeln wir die Beeren hier und dann nichts wie zurück, oder?“ Viktor sah mich kurz und durchdringend an. Dann antwortete er schließlich mit einem knappen „Jo“.

Tatsächlich reichten die paar gesammelten Früchte lange nicht, um alle satt zu bekommen. Zum Glück hatte man einige Kisten Proviant vom Beiboot retten können. Doch auch diese Vorräte würden irgendwann verbraucht sein und wie sollte es dann weitergehen? Ich bekam die Worte der beiden Männer nicht aus dem Kopf: „Wie viele Beeren, glaubst du, wirst du hier auf Dauer finden? Genug, damit du alle durchbringen kannst? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Sie hatten verdammt noch mal recht… „Wer hier überleben will, muss sich durchsetzen können!“, hatten sie gesagt.

Und wirklich: Bereits einige Tage später vertraute man nicht mehr auf die langsam zur Neige gehenden Proviantkisten und den paar ebenfalls immer spärlicher werdenden Gemeinschaftsbeeren, sondern begann, für sich selbst zu sorgen. Immer wieder sah man einzelne Grüppchen vom Strand, wo man ein provisorisches Lager aus Decken errichtet hatte, in den Wald verschwinden und später mit satten Gesichtern zurückkehren.

„Die haben bestimmt neue Sträucher gefunden“, hörte ich einen jungen Matrosen neidisch murren, als gerade eine Gruppe besonders zufrieden dreinblickender Männer aus dem Wald stolzierte.

„Die Penner sollten ihren Fund mit allen Teilen“, knurrte er zornig und blickte mit verächtlichem Blick auf die fünf Männer, die sich nun fröhlich plaudernd auf ihre Decken niederließen. Einer der erfolgreichen Sammler war Frank, jener Matrose, der mir schon wegen seines stets fröhlichen Gesichtsausdrucks aufgefallen war. Seine roten Haare schimmerten in der prallen Sonne.

„Jetzt reicht´s! Ich verhungere hier doch nicht, während die´s sich gut gehen lassen, wie im Paradies!“, fing er erneut an und stapfte nun wutentbrannt auf die Gruppe zu.

„Hey, bleib sachte“, probierte ihn einer zu beruhigen, doch der hungrige Matrose war schon außer Hörweite.

„Ihr da!“, schrie er die Gruppe an: „Was fällt euch ein, euer Essen nicht zu teilen? Ich weiß, dass ihr im Wald was versteckt habt!“

Mit der guten Stimmung der Männer war es umgehend vorüber. Man sah sich beschämt an, bis Frank schließlich die Initiative ergriff und seinem Kollegen freundlich entgegnete: „Hör mal, hier gibt es keine Regeln! Jeder muss selber sehen, wie er über die Runden kommt.“

Ja. Jeder musste selbst sehen, wie er überlebte und wer überleben wollte, musste sich durchsetzen. Durchsetzen nach dem Recht des Stärkeren.

„Pah!“, der Matrose hatte Frank plötzlich am Kragen gepackt und hochgezogen. „Glaubst du, dass ich hier stumm verrecke? Du wirst dich noch wundern!!“ Damals hatte ich noch keine Ahnung, wie ernst er diese Drohung meinte. Jedenfalls stieß er Frank wütend wieder zu Boden und machte schnaubend auf dem Absatz kehrt, um sich den anderen Matrosen anzuschließen, die nun begannen, die Köpfe zusammenzustecken und hin und wieder verächtlich herübersahen.

„Tz tz! Wir haben doch noch genug Proviant. Als ob er am Verhungern wäre! Soll er doch seine eigenen Sträucher finden, oder?“, Frank sah fragend in die Runde. Ich zuckte nur mit den Achseln und ließ mich ein paar Meter weiter auf einem Stein nieder. Lieber hielt ich mich aus solchen Angelegenheiten heraus. Und überhaupt, um Panik zu schieben, war doch ein viel zu gutes Wetter und so schlecht ging es uns ja auch nicht. Noch jedenfalls nicht.

Doch als ich mich an diesem ersten Abend in meine Decke einrollte, hatte ich ein ungutes Gefühl.

Die Wunden der beiden Passagiere, die Viktor im Wald verprügelt hatte, hatten kaum aufgehört zu bluten und schon bahnte sich der nächste Konflikt an. Wenn das so weitergehen würde, könnte unser schönes kleines Strandlager im Nu im völligen Chaos versinken. Es würde werden wie im Tierreich. Der Stärkste isst und die anderen bekommen die Reste. Wie heißt es noch so schön? Der Klügere gibt nach. Naja…darauf sollte ich hier lieber nicht hoffen, denn die Stimmung unter den Gestrandeten war auf dem Tiefpunkt.

Tatsächlich hatte ich nie verzweifeltere Gesichter gesehen als heute. Es dämmerte langsam jedem, dass man mit den Proviantkisten nicht mehr weit kommen würde und in diese Verzweiflung mischte sich Misstrauen. Misstrauen gegenüber dem Nebenmann, der vielleicht irgendwo Essbares gebunkert hatte, ganz gleich, ob Passagier, Matrose oder Kapitän, man traute niemandem.

Ich konnte nur schwer einschlafen. So heiß es tagsüber auch wurde, nachts war es bissig kalt. Ein eisiger Wind fegte über den Strand und übermannte seine Eindringlinge mit Kälte und Sand. Ich bibberte unter meiner Decke, doch es half alles nichts. Neidisch schielte ich zu Viktor rüber, der für sich und seinen Sohn gleich vier Decken beansprucht hatte. Aber bei seiner Statur und dem zweifelhaften Ruhm, den er seit der Schlägerei im Wald genoss, traute sich sowieso keiner, sich mit ihm anzulegen.

Im Gegenteil – mir kam es so vor, als suchten die Leute sogar seinen Schutz. Er war umworben wie vorher höchstens Herr von Wanzen oder gar der Kapitän.

Was Herrn von Wanzen anging, so hatte sich in seinem Wesen so einiges geändert. Hier interessierte es keinen mehr, wie viel Geld auf seinem Konto lagerte, denn auf dieser Insel war es völlig nutzlos. Und mit dem Wertverlust des Geldes verschwand auch seine Autorität mitsamt seinem Selbstbewusstsein. Er kauerte tagsüber nur noch einsam auf einem kleinen Stein am Rande des Lagers und jammerte sinnlos vor sich hin. Doch keiner beachtete ihn groß.

Was solls – ich drehte mich auf die andere Seite und blickte gen Meer. Nach einigen endlosen Minuten schlief ich endlich ein und vergaß die Kälte, vergaß den Hunger, vergaß sogar die hoffnungslose Lage, in der ich mich befand. Ein Zustand, der zu meinem Bedauern nur viel zu kurz anhielt, denn abermals verlangte ein lauter Schrei nach meiner Aufmerksamkeit.

Benommen öffnete ich die Augen und versuchte den Urheber ausfindig zu machen. Da hörte ich den Schrei erneut, diesmal noch erregter: „DIIIIEEB!“.

Ich raffte mich auf und blickte umher. Die Leute um mich herum taten es mir gleich. Es war Franks Stimme. Der Matrose schrie nach Leibeskräften. „Sie wollten mir mein Essen wegnehmen, diese Schweine!“

Und dann sah ich ihn. Frank stand da, umringt von drei feindselig dreinblickenden Männern. Ich erkannte einen von ihnen als denjenigen, der ihn einen Tag zuvor am Kragen gepackt hatte. Diesmal jedoch hielt er einen kurzen silbernen Gegenstand in der Hand. Es dauerte einige Sekunden, bis ich erschrocken registrierte, um was es sich dabei handelte. Es war ein Messer! Die Klinge blitzte im Licht der aufgehenden Sonne.

„Her mit dem Essenskorb“, schrie der Matrose Frank an und kam ihm bedrohlich nahe.

„Nein, niemals! Die Beeren habe ich gesammelt! Ich gebʹ sie nicht her!“, entgegnete dieser trotzig. Einer der Zuschauer sprang plötzlich Frank zur Hilfe und stürzte sich auf den Bewaffneten. Es gab eine kurze Rangelei, dann griffen auch die beiden anderen Männer ein und es entstand ein hektisches und vollkommen unübersichtliches Handgemenge, an dem sich immer mehr Menschen beteiligten. Ich versuchte, dem Geschehen zu folgen, jedoch kam ich schon nach einigen Sekunden nicht mehr mit, wer hier eigentlich alles gegen wen kämpfte. Ich sah Viktor in die Menge spurten, und er schien eine Schneise im Getümmel zu hinterlassen. Hier und da blitzte das Messer auf, bis es schließlich zu Boden fiel. Schreie – von überall her Schreie und Kampfgeräusche. Es erinnerte mich an einen Schwarm Fliegen. Vollkommen übersichtslos und durcheinander. Menschen, Schläge, Gerangel. Ein wildes Durcheinander um einen Korb voll Beeren.

Dann endlich ein letzter panikerfüllter Aufschrei, der alles übertönte. Es folgte eine fast gespenstische Stille. So schnell wie alles begonnen hatte, endete es auch wieder. Die Menge glitt auseinander und hinterließ zwei Menschen in ihrer Mitte. Es bildete sich eine Traube um sie herum. Ich drängte nach vorne und sah in das entsetzte Gesicht von Frank. Er war käsebleich. Seine eine Hand hatte sich krampfhaft um den Griff des Beerenkorbes gelegt. Es schien, als hätten sich seine Finger schraubenartig um ihn zusammengezogen und würden sich nie mehr lösen.

In der anderen Hand jedoch hielt Frank das nun bluttriefende Messer. Seinem Gegenüber, dem bemitleidenswerten Matrosen, hatte es gerade ein Loch in die Gurgel gerissen. Blut sprudelte aus seiner Wunde in Form einer großen roten Fontaine, ehe er langsam, wie in Zeitlupe, auf die Knie sank und schließlich vornüber kippte.

So lag er nun. Das Gesicht im Sand. Er würde nie wieder aufstehen…

Totenstille! Dann schließlich und ganz allmählich zeigte die Menge erste Regungen. Ich vernahm einige panische Schreie. Hier und da hörte man Gemurmel, etwas wie „Er hat ihn tatsächlich umgebracht“ und „Mörder!“

Frank blickte hilfesuchend in die Runde und unsere Augen trafen sich kurz. Sein Blick war flehend, als forderte er mich auf, etwas zu seiner Verteidigung zu sagen. Doch ich hielt ihm nicht stand und schaute betreten weg. Das schien Frank die letzte Kraft zu rauben. Er ließ das Messer fallen. Die Klinge bohrte sich senkrecht in den Boden. Blut tropfte auf den Sandstrand. Dieser verlor für mich in diesem Moment seine Unschuld. Er wurde vom rettenden Ufer zum quälenden Gefängnis.

Was ist nur aus uns geworden? In so kurzer Zeit sind wir von einer kultivierten Gesellschaft zum anarchistischen Haufen mutiert.

Frank sackte auf die Knie und begrub sein Gesicht in den Händen. Das Blut auf dem Boden vermischte sich mit seinen Tränen und sickerte in den heißen Sand.

„Was geht hier vor?“

Es war die feste Stimme von Kapitän Weber, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte, gefolgt von einigen, erschrocken dreinblickenden Offizieren.

Schließlich war Weber in der ersten Reihe angekommen und blickte vollkommen ruhig auf das Schauspiel, welches sich ihm hier bot. Er sah von Frank auf das Messer, zum toten Matrosen und wieder zu Frank. Eine Minute Schweigen, dann befahl er entschlossen. „Ergreift ihn!“

Die Offiziere gehorchten ohne zu zögern und packten Frank an den Armen. Dieser ließ es ohne Gegenwehr mit sich geschehen, bis ihm einer der Offiziere den Korb mit den Beeren abnehmen wollte, welchen er immer noch eng umschlossen in seiner Hand hielt. Plötzlich schien er wie vom Teufel besessen. Wild schlug er um sich. „Nein!!! Das sind meine! Aufhören!“ Seine Augen funkelten bösartig in ihren Höhlen.

Der Offizier sah seinen Kapitän fragend an, dieser überlegt kurz und nickte dann langsam.

Eine entschlossene Faust wirbelte durch die Luft und traf Frank direkt an der Schläfe, woraufhin dieser in sich zusammensackte. So lag er nun bewusstlos auf dem Sand, direkt neben dem Toten. Blut rann ihm aus einer Wunde am Kopf. Den Korb jedoch hielt er fest in seiner verkrampften Hand, ohne auch nur eine Beere verloren zu haben…

„Fesselt ihn!“, befahl Kapitän Weber und einige Matrosen eilten sofort mit Tauen heran.

Sie banden Franks Arme und Beine zusammen, dann zogen sich die Offiziere und der Kapitän wieder in ihr Zelt zurück, welches kurz nach der Strandung provisorisch aus übereinander gelegten Decken errichtet worden war. Doch sie sollten nicht lange verschwunden bleiben.

Die Menschenmenge blickte schweigend auf den Toten. Wir konnten es alle nicht fassen. Schließlich entschieden wir, dass irgendetwas getan werden musste. In den Frachtkisten fanden wir einige Werkzeuge, darunter auch Schaufeln. So begannen wir damit, ein notdürftiges Grab auszuheben.

Keiner redete. Alle blickten betreten zu Boden. Manchmal war ein leises Schlucksen zu hören. Merkwürdig, denn zu Lebzeiten schien der rauflustige Matrose nicht viele Freunde gehabt zu haben. Vielleicht war es jedoch auch nur die übliche Trauer, die jemandem entgegengebracht wird, wenn er tot ist. Eine typische Gabe von uns Menschen, wie ich finde. Wenn wir leben, sind wir uns egal, lediglich, wenn wir tot sind, kommen plötzlich alle zusammen, um zu trauern. Fällt uns gerade dann ein, dass der Mensch uns wichtig war? Oder trauern wir aus Anstand? Quasi zur Gewissensberuhigung? Seht mich an! Keiner kann mir vorwerfen, nicht getrauert zu haben! Lediglich die nahen Angehörigen wissen in diesen Momenten wohl, was Trauern eigentlich bedeutet. Da jedoch keiner von seinen Angehörigen anwesend war, gehe ich nicht von wirklich echter Trauer aus, wohl aber von aufrechter Verzweiflung über die eigene Situation.

Als die Kuhle schließlich fertig gegraben war, hievte Viktor den Leichnam hoch und legte ihn sanft in seine neue Ruhestätte. Wir sahen uns unsicher an. Irgendwelche letzten Worte? Keinem viel etwas ein. Ich sah betreten zu Frank hinüber, welcher bewusstlos und gefesselt etwas weiter abseits der Menge lag.

„Nun gut“, einer der Matrosen fasste sich ein Herz. „Bringen wir´s hinter uns!“ Er nahm eine Schippe voll Sand und schüttete sie auf den Toten. Kurzes Schweigen, dann taten es ihm die anderen nach. Die erste Schippe Sand auf die Leiche zu schütten fiel schwer. Mit jeder weiteren jedoch wurde es immer leichter.

Am Abend dann tauchten die Offiziere wieder auf. Man hatte viel gemunkelt darüber, was nun geschehen würde. Was sollte man mit dem Gefangenen machen? Man hatte Frank an einen Baum gefesselt, eine Entscheidung, die jedoch keine Dauerlösung sein konnte. Wie sahen die Chancen aus, jemals von hier wegzukommen? Und was würde der Kapitän zu den Nahrungsmittelproblemen sagen? In Wahrheit wartete man wohl auf eine Art Retter. Auf einen Erlöser, mit der perfekten Idee.

Der Kapitän ging, flankiert von seinen Offizieren, auf einen Sandhügel zu. Von hier aus hatte er optimale Sicht über sein „Volk“. Ein Matrose spurtete eilig los und legte ihm eine umgestülpte Bierkiste vor die Füße. Kapitän Weber stellte sich darauf, sah in die gespannten Gesichter und begann langsam, aber mit fester Stimme zu sprechen:

„Wir müssen uns irgendwie organisieren! So geht das nicht weiter…“

Der Bund der Gerechten

Das Volk lauschte gebannt seiner Rede. Mal schweigend, mal zustimmend klatschend. Weber hatte recht mit allem was er sagte. Er sprach über Zusammenhalt und Gemeinschaft, Einigkeit und Vernunft.

„Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns gegenseitig stützen. Das Überleben des Einzelnen verlangt den Einsatz für die Gemeinschaft!“

Ich blickte mich um und sah zustimmendes Nicken der Zuhörer.

„Entweder stirbt hier jeder für sich, oder wir überleben alle zusammen! Das heißt, keine Nahrungsmittelhortung mehr! Es wird ab jetzt gemeinsam gesammelt, gemeinsam gelagert und gemeinsam gegessen. Wir müssen endlich einsehen, dass wir zusammen stärker sind als alleine! Ab jetzt herrscht Gerechtigkeit bei der Nahrungsvergabe und -beschaffung. Wir müssen zusammenhalten bis Rettung kommt! Alle haben sich in eine Liste einzutragen und sich gemäß dieser zum Jagen bzw. Sammeln zu melden. Zudem wird es einen Baudienst geben. Dort beschäftigt man sich mit dem Errichten von Zelten und Hütten sowie dem Beschaffen von Holz. Arbeiten für die Gemeinschaft! – Gestrandete! Packen wir´s an! Es gibt noch viel zu tun! Und denkt immer daran: Nur in Gemeinsamkeit und Gerechtigkeit werden wir überleben können!“

Applaus…tosender Applaus! Hoffnung! Es wird bergauf gehen! Wir werden überleben!

Zufrieden blickte Kapitän Weber in die johlende Menge. Er genoss die Zustimmung sichtbar. Er war der Retter.

Gleich am nächsten Morgen ging es dann schon los mit der Gemeinsamkeit. Ein Offizier mit streng wirkendem schwarzem Schnauzbart ging mit einer Liste herum und teilte die Menschen in Gruppen ein, in sogenannte Arbeitsgemeinschaften. Ich wurde zum Baudienst berufen. Meine Arbeitsgemeinschaftsgruppe bestand aus zehn Männern. Zwei davon kannte ich noch vom Schiff. Einer der beiden war Francois, ein Franzose, der als Sänger an Bord gearbeitet und die Gäste der Bar mit seinem Gesang unterhalten hatte. Er kam mir immer etwas eingebildet und arrogant vor. Der andere hieß Lutz, ein Matrose, der auf mich eher sonderbar wirkte, zumal er wenige Freunde unter den anderen Matrosen zu haben schien. Jedenfalls war er ständig nur alleine unterwegs gewesen.

Zu zehnt machten wir uns dann schließlich auf den Weg zum Kapitänszelt, wo wir erneut auf den schnurbärtigen Offizier treffen sollten.

Dieser gab uns eine kurze Einweisung: „Mein Name ist Herbert Stahl“, verkündete er mit gewichtiger Miene. „Und meine Aufgabe ist es, Ihnen Ihren Dienst für die nächsten Wochen zu erläutern. Im Gegenzug für ihre harte Arbeit sind sie berechtigt, an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten teilzunehmen.“

„Na, Gott sei Dank!“, scherzte einer, woraufhin er sich einen tadelnden Blick von Offizier Stahl einfing, welcher sich laut räusperte, um dann in exakt demselben strengen Tonfall fortzufahren. „Ihre erste Aufgabe wird es sein, eine Hütte für den geschätzten Kapitän und seine Offiziere zu bauen. Diese Aufgabe ist von hoher Bedeutung, da eine zufriedene Führung sich in einer zufriedenen Gemeinschaft widerspiegelt. Danach werden sie Zelte aus Holzstämmen und Decken für die restlichen Gestrandeten errichten. Sie holen also das Werkzeug aus unserem Vorrat und Holz von der Holzsammelstelle, die von den Holzhackern täglich gefüllt wird. Sie sehen, meine Herren, wir sind auf dem besten Wege, eine funktionierende und erfolgreiche Gesellschaft zu werden!“ Er blickte entschlossen in die Runde und sah in die nickenden Gesichter. Wir waren voller Tatendrang! Für unser Überleben waren wir bereit zu arbeiten! Endlich ist Besserung in Sicht! Dem Kapitän sei Dank!

Die Gestrandeten sägten, sammelten, bauten und jagten, was das Zeug hielt. Wir schufteten ohne Pause, getrieben von dem einen Ziel – zu überleben, bis Rettung kommen würde!

Die Zeit strich voran, und wir waren den Umständen entsprechend glücklich. Morgens und abends wurde gemeinsam am Lagerfeuer gegessen. Wir sangen Lieder im Schein der untergehenden Sonne und fühlten uns gut. Jeder wurde satt! Es war genug für alle da und das schöne Wetter auf dieser traumhaften Insel tat sein Übriges. Ein herrliches Gefühl! Als wäre der Urlaub gar nicht unterbrochen worden. Die Stimmung war wirklich ausgelassen.

Frank beobachtete den neuen Geist von einem Baumstamm aus, an den man ihn gefesselt hatte. Für ihn konnte man noch keine Lösung finden. So stand er dort Tag für Tag, wie ein Problem, das man zwar wahrnahm, aber an dem man lieber vorbeisah. Doch er bekam gut zu essen und so wirklich wollte man sich auch keine Gedanken um ihn machen. Dafür ging es allen zu gut. Vielleicht waren wir tatsächlich von einem zusammengewürfelten Haufen zu einer Art Gesellschaft geworden. Eine Gesellschaft, beseelt durch den Geist der Gemeinschaft und der Gerechtigkeit!

Eines Abends, es war so gegen acht, sägte ich gerade an einem besonders hartnäckigen Stamm, als der Kapitän höchstpersönlich an mir vorbeischritt. Er blickte im Vorbeigehen kurz in unsere verschwitzten Gesichter und nickte mir kaum merklich zu. Ich ließ instinktiv die Arbeit ruhen und grüßte mit einem ehrlich erfreutem: „Guten Abend, Herr Kapitän!“

Die anderen taten es mir gleich. Die Meisten hatten ihre Hemden um die Hüften gebunden und waren, wie ich auch, mit dem Zeltbau beschäftigt. Inzwischen standen schon drei große Zelte und eine Holzhütte. Die Hütte war selbstverständlich für den Kapitän. Wer so viel geleistet hatte, verdiente es schließlich auch, in der besten Behausung zu schlafen. Zwei Zelte waren für die Offiziere gedacht und das dritte wurde als Lagerraum für die Nahrungsmittel genutzt, welche schließlich vor der beißenden Sonne geschützt werden mussten. Natürlich würden wir auch für alle anderen Gestrandeten noch Zelte bauen. Es herrschte bei uns schließlich Gerechtigkeit. Das galt auch für die Zeltverteilung.

Ich wollte mich gerade wieder meiner Arbeit zuwenden, da erblickte ich Francois aus dem Augenwinkel. Der Sänger schien alles andere als motiviert zu sein. Sein Stapel mit fertig zugesägtem Holz war der kleinste, der ganzen Arbeitsgruppe und die anderen blickten auch schon immer öfter und immer missbilligender zu ihm hinüber.

Ich machte mich wieder ans Sägen. Es war schließlich noch viel zu tun. Mein Stapel wurde größer und größer, doch mein steigender Eifer wurde durch ein jähes Krachen unterbrochen. Ich blickte überrascht auf und wurde schnell auf den Ursprung dieses, den allgemeinen Frieden durchbrechenden, Geräusches aufmerksam. Francois hatte seine Säge offenbar wütend auf den Boden geworfen. Jetzt blickte er verbissen in die Runde und beantwortete die fragenden Gesichter mit einem zornigen Lachen.

„Ich bin ein Künstler und kein Bauarbeiter!“, polterte er wütend, während er merklich versuchte, seinen französischen Akzent zu unterdrücken. „Es ist unter meiner Würde, hier im Dreck zu stehen und Bäume zu zersägen…ich bin schließlich ein Star! Menschen aus der ganzen Welt bewundern mich und zahlen Unmengen, um meine Stimme einmal live zu hören! Und jetzt seht mich an? Ich schufte im Dreck wie ein billiger Arbeiter!“

Stille – die anderen “Arbeiter“ sahen sich hilflos um, doch war man zugleich wohl auch sehr erbost über diese egoistische Einstellung.

Ich musste schmunzeln. Schon früher hatte ich mich oft über diese sogenannte Stars-und-Sternchen-Industrie aufgeregt. Ich nehme mir an dieser Stelle die Zeit, noch einmal zu rekapitulieren, was ich über solche Menschen denke. Denn sollte man sich wirklich wundern, wenn sich diese Leute besser fühlen als andere? Arroganz wird hier in den meisten Fällen wohl selbst geschaffen. Zum einen durch die Konzerne im Hintergrund, die ihre Idole als Übermenschen verkaufen, zum anderen durch das Publikum selbst. Menschen, die sich überlebensgroße Plakate ihrer Stars an die



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.