Das pinke Hochzeitsbuch - Przemek Zybowski - E-Book

Das pinke Hochzeitsbuch E-Book

Przemek Zybowski

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Beschreibung

Am Totenbett seiner Großmutter wird der Erzähler von seiner verloren geglaubten Vergangenheit eingeholt: 1984, kurz nach Lockerung des Kriegsrechts in Polen, fliehen die Eltern mit der kleinen Schwester heimlich nach Deutschland. Der achtjährige Sohn bleibt als Pfand bei der Großmutter zurück. Eine Zeit unerhörter Freiheit und zugleich großer Panik beginnt: Er wird von der Geheimpolizei verhört, ihm droht das Waisenhaus – erst ein Jahr später bekommt er die notwendigen Ausreisepapiere. Doch auch Jahrzehnte danach sind die Wunden nicht verheilt. Kann es eine Versöhnung mit den Eltern geben?

Schwebend leicht und doch mit existenzieller Wucht erzählt Przemek Zybowski in seinem Romandebüt von Diktatur, Flucht und einem Leben zwischen den Welten. „Das pinke Hochzeitsbuch“ handelt von der Verlassenheit eines Jungen, die zugleich die Verlassenheit eines ganzen Landes ist – und von dem Versuch, die Bruchstücke der Vergangenheit zusammenzufügen.

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Zum Buch:

Am Totenbett seiner Großmutter wird der Erzähler von seiner verloren geglaubten Vergangenheit eingeholt: 1984, kurz nach Lockerung des Kriegsrechts in Polen, fliehen die Eltern mit der kleinen Schwester heimlich nach Deutschland. Der achtjährige Sohn bleibt als Pfand bei der Großmutter zurück. Eine Zeit unerhörter Freiheit und zugleich großer Panik beginnt: Er wird von der Geheimpolizei verhört, ihm droht das Waisenhaus – erst ein Jahr später bekommt er die notwendigen Ausreisepapiere. Doch auch Jahrzehnte danach sind die Wunden nicht verheilt. Kann es eine Versöhnung mit den Eltern geben?

Schwebend leicht und doch mit existenzieller Wucht erzählt Przemek Zybowski in seinem Romandebüt von Diktatur, Flucht und einem Leben zwischen den Welten. »Das pinke Hochzeitsbuch« handelt von der Verlassenheit eines Jungen, die zugleich die Verlassenheit eines ganzen Landes ist – und von dem Versuch, die Bruchstücke der Vergangenheit zusammenzufügen.

Zum Autor:

Przemek Zybowski, 1976 in Łódź, Polen, geboren, reiste 1985 nach Deutschland aus. Er arbeitet als Psychiater in Zürich. Darüber hinaus war er als Regieassistent an verschiedenen Theatern (u. a. Berliner Ensemble, Schauspielhaus Hamburg), verfasst Theaterstücke, die an mehreren Bühnen in Deutschland aufgeführt wurden, und gewann den österreichischen Literaturpreis Floriana.

Przemek Zybowski

DAS PINKE HOCHZEITSBUCH

Roman

Luchterhand

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Copyright © 2022 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Coverdesign: buxdesign I Daniela Hofner

unter Verwendung eines Motivs von © DEEPOL by plainpicture

ISBN 978-3-641-28288-2V002www.luchterhand-literaturverlag.de

ALS DAS TELEFON KLINGELTE, ahnte ich bereits, dass es sich um die Mutter handeln musste.

»Agata hat angerufen. Deine Großmutter ist tot«, sagte sie.

Ich nahm die Nachricht stumm auf und antwortete bloß, ich würde gleich zurückrufen. Dann klopfte ich beim Professor an.

»Ich muss wegen eines Todesfalls nach Polen«, sagte ich deutlich zu laut.

Der Professor sprach mir sein Beileid aus. Vor allem aber kam ihm die Nachricht ungelegen. Ob ich nicht zwei Tage warten könne, wir seien gerade schlecht besetzt.

»Womit genau soll ich zwei Tage warten?«, wagte ich mich mit einer Frage vor.

»Eigentlich sind freie Tage nur bei nahen Verwandten vorgesehen«, versuchte sich der Professor rauszureden.

Als ich nicht reagierte, verfinsterte sich sein Gesicht. Der Professor fürchtete, ich könnte wütend werden. Dennoch zögerte er lange, bis er mir den Rest der Woche freigab.

»Danke!«, sagte ich wieder zu laut.

Ich ging nach Hause und schlief auf dem Fußboden ein. Zwischenzeitlich wachte ich auf und wusste nicht, wo ich war.

Der Wecker klingelte um 6 Uhr. Ich war hellwach, draußen war es noch Nacht. Ich zog einen dunkelblauen Anzug an und fuhr, obwohl es nicht auf meinem Weg lag, wie selbstverständlich zur Arbeit. Der Professor parkte gerade seinen neuen Mercedes. Auf der anderen Straßenseite wurden Äste geschnitten. Vielleicht fuhr ich zu nah an ihm vorbei. Ich bildete mir ein, im Rückspiegel zu sehen, wie er still und mächtig umfiel wie ein gefällter Baum.

Berlin – Radomsko, neun Stunden dumpfe Autofahrt. Nur am Grenzübergang stockte es. Vor dem Häuschen des Grenzpostens hatte sich eine tiefe Pfütze gebildet, in der sich mein gelber Mercedes spiegelte. Der Beamte schaute gelangweilt auf seinen Fernseher.

Ich fragte mich, ob die Eltern 1984 an der gleichen Stelle gestanden hatten, und da fiel mir wieder auf, dass ich ihnen die Flucht immer noch nicht verziehen hatte. Seit Jahren hatte ich keinen Umgang mehr mit ihnen, teilweise hatte ich mit niemandem Umgang, außer mit meinen Patienten.

»Hey Sie, was machen Sie da?«, rief der Beamte genervt, wahrscheinlich weil ich ihn vom Fernsehen abhielt. »Sie dürfen hier nicht stehen bleiben«, winkte er mich auf die polnische Seite hinüber.

Ich hatte mich in der Spiegelung der Pfütze verloren, als ginge es da drin weiter, als wäre dort der eigentliche Grenzübergang. Auf der polnischen Seite hielt niemand Wache.

Als ich am Bahnhof in die kopfsteingepflasterte und langgestreckte S-Kurve einbog, kam mir die kopfsteingepflasterte und langgestreckte S-Kurve zu langgestreckt und dennoch bekannt vor. Das war eindeutig ein falscher Eindruck. Ich fragte mich, ob falsche Eindrücke notwendig zu Missverständnissen führen müssen.

Den Wagen stellte ich am Stumpf der Kastanie im Hof ab, weil wir unsere Autos immer dort geparkt hatten.

Zügig betrat ich die Wohnung, als hätte ich das Büro des Professors gerade erst verlassen. Sofort glaubte ich, mich in Spinnweben verfangen zu haben. Ich ging zurück über die Schwelle und probte langsam den Eintritt ins Wohnzimmer. Der haftende Eindruck blieb.

Sie standen um das Bett versammelt, etwas verlegen und wie arrangiert, um mich zu beeindrucken. Die meisten waren wohl Nachbarn. Meine Cousine Agata und Tante Marta weinten. Ich sagte kein Wort, trat ans Bett, schaute die Tote an und wartete. Sie hatten die Großmutter gewaschen und neu eingekleidet. Eine Ausstellung kam mir in den Sinn. Plötzlich kam ich mir wie eine Büste vor.

Zunächst verschwanden die Nachbarn. Dabei musterten sie mich irritiert. Sie erwarteten, der Doktor aus dem Westen würde ein Wort mit ihnen wechseln. Als Marta und Agata das Wohnzimmer verließen, fragten sie, ob ich in der Wohnung bleiben wolle.

»Wir lassen den Haustürschlüssel auf dem Küchentisch«, sagte Marta.

Ich wollte schon antworten, ich sei nicht wieder eingezogen, auch nicht vorübergehend, unterließ es aber.

»In zwei Tagen ist die Beerdigung, so lange kann sie hierbleiben, draußen ist es kalt genug. Lass nur die Fenster offen, wenn du rausgehst.«

»Wir wollten warten, bis deine Eltern kommen. Deine Mutter will sich sicher verabschieden«, fügte Agata an.

Als alle draußen waren, genoss ich die Stille und das Nichtstun, das von dem toten Körper ausging und das keiner Rechtfertigung bedurfte. Die Autofahrt hatte mich sehr ermüdet, musste ich zugeben. Der Vater hatte die Fahrten nach Polen früher durchgezogen, als wäre er darauf programmiert worden. Auf dem Handy warteten sieben unbeantwortete Anrufe der Mutter.

Das Regal war in die Mitte verschoben worden und das Wohnzimmer damit zweigeteilt. So konnte ich mich mit dem Stuhl an der Seitenwand des Regals anlehnen und schaute auf die entblößte Wand, wo es einen hellen Abdruck hinterlassen hatte.

Es waren nur drei Schritte bis zur Wohnzimmertür, an die sich der kurze Flur und das Badezimmer anschlossen und wo es um die Ecke entweder in die Küche oder in die Vorratskammer ging. Als Arzt war ich dafür ausgebildet worden, wie ein Landvermesser die Entfernungen der Menschen zu ihren Diagnosen auszuloten. Sollte ich hier schlafen, hätte ich das Sofa für mich allein. Die Tote hatte ihren Platz im Jenseits des Regales eingenommen. Beim Einschlafen würde ich aus dem Fenster auf die Straßenlaterne blicken. Am Telefon hatte mir die Tote erzählt, dass die Kastanie krank war und deshalb gefällt werden musste. Oder – was wahrscheinlicher war – ein Nachbar wollte Geld mit dem Holz machen. Ohne den Baum war das Wohnzimmer heller.

Ich stand auf, strich mit der rechten Hand über die neu entblößte, raue Wand. Auf einmal war ich mir sicher, dass jemand in Blindenschrift eine Nachricht für mich hinterlassen hatte.

»WAS SOLL DAS HEISSEN, ihr kommt nicht zurück? Von woher kommt ihr nicht zurück und warum?«, entlud sich die Stimme der Babcia in den Telefonhörer. »Wariaci! Ihr seid verrückt! W Grecji, in Griechenland seid ihr, bei den … nach Deutschland!? Zu den Kreuzrittern! Noch schlimmer!Wahnsinnige! Zu den Helmuts, do Helmutów, do Szwabów, do Hitlerowców, do Gestapowców, ihr seid komplett wahnsinnig geworden. Und was ist mit eurem Sohn?«

Mit der Fliegenklatsche in der geballten Rechten schaute er in die Weite dieses Sonntagmorgens hinaus. An der hochgewachsenen Kastanie vorbei, mit ihren noch grünstacheligen Früchten, über die sich kreuzenden Gleise und durchrauschenden Züge hinweg. Dabei konnte er riechen, wie sich die kohlenschwarze, dampfende Erde mit den Düften des Mittagessens vermischte:Brühe, Kartoffeln und Kotelett,Gurkensalat und Kompott.Parterre trat die Nachbarin Frau Słabowa aus ihrem Wintergartenanbau heraus und hängte ihre Kleider auf.

Diese alte Jungfer mit ihren abgestandenen Kleidern, alles, was sie tut, muss sie immer vor meiner Nase tun, dachte er. Die Babciasoll ihr bloß nicht erzählen, ich hätte geweint. Mist, oder habe ich doch geweint? Aber nein, keine einzige Träne habe ich vergossen oder vergessen.

Er war ganz durcheinander, etwas war anders, etwas hatte sich verändert: gerade aufgewacht oder schon seit Ewigkeiten nicht geschlafen, was war nur passiert?

Als er gestern, am Abend des 28. Juli 1984, aus dem Sommerferienlager an der Ostsee zurückgekommen war und die Eltern ihn nicht wie versprochen abgeholt hatten, hatte er sich sofort schlafen gelegt.

»Sie kommen sicher morgen«, hatte die Babcia gesagt.

Am Morgen hatte er sich – weil die Babcia ihm verboten hatte, den Fernseher anzumachen und stickend in der Küche saß – gleich nach dem Aufstehen die Fliegenklatsche geschnappt, eine silberne dicke Schmeißfliege nach der anderen totgeklatscht, darauf wartend, dass auch die Eltern mit der Schwester aus ihren Ferien zurückkommen.

Wie sonst soll ich mir die Wartezeit verkürzen? Und überhaupt, warum haben sie mich nicht mitgenommen? Es wollte ihm nicht einmal einfallen, wohin sie gefahren sind.

Hatte er denn alles vergessen?

»Tapfer, tapfer«, hatte die Babcia gestern zu ihm gesagt, als sie es war, die ihn abholte, und nicht die Eltern. Also konnte er wirklich keine einzige Träne vergossen haben. Wenn das Auto der Eltern gleich um die Ecke kommt, habe ich meinen Tapferkeitsnachweis schon erbracht. Ich bin ein tapferer Junge!, sprach er sich selbst Mut zu, als das Telefon klingelte.

Er näherte sich gerade dem Telefonhörer, als die Babcia ins Wohnzimmer stürzte.

»Warum um Himmels willen nimmst du denn nicht ab«, sagte sie, schob ihn zur Seite und riss den Hörer hoch an ihr großes Ohr.

»Hallo. Hallo. Hallo.«

Dreimal sagte sie Hallo, und dann sagte sie lange nichts. Sie schwieg so lange und so still, wie er es noch nie erlebt hatte. Die Babcia war nie still und selten leise. Die Babcia hatte immer etwas zu entgegnen, immer etwas auszusetzen. Sie hatte sich mit dem Hörer in der Hand sogar auf das Sofa gesetzt. Zum Telefonieren hinsetzen, das machte die Großmutter sonst nie, sie telefonierte immer nur kurz. Es sei besser, persönlich miteinander zu sprechen, von Angesicht zu Angesicht, telefonieren sei feige, hatte sie einmal gesagt, wie er sich jetzt zu erinnern glaubte. Außerdem könne man nie wissen, wer wirklich auf der anderen Seite der Leitung sei und ob nicht die Geheimpolizei des UB mithöre.

»Und was die Russen mit Polen vorhaben, das weiß nicht mal der Herrgott.«

Die Babcia sprang vom Sofa auf, senkrecht in die Luft, so dass er erschrak und wie automatisch mit der Fliegenklatsche gegen das Fenster klatschte, weil sie einen sehr hohen, schrillen Ton von sich gegeben hatte, wie eine Sirene, die Fliege oder die Babcia, das wusste er jetzt nicht mehr. Es war jedenfalls die Babcia, die ihn mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf dem Mund ganz dringend ermahnte, leise zu sein, so als gäbe es etwas zu verheimlichen oder gar ein Verbrechen zu verschleiern:

»Psst!«

Doch außer ein paar toten, an der Fensterscheibe klebenden Fliegen hatte er sich nichts vorzuwerfen. Und die Fliegen ließen sich spurlos wegwischen, bevor die Babcia sie bemerkte.

»Das ist nicht euer Ernst!«, rief sie in den Hörer. »Ihr kommt auf der Stelle wieder. Das ist ein Befehl. Wisst ihr denn nicht, was die UB mit zurückgelassenen Kindern macht? Die stecken ihn in ein Waisenheim, ändern seinen Namen, und ihr hört nie wieder etwas von ihm. Das kann unmöglich euer Ernst sein. Was würde nur dein Großvater dazu sagen, kaum ist er unter der Erde, schon läuft seine einzige Enkeltochter zu den Deutschen über. Der würde sich im Grab umdrehen.«

Nachdem sie ihren Senkrechtstart beendet hatte, drückte die Großmutter ihm den Hörer in die Hand. »Deine Eltern kommen nicht zurück aus Deutschland, und du bleibst bei mir«, sagte sie und schien sich zu freuen, dass zumindest er ihr geblieben war, entriss ihm den Hörer aber gleich wieder, drückte ihm den Hörer dann wieder in die Hand, nur dass er jetzt nicht mehr wollte. Sie aber wollte auch nicht mehr und verschwand auf dem Speicher, wo sie so schnell nicht wieder hervorkommen würde, dachte er, während er sie über seinem Kopf auf und ab und hin und her stampfen hörte.

Und der Hörer, der hing erst einmal in der Luft.

EIN KURZES KLOPFEN, dann hörte ich jemand die Wohnung betreten.

Schlurfende Schritte, Gehstock, knarrender Korridor. Frau Herman, die bucklige Nachbarin, betrat das Wohnzimmer. Mit einer umständlichen Kopfdrehung aus der Tiefe ihres Skoliosebuckels heraus schaute sie zu mir hoch. Ein bösartiges Geschwür im Gesicht hatte sie stümperhaft mit Schminke bedeckt. Es drohte ihr von der Backe zu springen.

»So viel Licht in Gegenwart einer Toten gehört sich nicht. Ich hole gleich Kerzen«, sagte sie.

Jemand musste alle Lichter angemacht haben. Draußen war es dunkel. Die Tote fiel mir wieder ein. Trotz der offenen Fenster bildeten sich Rauchsäulen unter dem Kronleuchter. Der Aschenbecher quoll über mit Zigarrenstummeln. Mit einem angezogenen Knie lehnte ich jugendlicher und kühner gegen die Wand, als ich mich selbst sah. Auf dem Boden lag das Foto von einem Jungen im türkisen Anzug, mit einer Kommunionkerze in der Hand.

Als ich mich umdrehte, sah ich die Schriftzeichen an der weißen Wand. Frau Herman humpelte an mir vorbei. Ich stellte das Foto wieder ins Regal. Sie kniete sich hin, ergriff die verschränkten Hände ihrer toten Nachbarin, sprach ein Gebet. Dann setzte sie sich auf den Stuhl in der Mitte des Wohnzimmers, auf dem ich zuletzt gesessen hatte. Sie blickte mich mitleidig an, fast so, als wäre nun ich der Tote. Mein Rücken schmerzte. Die alte Frau rollte sich wieder in ihrem Buckel ein.

»Ihre Großmutter hat alles vorbereitet«, murmelte sie in Richtung Boden, »schon vor zwanzig Jahren hat sie ihren Namen und das Geburtsdatum auf dem Grabstein eingravieren lassen, neben ihren Eltern. Sie wollte am richtigen Ort begraben werden. Deswegen hat sie Sie in den letzten Jahren nicht mehr besucht. Sie fürchtete, unterwegs zu sterben und dann im verhassten Deutschland zu enden.«

Ich nickte.

»Richten Sie meinem Enkelsohn aus – hat sie mir noch vor zwei Tagen gesagt –, dass er nicht in Radomsko begraben werden muss, wenn er nicht will. Aber einmal pro Jahr muss er mich an meinem Grab besuchen, das soll er Ihnen versprechen. Ihre Schwester Marta, hat sie gesagt, habe ja einen Platz neben ihrem verstorbenen Mann sicher. Um sie aber würde sich niemand kümmern – außer Ihnen. Bis 2028 hat Ihre Großmutter für das Grab bezahlt, danach dürfen Sie entscheiden, was damit passiert.«

Wenn es nach der Toten ging, würde ich also in meinem 52. Lebensjahr aus meiner Pflicht entlassen.

Frau Herman erhob sich schwer vom Stuhl und humpelte Richtung Tür. Plötzlich kam ich mir vor wie ein Kind, das beim Schwimmen die Meter bis zum Grund zählte und Angst bekam.

»Erinnern Sie sich noch? Als Ihr Urgroßvater Franciszek krank wurde, schlief er hinter dem Regal und Sie zusammen mit Ihrer Oma auf dieser Seite. Jetzt macht die Trennung keinen Sinn mehr.«

Als die Tür ins Schloss fiel, konnte ich mich endlich von der Wand lösen. Ich versuchte die Schriftzeichen zu entziffern, die offenbar in großer Eile geschrieben worden waren.

»WIE KANNST DU DEINEN einzigen Sohn zurücklassen? Wann kommt ihr wieder? Er fragt, wann ihr wiederkommt?«, schrie die Babcia auf den Hörer ein. Er hatte weder gemerkt, wann sie das Wohnzimmer wieder betreten hatte, noch wagte er, sie zu unterbrechen. Auch wenn sie so schamlos die Unwahrheit verkündete! Es stimmte nicht, dass er sie gefragt hatte, wann sie wiederkommen würden. Dazu hatte ihm die Babcia gar nicht die Zeit gelassen. Oder hatte er es doch gefragt? Er erinnerte sich nicht mehr.

»Ich trage noch Trauer, da traust du dich schon, über die Grenze zu fliehen? Jezus Chrystus Matka Boska, wer soll uns helfen? Ganz allein bin ich geblieben, vom Ehemann verlassen, der Vater gerade mal vor drei Monaten gestorben, das einzige Kind ausgerechnet zu den Deutschen geflohen, wie kann das nur sein, wie kann die Tochter ihre Mutter ganz allein auf der Welt lassen? Wenn doch nur mein Vater noch hier wäre, jak mnie wątroba boli, oh herrje, wie mir die Leber schmerzt.«

Die Babcia steigerte sich immer mehr in ihren Zorn hinein, stampfte mit den Füßen auf der Stelle, schlug mit den Fäusten gegen den Fernseher, die Kommode, gegen die eigene Brust, sie war schon rasend und konnte trotzdem noch eine Schippe drauflegen, so dass ihre Sätze immer unverständlicher klangen, ja fast so, als wären es keine Sätze mehr, sondern ein tierisches Gackern oder Fauchen.

Er hingegen stellte sich vor, wie sich das Telefonsignal vom deutschen Ende der Leitung ans andere in das Wohnzimmer hin und her hangelte, dabei mehrfach Richtung und Meinung änderte, wie es für elektrische Signale üblich war – so hatte Uropa Franciszek ihm früher einmal Elektrizität erklärt –, ehe es wieder versuchte, sich über die Grenze zurück nach Deutschland zu schmuggeln.

»Jetzt seid ihr zu weit gegangen. Gemeinsame Sache mit den Deutschen zu machen, das ist verboten«, sagte die Babcia plötzlich völlig ruhig, als würde sie ihre Sätze einem unsichtbaren Buch entnehmen.

Während Großmutter und Mutter weiter über das Für und Wider der Geschichte und das Verbleiben ihres Enkelsohnes respektive Sohnes (abhängig von polnischer oder deutscher Perspektive) debattierten und sich dabei zu erinnern versuchten, was wirklich vereinbart und von wem wo gelogen worden war, versuchte er sich zu erinnern, wie seine Eltern überhaupt ausgesehen hatten, als sie in die Ferien aufgebrochen waren. Es wollte ihm partout nicht gelingen, sich ein Gesicht vorzustellen. Stattdessen erblickte er am Himmel, direkt in seine Fensteraussicht hinein, eine seltsame Erscheinung: einen Vogel, der einem Adler ähnlich schien, aber doch ganz anders wirkte, irgendwie menschlicher als ein Tier oder tierischer als ein Mensch. Er konnte seinen Augen kaum trauen, konnte sich nicht entscheiden, was er da wirklich in der Ferne sah. Jedenfalls schien ihm das Spektakel dort oben am Himmel weitaus interessanter als der Stellungskampf der Mütter, der zu einem Dauerkrieg ohne Sieger zu werden drohte.

Bis die Babcia den Kampf zumindest vorübergehend aufgab und das Wohnzimmerfeld ganz der Tochter überließ, die sie von nun an nur noch »die Deutsche« nennen wollte.

»Siehst du, habe ich dir nicht immer gesagt, dass deine Babcia dich mehr liebt, als deine Eltern es tun«, erklärte sie, wohl um ihn zu trösten, und lief dann weinend davon. Und der Hörer, der hing wieder in der Luft.

Er wollte ihr noch hinterherrufen, sie solle warten und ihm dabei helfen zu erkennen, was dort oben am Himmel kreiste, da war sie aber schon weg und kreiste stattdessen selbst von der Garderobe in die Speisekammer, blieb am Küchentisch hängen wie die Schmeißfliege am Kadaver, stopfte sich fettige Kartoffeln rein, dazu aus dem gleichen Topf Hähnchenbrust von vorvorgestern, paniert mit Mandelblättchen und getränkt in schlechtem Gewissen: Wegschmeißen kann ich dich nicht, und essen will dich sonst auch keiner mehr, undankbares Volk! Was soll sonst der Herrgott sagen, im Krieg gab es auch nur Schwarzbrot. Dann schmiss sie sich aufs Küchensofa, das tief vor der Fototapete eines Herbstwaldes parkte. Da lag sie nun, ein Koloss von einem Körper. Hässliche Füße, die großen Zehen gekrümmt, dicke, durch die Strumpfhose scheuernde Hornhaut an den Fersen, ein Riese im Wald, schluchzend und heulend, er hörte sie ganz deutlich durch die Wohnzimmerwand. Ihm war sogar, als könnte er durch die Wand hindurch sehen, wie ihr Riesenkörper zu dem eines sechsjährigen Mädchens wurde, dessen Tränen und Worte auf einmal französisch klangen. Eine ganze Weile heulte sie in das Küchensofa hinein, während er sich fragte, was das war, das sich von dort oben aus der Ferne allmählich, aber doch deutlich, ja bedrohlich schnell dem Fenster näherte.

Die Babcia sprang auf und eilte ins Bad, pinkelte, presste heftig, Gestank verbreitete sich im Wohnzimmer, ähnlich drückend wie ihr viel zu schweres Parfum. Dann die französische Heulsuse wieder raus aus dem Badezimmer, die Strumpfhose gerade eben über die Riesenunterhose gezogen und den Rock noch oben an den Brüsten, die Spülung röchelte kränklich vor sich hin, und die alten Rohre des Grand Hotels verkündeten wie üblich die frohe Botschaft, bis die Wohnungstür heftig zuschlug. Schon hörte er ihre Schritte wieder über seinem Kopf hin und her navigieren, die Grande Dame wollte auf dem Speicher schon mal um- und zur Seite räumen – Allez les enfants – für all die zurückgelassenen elterlichen Dinge, die auf dem Dorf darauf warteten, abgeholt zu werden. Dort, wo auch die Apotheke der Mutter noch war und wo sie noch vor kurzem alle zusammen gewohnt hatten.

Und der Sohn – dem Gott der Reisenden und Kaufleute Hermes als Pfand dargereicht, der Göttin der Erinnerung Mnemosyne zum Spiel in den Rachen geworfen –, er versank immer tiefer, so als ob sich der Boden in ein Moor verwandelte und ihn zu verschlingen drohte.

Bis die Erscheinung am Himmel – nie zuvor hatte er so etwas gesehen – sich direkt vor seinem Fenster zeigte, mit einem Blitz in der Rechten, prächtig und erhaben und bedrohlich zugleich. Nun wusste er, was er da sah:

Er sah den Göttervogel selbst! Der lange Hals eines Kranichs, der Schwanz das noch frische Totenlaken von Babcias Vater, dessen Bild als Wasserzeichen in den Falten schimmerte.

Himmel, Donnerwetter!, dachte er, da gibt es keinen Zweifel. Der Göttervogel fällt tatsächlich!

Er riss sich von dem Anblick los und ging vom Fenster in Richtung Telefon. Es war, als rasten unzählige im Gewitterlicht leuchtende Leitplanken an ihm vorbei, als er den baumelnden Hörer in die Hand nahm. Die Mütter heulten. Die ganze Welt heulte, niemand verstand etwas, wie im russischen Zirkus, so ein polnisches Sprichwort. Ihm schien, nein, er war sich sicher, dass die eine Mutter auf Deutsch heulte, wie auf den Polaroids, die er aber erst viel später zugeschickt bekommen sollte, zusammen mit den Adidas-Schuhen, als die Eltern über Jugoslawien, Ungarn, Griechenland, Italien und die Schweiz schließlich in Deutschland angekommen waren. Insofern konnte tatsächlich etwas an seiner Wahrnehmung nicht stimmen, also rein chronologisch betrachtet. Auch waren die deutschen Polaroids in Wahrheit immer bunt und fröhlich. Aber es passte sehr gut, als er den baumelnden Hörer in die Hand nahm und den glühenden Göttervogel fest im Blick hatte, dass die Mutter bereits auf Deutsch weinte, wobei sie sich eigentlich noch in Griechenland aufhielt und fröhliche Urlaubsfotos schoss für ihren Sohn und vielleicht noch gar nicht wusste, wo sie letztlich landen würde. Aber vielleicht ahnte er ja zu dem Zeitpunkt schon mehr, nachdem er vergeblich am Bahnhof darauf gewartet hatte, dass die Eltern aus dem Urlaub zurückkamen. Und immerhin hatte er die Babcia zuvor auf Französisch weinen gehört, und das kam ihm völlig richtig, also real vor.

Doch als er den Hörer endlich an sein Ohr hielt, ertönte nur noch das Freizeichen, und der Göttervogel stürzte mit polnischem Donnern und deutschen Geistesblitzen in seinen Hörapparat, am Abhörorgan der polnisch-russischen Big-Brother-Behörde UB vorbei entzweite er ihn am Rückgrat zu einem auseinandergerissenen Buchrücken. Und das an dem Tag, der doch der Tag ihrer Wiedervereinigung hätte werden sollen.

FRAU HERMAN BETRAT das Wohnzimmer mit einem Glas Tee. Sie schaute mich fragend an.

Den Tee trug sie wie einen Kerzenleuchter in einem verzierten Glashalter mit silbernem Henkel, die Kerze hingegen stellte sie nackt auf den Tisch, neben den Kachelofen in die Nähe der Toten. Die beschriftete Wand hatte sich weiter ausgebreitet. Ich überließ Frau Herman den Stuhl, um den Ausschnitt mit meinem Körper zu verdecken. Die Teeblätter flogen noch wild umher, als sie mir den Tee reichte. Sie machte das Licht mit einem Seufzer aus. Dann fiel sie wie ein Stein in den Stuhl, so dass die Gläser im Regal klirrten. Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, umständlich den Kopf zu drehen und zu mir hochzuschauen. Das Wohnzimmer war dunkel erleuchtet von der Kerze und der Laterne im Hof.

Ich schlürfte den Tee. Die letzten aufgebrachten Teeblätter spuckte ich zurück ins Glas und schaute ihnen beim Untergehen zu. Sie fielen einen präzise vorbestimmten Weg, bedeckten den Boden schwer wie Herbstlaub, das knisternd unter den Füßen nachgab.

Der Kopf der Toten zuckte im Kerzenschein. Frau Hermann war im Stuhl eingeschlafen und schnarchte. Durch die offenen Fenster war das Wohnzimmer auf Außentemperatur heruntergekühlt. Ich entschied, dass ich dennoch hier schlafen würde.

Das Telefon klingelte. Frau Herman sprang auf, überraschend beweglich wie eine Spinne, die auf Beute gewartet hatte. Sie nahm den Hörer ab, als wäre es ihr eigenes Wohnzimmer.

»Ihre Tante Marta möchte mit Ihnen sprechen.«

Es gefiel ihr nicht, dass ich abwinkte. Sie traute sich aber nicht, dem Doktor aus dem Westen zu widersprechen, und legte mit einem Nein auf. Verärgert murmelte sie etwas vor sich hin. Dann humpelte sie in Richtung Tür, während ich darauf achtete, dass sie die beschriebene Wand hinter mir nicht entdeckte.

»Ich weiß nicht, ob Sie das hören wollen«, sagte sie im Vorbeigehen. »Ich bin zwar deutschstämmig, aber in Radomsko geboren und aufgewachsen. Ihre Großmutter hingegen ist erst 1936 hier eingezogen, da war sie sechs. Sie kam aus Frankreich und sprach kaum Polnisch. Sie war die Grande Dame und das Haus ihr Grand Hotel. Dabei war es vor dem Krieg bloß ein Hotel für Bahnarbeiter gewesen. Aber Ihre Großmutter hatte in Frankreich noch erlebt, was es bedeutet, eine schöne Kindheit zu haben. Bis die Deutschen kamen.«

Sie hielt inne und holte tief Luft. Dabei hob sich ihr Buckel, während der Kopf noch tiefer zu Boden sank und wie ein schweres Pendel hin- und herschwang.

»Bis zum Schluss ist Ihre Großmutter dieses starrköpfige Mädchen geblieben, das sich gegen die Unglücksreise Ihrer Eltern stemmte«, sagte sie, als sie das Wohnzimmer schon verlassen hatte. Trotzdem schien es mir, als würde sie aus der Entfernung mit dem Stock nach mir ausholen. Vorsichtshalber duckte ich mich.

»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte ich.

»Sie sprach immer so gut von Ihnen. Sie ähneln ihr sehr«, sagte sie und schlug die Wohnungstür zu.

Das Schattenprofil der Toten flackerte weiter vor sich hin, als wäre es von belustigten Zuschauerreihen umrahmt. Ich drehte mich zur Wand, da stach die beschriebene Stelle heraus wie ein Portal.

»JA, ICH GESTEHE, dass ich das vergilbte Buch erst aus dem Regal in der Vorratskammer genommen und es mir dann von den Bestien aus den Händen habe reißen lassen.«

Als wäre er hypnotisiert worden, stand er vor dem Bücherschrank, eigentlich nur ein Vorratsschrank mit einigen Büchern darin, und redete auf die abwesenden Eltern ein, deren Anwesenheit er sichweiter dachte, um überhaupt denken zu können.

Die Lücke war immer noch da. Er hatte zwar versucht, sie mit anderen Büchern zuzustellen, das eine, das wichtige Buch aber fehlte. Kein pinker Buchrücken leuchtete ihn an. Das Buch mit dem Hochzeitspaar auf der Vorderseite und den gezeichneten Sexstellungen im Inneren, ein Hochzeitsgeschenk der Volksrepublik Polen, war nicht mehr da, und er war schuld.