Das Pony in der S-Bahn - Harald Neckelmann - E-Book

Das Pony in der S-Bahn E-Book

Harald Neckelmann

0,0

Beschreibung

Berlin steckt voller Überraschungen. Der Journalist und Stadtführer Harald Neckelmann erzählt in über 70 kurzweiligen Texten von originär Berliner Erfindungen wie dem Eierschneider oder dem Handy, von kulinarischen Spezialitäten wie dem Berliner Schnitzel aus Kuheutern, von Superlativen wie der größten Quallenzucht in Europa, von Skurrilitäten wie einem rechnenden Pferd oder einem Autowrack, das seit Jahrzehnten regelmäßig eine neue TÜV-Plakette erhält. Ob geheime Ersatzwährungen, unverhoffte Zeitunterschiede, ein veganer Sexshop oder die Hausbesetzerkarriere von Angela Merkel – dieses Buch dokumentiert den alltäglichen Wahnsinn der Stadt. Mit über 30 Abbildungen und zahlreichen Adressen für eigene Stadterkundungen

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 203

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Harald Neckelmann

Das Pony in der S-Bahn

Berliner Kuriositäten aus Geschichte und Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2020

© der Originalausgabe:

berlin edition im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2020

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin

Umschlag: Manja Hellpap, Berlin (Illustrationen: Nina Pagalies)

ISBN 978-3-8393-4135-3 (epub)

ISBN 978-3-8148-0244-2 (print)

www.bebraverlag.de

Statt eines Vorworts

»Ein Pferd heißt Pferd, weil es fährt …« – Wie es scheint, hat vor einigen Jahren ein kleiner Einhufer in Berlin diese Textzeile aus einem Karnevalsschlager allzu wörtlich genommen und sich mitten in das Gedränge des öffentlichen Nahverkehrs begeben. Ist das kurios? Bestimmt. Einzigartig? Keineswegs. Zumindest nicht in Berlin. Daher ist es gut möglich, dass die übrigen Fahrgäste nur einmal kurz aufgeschaut haben und ansonsten eher mit sich selbst beschäftigt waren. Das ist eigentlich schade, denn die Stadt steckt voller Überraschungen, die neugierig machen und manchmal auch den Blick auf die Welt verändern können.

»Das haben Sie sich doch ausgedacht!« – Diesen Satz musste ich in meiner Arbeit als Journalist und Stadtführer mehr als einmal hören. Aber: Nein, die Geschichten in diesem Buch haben Berlin und seine Bewohner hervorgebracht. Man muss nur manchmal genau hinschauen und sie aufschreiben.

Um bei unseren wiehernden Freunden zu bleiben: Es gibt zum Beispiel im Deutschen Technikmuseum eine Treppe, auf der früher die Pferde ins Obergeschoss trabten. Kein Treppenwitz! Die Tiere sind nicht nur wendig, sondern auch schlau: Eins von ihnen soll um 1910 sogar die Rechenkunst beherrscht haben. Wo es beerdigt liegt, ist nicht bekannt. Aber wer im Park von Glienicke spazieren geht, findet dort mehrere Pferdegräber mit großen Steinplatten.

Die Texte in diesem Buch erzählen auch von anderen merkwürdigen Steinen: einen benutzte zum Beispiel der Kaiser, um bei Paraden auf sein Pferd zu gelangen. Ein Gedenkstein im Tiergarten erinnert dagegen an einen armen Soldaten, der einst vom Blitz getroffen tot vom Pferd fiel. Gleich gegenüber können Sie beobachten, wie sich ein Fuchs mit Kaninchen einen Bau teilt, ohne dass die eine Spezies der anderen zum Abendessen wird. Leben und leben lassen – auch das ist Berlin.

Das Straßenpflaster besteht hier mitunter aus Schweinebäuchen. Woher der Name kommt, erfahren Sie auf den nächsten Seiten. Das Berliner Schnitzel dagegen besteht aus Kuheuter und gilt ebenso als Spezialität wie der Hackepeter, die Erbswurst oder der Döner Kebap. Bei der Verdauung hilft vielleicht eine Berliner Weiße oder eine Mampe Halb und Halb – auch die Geschichten hinter diesen beiden typischen Berliner Getränken können Sie im Folgenden nachlesen. Und wussten Sie eigentlich, dass in dieser Stadt auch das älteste Bier der Welt nachgebraut wird?

Zuviel Alkohol war häufig im Spiel, wenn die Berliner Mauer in umgekehrter Richtung auch mal von West nach Ost überwunden wurde. Die so »Flüchtenden« wurden Mauerspringer genannt. Überhaupt nicht am Alkohol liegt es dagegen, dass die Berliner Mauer an einer Stelle die Form eines Entenschnabels hatte oder an anderer Stelle heute noch durch ein Bundesministerium verläuft. Auch das sind Phänomene, die es zu klären gilt.

Die Mauer zu den Berliner Erfindungen zu zählen, scheint allerdings doch etwas abwegig. Mit Sicherheit dazu gehört aber ein »Schutzwall« aus Gummi (nämlich Fromm’s Kondom), von dem im Weiteren ebenfalls erzählt wird, genauso wie die Geschichten hinter dem Eierschneider oder dem ersten Handy der Welt (das allerdings nur leuchten und Wind machen konnte). In Berlin ist auch ein aerodynamisches Auto in Tropenform entworfen worden, das allerdings ein Ladenhüter war und am Ende nur noch an Berliner Taxifahrer verkauft wurde. Deren ältestes Gefährt ist aber heute ein Peugeot, der bestens gepflegt immer noch seine Runden in der Stadt dreht. Ganz anders als ein skurriles Autowrack, das vor sich hin rottet, aber regelmäßig eine neue TÜV-Plakette erhält.

Und wir begeben uns in diesem Buch auf’s Wasser: Wir testen Schiffe in einem bunten Kasten, der wie ein Elefant aussieht, der sich auf seinen Rüssel tritt. Wir folgen einem Kahn, der für viel Geblubber auf Berliner Gewässern sorgt. Und begegnen einem silberfarbenen Dampfer in Form eines Wals, der keine verbrauchte Luft in Form einer Fontäne nach oben ausstößt, dafür aber die Zähne fletscht.

Kurz gesagt: Dieses Buch gleicht einer Wundertüte, bei der man nicht weiß, was man als nächstes findet. Auf eine lexikalische Gliederung wurde dabei bewusst verzichtet. Dafür gibt es als kleinen Anreiz, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen, zu jedem Kapitel eine Adresse, an der man sich selbst ein Bild vom Ort des Geschehens machen kann, auch wenn dort inzwischen manchmal nichts mehr an die Ereignisse erinnert, die hier vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten stattgefunden haben. Dafür entdecken Sie unterwegs vielleicht noch andere Kuriositäten, deren Hintergründe sich zu erforschen lohnt.

Nicht anfassen, könnte auseinanderfallen! Aber immerhin hat er noch TÜV …

Automobiles Experiment

Ein Fahrzeugwrack mit TÜV-Plakette

Hanns-Lüdecke Rodewald liebt seinen Opel Olympia Caravan von 1956, auch wenn man dem Fahrzeug das nicht gerade ansieht. Er hat es vor gut 40 Jahren zum letzten Mal gewaschen. Sein äußerer Zustand ist miserabel, deshalb besitzt das Auto auch kein H-Kennzeichen für historische Fahrzeuge. Rodewald repariert bewusst nur das, was kaputtgeht. Als Professor für Fahrzeugtechnik betrachtet er das Auto schon seit Längerem als ein Experiment mit fachlichem Hintergrund: Wie lange kann ein Auto durchhalten, wenn man nur die für den TÜV relevanten Reparaturen durchführt? Auf diese Weise verübt der Fahrzeughalter allerdings auch automobilen Widerstand gegen die Staatsgewalt.

1976 erwarb Rodewald den Opel an einer Tankstelle bei Koblenz – für 600 D-Mark. Seitdem hält er dem Wagen die Treue, will aber nicht mehr in die Veränderung des Autos eingreifen. Stattdessen probiert er, es mit dem niedrigsten Aufwand fahrfähig zu halten. »Es hat mich einfach interessiert, was passieren wird«, erzählte er 2017 dem »Tagesspiegel«. Rodewald hält die Technik in Ordnung. Der Kombi muss verkehrssicher sein, möglichst mit den vorhandenen Teilen. Zum Beispiel habe er die Gewindestangen der Stoßdämpfer wieder angeschweißt, anstatt wie üblich die kompletten Dämpfer zu tauschen. »Mein Opel ist original erhalten – nicht bloß originalgetreu wie viele andere Oldtimer.« Auf die Optik legt der Professor jedoch nicht so viel Wert. Er parkt seine automobile Ruine bei Wind und Wetter vor dem Haus, da lässt sich Rost nicht vermeiden. Die Karosserie wurde mehrfach geschweißt, der Lack ist stumpf wie Sandpapier, nur noch hier und da blitzt die Originalfarbe »Verona-Grün« durch. Unzählige Beulen rundum erzählen von dem bewegten Leben des Opels. Eine Moos- und zwei Flechtenarten versuchen, sich des alten Fahrzeugs zu bemächtigen. Der Autobesitzer schaut erfreut auf das Blech und sagt: »Hier kommt jetzt wieder die Gelbflechte.« Bleibt der Wagen längere Zeit stehen, nisten sich immer wieder Mäuse unter der Motorhaube ein.

Hanns-Lüdecke Rodewald lehrt an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Von den Ingenieuren, die bei ihm studieren, werden nicht wenige Fahrzeugprüfer bei TÜV, Dekra oder anderen Organisationen. »1977 wollte ich den Wagen verkaufen«, erinnert er sich. Zuvor ließ er den Wagen ein einziges Mal waschen. »Aber für 500 D-Mark wollte ihn damals niemand haben.« Also lief der Wagen weiter im Alltag, bis Rodewald auch andere Fahrzeuge fuhr. Der Opel blieb angemeldet und wurde stets pünktlich beim TÜV vorgeführt, damit er weiter auf der Straße parken durfte. Trotzdem hatte der Halter bislang 14 Bußgeldverfahren am Hals. Anfang der 1990er Jahre begannen die Probleme mit den Ämtern zu eskalieren: Eine erste polizeiliche Anzeige mit dem nicht belegbaren Vorwurf »Autowrack kraft Vermutung«, der zur Stilllegung seines Fahrzeugs führte, konnte Rodewald noch mithilfe eines Anwalts abfangen. Denn das Äußere täuschte. Aber Mitte des Jahrzehnts wurde der Wagen zwangsstillgelegt. Dabei war er fahrbereit und vom TÜV geprüft. Das Verfahren zog sich über anderthalb Jahre hin. Am Ende musste das Amt sogar Nutzungsausfall zahlen. Später erhielt Rodewald einen Bescheid vom Ordnungsamt: Der Wagen verstoße gegen das Abfallbeseitigungsgesetz und stelle eine »Beeinträchtigung des Straßenbildes« dar. Das dürfte der Zeitpunkt gewesen sein, an dem es für ihn kein Zurück mehr gab.

Knapp 60 Jahre hat der ehemalige Lebensmittelwagen inzwischen auf dem Buckel und springt immer noch an. In der Hauptuntersuchung macht der Opel die Ingenieure regelmäßig verlegen. Manche wünschen eine Fahrzeugwäsche. Einmal musste Rodewald ein sogenanntes »Fußgänger-Ableitblech« auf die Fahrertür schweißen. Nach einem Unfall stand der Türgriff nach außen und wurde als Verletzungsgefahr für Passanten kritisiert. Der letzte juristische Streit galt der Umweltzone, in der Rodewald wohnt. Der Halter antwortete, der Wagen werde in der Stadt nur per Anhänger bewegt. Relevant für eine Strafe ist das Fahren, nicht das Parken. Das Verfahren wurde eingestellt.

Mit seinem Experiment übt der Professor auch Kritik an der Wegwerfgesellschaft. Seinen vermoosten Opel Olympia Caravan versteht er daher als Kapitalismuskritik – und als Plädoyer für mehr Reparaturkultur und Nachhaltigkeit. »Mein Wagen ist ein Natur- und Technikdenkmal«, erklärt er.

Schönleinstraße, 10967 Berlin-Kreuzberg

Natürlich sicher

Der Kondomfabrikant Julius Fromm

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts verkaufte die Korsettfirma von Auguste Claverie in Paris Kondome unter dem Namen »Le Parisien« (Der Pariser). Die ersten Markenkondome aber wurden von Julius Fromm in Prenzlauer Berg entwickelt – und waren damit Berliner. Fromm wohnte mit seinen acht jüngeren Geschwistern und seiner Mutter in einer Einzimmerwohnung im Scheunenviertel. Als sein Vater starb, war er 15 Jahre alt und musste fortan die Familie versorgen. Fromm verkaufte tagsüber Zigaretten und lernte in Abendkursen Chemie. 1912 verbesserte er die Produktion von Kondomen: Er tauchte Glaskolben, passend geformt, in flüssigen Naturkautschuk.

Der Gummifabrikant vertrieb die Kondome zunächst allein aus einem Hinterhof heraus. 1914 startete er in einem Laden an der Käthe-Niederkirchener-Straße 23 (früher Lippehner Straße) sein Ein-Mann-Unternehmen. Kondome gab es schon, aber Fromm hatte ein besonders dünnes, transparentes und nahtloses Gummikondom entwickelt, das trotzdem zuverlässig war. Präservative galten damals als anrüchig und wurden unter dem Ladentisch verkauft, jede öffentliche Werbung war verboten.

Doch Julius Fromm war mutig: Er gab den Unaussprechlichen seinen auch für die Qualität des Produkts bürgenden Familiennamen und formulierte Slogans wie: »Leiste Garantie – Umtausch jederzeit gestattet«. Unter dem Namen »Fromms Act« stellte er bereits 1919 täglich 150 000 Stück her. Spätestens Ende der 1920er Jahre fanden seine Kondome reißenden Absatz. Kabarettisten witzelten und sangen: »Fromms zieht der Edelmann beim Mädel an«. In seinen Fabriken beschäftigte der Fabrikant inzwischen rund 500 Arbeiter. Julius Fromm war erfolgreich, wohnte in einer Villa in Schlachtensee und fuhr als erster Berliner einen Cadillac.

Doch dann kamen die Nazis an die Macht. Fromm war Jude und musste sein Lebenswerk an die Patentante von Hermann Göring verkaufen. Auch seine Söhne hatten es nicht leicht. Nicht nur, dass sie immer gehänselt wurden: Ob dem Vater etwa das Kondom geplatzt sei? Ihnen selbst dürfte ebenfalls zum Platzen zumute gewesen sein, als sie später eine Summe von 174 000 D-Mark zahlen mussten, um von dem Geliebten und Erben der Göring-Patentante den Markennamen Fromms zurückzukaufen.

Ehemaliger Firmenstandort: Friedrichshagener Straße 38, 12555 Berlin-Köpenick

Vorgeführt

Hape Kerkeling als Königin Beatrix

Im April 1991 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker die niederländische Königin ins Schloss Bellevue zum Mittagessen eingeladen. Als ein dicker, schwarzer Mercedes Pullmann mit niederländischem Stander die Auffahrt hinaufrollte, zückten die Fotografen ihre Kameras. Aus dem Inneren entstieg jedoch der Komiker Hape Kerkeling, als Dame gestylt, mit blauem Samthut, und grüßte winkend. Er hatte alle Sicherheitssperren überwunden, schüttelte nun jede Hand und stöckelte ungelenk auf Pumps in Richtung Hauptportal. Dort stellte er sich der konsternierten Protokolldame mit niederländischem Akzent vor: »Hallo! Ich bin die Trixie!« und forderte »Lecker Mittachessen!« In einem Knäuel aus Journalisten, Fotografen und Sicherheitsleuten winkte er der »Bevolkering« zu. Das präsidiale Protokollpersonal vertröstete er, Prinzgemahl Claus sitze noch »in die Auto«.

Der langjährige Pressestellenmitarbeiter Wolfgang Teske dachte sich: »Da stimmt doch was nicht« und merkte dann: »Das ist doch der Kerkeling!« – »Ich bin die Beatrix«, rief der Komiker noch einige Male, bevor er von Teske mit dem Hinweis: »Das beenden wir jetzt aber bitte sofort. Raus jetzt!« zurück ins Auto geschoben wurde. Von den ernst blickenden Polizisten wurde Kerkeling höflich, aber bestimmt aufgefordert, das Areal sofort zu verlassen. Kurz darauf fuhr die echte Beatrix – ganz in Orange gewandet – vor, um vom Bundespräsidenten zum Bankett empfangen zu werden.

Die Vorfahrt am Schloss Bellevue ist einer der ersten und bekanntesten Auftritte von Hape Kerkeling. Seine Verkörperung der Königin Beatrix der Niederlande machte ihn zum Staatsgespräch. Den gefoppten Sicherheitsbeamten hingegen dürfte nicht zum Lachen zumute gewesen sein. Das Bundesinnenministerium verlangte vom Bundesgrenzschutz eine Aufklärung des Vorfalls. Wie war ein solcher Auftritt überhaupt möglich? Der Mauerfall lag gerade anderthalb Jahre zurück. Es hatte sich im Schloss Bellevue für Staatsbesuche noch keine rechte Routine entwickelt. In Interviews stellte Kerkeling später rückblickend fest, dass das Ganze durchaus auch hätte schiefgehen können. Er habe nicht erwartet, bis vor das Schloss zu gelangen. An der Schranke hätte eigentlich Schluss sein sollen, aber die diplomatisch-dunkle Karosse mit ihren Fantasie-Fähnchen konnte ungehindert passieren. Was dann folgte, war improvisiert.

Das waren noch Zeiten – als Hape Kerkeling in den Kleidern der Königin am Schloss Bellevue auftrumpfte.

In dem anschließend gesendeten Fernsehsketch landete er irgendwann auf dem Bürgersteig vor dem Bellevue und musste zusehen, wie in der Ferne die wirkliche Königin Beatrix vom Bundespräsidenten begrüßt wurde. Kerkeling brüllte zwar noch über den Zaun, dass er »die echte Trixie« sei – doch vergebens. Statt »Lecker Mittachessen!« gab es für ihn ein »lecker Butterbrot«, gestiftet von einem mitleidigen Autofahrer, den »Trixie« lautstark von Autofenster zu Autofenster über diese »Unverschämtheit!« aufgeklärt hatte.

Nach 18 Jahren kehrte Kerkeling an den Schauplatz seines Streiches zurück. 2009 war er ganz offiziell zum Sommerfest geladen. Zwei Jahre später kam auch die niederländische Königin erneut zu Besuch. Und diesmal gab es im protokollarischen Ablauf keine Pannen.

Spreeweg 1, 10557 Berlin-Tiergarten

Euter in Panade

Das Berliner Schnitzel

Die Berliner Küche ist deftig, schlicht und rustikal. Aber auch in ihr gibt es lukullische Überraschungen. Das Berliner Schnitzel etwa besteht aus zwar nicht gerade exotischem Fleisch, aber immerhin aus gekochtem Kuheuter. Zuerst wird es drei bis vier Stunden gewässert, danach ebenso lange in Gemüsebrühe weichgekocht. Bevor der Koch das abgekühlte Euter häutet, wird es in schnitzelgroße Scheiben geschnitten, paniert und gebraten – auch »Falsches Kotelett« genannt. Optisch getarnt bereitet man es weiter zu wie das verwandte Wiener Schnitzel. Meist wird dazu eine Senf- oder Meerrettichsauce kredenzt, übliche Beilagen sind Kartoffeln, auch Kartoffelbrei. Wer seine Neugier stillen (!) möchte, erfährt ein fast vollkommen aromafreies Fleisch, mit einem »vage adstringierenden, leicht milchigen Abgang«. Ein gebratenes Euter mundet durchaus, hat man sich an den Gedanken gewöhnt. Schließlich ekeln sich auch die wenigsten vor Milch, obwohl sie aus dem Inneren des verpönten Euters stammt.

Kuheuter galten in Deutschland bis in die Nachkriegszeit als billiger Ersatz für Schnitzelfleisch. Sie wurden nur in den unteren Kreisen gegessen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es das Schnitzel in jeder Berliner Gaststätte. Noch bis in die 1960er Jahre standen Euter-Zubereitungen in allen Grundkochbüchern. Heute trifft der Restaurantbesucher nur noch selten auf das Berliner Schnitzel, zumal frische Kuheuter inzwischen in Deutschland eher schwer und nur auf Vorbestellung beim Metzger erhältlich sind. Wer sich in Berlin auf Schnitzeljagd begibt, könnte das Traditionsgericht vereinzelt noch in Gaststätten mit »Alt-Berliner Küche« finden.

Beim Wiener Schnitzel wird eine populäre Variante mit Schweine- statt Kalbfleisch zubereitet. Nach den Lebensmittelrichtlinien besteht ein Wiener Schnitzel aber immer aus Kalbfleisch. Für die Variante aus Schweinefleisch hat sich die Formulierung »Schnitzel Wiener Art« oder »Wiener Schnitzel vom Schwein« eingebürgert. Es wäre einen Versuch wert, dem Berliner Gast ein »Wiener Schnitzel von der Kuh« anzubieten.

Waisenstr. 14–16 (Restaurant Zur letzten Instanz), 10179 Berlin-Mitte

Anfänge mit Schub

Der weltweit erste Raketenflugplatz

Als Gymnasiast las der spätere Ingenieur und Raketenkonstrukteur Rudolf Nebel (1894–1978) die Bücher von Jules Verne, etwa den 1865 erschienenen Roman »Von der Erde zum Mond«. 1925 kam er nach Berlin. Wenige Jahre später wollte die Menschheit tatsächlich abheben, sich in die Unendlichkeit wagen – ein Sprung in einen neuen Lebensraum. Viele bedeutende Raumfahrtenthusiasten und Raketenpioniere trafen sich in dem 1927 gegründeten »Verein für Raumschiffahrt«. Zunächst blieb man jedoch noch am Boden: Das Raketenauto Opel Rak 2 sauste 1928 mit 24 Raketen bestückt über die Avus und Nebel korrespondierte mit Professor Hermann Oberth, der für den Ufa-Regisseur Fritz Lang und seinen Film »Frau im Mond« eine Rakete konstruierte. Am 27. September 1930 ging dann auf dem ehemaligen Artillerie-Schießplatz am Tegeler Weg in Reinickendorf, den der Magistrat zur Verfügung gestellt hatte, der weltweit erste Raketenflugplatz in Betrieb. Zusammen mit Klaus Riedel, Hermann Oberth, Werner von Braun und Kurt Heinisch baute und erprobte Nebel dort Flüssigkeitsraketen. Neben fünf Gebäuden entstand ein Raketenprüfstand, es wurden Startgestelle für die Raketen montiert. Eine zeitgenössische Quelle beschreibt das Gelände wie folgt: »Etwa die Hälfte dieser vier Quadratkilometer war hügelig und mit einem Birken- und Ahornwäldchen bestanden, zumeist jungen Bäumen. Einige Stellen zwischen den Hügeln waren leicht sumpfig. Der Rest war mit hohem Gras bewachsen. Es gab einige Gebäude auf diesem Platz mit halbmeterdicken Wänden, und sie waren als Explosionsschutz mit dachhohen Erdwällen umgeben.« Wegen mangelnder Finanzen mussten die Amateure auch kostenlose und frei zu beschaffende Materialien und Geräte verwenden, erhielten aber bereits Sach- und Geldspenden von der Industrie. Wernher von Braun schilderte später die ersten Wochen: »Wir begannen sofort mit unserer Arbeit. An einem der Blockhäuser brachten wir ein Schild an, auf dem hochtrabend zu lesen war: ›Raketenflugplatz Berlin‹.«

Tollkühne Männer und ihre fliegenden Geschosse – auf einem ehemaligen Schießplatz in Reinickendorf.

Auf dem Platz meldeten sich Arbeitslose als Helfer. Rudolf Nebel stellte sie ein, garantierte ihnen Unterkunft, Verpflegung und ausreichend Arbeit. Die Forscher bauten und erprobten vor allem Raketen der Typen Mirak (Minimumrakete) 1 bis 3 und Repulsor. Im Mai 1931 gelang ihnen der Start einer ersten Flüssigkeitsrakete und der Test von Flugkörpern bis hinauf in 1 000 Meter Höhe. Die Mirak war 20 Kilogramm schwer, besaß einen Durchmesser von zehn Zentimetern und eine Länge von 3,5 Metern. Willi Ley beschrieb die hinter einem quadratischen Erdwall liegenden Aufbauten: Man gelangte »zu einer kleinen Bodenmulde, die als Standort des Motorenprüfstandes ausgesucht wurde. (…) Rechts und links vom Startgestell wurden Tanks für Benzin und flüssigen Sauerstoff im Boden vergraben und neben jedem Tank Stickflaschen als Druckbehälter. Die Ventile dieser Druckflaschen wurden durch lange Hebel betätigt, welche mit Hebeln und Seilzügen verbunden waren und zur Tür im oberen Stockwerk des Gebäudes führten. Dort wurden große Seilzughebel aufgestellt (es waren Weichenstellhebel wie die Reichsbahn sie benützte), so daß der Prüfstand von dort oben wirklich bedient wurde.«

Laufend wurden Versuche durchgeführt, auf dem Gelände verfolgten immer mehr zahlende Zuschauer das Geschehen. Die Mirak wurde etwa 100 Mal gestartet, allerdings explodierten die meisten während des Fluges. Nach der Zündung des Flüssigkeitsantriebes sollte die Rakete bis in eine Höhe von 500 Metern steigen und dann nach dem Ausbrennen an einem Fallschirm zur Erde zurückkehren. Die Raketen flogen anfangs nicht höher als 100 Meter, später wurden Gipfelhöhen von bis zu 400 Metern erreicht. In Zeitungsberichten erhielten die Raketenforscher den Beinamen »Die Narren von Tegel«.

Im Sommer 1931 aber besuchte eine britische Journalistin die jungen Männer. Ihr Bericht erschien in führenden englischen und amerikanischen Zeitungen: »Als ich diesen Raketenflugplatz Berlin wieder verließ, da wußte ich, daß diese jungen Männer die Waffen vorbereiteten, mit denen sie uns in Amerika eines Tages über den Atlantik hinweg treffen würden.« Da die Forscher immer auf der Suche nach Geldgebern waren und teilweise sogar auf dem Gelände des Raketenflugplatzes lebten, kam es ab 1932 zu ersten Kontakten zur Reichswehr. Eine Vorführung fand im Juni vor leitenden Offizieren des Heereswaffenamtes im geheimen Versuchsgelände Kummersdorf statt. Die Wehrmacht entwickelte und erprobte auf dem Gelände neue Waffensysteme und Ausrüstung. Trotz einer missglückten Vorführung unter anderem vor Oberst Karl Becker gelang es Wernher von Braun, das Interesse der Militärs zu wecken. Das Heereswaffenamt versuchte immer mehr, die Raketenforschung unter ihre Kontrolle zu bringen. Ende September 1933 wurde der Raketenflugplatz in Tegel wegen einer nicht bezahlten Wasserrechnung aufgelöst. Ohne Angabe von Gründen wurde das Gelände im Juni 1934 geschlossen und alle Unterlagen, die Rudolf Nebel besaß, beschlagnahmt.

Tegeler Weg, 10179 Berlin-Mitte

Wühlberfall

Spektakulärer Bankraub in Zehlendorf

Im März 1994 gingen sechs Männer in eine angemietete Garage an der Matternhornstraße 48. Dort, in Zehlendorf, gruben sie einen etwa 70 Meter langen Tunnel, der Durchmesser war nur einen Meter breit. Seine Wände und Decken waren fachmännisch mit Holzbohlen abgestützt. Es wurden Strom, Lampen und Ventilatoren installiert. Über ein Jahr dauerten die Bauarbeiten. Der Stollen mündete in einen zufällig entdeckten Regenwasserkanal unterhalb der Straße. Dieser Kanal ersparte den Räubern etwa 100 Meter Wühlarbeit. Im August 1994 kam es zu einem Erdrutsch, einer Versackung. Passanten meldeten den Schaden dem Tiefbauamt. Von oben wurde er durch eine Baufirma behoben. Die Arbeiter waren an diesem Freitag schon halb im Wochenende, alkoholisiert, und entdeckten nichts Ungewöhnliches. Die Tunnelgangster hatten Glück, legten aber für ein halbes Jahr eine Pause ein.

Als sie ihre Arbeit wieder aufnahmen, gruben sie vom Kanal aus einen weiteren Tunnel. Dieser war 13 Meter lang und endete in der Commerzbank-Filiale Breisgauer Straße 8. Die Filiale befindet sich heute woanders, direkt am S-Bahnhof Schlachtensee. Zwei Männer buddelten, einer füllte den Sand in Säcke, einer zog die Säcke auf Skateboards durch das 60 Zentimeter schmale Regenrohr und den zweiten, nur wenig breiteren Tunnel. Mehr als ein Meter Tunnel war am Tag nicht zu schaffen. Die Säcke fuhren die Männer aus der Garage heraus mit dem Auto zu Baustellen.

Am 27. Juni 1995 fand schließlich einer der spektakulärsten Banküberfälle in Deutschland statt. Um 10.25 Uhr betraten vier schwer bewaffnete Täter die Bank, zwei andere arbeiteten sich durch den Kellerboden der Bankfiliale. Sie trugen Overalls, Wollmasken, Basecaps, Handschuhe und nahmen 16 Geiseln. Die Täter befahlen den Bankkunden und Angestellten sich hinzulegen und fesselten sie mit Handschellen. Die Jalousien wurden heruntergelassen, die Kassetten der Überwachungskameras entfernt, vor der Eingangstür Handgranaten ausgelegt. Die Bankräuber verlangten 17 Millionen D-Mark Lösegeld, einen Hubschrauber und einen Fluchtwagen. Damit wollten sie vortäuschen, sie würden den Tatort fahrend oder fliegend verlassen. Die Polizei umstellte die Bankfiliale.

Im Gebäudeinnern wurde der Filialleiter gezwungen, im Keller die Tresortür zu den Schließfächern zu öffnen. 207 der rund 400 Fächer wurden mit Stemmeisen aufgebrochen. Die Polizei schätzte den Wert des gestohlenen Inhalts später auf zehn Millionen D-Mark. Die genaue Summe blieb unklar, denn zu Schließfächern gibt es keine genauen Bestandslisten. Währenddessen teilten die Täter der Polizei mit, sie würden einer der Geiseln ins Bein schießen, sollte das geforderte Geld nicht eintreffen.

Die Polizei übergab den Räubern daraufhin 5,62 Millionen D-Mark in blauen Mülltüten und hoffte so, einige der Geiseln freizubekommen. Ein Ultimatum an die Täter endete um drei Uhr nachts. Um 3.45 Uhr stürmte die Polizei nach 18 Stunden schließlich das Gebäude und fand alle Geiseln unversehrt. Die Täter waren mit dem Geld durch den Tunnel entwischt.

Der Polizeipräsident Hagen Saberschinsky rief zur Pressekonferenz und kündigte an: Wer den Überfall nicht aufkläre, erhalte von ihm lange Ohren. Den Ermittlern wurden 60 Leute bereitgestellt. Fünf Wochen später hatten sie die sechs Tunnelgangster festgenommen: als ersten einen syrischen Autolackierer, der neben der Garage eine Werkstatt besaß. Der Vormieter (ein Bruder des Haupttäters) führte die Sonderkommission auf die Spur von drei Komplizen. Obwohl die Täter konsequent mit Handschuhen gearbeitet hatten, fand sich auf einem der Belüftungsschläuche ein Viertel Quadratzentimeter eines Fingerabdrucks. Später wurde noch ein Overall gefunden, den einer der Täter beim Überfall getragen hatte. Von der Beute stellte die Polizei immerhin 5,3 Millionen D-Mark sicher. Beschuldigt wurden fast ausschließlich gebürtige Syrer und Libanesen, Angehörige und Freunde zweier Großfamilien. Die Bande soll aus insgesamt elf Personen bestanden haben. Fünf weitere Helfer waren flüchtig, in Beirut oder Damaskus inhaftiert oder bekamen eigene Prozesse.

Die Täter wurden später zu Haftstrafen zwischen sechs und 13 Jahren verurteilt. Als die ersten Täter freikamen, gab es aber auch die D-Mark selbst nicht mehr. Ein Teil des Tunnels ist heute im Berliner Polizeimuseum ausgestellt.

Platz der Luftbrücke 6 (Polizeihistorische Sammlung), 12101 Berlin-Tempelhof

Kunst auf schwerem Gerät

Panzerräder im Berliner Ensemble