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Ein Fjord in der Polarregion Norwegens. Der Umzug an den Sehnsuchtsort ihres verstorbenen Vaters sollte für die Kinderärztin Martha ein Neuanfang sein. Doch er wird zum Albtraum, als das Kind ihrer Vermieter unter ihrer Aufsicht spurlos verschwindet. Was ist mit der siebenjährigen Maja passiert? Und hängt ihr Verschwinden mit der Frauenleiche zusammen, die in der Nähe gefunden wurde? Jener Leiche, die nicht nur Marthas Mantel trägt, sondern auch ein Bild ihres Vaters in den Händen hält. Aus Oslo zurück in seiner alten Heimat, nimmt sich der Polizist Thure des mysteriösen Falles an. Seine Ermittlungen führen ihn tief in ein dunkles Kapitel deutsch-norwegischer Vergangenheit und zu einer alten Geschichte, die nicht ans Tageslicht kommen darf.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Polarkind
ALMA LUNDT ist das Pseudonym der Autorin Petra Kasch. Sie machte ihren Abschluss in Literatur und Bibliothekswissenschaft. Bevor sie zur Kriminalliteratur fand, schrieb sie zahlreiche Kinder- und Jugendbücher. Sie ist Mitglied im "Syndikat". Ihre Bücher verbinden oft Vergangenheit und Gegenwart. Dafür recherchiert sie leidenschaftlich gern in Bibliotheken und Archiven auf der ganzen Welt. Alma Lundt lebt heute in Berlin.
Ein Fjord in der Polarregion Norwegens. Der Umzug an den Sehnsuchtsort ihres verstorbenen Vaters sollte für die Kinderärztin Martha ein Neuanfang sein. Doch er wird zum Albtraum, als das Kind ihrer Vermieter unter ihrer Aufsicht spurlos verschwindet. Was ist mit der siebenjährigen Maja passiert? Und hängt ihr Verschwinden mit der Frauenleiche zusammen, die in der Nähe gefunden wurde? Jener Leiche, die nicht nur Marthas Mantel trägt, sondern auch ein Bild ihres Vaters in den Händen hält. Aus Oslo zurück in seiner alten Heimat, nimmt sich der Polizist Thure des mysteriösen Falles an. Seine Ermittlungen führen ihn tief in ein dunkles Kapitel deutsch-norwegischer Vergangenheit und zu einer alten Geschichte, die nicht ans Tageslicht kommen darf.
Alma Lundt
Thriller
Ullstein
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Originalausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin November 2025© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2025Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: ©FinePic®Autorinnenfoto: © Darshana BorgesE-Book powered by pepyrus
ISBN 978-3-8437-3613-8
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
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Einen Monat später
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Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Er hatte es wieder getan, obwohl er wusste, dass er damit aufhören musste. Sie würden es herausbekommen, früher oder später, und was dann passierte, mochte er sich nicht einmal vorstellen. Sie würden ihn vernichten und nicht nur ihn. Deshalb mussten sie verschwinden, er, seine Frau und vor allem seine Töchter.
Er hatte ihnen gesagt, sie würden in den Winterurlaub fahren. Die Kinder hatten sich gefreut und ihre Ski aus dem Keller geholt. Wohin genau sie fuhren, durften sie nicht wissen. Er wusste es selbst nicht. Man hatte ihm gesagt, alles wäre vorbereitet. Vielleicht ahnte seine Frau etwas, aber auch ihr würde er die Wahrheit nicht sagen können.
Es war nicht seine Schuld, dass eines der Mädchen gestorben war. Er hatte die Kleine in den Armen gehalten in ihren letzten Minuten. Vielleicht nahm es ihn deshalb so mit. Dieser trainierte, biegsame Körper, der Schutz bei ihm gesucht hatte. Das Mädchen hatte ihm in die Augen geschaut, bis ihr Blick schließlich gebrochen war; stumm, erschöpft und enttäuscht. Denn sie hatte ihm vertraut. Verdammt, sie hatte ihm vertraut! Aber er hatte nichts für sie tun können.
Den Eltern hatte man mitgeteilt, ihr Kind sei an einem unentdeckten Herzfehler verstorben. Sie verstanden es nicht, weil ihr Kind kerngesund gewesen war. Aber das interessierte niemanden. Auch Kurt nicht, der den Mädchen die blauen Pillen jeden Morgen verabreichte, obwohl er wusste, dass sie das Zeug nicht vertrugen. Deshalb musste er weg. Er ertrug diese Lügen nicht mehr, und er ertrug sich nicht mehr, weil er da mitmachte.
Martha schaute aus dem vereisten Fenster der Boeing, hinter dem es langsam dunkel wurde. Manchmal blitzte noch ein Licht unter ihnen auf, von einem der Schiffe, die durch die langen Fjorde fuhren. Es war erst Ende Oktober, doch auf den Bergen lag bereits Schnee. Das letzte Tageslicht streifte ihre weißen, stillen Häupter.
Als die grünen Anschnallzeichen aufleuchteten, umfasste Martha den Schlüsselanhänger in ihrer Jackentasche. »Jetzt wird alles gut«, flüsterte sie.
Die Boeing ging in den Landeanflug über. Martha wurde in den Sitz gepresst. Das dunkle Land draußen raste an ihr vorbei. Als das Flugzeug schließlich mit einem Ruck auf dem Rollfeld aufsetzte, atmete sie erleichtert auf. Sie war endlich da.
Es waren nur wenige Passagiere an Bord. Niemand schien es besonders eilig zu haben. Martha zog ihre Tasche aus dem Gepäckfach und folgte den anderen. Ein eisiger Wind wehte ihr entgegen, als sie auf die Gangway hinaustrat. Der Wind roch nach Meer und Schnee und dem bevorstehenden Winter. Martha sog den Geruch tief in sich ein. Er erfüllte sie mit einem seltsamen Glück. Mit gesenktem Kopf lief sie über das Rollfeld zum Flughafengebäude.
Thure verließ den Flughafen zu Fuß. Dass er jemals wieder hierherkommen würde, hätte er im Traum nicht gedacht. Als Kind hatte er immer von hier weggewollt, ins wirkliche Leben, und nun war er wieder zurück, am Ende der Welt. Sein Vater hatte ihn in Oslo noch zum Flughafen gefahren. Das hatte er sich nicht nehmen lassen, der große Sverre Andersen.
Nach ein paar Metern blieb Thure stehen und setzte seinen Rucksack ab. Auf der Straße, die in die Stadt führte, war wenig Verkehr. Für einen Moment genoss er die Stille und sah auf die dunklen Berge. Er kannte sie alle, war auf jeden einzelnen hochgestiegen, aber jetzt wirkten sie fremd.
Als er den Rucksack wieder auf seine Schulter hievte, rollte ein SUV langsam an ihm vorbei. Er nahm flüchtig das Gesicht der Frau am Steuer wahr. Sie hatte im Flieger zwei Reihen vor ihm gesessen.
Sie schien vor Kurzem noch langes Haar gehabt zu haben. Immer wieder war sie sich mit ihren kräftigen Fingern in den Nacken gefahren. Das kurze Haar stand ihr gut.
Polizeischule, erstes Semester: Beschreiben Sie einen Menschen, den Sie zwei Sekunden gesehen haben! Darin war er gut. Sein Gedächtnis arbeitete wie ein Fotoapparat, und nicht nur das. Er hatte auch die tiefe Trauer gespürt, die die Frau in sich trug. Ihr leicht gebeugter Körper, den sie immer wieder straffte und ihr leerer Blick aus dem Fenster zeichneten nicht das Bild eines unbeschwerten Menschen. Das war nun wieder keine gute Polizeiarbeit. Verlass dich auf deinen Verstand, das war die Maxime von Sverre Andersen. Hätte Thure sich daran gehalten, hätten sie ihn auch nicht ins Polargebiet geschickt.
Thure starrte auf die Rücklichter des SUV und lief weiter. Was wusste sein Vater schon. Seit er zum Polizeichef befördert worden war, hatte er keinen Fall mehr selbst aufgeklärt.
Thure fiel in einen gemächlichen Schritt. Er würde eine Weile brauchen, aber er hatte die ganze Nacht Zeit. Er musste durch die Stadt und über die Brücke auf die andere Fjordseite. Seine Familie besaß dort ein Ferienhaus. Eigentlich machte dort niemand mehr Ferien. Seine Mutter wollte nur noch in den Süden, seit sie nach Oslo gezogen waren. Seit Jahren stand das alte Haus leer.
Früher hatte es Thures Großeltern gehört. Eskil Andersen war Walfischer gewesen. Dass sein Sohn unbedingt zur Polizei wollte, nahm er ihm übel. Polizei – anderen Leuten ihre Fehler vorhalten? Das war nix für echte Männer. Aber so war das in Thures Familie, die Söhne hinterließen eine Linie der Enttäuschung.
Martha hatte sich am Flughafen einen SUV gemietet. Ihre neue Wohnung lag etwas außerhalb, sie hatte sie im Internet entdeckt. In der Stadt war es einfach zu teuer zum Wohnen, im Moment jedenfalls. Sie musste erst wieder Geld verdienen.
In Deutschland hatte keine Klinik sie mehr einstellen wollen, egal, wo sie sich bewarb. In ihrer Bewerbung für das Arctic-Krankenhaus hatte sie das letzte Jahr als Auszeit angegeben. Das schien hier niemanden zu stören. In Norwegen erwartete man nicht, dass eine Kinderärztin pausenlos arbeitete.
Das Navi hatte sie problemlos vom Flughafen durch die Stadt gelotst. Eine Weile fuhr sie am dunklen Fjord entlang. Jetzt zeigte das Navi an, dass sie die Straße verlassen sollte. Es war kaum sechzehn Uhr und schon fast dunkel.
Vorsichtig folgte sie dem ausgefahrenen Waldweg. Die Fjellbirken, die neben dem Weg standen, wehten buntes Herbstlaub gegen die Frontscheibe. Nach einem Kilometer hörte der Wald auf und sie gelangte auf eine freie Anhöhe.
Wow, dachte sie nur. Vor ihr lag der weite Fjord, in eine sanfte Dämmerung gebettet. Darüber glitzerten die Sterne und wetteiferten mit dem Silberlicht des Mondes, das sich über die Landschaft ergoss. Sie musste einfach aussteigen.
Kein einziger Laut war hier zu hören. Es gab nur Wasser, Berge und eine unendliche Weite. Der Anblick war wie ein stilles Gebet.
Ein Stück entfernt standen ein paar weiße Holzhäuser, die sich dem schwindenden Licht noch widersetzten. Tønsviken. Hier würde sie wohnen. Dankbar stieg sie wieder in den Wagen und ließ ihn langsam die Anhöhe herabrollen.
Von den Bildern im Netz her musste es das erste der vier Holzhäuser sein. Es wirkte älter als die drei anderen. Martha hielt vor dem zweistöckigen Gebäude. Die schmalen Schnitzereien an den Dachkanten waren schlicht und schön. Hier wollte niemand mit seinem Haus protzen.
Am Ufer des Fjords stand ein Bootshaus auf dicken Holzpfählen im Wasser. Die drei Nachbarhäuser reihten sich weiter oben den Hang entlang und besaßen ebenfalls Bootshäuser. Weit und breit war aber niemand zu sehen. Martha verließ ihren Wagen. Kalter Rauch lag in der Luft.
Langsam stieg sie die Holztreppe zum Eingang empor. Auf der Veranda schaute sie sich noch einmal um. Ein Schiff fuhr in der Ferne durch den Fjord. Die Bordlichter funkelten durch die hereinbrechende Nacht. Martha seufzte. Hier war es noch einsamer als bei Asta am Ostseehaff.
Sie klingelte.
Nach einer Weile vernahm sie Schritte. Ein Mann in ihrem Alter mit dichten schwarzen Haaren, die ihm bis in die Stirn hingen, öffnete die Tür.
»Hei, hei«, sagte er. »Martha?«
Sie nickte.
»Komm rein.« Er machte die Eingangstür weit auf. »Ich bin Jakob.« Lächelnd gab er ihr die Hand. »Hattest du einen guten Flug?«
Martha betrat eine große Diele. An den Wänden hingen Bilder von norwegischen Landschaften: Wasserfälle, die sich von hohen Felsen in die Fjorde stürzten, im Schnee versunkene Berge und strahlende Nordlichter, die durch samtschwarze Nächte wehten.
»Komm«, sagte Jakob lächelnd. »Selma wartet schon.«
Martha folgte Jakob in ein gemütliches, warmes Wohnzimmer, dessen Fenster auf den Fjord hinausgingen. Darin stand ein schlichter Esstisch. Auf den alten Holzdielen lag ein gemusterter roter Teppich, der ziemlich teuer aussah, und im Kamin knisterte ein Feuer.
»Hei, hei«, sagte Selma und erhob sich vom Sofa.
Sie war zart und blond, das genaue Gegenteil von Jakob.
Martha hatte sich mit ihr ein paar Mal per Zoom unterhalten. Die junge Norwegerin war von Martha als neuer Mieterin gleich angetan gewesen. Sie hatte eine siebenjährige Tochter. Und wenn man in dieser abgelegenen Gegend eine Kinderärztin im Haus hatte, war das bestimmt von Vorteil.
»Herzlich willkommen«, sagte sie und bat Martha, auf dem Sofa am Kamin Platz zu nehmen.
Jakob verschwand. Martha hörte ihn nebenan mit Geschirr klappern. Er kam schließlich mit einem Tablett wieder, auf dem drei dampfende Teetassen standen.
»Oh, vielen Dank!« Martha nahm sich eine Tasse herunter. Der Tee duftete nach Bergkräutern. Lächelnd schaute sie in das knisternde Feuer. Konnte man so viel Glück haben, dachte sie, nach allem, was sie im letzten Jahr durchgemacht hatte.
Jakob setzte sich in einen der Sessel gegenüber. »Du arbeitest im Arctic-Krankenhaus, hat Selma erzählt.«
Martha nickte. »In einer Woche fange ich an.« Bis dahin hoffte sie, sich ein wenig eingewöhnt zu haben.
»Wie heißt denn eure Tochter?«, fragte sie.
»Maja«, kam es wie aus einem Mund. Jakob und Selma strahlten. Ihre Tochter schien ihr ganzer Stolz zu sein.
Selma schaute auf ihre Uhr. »Sie ist beim Turnen. In einer halben Stunde kommt der Bus.«
Irgendwie beruhigte es Martha, dass hier ein Bus rausfuhr. Das bedeutete wohl, dass im Winter auch die Straße geräumt wurde.
»Die Wohnung steht schon eine Weile leer«, sagte Jakob. »Die meisten wollen lieber in der Stadt wohnen. Aber uns gefällt es hier draußen.«
Martha hatte im Moment keine andere Wahl. »Die Miete …«, sagte sie.
»Ist genauso, wie du es mit Selma abgemacht hast.«
Martha fiel ein Stein vom Herzen. Der Rest war ihr fast egal.
»Willst du sie dir jetzt anschauen?«
Jakob stand auf und lief vor in die Diele. Martha folgte ihm. Sie dachte zuerst, er wollte in den oberen Stock, doch er öffnete die Haustür.
»Ist die Wohnung denn nicht hier?«, fragte sie.
»Doch, schon«, er schaute sich zu Selma um. »Wir haben nur gedacht, es ist vielleicht schöner, wenn du drüben im Bootshaus wohnst.«
Martha sah zu dem alten Holzhaus hinüber, das sich kaum noch von der Dämmerung abhob. Es sah aus wie ein hinfälliger Holzschuppen. Kein Wunder, dass es kaum etwas kostete. Das war also der Haken. Stumm folgte sie den beiden.
Jakob mühte sich eine Weile mit dem Schloss ab, ehe er die Tür aufbekam. Ja klar, dachte Martha. Die Hütte ist jahrelang unbenutzt und klamm, sodass sich alles verzogen hat.
Endlich gab das Schloss nach und er stieß die Tür auf.
»Warte«, sagte er, »ich mache erst Licht.«
Martha stand an der offenen Tür. Rosmarinduft strömte ihr entgegen. Und dann ging das Licht an.
»Herzlich willkommen«, sagte Selma, die im Dunkeln vor Martha in den Flur geschlüpft war.
Martha schluckte. Das sah man der Hütte von außen nicht an. Von einem Schuppen war das Bootshaus hier drinnen weit entfernt. Sie betrat eine moderne Wohnküche, die mit allen denkbaren Gerätschaften ausgestattet war. Selma führte ihr stolz alles vor. Sie war Innenarchitektin und hatte den Umbau des alten Bootshauses selbst übernommen.
Martha legte auf Küchen nicht allzu viel Wert, aber sie mochte gut gemachte Sachen. Trotz der Modernisierung hatte das alte Bootshaus seinen alten Charme nicht verloren. Es gab noch einen Schlafraum nebenan, ein eingebautes Duschbad und eine Abstellkammer. Alles war komplett mit skandinavischen Holzmöbeln ausgestattet.
»Was meinst du?«, sagte Selma. »Gefällt es dir?«
Was für eine Frage. Martha nickte und schaute durch die kleinen Fenster auf den dunklen Fjord hinaus. Am Ende des Steges konnte sie die Umrisse eines Bootes erkennen, das im Wasser schaukelte.
»Wenn du magst, kannst du auch unser Motorboot benutzen«, sagte Jakob. »Der Schlüssel hängt dort.« Er zeigte auf einen Haken im Flur. »Aber sag vorher Bescheid.«
Martha nickte stumm. Ein eigenes kleines Haus am Fjord mit einem Boot vor der Tür und alles zu einer erschwinglichen Miete. In Deutschland würde sie ein Vermögen dafür bezahlen.
»Da wäre noch etwas.« Selma warf Jakob einen raschen Blick zu.
Also doch. Martha sah ihr neues Heim bereits wieder schwinden.
»Könntest du vielleicht gelegentlich auf Maja aufpassen? Jakob und ich sind beruflich oft unterwegs und einen Babysitter für hier draußen zu bekommen, ist nicht leicht.«
Das war der Haken? Sie sollte auf ein Kind aufpassen?
»Natürlich nur, wenn du möchtest«, sagte Selma verlegen. »Und wenn du Zeit hast.«
Martha atmete erleichtert auf.
»Das ist gar kein Problem«, sagte sie. »Das mache ich gerne.«
Selma lächelte. »Du wirst sie mögen.«
Jakob drückte Martha den Hausschlüssel in die Hand. »Dann ist ja alles geklärt. Wenn du noch Fragen hast, komm rüber.«
Martha umfasste den Schlüssel mit beiden Händen.
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Dann kann ich ja gleich einziehen. Meine Sachen habe ich im Wagen.«
»Kein Problem. Ich sag meinem Vater Bescheid.«
Die beiden warfen sich einen Blick zu.
»Ach so«, sagte Martha. »Er vermietet das Bootshaus.«
»Nein«, Selma seufzte. »Mein Schwiegervater ist in der letzten Zeit etwas verwirrt. Deshalb lassen wir ihn auch nicht mehr mit Maja allein. Nur damit er Bescheid weiß, dass im Bootshaus jetzt jemand wohnt.«
Martha lächelte. Mit einem verwirrten alten Mann würde sie auch noch klarkommen. So schlimm konnte das nicht sein.
Thure war früh aufgestanden. Er hatte sein Motorrad wieder startklar gemacht, das noch in der Garage des Ferienhauses stand. Irgendwas brauchte er, um sich hier fortbewegen zu können. Einen Dienstwagen bekam er bestimmt nicht.
Als er auf den Vorplatz der Polizeistation rollte, stieg die Sonne matt hinter den Bergen empor. In ein paar Wochen würde sie gar nicht mehr aufgehen. Er nahm den Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er war viel zu früh da, doch an seinem ersten Tag wollte er nicht zu spät kommen.
»Hei, hei«, sagte er, als er die Tür der Polizeistation öffnete.
Von seinen Kollegen schien noch niemand da zu sein. Die Schreibtische waren leer. Nur der Stationschef war bereits im Dienst. Er saß mit einer Zeitung und einer Kaffeetasse an seinem Tisch und grinste, als Thure eintrat.
»Willkommen zurück«, sagte er. »Bist inzwischen ja etwas gewachsen.«
Dass Thure in der Station laufen gelernt hatte, musste Erik Nilsen ihm nicht unter die Nase reiben. Schlimm genug, dass er wieder hier war.
»Wo kann ich arbeiten?«, fragte er.
Erik kratzte sich am Hinterkopf. »Am besten dort.«
Er zeigte auf einen vollgekramten Tisch, der am Fenster stand. »Letzten Monat hatten wir einen Praktikanten, aber der ist nicht lange geblieben.«
»Okay«, erwiderte Thure und ging zu seinem neuen Arbeitsplatz.
»Kaffee gibt’s in der Küche.« Erik zeigte auf eine offene Tür. »Wer die letzte Tasse nimmt, kocht neuen.«
Gut, war das auch geklärt.
Da Erik sich weiter mit seiner Zeitung beschäftigte, räumte Thure seinen Schreibtisch auf. Er spürte, wie Erik ihn über den Rand seiner Zeitung beobachtete. Das, was Thure für Altpapier hielt, stapelte er neben dem Tisch, und den Rest legte er auf das Sideboard hinter ihm. Schließlich stand nur noch sein Computer vor ihm. Es konnte losgehen.
»Habt ihr einen Fall?«, fragte er Erik, als er sich an den Tisch setzte.
»Nichts Großes.«
»Und wann kommen die anderen?«
»Sind draußen am Hallsteig. Hat gestern Nacht ein paar Einbrüche da oben gegeben.«
Thure schnappte sich seine Jacke. »Dann fahre ich hin.«
Nilsen warf seine Zeitung auf den Schreibtisch.
»Den neuen Kollegen guten Tag sagen.«
Er hörte nicht mehr, was sein Chef dazu meinte. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Das konnten sie vergessen, dass er hier ein Jahr nur am Schreibtisch hockte.
Thure ließ das Motorrad die schmale Landstraße am Fjord entlangrollen. Für den Winter musste er sich unbedingt ein Auto besorgen, dann waren die Straßen hier so verschneit, dass es lebensgefährlich war, auf zwei Rädern zu fahren. Auch jetzt war es schon glatt. In der Nacht hatte es leicht gefroren.
Die Frau, die ihm an der Abfahrt nach Tønsviken entgegenkam, hätte ihn fast mit ihrem Wagen gerammt. Sie schien mit den Straßenverhältnissen nicht klarzukommen. Es war die Frau aus dem Flugzeug. Was sie hier draußen wohl wollte? In Tønsviken wohnten keine Touristen, soweit er wusste.
Als er die vier Häuser hinter sich gelassen hatte, blieb er stehen und sah zum Hallsteig hinauf. Weit und breit war kein Polizeiwagen zu sehen. Er nahm den Helm ab und ließ seinen Blick über den Fjord gleiten. In all den Jahren hatte sich hier nichts geändert, nur, dass die Schiffe ständig größer wurden und immer mehr Touristen in die Gegend kamen. Aber in wenigen Wochen war hier oben alles zugeschneit, dann gehörte der Berg nur noch sich allein. Er setzte den Helm auf und kehrte wieder um.
»Genug frische Luft geschnappt?«, fragte Erik grinsend, als er in die Polizeistation zurückkehrte.
Seine Kollegen gossen sich gerade heißen Kaffee ein und lachten. Thure zuckte die Schultern und gab beiden die Hand.
»Kine Sandvik«, sagte die Frau.
»Oslok Hansen.«
Thure nahm sich auch Kaffee. Die Frau musterte ihn kurz und setzte sich an ihren Schreibtisch.
»Du bist dran mit dem Bericht«, sagte Oslok zu ihr.
Kine verdrehte die Augen. Sie war noch recht jung, keine dreißig, und wohl das Küken der Station.
Viel herausbekommen hatten sie allerdings nicht, was die Einbrüche anbelangte. Niemand vermisste etwas. Trotzdem hatte man die Polizei gerufen, wegen der Versicherung. Ein Schloss war ausgehebelt worden und eine Fensterscheibe eingeschlagen. Seufzend machte Kine sich an den Bericht.
Martha hatte nicht gut geschlafen in ihrer ersten Nacht im Bootshaus. Ständig war sie vom Plätschern der Wellen aufgewacht, die unter ihr gegen die Holzpfosten schlugen. Dass ihr Bett nur durch einen Holzboden vom Fjord getrennt war, daran musste sie sich erst gewöhnen.
Gähnend stand sie auf und beschloss, einen Einkauf in der Stadt zu machen. Der nächste Supermarkt war sieben Kilometer entfernt. Als sie auf die asphaltierte Landstraße einbog, kam ihr ein Mann auf einem Motorrad entgegen. Wahnsinn, dachte sie, bei dem Wetter mit dem Bike zu fahren. Er rutschte ihr fast ins Auto. Ihre Blicke trafen sich einen Moment, doch ehe sie sein Gesicht erkennen konnte, war er schon vorbeigefahren.
Zwei Stunden später kam sie mit drei schweren Einkaufstüten zurück und verstaute alles in der Küche. Sie kochte sich Kaffee und nahm ein Zimtbrötchen aus der Tüte. Draußen wehte ein nasskalter Wind und klapperte mit den Fensterläden.
»Hei, hei!«, rief plötzlich eine Stimme.
Martha ging zur Tür. Hatte sie schon Besuch?
Auf dem Steg draußen stand ein blondes Mädchen mit einer Puppe im Arm.
»Hei, hei!«, sagte Martha und musste lächeln.
Die Kleine kam neugierig näher. »Bist du die Frau, die jetzt bei uns wohnt?«
Martha nickte. »Dann bist du Maja.«
Das Mädchen strahlte. »Und das ist Ella.« Sie hielt Martha ihre Puppe hin.
»Hallo Ella«, sagte Martha. »Du bist ja eine feine Puppe.«
»Die hat mir Opa zum Geburtstag geschenkt. Sie kann richtig turnen. Schau mal!« Maja drehte ihre Beine in alle Richtungen.
»Bist du ganz alleine hier draußen?«, fragte Martha und sah sich um.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Mama bringt mich gleich in die Schule.« Und dann rannte sie mit ihrer Puppe davon.
In dem Moment trat Selma drüben aus dem Haus. Martha winkte ihr zu und Selma winkte zurück. Martha sah den beiden lächelnd nach, bis sie mit dem Auto zwischen den Bäumen verschwunden waren. Dann ging sie wieder hinein.
Draußen zog jetzt dichter Nebel auf, der über den Fjord kam. Sie stellte das Geschirr in die Spüle und begann, ihre Koffer auszupacken. Viel hatte sie nicht mitgenommen. Irgendwann würde noch eine Kiste mit dem Rest kommen. Martha hing nicht an Dingen, nur an Erinnerungen.
Zum Schluss stellte sie eine alte Schwarz-Weiß-Postkarte auf das Fensterbrett. Jostafjord stand unter dem abgegriffenen Bild, das aus den fünfziger Jahren stammte.
Sie hatte die Karte in den Sachen ihres Vaters entdeckt, damals nach seinem Tod. Es gab nicht mehr viel von ihm, eigentlich gar nichts. Ihre Mutter hatte alles weggeworfen. Diese Karte hatte nur überlebt, weil sie in einem Buch als Lesezeichen steckte.
Seine Sehnsucht nach diesem Ort hatte ihr Vater aber nie einlösen können. Sie biss sich auf die Lippen. Und das war allein ihre Schuld. Aber warum er ausgerechnet hierher wollte? Sie hatte ihre Mutter gefragt, doch nie eine Antwort erhalten. Seit dem Autounfall hatte sie kaum noch über ihn gesprochen, als ob er niemals existiert hätte.
Obwohl erst Nachmittag war, ging die Sonne bereits unter. Daran musste sie sich auch noch gewöhnen. Sie goss sich einen Rotwein ein und setzte sich mit einem Buch auf das Küchensofa. Diese Ruhe würde nicht lange andauern, wenn sie erst wieder im Krankenhaus arbeitete. Sie las, trank den Wein und lauschte den Wellen, die leise gegen den Steg plätscherten.
Als sie schließlich im Bett lag, ließ sie sich von den Wellen in den Schlaf schaukeln. Aber da war noch ein anderes Geräusch. Sie setzte sich im Bett auf. Das waren eindeutig Schritte. Jemand schien auf der schmalen Holzterrasse, die um das Bootshaus herumführte, entlangzulaufen. Vorsichtig und sachte. Ihr Herz raste. Sie hatte die Gardinen nicht vorgezogen, weil außer dem Fjord eigentlich niemand zu ihr hereinschauen konnte. Nach einer Weile entfernten sich die Schritte und verloren sich in der Nacht.
Martha erwachte von einem lauten Klopfen. Draußen war es bereits hell. Sie stieg aus dem Bett und schloss die Haustür auf.
»Hei, hei«, sagte Selma munter. »Hast du gut geschlafen?«
Martha kam ihre nächtliche Angst plötzlich lächerlich vor und sie nickte. Bestimmt war es nur ein Nachbar gewesen. Wer sollte sonst nachts hier herumlaufen? Sie waren eine halbe Stunde von der Stadt entfernt.
»Ich muss kurz zur Apotheke, Martha. Medikamente für meinen Schwiegervater abholen. Maja möchte aber nicht mitfahren. Meinst du, sie könnte eine Stunde bei dir bleiben?«
»Kein Problem.« Da lernte sie das Mädchen gleich kennen.
»Jakob ist mit dem ersten Flieger nach Oslo, mein Schwiegervater schläft noch. Ich bin gleich zurück.«
Martha hörte Maja irgendwo singen. Sie kam drüben vom Haus mit einem Puppenwagen angefahren.
»Aber nur, wenn es okay für dich ist«, sagte Selma.
»Ja, alles in Ordnung.«
Durch die offene Tür sah sie, wie Maja mit ihrem Puppenwagen an ihnen vorbei auf den Bootssteg fuhr. Martha musste wohl etwas besorgt geschaut haben, denn Selma sagte: »Keine Sorge. Maja ist hier draußen groß geworden.«
Das Mädchen stand jetzt mit seinem Puppenwagen an der Spitze des Steges und sang vor sich hin.
»Dann bis gleich.« Selma lief zu ihrem Auto.
Martha sah ihr einen Moment nach, dann ging sie zu Maja. Die hatte ihre Puppe aus dem Wagen genommen und auf den Steg gesetzt. Im selben Moment schrie sie auf, denn Ella war umgefallen.
»Martha!«, jammerte Maja. »Ella hat sich wehgetan!«
Martha hockte sich zu ihr und versuchte, sie zu beruhigen.
»Es ist doch gar nichts passiert. Schau.«
Sie bewegte Ellas Beine.
Doch Maja beharrte darauf, dass Ella unbedingt einen Verband brauchte. »Du bist doch Kinderärztin!«, heulte sie.
»Dann gehen wir beide ins Bootshaus und machen ihr dort einen Verband«, schlug Martha vor.
Maja wiegte Ella schluchzend in den Armen und klagte: »Ella kann nicht mehr laufen.«
Martha hatte genug mit kleinen Mädchen zu tun gehabt, um zu wissen, dass sie nicht aufhören würde zu weinen, bis sie den Verband geholt hatte.
»Also gut«, sagte sie. »Du rührst dich aber nicht vom Fleck!«
Maja schluchzte und grinste zugleich.
Martha lief rasch zurück zum Bootshaus. Im Koffer lag noch ihre Reiseapotheke, in der auch ein Mullverband steckte. Sie schnappte sich den Verband und lief wieder hinaus.
Verwundert schaute sie sich um.
»Maja?«, rief sie.
Das Mädchen war vom Bootssteg verschwunden, nur der rosa Puppenwagen stand noch da. Oh Gott! War sie etwa in den Fjord gefallen? Martha rannte nach vorn und schaute hektisch ins Wasser. Es war so klar, dass man jeden Kiesel darin erkennen konnte, doch von Maja keine Spur.
Martha lief hinüber zum Wohnhaus. Vielleicht war sie inzwischen wieder rübergegangen.
Sie riss die Haustür auf. »Maja!«, rief sie laut in die Diele. »Bist du hier?«
Doch niemand antwortete.
Sie rannte durch alle Zimmer.
Aber Maja steckte nirgendwo.
Martha verließ schließlich das Haus und schaute über das Gelände. Keine Spur von Maja. Martha dachte an das kleine, verstohlene Grinsen auf dem Gesicht des Mädchens, bevor sie den Verband geholt hatte. Hatte Maja sich in der Zwischenzeit versteckt?
»Okay!«, rief Martha laut. »Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn ich dich bis dann nicht gefunden habe, hast du gewonnen!«
Hinter dem Haus gab es noch einen alten Schuppen. Bestimmt war sie dort hineingelaufen.
Martha zählte laut: »Eins, zwei, drei … "
Dann ging sie zum Schuppen und drückte die Klinke herunter, doch die Tür war abgeschlossen. »Vier, fünf, sechs …« Auch hinter dem Schuppen steckte das Mädchen nicht.
»Sieben, acht, neun …« Martha lief zurück zum Steg.
»Zehn!«, stieß sie jetzt laut aus. »Du hast gewonnen, Maja. Du kannst rauskommen!«
Doch niemand kam.
Verdammt! Martha versuchte, ihre aufsteigende Panik zu unterdrücken. Wo konnte das Mädchen bloß stecken? Sie rannte jetzt zu den Nachbarhäusern. Das erste stand vielleicht 20 Meter entfernt. Obwohl sie nicht glaubte, dass Maja dort hingelaufen war. Doch etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein.
»Hei, hei«, sagte sie, als eine junge Frau öffnete.
»Hola.«
»Haben Sie Maja gesehen?«, fragte Martha.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Nix Maja.«
Martha lief weiter. Auch in den anderen beiden Häusern hatte niemand das kleine Mädchen gesehen. Martha schaute hoch zu den Bergen. War Maja etwa dort hinaufgelaufen? Verdammt, was sollte sie jetzt machen? Ihren Großvater wecken? Vielleicht wusste der etwas.
Sie lief noch einmal zurück zum Haus. Doch der alte Mann war weder in seinem Zimmer noch im Bad oder in der Küche. Vielleicht war Maja inzwischen wieder auf dem Bootssteg aufgetaucht. Martha rannte aus dem Haus. Mitten im Laufen stockte sie. Nein, Maja war nicht zurückgekommen.
Martha starrte auf das Ende des Bootssteges.
Aber der Puppenwagen war jetzt ebenfalls verschwunden.
Plötzlich schlug sich Martha an die Stirn. Das Bootshaus! Wahrscheinlich war Maja auf der Terrasse um das Haus herumgeschlichen und hatte sich dann im Bootshaus versteckt, während Martha überall nach ihr suchte.
Sie stürzte durch die offene Tür.
»Na warte, du kleiner Schlingel!«, rief sie erleichtert. »Gleich hab ich dich!«
Doch auch dort war Maja nicht.
Maja war verschwunden.
Als Selma eine Stunde später mit einer Apothekentüte unterm Arm aus dem Auto stieg, hockte Martha apathisch auf der Treppe des Wohnhauses.
»Hei, hei«, rief Selma. »Hattet ihr eine gute Zeit?«
Martha schluckte und stand langsam auf. Sie überragte Selma ein gutes Stück. Unsicher schüttelte sie den Kopf.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie. »Maja …«
Selma ließ die Medikamententüte zu Boden gleiten.
»Was ist mit Maja?«
»Sie, sie ist weg«, stotterte Martha.
»Wie weg?« In Selmas schmalem Gesicht mischte sich Sorge mit Verständnislosigkeit. »Wo ist meine Tochter?«
»Ich weiß es nicht. Sie war plötzlich verschwunden.«
»Wie verschwunden? Du wolltest doch auf sie aufpassen!«
»Das habe ich ja.«
»Aber dann wäre sie jetzt nicht verschwunden, oder?« Selma sah Martha scharf an. »Hast du schon nach ihr gesucht?«
»Ja, natürlich. Überall.«
»Auch bei den Nachbarn?«
»Ich war auch bei allen Nachbarn, Selma.«
»Manchmal spielt sie mit Olav.«
Martha stöhnte auf. »Da habe ich auch gefragt. Olav ist aber bei einem Freund in der Stadt, hat seine Mutter gesagt.«
Martha musste irgendetwas tun, aber sie wusste nicht, was. Sie spürte, wie Selma immer panischer wurde, nachdem sie begriff, dass Maja wirklich weg war.
»Wir müssen die Polizei rufen, Martha.« Selma fasste Martha bei den Schultern. »Die Polizei.«
Martha schüttelte den Kopf. Keine gute Idee, die Polizei. »Spielt Maja denn manchmal Verstecken?«, fragte sie.
Selmas Gesicht hellte sich auf. »Ja! Sogar sehr gerne.«
»Vielleicht hat sie sich versteckt und ist irgendwo hineingerutscht oder hat sich wehgetan, sodass sie nicht mehr allein da rauskommt.«
»Meinst du?« In Selmas Gesicht glomm Hoffnung auf.
»Wir suchen noch einmal zusammen. Du kennst ihre Lieblingsorte am besten.«
Selma war bereits in Richtung des Birkenwäldchens losgelaufen, das sich vom Fjord hinauf zur Straße zog. Dort hatte ihre Tochter im Sommer eine Laubhütte gebaut. Aber als sie dort ankamen, war die Laubhütte leer. Sie riefen laut nach dem Mädchen, doch niemand antwortete. Sie suchten das ganze Wäldchen ab. Und anschließend noch einmal alle Schuppen und Bootshäuser. Sie brachten die Nachbarn dazu, dort ebenfalls nachzuschauen. Aber auch dort steckte Maja nicht. Nicht in den Booten, die bereits an Land lagen. Es gab keine einzige Spur von Maja, als hätte die Erde sie verschluckt.
Schluchzend wählte Selma schließlich Jakobs Nummer. »Du musst herkommen! Bitte! Maja ist weg.«
Martha verstand nicht, was er darauf antwortete.
Maja war inzwischen drei Stunden verschwunden.
»Jakob kommt mit der nächsten Maschine aus Oslo«, sagte Selma. »Ich fahre jetzt zur Polizei. Dort treffen wir uns. Du musst hierbleiben, Martha, falls Maja in der Zwischenzeit heimkommt.«
Martha nickte stumm. Sie sah Selmas Auto nach, das zwischen den Bäumen davonschoss. Wenn sie ein Kind hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich auch zur Polizei gefahren, aber die Polizei half einem nicht. Das konnte Selma nur noch nicht wissen.
Martha ging in das Wohnhaus der Familie und schaltete in allen Zimmern das Licht an, auch in der oberen Etage. Falls Maja sich irgendwo draußen verirrt hatte, konnte sie so heimfinden.
Als sie wieder nach unten ging, saß plötzlich ein alter Mann im Wohnzimmer auf einem Stuhl und starrte Martha finster an.
Das musste Selmas Schwiegervater sein. Martha hatte ihn noch nicht gesehen. Wo war er so plötzlich hergekommen? Seine Schuhe waren nass, seine Hose ebenfalls.
»Maja ist verschwunden«, sagte sie zu ihm. »Wissen Sie, wo Ihre Enkeltochter ist?«
Er zischte etwas, das Martha nicht verstand. Vielleicht lag es auch an ihrem Norwegisch. Früher schien er ein sportlicher Mann gewesen zu sein. Als er jetzt von seinem Stuhl hochfuhr, machte er federnd ein paar Schritte auf sie zu, doch dann verließ ihn die Kraft. Martha konnte ihn gerade noch auffangen und zurück auf den Stuhl hieven.
Als er wieder saß, stieß er sie grob von sich.
Jetzt verstand sie auch, was er zwischen seinen bebenden Lippen hervorpresste: »Verschwinde!«
Und das war nicht norwegisch, sondern deutsch.
Martha machte ein paar Schritte rückwärts.
Der Alte zitterte am ganzen Körper. Offensichtlich schien er Angst vor Martha zu haben. Aber das kam bei dementen alten Menschen öfter vor. Besser Martha verließ jetzt das Haus. Sie ging hinüber zum Bootshaus und schaltete auch dort alle Lichter an.
Mittlerweile war es kurz nach drei und es wurde bereits dunkel. Wo immer Maja auch steckte, das war keine Zeit für ein kleines Mädchen, um noch draußen allein herumzulaufen.
Qualvolle Stunden später hielt ein Polizeiwagen vor dem Haus. Dahinter kamen Selma und Jakob mit ihrem Auto angefahren. Martha musste den Polizisten wieder und wieder erzählen, was passiert war. Dass sie keine Minute weg war, um den verdammten Verband für Majas Puppe zu holen. Sie hatte die Haustür, die auf den Steg hinausführte, extra aufgelassen. Maja hätte an der offenen Tür vorbeikommen müssen, wenn sie vom Steg heruntergelaufen wäre. Aber das war sie nicht.
»Wie erklären Sie sich dann das Verschwinden des Kindes?«, fragte Erik Nilsen, der sich als Chef der örtlichen Polizeistation vorgestellt hatte.
»Ich weiß es nicht.«
»Du musst doch irgendwas bemerkt haben!« Selmas Stimme überschlug sich, sie schien kurz davor, die Nerven zu verlieren. Noch hielt sie sich tapfer, wollte die Befragung nicht stören, um nicht jeden noch so vagen Hinweis zu verpassen, der das Verschwinden ihrer Tochter erklären würde. Jakob hatte den Arm um sie gelegt, konnte sie aber auch nicht beruhigen.
»Und wenn sie ins Wasser …«, presste Selma zwischen den Lippen hervor.
»Da habe ich gleich als Erstes geschaut.«
Das Wasser am Steg war so klar, dass man selbst ein 5-Kronen-Stück in sechs Meter Tiefe noch erkennen konnte. Wie sollte man da ein Kind übersehen? Martha verstand selbst nicht, wie Maja so plötzlich hatte verschwinden können.
»Vielleicht haben Sie ja etwas gehört?«, fragte der Polizist, der bisher geschwiegen hatte. Er war nicht wie die anderen mit dem Polizeiwagen gekommen, sondern mit einem Motorrad.
Martha überlegte. Hatte sie etwas gehört? Vielleicht ein leises Klatschen wie eine Welle, die an den Steg schlug. Aber das war nichts Besonderes an einem Fjord.
Sie schüttelte den Kopf.
Plötzlich sprang Selma auf: »Und der Puppenwagen? Wo ist ihr Puppenwagen?«
Erik Nilsen schaute zuerst zu Martha und dann zu Selma. »Von einem Puppenwagen haben Sie uns bisher nichts erzählt.«
Martha sah zu Boden. Das gemütliche Wohnzimmer mit dem Kamin verwandelte sich plötzlich in ein eiskaltes Verhörzimmer. Was sollte sie bloß antworten?
Der Motorradpolizist beobachtete sie.
Martha hatte keine Ahnung, warum Maja verschwunden war. Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Doch wie es im Moment aussah, dachten alle, dass Martha schuld war. Deshalb verschwieg sie, dass der Puppenwagen noch eine Weile auf dem Steg gestanden hatte und erst nach Marthas Suche im Wohnhaus vom Steg verschwunden war.
»Es tut mir leid«, sagte Erik Nilsen. »Im Moment können wir nichts weiter tun. Ich werde für morgen den Hubschrauber anfordern, falls Maja bis dahin noch nicht aufgetaucht ist.«
Selma schüttelte den Kopf. »Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen, Erik. Unser Kind ist verschwunden!«
Martha sah Selma mitfühlend an. Auf die Polizei konnte man sich nicht verlassen. Das schien sie langsam zu begreifen.
»Wir kommen so bald wie möglich mit einem Suchtrupp wieder. Das verspreche ich euch.«
Jakob trat Erik Nilsen ein Stück entgegen. »Meine Tochter ist sieben. Verstehst du nicht?« Er machte eine verzweifelte Geste ins Dunkel. »Und sie ist jetzt irgendwo da draußen!«
»Erik, habt ihr keine Hunde?«, fragte Thure.
Sein Chef schüttelte den Kopf. »Die bekommen wir heute Abend nicht mehr her. Ich habe schon telefoniert. Erst morgen früh.«
Als er mit Oslok Hansen im Auto davonfuhr, schauten Selma und Jakob ihnen verzweifelt nach.
»Und wenn sie hoch in die Berge ist?« Selma zog Jakob, der noch immer in seinem Anzug steckte, am Arm.
»Könnt ihr ein paar Nachbarn zusammentrommeln?«, fragte Thure.
Selma nickte. »Aber viele sind es nicht hier draußen.«
»Allemal besser als auf die Hunde morgen früh zu warten.«
Espen und Hilde machten mit, auch Viktor, der selten zu Hause war, kam mit seiner spanischen Haushaltshilfe dazu. Sogar die alte Stina, die im letzten der vier Häuser lebte, schloss sich ihnen an. Sie liefen so hoch es der Berg in der Dunkelheit erlaubte. Oberhalb der Bäume wurde es schwierig, vorwärtszukommen. Der lose Steinschotter zwang sie immer wieder, einen anderen Weg zu suchen. Sie riefen und leuchteten mit ihren Taschenlampen durch die Nacht.
Niemals ist Maja hier allein hinauf, dachte Martha die ganze Zeit. Schon gar nicht mit einem Puppenwagen.
