Das Rätsel von Grünweide - Johanna Klemm - E-Book

Das Rätsel von Grünweide E-Book

Johanna Klemm

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Beschreibung

Johanna Klemm war eine deutsche Schriftstellerin. Vor allem ihre Publikationen für junge Mädchen waren in der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs in hohen Auflagen verbreitet. Der Roman "Das Rätsel von Grünweide" mit über 13 Auflagen gehört zu ihren größten Erfolgen.

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Das Rätsel von Grünweide

Johanna Klemm

Inhalt:

Johanna Klemm – Biografie und Bibliografie

Das Rätsel von Grünweide

Erstes Kapitel: Im Gewitter

Zweites Kapitel: Was die Leute sagen

Drittes Kapitel: Gestörte Freundschaft

Viertes Kapitel: Die Familie des Verwalters

Fünftes Kapitel: Nellis Eifer

Sechstes Kapitel: Im Armenhause

Siebentes Kapitel: Alles bereit

Achtes Kapitel: Tagebuch der Dorfschulmeisterin

Neuntes Kapitel: Allerlei Besuche

Zehntes Kapitel: Kleine Schulbesichtigung

Elftes Kapitel: Freundschaftsbriefe

Zwölftes Kapitel: Überseeische Gäste

Dreizehntes Kapitel: Wieder am Familientisch

Vierzehntes Kapitel: Mariannes Erfahrungen

Fünfzehntes Kapitel: Vater und Tochter

Sechzehntes Kapitel: Kartoffelferien

Siebzehntes Kapitel: Im Studierstübchen

Achtzehntes Kapitel: Allerlei Verkehr

Neunzehntes Kapitel: Die Jagd

Zwanzigstes Kapitel: Das Rätsel

Einundzwanzigstes Kapitel: Nachjagd

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Freude überall

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Bei der Tochter zu Gast

Vierundzwanzigstes Kapitel: Ein bewegter Tag

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Edler Wettstreit

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Herbstabend im Dorf

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Die große Frage

Achtundzwanzigstes Kapitel: In der Fremde

Neunundzwanzigstes Kapitel: Lindenholm

Dreißigstes Kapitel: Im Alsterpavillon

Einunddreißigstes Kapitel: Fräulein!

Zweiunddreißigstes Kapitel: Tante Mathilde

Dreiunddreißigstes Kapitel: Lotte

Vierunddreißigstes Kapitel: Der Einzug

Fünfunddreißigstes Kapitel: Herrin der Scholle

Das Rätsel von Grünweide, Johanna Klemm

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849629502

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Johanna Klemm – Biografie und Bibliografie

Deutsche Schriftstellerin, geboren am 13. November 1856 in Bützow, verstorben am 23. April 1924 in Schwerin. Johanna Klemm war die Tochter eines wohlhabender Wein- und Kohlenhändlers in Bützow, der für eine solide Ausbildung seiner sieben Kinder sorgte. Sie besuchte in ihrer Heimatstadt eine private Mädchenschule, wo sie u.a. neben Englisch- und Französischunterricht Klavier- und Gesangsunterricht erhielt. Noch nicht 17-jährig trat sie auf einem mecklenburgischen Gut eine Stelle als Erzieherin an. 1878 wechselte sie in eine ähnliche Tätigkeit bei der Familie des Kammerherrn von Voss im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Rühn bei Bützow. Ihre Eindrücke aus dieser Zeit hat sie später in ihrem ersten und zugleich erfolgreichsten Roman, „Das kleine Klosterfräulein“ (1898), verarbeitet. Ab 1885 ließ sie ihre Singstimme in Berlin ausbilden, um selbst als Gesangslehrerin tätig zu werden. Dazu siedelte sie 1888 nach Rostock über, wo sie mit ihrer Schwester Betty, einer Klavierlehrerin, zusammen lebte. In dieser Zeit begann sie zu schreiben, zunächst Erzählungen für Erwachsene, nach der Veröffentlichung ihres ersten Jugendromans „Das kleine Klosterfräulein“, überwiegend Schrifttum für junge Mädchen. 1901 zogen die Schwestern Klemm nach Schwerin. 1906 erlitt Johanna einen Schlaganfall, der sie linksseitig lähmte. Dennoch veröffentlichte sie bis zu ihrem Tod noch 21 z.T. umfangreiche Publikationen. Johanna Klemm blieb unverheiratet.

Johanna Klemm nahm sich in ihrem Schrifttum der Freuden und Probleme damaliger Mädchen an (Alter: etwa 13 bis 19 Jahre). Sie ermutigte ihre Leserinnen dazu, sich eine umfassende Bildung zu verschaffen und einen Beruf zu ergreifen. In dieser Hinsicht war sie Schrittmacherin der sich im 20. Jahrhundert vollziehenden Entwicklung der Frauenberufstätigkeit. Sie propagierte Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen. Außerdem war ihr Augenmerk auf ein gutes Einvernehmen innerhalb der Familie gerichtet, auf die Bedeutung der Freundschaft, auf Achtung und Begeisterung für die Kunst, auf Vorurteilslosigkeit gegenüber der sogenannten Unterschicht und gegenüber Dienstboten. In mancher Hinsicht tradierte sie das damalige traditionelle Bild der Frau. Die Mecklenburgische Zeitung resümiert in einem Artikel am 25. April 1924 zum Tod Johanna Klemms: „Durch alle ihre Bücher geht ein Zug edlen, gütigen Menschentums, der wesentlich wohl zu ihrer Beliebtheit beigetragen hat.“

Wichtige Werke

    Das kleine Klosterfräulein (1898, mind. 22. Auflagen)

    Heros Lampe und andere Novellen (1901)

    Nellys Notizbuch (1903)

    Nina (1903)

    Eines schickt sich nicht für alle (1903)

    Muttersprache und andere Novellen (1906)

    Eva König (1906)

    Die beiden Schwarzbraunen (1909, mindestens 19 Auflagen)

    Seine kleine Schwester (1910, mindestens 17 Auflagen)

    Ein moderner Paris (1910)

    Monika (1912, mindestens 11 Auflagen)

    Frau Regine und ihre Töchter (1914)

    Heimatzauber (1915)

    Leben ist Streben (1915)

    Drei Reislein von einem Stamm (1915, mindestens 17 Auflagen)

    Die wir mitkämpfen (1916)

    Das Rätsel von Grünweide (1917, mindestens 13 Auflagen)

    Heldendank (1917)

    Auf eigener Scholle (1920)

    Mit leichtem Schritt an fester Hand (1920)

    In der Fremde (1920)

    Aus allerlei Nestern (1921)

    Waldasyl (1921?)

    Aus Enge und Weite (1922, mindestens 9 Auflagen)

    Die Töchter von Rodenhalde (1922)

    Treulich geführt (1923)

    Blühen und Reifen (1923)

    Wie eine Blume (1924)

    Das Probejahr (1924)

    Haus Hollberg (1925)

Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Im Gesamten ist der Text zu finden unter http://de.wikipedia.org/wiki/Johanna_Klemm.

Das Rätsel von Grünweide

Erstes Kapitel: Im Gewitter

Über dem stattlichen Dorf Grünweide stand ein schweres Gewitter. Gegen Abend war es. Der schwarze Himmel wurde immer wieder von feurigen Blitzen zerrissen, ohne daß ein lösender Regen Erfrischung brachte. Alle Bewohner des Dorfes hielten sich still in ihren Häusern, nachdem die Tagesarbeit auf dem Felde beendet war, oder sie sahen im Stall nach dem unruhigen Vieh.

Auf dem großen Gutshof waren alle Türen der Wirtschaftsgebäude geöffnet, die Pferde losgemacht, ja sogar die Feuerspritze schon aus dem Schuppen gezogen, und was dergleichen Vorkehrungen sind, die in ländlichem Betrieb beobachtet werden müssen in Sorge vor drohender Feuersgefahr.

Der junge Gutsverwalter, der die abwesende Herrschaft vertrat, wanderte in hohen Wasserstiefeln unablässig über den Hof, nach allem sehend und überall Hand mit anlegend. Eine merkbare Unruhe stand in seinem offenen, hübschen Gesicht, das man sonst kaum anders kannte als mit dem Ausdruck ruhiger Entschlossenheit. Um den blondbärtigen Mund, von dem die Leute des Dorfes wie die Hofknechte so gern und willig bestimmte Weisungen oder Ratschläge entgegennahmen, zuckte es heute oft; ja, als ein besonders lang hinrollender Donner die Fenster des kleinen Verwalterhauses klirren ließ, wandte sich der Eifrige mit jähem Ruck dorthin, wo hinter den Scheiben das ebenfalls unruhig gespannte Gesicht einer alten Frau zu sehen war, die eben die Hände faltete, als wollte sie des Himmels Schutz anrufen.

Kein Wunder, daß sowohl der junge Verwalter wie seine Mutter, sonst zwei unerschrockene, zielbewußte Naturen, sich heute mehr erregten als sonst, bei den bekannten Erscheinungen und Nebenumständen eines Gewitters am Abend. Hatte man doch in Grünweide während dieses Sommers schon dreimal die Feuerglocke geläutet und sehr böse Stunden der Gefahr mit erheblichem Schaden in der Folge durchgemacht. So war es begreiflich, daß auch ein Mann ohne Nerven, wie Hermann Matersen sich sonst zu nennen pflegte, jetzt wieder das Wimmern der Glocke im Ohr zu haben meinte und jeden Augenblick das Aufglimmen einer Flamme zu sehen glaubte.

Eben näherte er sich den beiden hohen Pappeln am Eingang des Hofes, da konnte die Mutter am Fenster es nicht länger mit ansehen. Sie stieß den einen Fensterflügel auf und rief so angstvoll den Namen des Sohnes, daß dieser sich rasch umkehrte und sie beruhigte, besonders da nunmehr auch die ersten lösenden Tropfen fielen.

"Mutting, Mutting," rief er und hob beschwichtigend die Hand, "es zieht schon ab; wir kommen heut gut davon."

"Gott gebe es," sagte die alte Frau. "Nun fängt es ja auch an zu regnen! Aber mein Jung," fuhr sie lebhaft fort, "unter den hohen Pappeln kann ich dich nicht sehen; du weißt wohl: ›Der Blitz schlägt eher in die Türme als in die niederen Hütten ein,‹ pflegte Großmutter zu sagen –"

Da lachte der Sohn erleichtert. "Mein Mutting hat schon wieder einen kleinen Spruch bei der Hand – dann ist die Gefahr vorbei. Da will ich jetzt zu dir in unsere niedere Hütte kommen."

Sie empfing ihn an der Tür. "Gottlob, es regnet! Und nun schilt nur nicht zu sehr! Du weißt, dein Alting ist doch sonst nicht gerade ein Banghase, aber wer das durchgemacht hat wie wir in letzter Zeit, der –"

Der Sohn strich ihr liebevoll über das faltige Gesicht.

"Gewiß, Mutting, der sieht im Geist immer das Feuer."

"Ach, und wäre es nur damals Blitzschlag gewesen! Da dächte man, unmittelbar vom Himmel fällt das Feuer – Gott schickt es und wir müssen es nehmen; aber so –"

"Komm, komm, Mutting; es ist ja vorbei," beruhigte der Sohn, aber sie sah ihn an und klagte: "Ach, wenn es nur wirklich vorbei wäre – das, was ich meine – was noch immer kein Ende hat. Die Redereien meine ich."

"Schlimm ist und bleibt es ja," sagte Hermann finster, "daß ich am Abend des unseligen Brandes allein auf dem Hofe war, daß ich jene Hochzeit im Dorfe nicht mitmachte. Da habe ich mir durch die Absage in dem August Bantzkow, der mir schon immer nicht wohlwollte, einen entschiedenen Feind geschaffen."

Die Mutter seufzte.

"So ist der Kleine unserer armen Hermine in aller Unschuld dir zum Verhängnis geworden. Hätten wir nicht gerade an dem Tage die Nachricht von dem Tode des süßen Kindes erfahren, und wärst du nicht solch guter Sohn, der seine alte Mutter mit ihrem Kummer nicht allein lassen mochte, dann wärst du auch ins Dorf zum Tanz gegangen, und niemand hätte es wagen können, dich mit der unseligen Geschichte in Zusammenhang zu bringen."

"Ja, Mutting," sagte Hermann schwermütig, "aber es kommt eben alles, wie es kommen soll!"

"Ja, mein Sohn, und wenn es Gottes Wille so war, müssen wir glauben, daß er auch noch Wege finden kann, all dies Verworrene aufzuklären."

In diesem Augenblick meldete sich der Statthalter; so konnten Mutter und Sohn nicht weitersprechen. Frau Matersen ging ins Nebenzimmer, wo das Abendessen eben aufgetragen wurde; still setzte sie sich ans Fenster und wartete. Es war ihr heute wieder so in die Glieder gefahren; sie mußte sich wirklich ein bißchen ausruhen. "Man wird alt," sagte sie vor sich hin, und dann stiegen die Bilder der letzten Zeit noch einmal vor ihr auf. Der gewaltige Feuerschein über dem Hof und der ganzen Umgebung, der brennende Schafstall, die qualvoll blökenden Tiere – die arbeitenden Menschen, und Hermann, ihr Hermann mitten dazwischen, immer da, wo die Gefahr am größten schien! Wie verzweifelt war er wiederholt in den Stall gedrungen, trotz der schon stürzenden Balken, mit eigenen Armen ein paar der gemarterten Tiere rettend, die ihm entgegendrängten. Aber was waren die wenigen gegen die schöne Herde von fünfhundert Stück?

Und noch immer keine Spur, nicht der geringste Anhalt, wie das Feuer ausgekommen sein konnte! Und das eben war das Schlimme, hatte so furchtbare Folgen nach sich gezogen, unter denen die alte Frau noch heute schauerte. Ihren Hermann, ihren einzigen, prächtigen Sohn, hatte man vor Gericht gefordert, ja sogar in Untersuchungshaft geführt, weil er nicht beweisen konnte, daß er zu der Zeit, als das Feuer ausbrach, abwesend vom Hofe war, weil er vielmehr, wie andere bezeugen mußten, sich gegen Abend eine Zeitlang fast allein dort befunden hatte. Das schon genügte, einen unbescholtenen Mann nicht vor der Möglichkeit eines so niederen Verdachtes zu schützen, das – das –

Die alte Frau fuhr trotz der eben gefühlten Schwäche hoch empor und fing an, hin und her zu gehen; die Empörung war zu groß, und damit kam die gewohnte Regsamkeit zurück. Sie lief nach der Tür und rief: "Hermann, kommst du denn gar nicht? Das Essen wird kalt – ach so –!"

Sie sah noch jemand im Zimmer, einen uniformierten Boten, und der Sohn hielt ein Telegramm. Wieder wollte sie sich erregen, aber Hermann wandte sich ruhevoll zu ihr.

"Die Herrschaft kommt morgen, Mutting. Gut, daß wir so einigermaßen wieder in Ordnung sind! Am Herrenhause wenigstens sieht man nichts mehr, weil es mehr Wasser von der Spritze als Feuerschaden war."

"Ja, aber nun soll man bei nachtschlafender Zeit noch die Zimmer zurechtmachen," eiferte die alte Frau; doch der Sohn begütigte: "Das soll man eben nicht, Mutting! Darum gerade telegraphiert ja der Herr heute, damit morgen früh vor der ersten Post mit den Vorbereitungen begonnen werden kann. Erst am Nachmittag sind sie hier."

"Noch nicht zu Tisch? Das ist sehr gut, ich habe ja gerade Wäsche."

"Davon brauchte weiter nicht die, Rede zu sein," fiel Hermann lächelnd ein, "mein Mutting hat trotzdem morgen alles zur rechten Zeit in Ordnung – das weiß ich."

"Ja, ja, aber ein seines Mittagessen will vorbereitet sein," beharrte Frau Matersen, "die Zimmer freilich, das schaffen wir wohl."

"Lotte kann dir ja helfen."

"Hm, das arme Ding! Am ersten Ferientag möchte sie wohl ausschlafen und dann ein bißchen herumlaufen."

"Na na," erwiderte Hermann gutmütig, "allzu arg wirst du sie ja nicht gleich anspannen; da kenne ich doch unsere Mutter. Scheuern wirst du sie nicht lassen, aber ein wenig Bewegung ist ihr nur gut nach all dem Festsitzen bei den Büchern. Armes Ding, möcht' ich zu diesem Stillhocken sagen. Aber sie will es ja nicht anders."

"Laß sie nur, Hermann, es ist ja gut, wenn sie was lernt. Als Wirtschafterin etwa hier auf dem Gutshof, das möchtest du doch selbst nicht."

"Nein – weil sie sich gar nicht dazu eignet. Wo steckt sie übrigens?"

"Hinausgelaufen ist sie, gleich nach dem Gewitter; so wunderschön sei es jetzt, sagte sie."

"Und wunderschön ist es auch," klang eine helle Stimme vom Hof her.

Eine junge, schlanke Gestalt schwang sich von außen auf das Fensterbrett und von da mit einem Satz ins Zimmer. Die Mutter wollte ein wenig die Stirn runzeln, der Bruder aber rief: "Bravo, Lotte! Turnen Nummer eins, scheint mir."

Das Mädchen lachte frisch.

"Du kannst noch ganz anderes erleben; Klettern und Turnen wirklich eins! Wär' ich nur hier gewesen bei dem Feuer, wie hätte ich beim Löschen geholfen!"

Aber die Mutter unterbrach: "Wünsche dir das nicht, Kind, daß du die schrecklichen Abende hier mit durchgemacht hättest! Das vergißt man nie."

"Mag sein, Mutter! Aber ich kann mir nicht helfen: ich wäre doch gern hier gewesen, hätte all das Spüren und Forschen nachher mit durchgemacht. Wer weiß, ob ich nicht irgend was entdeckt hätte!"

"Bilde dir nichts ein," sagte die Mutter streng. "Was die Herren vom Gericht, die Versicherungsbeamten und sonstige erfahrene Leute nicht herausfinden können, was –"

Aber Lotte unterbrach wieder.

"Einmal muß es doch heraus!" sprudelte sie heftig hervor. "Das geht nicht an, daß Hermann nur entlassen wird wegen mangelnder Beweise – Männe, daß wir das erleben müssen, mit dir, unserem Stolz und Abgott!"

"Vielleicht war ich das für euch eben zu sehr und soll es nicht mehr sein!"

"Ach, Hermann!" Voll Zärtlichkeit schlang Lotte die Arme um den Hals des Bruders; dann führte dieser, sich sacht losmachend, die Stürmische ins Eßzimmer, wo die Mutter eben die Lampe angesteckt hatte, denn es war inzwischen so spät geworden, daß man nicht mehr, wie sonst an Sommerabenden, ohne Licht zu Tisch gehen konnte.

Die Geschwister saßen nebeneinander, und die Mutter konnte wohl mit Freude auf die beiden jungen Gestalten blicken, die einander zwar wenig ähnlich sahen, aber beide den Eindruck frischer Kraft und Gesundheit machten. Hermann war ja ausgesprochen blond, Lotte dagegen ein rechtes "nußbraunes Mägdlein", wie es in manchem alten Liede heißt. Braun die Augen, mit einem Goldtupfen drin, braun die an den Schläfen gekrausten Haare, die langen Zöpfe, und bräunlich auch die Haut des freundlich gebildeten Gesichts. Ja, auch die Hände waren dunkler, als man es von einer jungen Stadtpensionärin eigentlich erwarten sollte.

Der große Bruder beobachtete sie mit Vergnügen, wie sie so frisch und lebhaft sich bewegte und mit gesundem Hunger die festen weißen Zähne in das kräftige Landbrot setzte. Trotzdem konnte sie von dem Thema "Feuer" noch nicht recht abkommen, bis Hermann leise warnte: "Rege Wutter nicht immer wieder damit auf, Kleine! Höre lieber, was für Nachricht ich eben bekommen habe. Morgen treffen die Herrschaften ein."

"Ei fein! Hoffentlich nicht bloß der Geheimrat und das alte Fräulein? Nelli wird doch endlich mal wieder dabei sein?"

"Das weiß ich nicht."

"Das wäre ja großartig für die Ferien!"

"Na, Lütting, freue dich nicht zu früh! Zwei Jahre habt ihr euch wohl nicht gesehen; da ändert sich manchmal allerlei."

"Ach geh, Männe! Du unkst mal wieder; was sollte sich ändern? Nell ist ebenso wie ich zwei Jahre älter geworden, aber mit meinen siebzehn stehe ich ihr keineswegs nach."

"In dem Punkt nicht, aber vielleicht in anderer Hinsicht," versetzte Hermann; es sollte scherzend klingen, doch seine Miene war viel zu ernst. So nahm Lutte ihn beim Ohr und schalt zärtlich: "Alter Schwarzseher! Ist dieser Zug seit den Tagen dieses greulichen Brandunglücks in dich gefahren?"

Zweites Kapitel: Was die Leute sagen

Am nächsten Tage fuhren zwei Wagen zur Bahn, die Herrschaft zu holen.

"Ein Fuhrwerk allein für das Gepäck? Also Dauerbesuch!" frohlockte Lotte und tummelte sich vergnügt neben der Mutter in den Räumen des stattlichen Herrenhauses, jede Gelegenheit zum Aufsteigen und Klettern wahrnehmend, bis alles in schönster Ordnung war.

Indessen näherte sich bereits der geschlossene Wagen, der den Geheimen Kommerzienrat Menkhausen brachte nebst dem Fräulein Philippine von Selchow, die ihm schon etliche Jahre, seit dem Tode seiner Frau, den Hausstand führte oder vielmehr in seiner Villa "repräsentierte", wie sich die Dame vornehmer ausdrückte. Eleonore oder Neil jedoch, die einzige Tochter des Kommerzienrats, war nicht zu bewegen gewesen, mit in den "muffigen Glaskasten" zu steigen, wie sie sagte. Vergnügt sah sie auf dem Gepäckwagen und kutschierte selbst.

"Muß doch mal sehen, ob ich's noch kann, Jochen," hatte sie lachend gerufen und dem flachshaarigen Knecht einfach die Zügel abgenommen.

Der zog den Mund von einem Ohr zum anderen und antwortete: "Gnä' Frölen werden das woll noch nich verlernt haben!"

Gar zu schmeichelhaft kam es ihm vor, daß das Fräulein ihn noch bei Namen kannte und sich so munter mit ihm unterhielt. Vor allem fragte sie nach dem Feuer, wie alles dabei zugegangen sei, und wie denn Herr Matersen sich eigentlich bei dieser Geschichte gezeigt habe. Der Knecht lobte nun den Verwalter sehr auf seine Art, wie er beim Retten überall mit zugegriffen, sich auch Brandwunden zugezogen und einen Arm verletzt habe, als er bei den gefährdeten Schafen mehr leistete als selbst der Schäfer.

"Äwer, äwer, vör Gericht hett hei doch müßt," schloß er, und das junge Mädchen saß mit verworrenen Gefühlen, als nun der Hof in Sicht kam und sie die zerstörten Gebäude sah.

Auch der Geheime Kommerzienrat und Fräulein von Selchow sprachen natürlich von dieser Sache, und sowie der Name Matersen fiel, bemerkte die Dame: "Was ich schon immer sagen wollte, Herr Geheimrat: die Freundschaft mit der Verwaltersschwester muß nun doch wohl möglichst eingeschränkt werden; ich habe es Ellinor bereits angedeutet."

"Aber warum denn?" fragte Herr Menkhausen verwundert. "Die kleine Matersen war immer ein nettes, frisches Ding und schließlich der einzige passende Verkehr für meine Tochter."

"Hm, ob sie das noch ist?" versetzte die Dame mit zweifelnder Betonung. "Ellinor selbst wird inzwischen andere Begriffe von standesgemäßem Verkehr bekommen haben."

"Ach so, – in dieser verflixten Genfer Pension? Na, hören Sie, Verehrteste: ich bin froh, daß das Mädel noch so natürlich und unverbildet geblieben ist!"

"Reichlich natürlich," seufzte das Fräulein und kam dann nochmals auf das Thema zurück, den Verkehr mit der Verwaltersfamilie in jeder Weise einzuschränken. Besonders jetzt, nach dem, was die Leute von dem jungen Matersen sagten, erschien es doch nur natürlich.

"Liebes Fräulein," unterbrach der Geheimrat streng, "was die Leute sagen, geht uns gar nichts an. Mein bewährter Verwalter ist mir mehr wert als das Geschwätz übelwollender oder gar beschränkter Menschen. Ich bitte mir aus, daß Sie Nell in dieser Beziehung nichts in den Kopf setzen."

Doch das war leider schon geschehen. Als jetzt die Kutsche in den Hof fuhr, gleich hinterher auch der Gepäckwagen, und nun der Verwalter mit achtungsvoller Verbeugung herzutrat, da wußte Leonore Menkhausen sich nicht anders zu helfen, als mit kaum merklichem Nicken hochmütig über die zum Helfen ausgestreckte Hand wegzusehen und desto eifriger an Diener und Mädchen ihre Weisungen wegen des zahlreichen Handgepäcks zu geben.

Oben auf der Freitreppe des langgestreckten Herrenhauses war indessen die Mutter des Verwalters erschienen; sie wurde, nachdem Herr Menthausen sie mit herzlichem Händedruck begrüßt, von Fräulein von Selchow mit einer gewissen herablassenden Güte angeredet.

"Nun, meine gute Matersen, kommen wir Ihnen auch nicht sehr ungelegen? Es tat mir leid genug, daß die Anmeldung nicht früher abgehen konnte, jedoch –"

"O bitte, gnädiges Fräulein, das macht ja gar nichts! Ich hoffe, daß gleichwohl alles einigermaßen in Ordnung ist. Belieben Sie nur zu befehlen, wenn etwas anders gewünscht wird."

Die alte Frau sprach sehr höflich, aber durchaus nicht unterwürfig; Fräulein von Selchow hätte manchmal gern einen etwas anderen Ton gehört von der Mutter des in ihren Augen zu sehr verwöhnten Verwalters. Frau Matersen versah im Herrenhause das Amt einer Kastellanin, wenn die Herrschaft abwesend war; außerdem hatte sie die Oberaufsicht über die große Hofwirtschaft nebst Molkerei, Geflügelzucht, Obst- und Gemüsebau. Zahlreiches Personal hatte sie unter sich, die alte Frau, aber mit Rüstigkeit und Arbeitsfreude stand sie allem vor, ebenso wie ihr Sohn in seinem Fach.

Soeben trat auch dieser ins Haus hinter dem Geheimrat, der ihn aufs liebenswürdigste begrüßt hatte und gerade sagte: "Ich freue mich, lieber Matersen, Sie schon wieder vorzufinden, – dieser kleine Zwischenfall in der Stadt war ein schlechter Scherz, den Sie möglichst bald vergessen müssen – nicht wahr?"

"Ich gebe mir alle Mühe, Herr Geheimrat," entgegnete Hermann Matersen ernsthaft, "aber –"

Der Gutsherr legte die Hand auf die Schulter des jungen Verwalters und sagte: "Nun, nun, wir sprechen bald über alles! Sie sind jedenfalls zum Abendessen mein Gast."

Gerade in dem Augenblick schlüpfte Leonore an den beiden vorbei. In Jungmädchenart war sie sofort durch alle Räume gerannt und kam nun wieder im Wohnzimmer an, überrascht, den Vater in so freundlichem Gespräch mit dem Verwalter zu finden.

"Ich dachte," sagte sie sich im stillen, "dieser Herr Matersen sei in Ungnade gefallen samt seiner ganzen Familie – so wie Tante Pine es hinstellt – na, da soll nun einer klug daraus werden!" Schnell wandte sie sich zum Vater, sowie sie diesen allein sah, und fragte: "Der Verwalter soll mit uns essen, Papa? Das glaubte ich nicht. Damals, als im Kontor die Bücher von Herrn Blech nicht stimmten, wurde er doch von uns kaum noch angesehen."

"Kind," sagte Herr Menkhausen ernst, "laß dir keine Vergleiche dieser Art einfallen! Die Unordnung in Blechs Büchern war das sichere Vorzeichen von einer gleich darauf entdeckten Unterschlagung – der Mann hatte natürlich das Recht, an unserem Tisch zu essen, sofort damit verwirkt. Mein Verwalter dagegen –"

"Papa, die Leute sagen doch, das Feuer –"

"Schweig, Nell – komm mir nicht auch mit den ›Leuten‹ – kümmere dich überhaupt nicht um diese Angelegenheit!"

"Gut, gut, Papa – da erlaubst du also auch, daß ich weiter mit Lotte verkehre? Tante Pine meinte –"

"Ich meine, daß alles beim alten bleibt," schnitt ihr der Vater das Wort ab, und Leonore klatschte in die Hände vor Vergnügen. Da rief das alte Fräulein aus dem Nebenzimmer: "Ellinor, sei nicht so entsetzlich laut; ich habe unerträgliche Kopfschmerzen."

Das junge Mädchen flog zu ihr. "Arme Tante! Tätest du nicht besser, dich ins Schlafzimmer zurückzuziehen? Hier ist doch keine Ruhe; kaum ist der Verwalter weg, kommt der Statthalter. Der Schäfer wartet auch schon draußen, und eben sehe ich den Reitknecht."

"Ach, diese Leute," seufzte das Fräulein. "In der Stadt ist man nie sicher vor Angestellten oder Arbeitern aus dem Geschäft, und hier kommt einem auf Schritt und Tritt die Luft von Pferdestall und Milchwirtschaft zu nah!"

"Armes Tantchen, und das ist gar kein angenehmer Wohlgeruch für dich" – Leonore lachte ausgelassen – "das ganze Landleben ist nichts für dich. Du hättest doch lieber ins Bad gehen sollen."

Tante Philippine seufzte. "Ich hoffte ja auch so sehr auf eine Reise ins Bad, aber dein Vater konnte es nicht erwarten, sich hier von dem Brandschaden zu überzeugen. Nun scheint es mir gar nicht so schlimm, nach dem, was ich beim Einfahren sah."

"Aber, Tante, es ist schlimm genug," eiferte Nelli. "Denke doch nur, die armen Schafe! Jochen sagt –"

"Verschone mich nur damit, was diese Leute sagen!"

Jetzt stampfte Leonore aber wirklich mit dem Fuß auf und rief: "Nun kommst du mir auch damit, daß ich nicht wiederholen soll, was die Leute sagen! Eben hat Papa es mir verboten. Vorher hast du aber mir doch gerade nach dem, was die Leute sagen, den Herrn Matersen verdächtigt und den Verkehr mit Lotte mir verleiden wollen. Was soll ich denn nun machen? Und Lotte läßt sich auch gar nicht sehen!"

Nein, allerdings, während der Begrüßung und ersten Unterhaltung mit der Gutsherrschaft war von des Verwalters Schwesterlein keine Spur zu sehen gewesen. Sie hatte als letztes in den Zimmern des Herrenhauses die Vasen mit Blumen gefüllt. Da waren unversehens die Wagen vorgefahren, und Lotte hatte nicht widerstehen können, erst einmal von fern und unbeteiligt die lange nicht gesehene Gespielin zu beobachten. Hinter dem Vorhang verborgen spähte sie hinab und sah die lange, etwas eckige Backfischgestalt in kühnem Satz vom Gepäckwagen springen. Sie wollte sich schon freuen, daß trotz der feinen modischen Kleidung noch so viel Urwüchsiges im Benehmen Leonores zu liegen schien; da sah sie das kurze hochmütige Nicken, womit jene Hermann begrüßte, und trat empört einen Schritt zurück. Das ihrem Bruder, ihrem geliebten, bewunderten Bruder, den Nelli doch früher als Kameraden und Helfer bei manch kühnem Unternehmen nicht verschmäht hatte? Oh, dies übermütige Benehmen verzieh sie der Freundin nicht! Aber natürlich! Das kam nur von dem Gerede, diesem öden Gerede, daß der junge Verwalter nicht ohne Schuld an dem Brande sein könnte – warum sei er sonst vor Gericht gefordert worden?

Jetzt stampfte auch Lotte den Boden und wandte sich blitzschnell, um aus dem Zimmer zu fliehen, ehe die Herrschaft eintrat.

So kam es, daß Leonore Menkhausen sich vergebens nach Lotte umsah, und daß die beiden Spielgefährtinnen, die sich so auf das Wiedersehen gefreut hatten, jede für sich ihren Ärger austobte und der anderen aus dem Wege ging...

Im Gartensaal des Herrenhauses war die Tafel gedeckt, und Frau Matersen hatte gezeigt, daß sie trotz der kurzen Vorbereitungszeit ein feines Mahl anzuordnen verstand. Mit zu Tisch zu kommen hatte sie dankend abgelehnt, müde von den vermehrten Anstrengungen dieses Tages. Daß Hermann eingeladen war und der Geheimrat ihn so freundlich wie immer begrüßt hatte, freute sie; nun konnte man hoffen, sie würden sich unverzüglich über alles aussprechen, was drückend über dem Verwalterhause lag, dem sonst so freundlichen Häuschen seitwärts vom Herrenhause, fast versteckt in Flieder- und Holunderbüschen.

Im kleinen, einfachen Wohnzimmer sah an diesem Abend Frau Matersen mit ihrer Jüngsten, der aber alle erste frohe Ferienstimmung schon verdorben war. Vollkommen schlechter Laune war Lotte, und da sie nicht mehr auf Leonore und "die Leute" schelten sollte, war sie nun auch nicht zum Plaudern aufgelegt, sundern nahm ein Buch und vertiefte sich anscheinend ganz, während die Mutter emsig strickte, nachdem sie zuvor einen Blick in die Zeitung getan. Unmutig hatte sie das Blatt bald wieder weggeworfen, denn da stand ja schon wieder etwas "zum Brande in Grünweide". Immer noch zerbrachen sich die Leute die Köpfe darüber und kamen doch nicht weiter damit.

Drüben im Herrenhause legte der Geheimrat eben sein Mundtuch zusammen und sagte: "Nun, mein lieber Matersen, rauchen Sie noch eine Zigarre mit mir, und sagen Sie mir einmal recht gründlich Ihre Gedanken über die Sache! Angelegt muß es sein, behaupten Sie; aber irgendeinen Verdacht haben Sie nicht?"

"Keinen, Herr Geheimrat! Zu einer Rachehandlung liegt nicht der geringste Anlaß vor; persönlicher Feindschaft gegen mich kann ich auch niemand zeihen. Die Leute sind im ganzen hier zufrieden und ruhig, auch herrschaftstreu."

"Und die fremden Arbeiter?"

"Unter den Schnittern ist bisher nichts vorgekommen, als höchstens mal eine Rauferei in der Kantine; Böswilliges kann ich nicht verzeichnen, im Gegenteil zu manchem Ort in der Gegend."

"Und – Fahrlässigkeit halten Sie für ausgeschlossen?"

"Völlig, Herr Geheimrat," lautete die Antwort. "Ich selbst hatte am Abend des Hauptbrandes alles nachgesehen und abgeschlossen – auch den Schafstall."

"Ach – Sie selbst? Wie kam denn das nur?"

"Der Schäfer war zu einer Hochzeit im Dorf beurlaubt; auch die meisten Knechte waren gegen Abend in den Dorfkrug gegangen, um mitzutanzen."

"So waren Sie ziemlich allem auf dem Hof?"

"Eine Zeitlang, ja."

"Warum gingen Sie nicht auch zur Hochzeit, Herr Matersen? Sie waren doch sicher als Ehrengast geladen, und der Statthalter hätte Sie füglich vertreten können, da der Alte doch nicht mehr das Tanzbein schwingt."

Ein flüchtiges Rot war über die Stirn des Verwalters gelaufen, doch sprach er ruhig weiter. Jener war der Herr und hatte das Recht, zu fragen. Daß es ein wenig wie Verhör klang, wußte er wohl selbst nicht.

"Ich war nicht in der Stimmung, Herr Geheimrat," sagte Hermann. "Wir hatten an dem Tage eine betrübende Familiennachricht bekommen, so blieb ich abends still bei meiner Mutter."

"Hm, ein bedauerliches Zusammentreffen! Daraus sind wahrscheinlich alle diese Mißverständnisse und Weiterungen entstanden."

"Wahrscheinlich."

"Wie ist das denn: wird die Untersuchung wieder aufgenommen oder bleibt die Geschichte jetzt liegen?"

"Ich bin schon wieder zu einem Termin geladen, Herr Geheimrat, aber es wird ebensowohl umsonst sein."

"Ärgerlich, höchst ärgerlich! Nun – sagen Sie: haben Sie schon Ersatz für die Schafe? Es war solch gute Herde, wie mir schien."

"Ich stehe in Unterhandlung, Herr Geheimrat, hatte ja aber, wie Sie wissen, nicht Zeit, den Kauf persönlich abzuschließen, da ich – fort war –"

"Der Schaden mit dem Schafstall ist natürlich der größte? Dagegen kommt die Weizenscheune nicht in Betracht, da sie alt war und gerade ziemlich leer."

"Ja natürlich, die Schafe! Und das Schlimme ist, daß die Versicherungsgesellschaft Schwierigkeiten macht."

"Wieso? Sie hat doch gezahlt!"

"Ja, aber der Vertrag mußte gerade in dieser Zeit erneuert werden; jetzt zögert sie, uns wieder aufzunehmen, solange die Sache nicht geklärt ist. Daher war die Gewittergefahr der letzten Tage von großer Bedeutung – binnen acht Tagen noch einen Brand, und es stände schlimm! Bis zum nächsten Ersten hoffe ich mit einer anderen Brandkasse abgeschlossen zu haben."

Der Hausherr stieß seinen Stuhl zurück und sagte heftig: "Unerhörte Geschichten! Das ist ja doch alles verwickelter, als ich glaubte! Da kann einem der Gutsbesitzerspaß wirklich verdorben werden."

Jetzt ließ sich Fräulein von Selchow zum ersten Male zur Sache vernehmen.

"Ich dachte auch schon immer," begann sie klagend, "ob Sie nicht besser täten, Herr Geheimrat, das Gut wieder zu verkaufen. Es ist so viel damit verbunden, was zur Last werden kann für –"

"Für jemand, der eigentlich kein Landwirt ist, wollen Sie sagen, verehrtes Fräulein? Sie haben nicht ganz unrecht. Aber ich hatte doch bisher so große Freude daran, daß unsere Familie nicht länger ›ohne Ar und Halm‹ blieb; ich möchte es nicht wieder aufgeben."

"O nein, Papa, tue es nicht," fiel Leonore bittend ein. "Du und ich, wir sind doch immer so gern in Grünweide gewesen; die arme Tante ja freilich nicht – aber wenn ich nur erst etwas älter bin, Tantchen, dann brauchst du gar nicht mit herzukommen; dann gehst du in dein geliebtes Bad, und ich lerne die Wirtschaft, sorge für den Papa und habe auch auf alles draußen acht."

Ein flüchtiger Blick streifte den Verwalter, aber der sah während ihrer kleinen Rede still vor sich hin und dachte: "Also das wird die künftige Oberaufsicht in der Verwaltung von Grünweide; das kleine Fräulein will mir zeigen, daß es auch bezweifelt, ob hier alles in treuen Händen ist."

Hierin irrte er nun freilich; so weit gingen Nellis Gedanken nicht. Nur dem Vater den Einfall der Aufgabe von Grünweide ausreden wollte sie und durch ihr lebhaft gezeigtes Interesse für das Gut ihn überzeugen, daß man doch fernerhin seine Freude an diesem schönen Wohnsitz wieder haben könnte. Diese Zeit mit ihren dummen Mißverständnissen mußte ja vorübergehen, und der Schaden, den die Brände verursachten, nun, der konnte dem reichen Papa sicher nicht viel anhaben! Der war doch in erster Linie Kaufmann und hatte aus seinen überseeischen Unternehmungen jährlich so großen Gewinn, daß Grünweide mit seinen Erträgen aus Kornernte und Viehstand nur ein kleiner Nebenspaß war, wie der Vater vorhin selbst andeutete. Aber wenn ihm dieser Spaß nun gründlich verdorben wäre –! Ach, war das ein ungemütlicher Tag heute, auf den sie sich so lange gefreut hatte! Und diese Lotte Matersen, diese unbegreiflich zurückhaltende Freundin – warum war sie so? Hatten die Leute doch recht? Mußten die Matersens alle ein schlechtes Gewissen haben?

Aber nein! Da richtete Lottes Bruder das hübsche offene Gesicht auf und sah mit klaren blauen Augen den Geheimrat an, daß dessen Tochter sich des eben gehegten Verdachts schämte.

Drittes Kapitel: Gestörte Freundschaft

Ein trüber Regentag folgte der Ankunft der Gutsherrschaft. Verwalter Matersen begrüßte ihn mit Freude, obwohl er ein augenblickliches Hindernis in der Ernte bedeutete. Gar zu trocken war draußen alles, so daß bei der Gewitterneigung dieser Zeit immer die Gefahr eines neuen Brandes vorlag. Wer sich aber an diesem Morgen nicht freute, das war Leonore Menkhausen. Regenzeit auf dem Lande, damit hatte sie eigentlich nicht gerechnet, wenn sie ihre fröhlichen Ferienpläne spann. Das konnte ja recht langweilig werden! Besonders wenn das so weiterging, daß Lotte Matersen unsichtbar blieb! Länger konnte man ihr das wirklich nicht hingehen lassen. Wenn sie schon so unhöflich war, die Herrschaft beim Empfang gar nicht zu begrüßen, wie es sich doch für des Verwalters Schwester gehörte, dann –

Leonore warf trotzig den Kopf auf. Aber dem zögernden "dann" folgte doch kein anderer Nachsatz als: "Ach was! Dann muß eben ich ihr nachlaufen! Kann ich das? Schickt sich das? Würde Tante Pine das gutheißen? Ei was! Man fragt nicht lange, sondern tut, was man nicht lassen kann, und hält aus, was danach kommt. Papa erlaubt es sicher."

So weit in ihren Gedanken angelangt, sprang Leonore vom Frühstückstisch auf, wo sie recht spät ihren Kaffee getrunken hatte, und lief davon, des Rufes der Tante: "Wohin in dem Regen?" nicht achtend. Der Regen machte nichts aus für den kleinen Weg zum Verwalterhause. Hoffentlich war Lotte allein! Ihren Bruder hätte sie jetzt nicht gerne getroffen; sie schämte sich ein bißchen wegen gestern.

Sie hatte Glück. Im Wohnzimmer saß Lotte allein, allerdings am großen Schreibtisch des Verwalters arbeitend; aber das half nicht, da mußte man sie eben stören! Angeklopft wurde nicht, sondern rasch die Stubentür aufgerissen, hinter die Schreibende getreten, eine Hand ihr über die Augen gelegt und mit verstellter Stimme gerufen: "Charlotte Matersen, wenn du unsichtbar sein willst, brauchst du auch nicht zu sehen, wer hier einbricht."

Über Lottes Gesicht war ein kleiner Freudenschein gehuscht, als sie die Freundin erkannte; aber dann antwortete sie doch steif: "Fräulein Leonore, ich bitte um Entschuldigung, daß ich beim Empfang fehlte; ich hatte zu tun."

Da rief das kleine Gutsfräulein schier entrüstet: "Lotte Matersen, bist du eigentlich nicht recht klug? Wie sprichst du mit mir?"

Lotte beharrte in ihrer Haltung.

"Man kann nie wissen, was in zwei Jahren sich verändert hat," sagte sie. "Solcher Begrüßung, wie sie gestern meinem Bruder zuteil wurde, wollte ich mich nicht aussetzen."

Nelli wurde rot, aber rief ungestüm: "Ach geh, Lotte, sei doch nicht soo!"

Jetzt fuhr die andere herum, mit blitzenden Augen.

"Natürlich bin ich soo, wenn du meinen Bruder soo behandelst!"

Leonore errötete stärker und stand einen Augenblick ratlos.

"Was tat er dir?" fuhr Lotte erregt fort.

"Mir? Ach, nichts, aber die Leute sagen und diese schreckliche Tante Pine –"

Lottes hübsches bräunliches Gesicht klärte sich ein wenig, aber es klang doch noch streng, als sie fortfuhr: "Mußt du denn darauf hören, Neil? Will dein Vater das haben?"

"Ach bewahre, nein! Nun laß doch nur – frag mich nicht aus wie ein Untersuchungsrichter!"

Dies Wort weckte in Lotte peinliche Vorstellungen; ihre Miene sank und sie sagte kleinlaut: "Ach Nell, hier ist jetzt alles so schrecklich, und nun kommst du auch noch und machst einem das Leben schwer! Das hatte ich mir anders gedacht, als ich mich so auf dich freute. Aber Hermann warnte mich schon, es könnte jetzt manches anders werden."

"Das hat er gesagt, dein Bruder?" und "Sollte er doch ein schlechtes Gewissen haben?" fuhr es blitzschnell durch den Kindskopf. Aber schon antwortete Lotte: "Nun, er meinte natürlich, du seiest jetzt wahrscheinlich zu vornehm geworden; in der seinen Pension hättest du wohl andere Freundinnen gefunden."

"Teepott!" sagte Nelli verächtlich.

An diesem Ausdruck erkannte Lotte die Freundin wieder und lachte erleichtert. Hatten sie doch beide immer eine Vorliebe für solche Ausdrücke, oft auch noch stärkere, gehabt, die der Tante Pine auf die Nerven fielen. Auch Nelli lachte und erzählte, wie man sich in der Pension über diese Bezeichnung gewundert habe, und wie sie den Engländerinnen erklären sollte, was denn ein " teapot" mit Zorn und Verachtung zu tun habe? "Das konnte ich natürlich nicht," sprudelte Nelli, "aber das ist ja auch nicht nötig; solche Ausdrücke sind doch nur für Eingeweihte! Übrigens bist du recht verbohrt, daß du mir noch keinen Stuhl angeboten hast."

Damit schwang sich das Fräulein auf den großen Schreibtisch und saß in kecker Haltung, mit den Füßen baumelnd, als plötzlich der junge Verwalter eintrat. Augenblicklich sprang Nelli herab mit dem Ruf: "Oh, entschuldigen Sie, Herr Matersen, Ihr geheiligter Schreibtisch!"

"Wenn Sie nur mit Ihrem weißen Kleid nicht der Tinte zu nahe kommen, gnädiges Fräulein; dann macht es ja weiter nichts. Lotte, hast du die Papiere sicher beiseite getan?"

"Verschlossen," antwortete sie bestimmt, und auf ihrem Gesicht stand fast dieser selbe Ausdruck, als Nelli fragte: "Was schreibst du da überhaupt, wobei ich dich gestört habe? Schularbeiten waren das doch nicht."

"Meine Schwester fertigt einige Abschriften für mich," sagte Hermann Matersen, und damit mußte sich Leonore begnügen, obgleich ihre Neugier sich regte, denn natürlich hingen diese Schreibereien wieder mit "jenen Geschichten" zusammen. Hm, eigentlich – wenn sie ehrlich war, nahm sie ein gewisses grauliches Interesse an den "Geschichten". Verhöre und Gerichtsverhandlungen – das klang so spannend! Aber gegen Lotte durfte sie sich das nicht merken lassen; die verstand keinen Spaß in der Sache, wie sie eben gesehen hatte.

"Laß nur jetzt die Schreiberei, Lotte," sagte Hermann, "und geh mit Fräulein Menkhausen!"

Diese machte eine kleine schelmische Schmollmiene. "Früher hieß ich ›Nell‹, Herr Matersen."

"Früher." wiederholte dieser ernsthaft, "aber aus Kindern werden Leute. Sie sind sehr gewachsen, gnädiges Fräulein, völlig Dame geworden."

"Find' ich gar nicht," eiferte Lotte und stellte sich neben die Freundin; "ist sie überhaupt viel größer als ich? 'nen Fingerbreit doch höchstens."

"Die paar Zentimeter tun es nicht, Lotte."

"Ach so, du meinst den Aufenthalt in der Pension?" Dann in lautem Flüsterton weiter: "Na, ich kann dir sagen, Hermann: das mit der gezierten Vornehmheit ist auch noch nicht weit her – nicht wahr, Teepott?"

Schalkhaft blinzelte sie der Freundin zu, und diese fühlte sich wieder im Gleichgewicht.

Frau Matersen trat jetzt ein und sah mit inniger Freude, wie die beiden Mädchen in altgewohnter Eintracht miteinander umgingen; sie machte also keine Anstalten, "gnädiges Fräulein" zu sagen, wie sie sich tags vorher vorgenommen, sondern fragte vertraulich: "Nelli, soll ich heute wohl Waffeln backen lassen zum Kaffee oder Kranzkuchen?"

"Waffeln," entschied Nelli ohne Besinnen, "und nicht zu wenig, in der bewußten Form, Frau Matersen." Dann heimlich zu Lotte: "Wenn erst die braunen Herzen erscheinen, wird es hoffentlich wieder gemütlicher – wollen mal sagen: herzlicher!"

Dabei faßte sie die Freundin um und zog sie hinaus.

"Aber was fängt man heute an?" rief sie dabei. "Dieser Regen ist ja einfach schauderhaft!"

"Es klärt schon auf, gnädiges Fräulein," rief der Verwalter, in die Tür tretend. "Da es aber zum Einfahren für heute doch zu naß ist, dürfen Sie nur befehlen, wenn Sie zu einer Fahrt Pferde haben möchten."

"Danke, Herr Matersen; ich will es mir überlegen."

Sie hatten nun den ganzen Vormittag für sich, die beiden Mädchen, liefen durch den Park, bis sich der letzte Regen verzog, und dann weiter hinaus in die Wiese. Leonore beklagte, daß dort nicht gerade Heuhaufen ständen, in denen sie so gern mal wieder lagern möchte; aber Lotte schalt: "Weißt du denn noch immer nicht, daß zur Zeit der Kornernte kein Heu auf den Wiesen zu finden ist? Man kann doch nicht alles zugleich haben!"

"Ach so – na, und ich will gerade eine Landwirtin werden," fiel Leonore ein. "Ich habe es gestern schon der Tante Pine angekündigt, daß sie künftig gar nicht mehr das Opfer zu bringen braucht, statt ins Seebad zu gehen, mit nach Grünweide zu kommen. Sie mag hier doch mal nicht sein und stört bloß anderen Leuten das Vergnügen."

Mit diesen anderen Leuten meinte sie natürlich nur sich, weil ihr die Ermahnungen und Anstandsregeln der Tante in den Ferien recht lästig erschienen, aber sie fand auch außerdem, daß ihr Vater die Hausdame hier auf dem Lande wohl entbehren könnte, wenn er eben eine tüchtige, umsichtige Hilfe und Gesellschaft in seiner Tochter hätte. Also – wie fing man es an, dies möglichst bald zu werden? Etwas plötzlich, wie ihr Lieblingsausdruck lautete!

Lotte Matersen lachte dazu und sagte, ihr Bruder habe schon von Nellis Plänen erzählt, daß diese künftig sogar die Außenwirtschaft im Auge behalten wolle.

"Du meinst wohl," fügte sie mit ein klein wenig Spott hinzu, "du kannst künftig Feuer- und andere Schäden verhüten, Nell?"

"Na, wenn auch das nicht, aber wenn mal wieder was geschieht, dann kann man ja künftig mich einsperren statt deines Bruders!"

"Sprich doch nicht so leichtsinnig ins Blaue, Nell – ich kann es wirklich nicht hören," entgegnete Lotte Matersen voll Ernst.

Viertes Kapitel: Die Familie des Verwalters

Wenn Lotte Matersen mit der Kindheitsgespielin auch ganz in den lustigen, ungebundenen Ton einstimmte, hatte sie doch schon manches vom Ernst des Lebens kennen gelernt. Als jüngstes Kind, sozusagen Nachkömmling der Familie, hatte sie nicht mit Bewußtsein die Zeiten mehr erlebt, in denen auch ihre Heimat ein stattliches Haus auf einem großen Gutshof war. Zwei Schwestern waren schon verheiratet, der einzige Bruder hatte eben das Gymnasium verlassen und sollte auf ein Jahr zur Universität gehen, als die großen Veränderungen in Roggenfelde kamen. Schlechte Jahre mit Mißernten und Viehsterben brachten einen bedrohlichen Rückgang in den Verhältnissen des Kammerpächters Matersen.

Er mußte die Pachtung abgeben und zog nun einstweilen in eine kleine Stadt, wo es sich billig lebte, wo er aber seine gewohnte vielseitige Tätigkeit schwer entbehrte und sich gar nicht wohl fühlte. Seine Gesundheit verschlechterte sich zusehends. Die kleine Lotte, das geliebte Nesthäkchen des Vaters, war gerade vier Jahre alt, als dieser gute Vater starb, und nur eine ziemlich undeutliche Erinnerung behielt das Kind an die Gestalt des Vaters, der groß und breit, meistens ernsthaft und nur gegen seine Kleinste allezeit freundlich und wohl auch zu kleinen Scherzen aufgelegt war.

Bruder Hermann sollte ihm ja so ähnlich sehen, sagte oft die Mutter, und so kam es, daß die kleine Lotte den großen Bruder von früh wie eine Respektsperson ansah, zugleich aber mit einer bewundernden Zärtlichkeit.

Hermann hatte nach dem Tode des Vaters gleich sein akademisches Jahr abgebrochen und war in eine praktische Lehre getreten. Da er in einem großen landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen und von klein auf des Vaters Kamerad auf dem Felde wie in den Ställen gewesen war, zeigte er sich früher als mancher andere befähigt, einen verantwortungsvollen Posten anzunehmen. Mit noch nicht fünfundzwanzig Jahren bot sich ihm die Stellung eines völlig selbständigen Verwalters auf dem schönen großen Besitztum des Geheimen Kommerzienrats Menkhausen und zugleich, o Glück, die Möglichkeit, die geliebte Mutter zu sich zu nehmen!

Frau Matersen, die durch die Schicksalschläge äußerlich wohl früher gealtert war, als ihre Jahre anzuzeigen hatten, besaß doch noch große Entschlossenheit und rüstige Arbeitskraft. Ebenso wie ihr Mann im letzten Jahr, hatte sie schmerzlich das weite Arbeitsfeld einer Gutswirtschaft vermißt, so daß sie es tief aufatmend begrüßte, als Hermann eines Tages mit der Nachricht kam: "Mein Mutting, du kannst wieder aufs Land!"

Dankbar ging sie auf alle Bedingungen ein und rief: "Hermann, mein Junge, das ist wahrlich ein Glücksfall! So kann ich doch bei dir bleiben, bis – nun ja, bis jemand anders die Sorge für dich übernimmt, eine junge Frau bei dir einzieht!"

"Na ja, Mutting, und damit hat es gute Wege fürs erste, denn einen verheirateten Verwalter will Herr Menkhausen nicht halten; das steht in den Bedingungen. Aber meine Mutter darf ich mitbringen."

So wurde die elfjährige Lotte in der Stadt zurückgelassen, in einer einfachen Pension, wo sie nie das Heimweh überwinden lernte. Goldene Lichtpunkte wurden nun die Ferien, in denen es nach Grünweide hinausging, wo sie außer Mutter und Bruder meistens auch Leonore Menkhausen sehnlich ihrer wartend fand.

Herrlich waren diese Zeiten der Kinderfreundschaft gewesen, bis durch Leonores Eintritt in die Genfer Pension alles anders wurde. In dem folgenden Sommer kam sie nicht auf das Gut, vielmehr reiste der Geheimrat in die Schweiz, um sein Töchterchen für ein paar Wochen der Pension zu entführen und mit auf schöne weite Ausflüge zu nehmen. Geschrieben hatten sie einander inzwischen wenig.

So war es nicht unnatürlich, wenn die Freundinnen, trotz aller Freude auf das Wiedersehen, unbewußt auch auf ein kleines Fremdgefühl gefaßt waren, was nun durch die besonderen Umstände und allerlei unvorsichtige Reden noch genährt war, bis sie mit der alten Unbefangenheit sich wieder zusammenfanden. Wohl entdeckten sie allerlei Veränderungen aneinander. Lotte war ernster, als Nelli gedacht hatte, und diese wiederum wagte oft nicht, ihrem Übermut so die Zügel schießen zu lassen, wenn die Freundin ihren "gesetzten" Tag hatte. Daß dies jetzt öfter vorkam, war nicht unnatürlich.

Noch immer lastete ja der Druck wegen der unaufgeklärten Brandstiftungen auf dem kleinen Hause, und immer wieder erhoben sich allerlei Redereien. Ja, man machte sogar den Gerichten den Vorwurf, daß sie die Angelegenheit nicht weiter verfolgten, sondern jetzt einfach ruhen ließen.

Nachdem Geheimrat Menkhausen sich zuerst gründlich erregt und geärgert hatte, beruhigte er sich jetzt. Der Schaden focht den reichen Mann nicht viel an. Eine neue Schafherde war eingestellt, die Versicherung wieder abgeschlossen, die neue Scheune schon im Bau begriffen, und sein junger Verwalter erwies bei allem die größte Umsicht und Tüchtigkeit. Ruhig und zielbewußt ging er seines Weges. Nur die Frische und Freudigkeit seines Wesens war weg, und die Mutter dachte oft: "Wer nimmt uns das wieder ab, daß mein Sohn vor den Schranken gestanden hat?" Herr Menkhausen merkte dies wohl und tat alles, die Stellung seines jungen Verwalters zu heben, indem er ihn, soviel es nur anging, in seine Nähe zog und ihn auch an der nachbarlichen Geselligkeit teilzunehmen ermunterte.

Der Geheimrat selbst hatte sein Vergnügen an der Rolle des Gutsbesitzers wiedergefunden, die er nur kurze Zeit im Jahr spielen konnte. Er ging fleißig auf die Jagd, ritt und fuhr auf die Nachbargüter und sah auch bei sich gern Besuch, so daß Frau Matersen manches Mahl fein anzurichten hatte und sich von den beiden jungen Mädchen gern helfen ließ, beim Schmücken der Tafel und so weiter.

Hermann Matersen aber, wenn er einen Wildbraten in die Küche geliefert oder das Fischen in den Teichen beaufsichtigt hatte, fand immer Einwendungen und Ausreden, um an der Geselligkeit nicht teilzunehmen.

Lotte war oft recht traurig darüber und umgab Hermann mit schmeichelnder Zärtlichkeit, ohne jedoch viel mehr zu erreichen, als daß er ihr über das Haar strich und sagte: "Arme kleine Dirn, hast gar nichts mehr von dem großen Bruder?"

"Viel ist es ja nicht," gestand sie dann kleinlaut. "Nell klagt auch, daß du nicht mehr so nett bist wie früher."

"Kindchen, die Zeiten ändern sich," sagte er dann wohl obenhin, während er heimlich dachte: "Kann das kleine Fräulein sich wundern über Zurückhaltung meinerseits? Hat es nicht gerade zuerst mir eine verächtliche Miene gezeigt?"

Der gute Hermann übertrieb natürlich. Wäre er nicht immer noch in einem gewissen gereizten Zustande gewesen, hätte er sich sagen müssen, daß Leonore Menkhausens Benehmen am ersten Tage aus einer kindlichen Unsicherheit entsprang, an der sie viel weniger schuld war als ihre Umgebung. Das hätte er nun längst begreifen und verzeihen müssen, und er selbst glaubte auch eigentlich, so weit zu sein; aber, wie gesagt, die heimliche Empfindlichkeit blieb, und es kamen Augenblicke, in denen er den Gedanken erwog, ob er nicht besser täte, seine hiesige Stellung aufzugeben und in eine ganz andere Gegend zu gehen. Aber – nicht rasch und unüberlegt durfte er das Sichere aufgeben, ehe er etwas Entsprechendes wieder hatte. So blieb nur die Hoffnung, daß es seinem unablässigen stillen Forschen gelingen müsse, schließlich doch noch den geheimnisvollen Brandstifter herauszubringen, damit er, auf den dann nicht mehr der leiseste Schatten eines Verdachts fallen konnte, den Kopf wieder hoch tragen durfte in jedem Augenblick.

Zuerst hatte Lotte ihn noch oft mit Fragen beunruhigt, mit gutgemeinten Tröstungen gequält oder auch mit Mutmaßungen, wie man der Sache auf den Grund kommen könnte, zum Lachen gebracht. Er neckte sie dann wohl, die Schwester solle doch Jura studieren; da stände ihr vielleicht eine erfolgreiche Laufbahn als Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt in Aussicht. Das konnte dann Lotte ganz ernst nehmen und versichern, solche Möglichkeiten gäbe es jetzt ja wirklich für "die Frauen", wie sie großartig sagte – zu Hermanns Ergötzen, der in der siebzehnjährigen Schwester noch immer das "Kind" sah. Diese wußte sich schadlos zu halten, indem sie der Freundin möglichst zu "imponieren" suchte durch ihre Kenntnis von modernen Frauenberufen und den Wegen, wie man dazu gelangte.

Leonore fand das wohl auch ganz interessant, aber in bezug auf den Brand in Grünweide war es ihr etwas zu weit aussehend, daß Lotte Matersen als findiger Jurist dahinterkommen sollte. Lieber erging sie sich in Phantasien, wie man, wenn durch einen Zufall jetzt doch bald der Täter entdeckt werden sollte, den verunglimpften Verwalter feiern und ein Fest im Herrenhause geben müsse, dessen Held Hermann Matersen sein würde.

Darauf entgegnete jedoch Lotte ziemlich trocken: "Das wäre nun wenig nach meines Bruders Sinn, Nell – es sähe ja aus, als müsse man durch äußeres Anfeiern seine innere Ehre wieder rein waschen."

Dann schalt Leonore die Freundin pedantisch und schloß damit: "Die Matersens nehmen alles viel zu ernst! Ein anderer als Hermann dächte längst nicht mehr an die dumme Geschichte."

Fünftes Kapitel: Nellis Eifer

Oft kamen sie auf Nellis Zukunftspläne zu sprechen, und wie man es anfangen müßte, eine tüchtige, umsichtige Gutsherrin zu werden. Bei Mutter Matersen in die Lehre zu gehen, erschien ihr als das Nächstliegende für den Hausstand – nun, und die Außenwirtschaft, Feld- und Viehbestand, konnte sie ja beim Herrn Verwalter studieren.

"Nur ein bißchen freundlicher muß dein Bruder bis dahin wieder werden," sagte Leonore, "jetzt sieht er meistens zum Fürchten streng aus."

Sehr weit her schien aber die Furcht des jungen Gutsfräuleins doch nicht zu sein, denn als die beiden Mädchen bald nach diesem Gespräch eine Fahrt über die Felder machten, wobei der junge Gutsverwalter selbst die Pferde lenkte, tat sie lustig und unbefangen unzählige Fragen, mit denen sie den Grund zu ihrer Kenntnis der Landwirtschaft zu legen dachte. Wirklich war das Ergebnis dieser lehrreichen Fahrt, daß Leonore mit ziemlicher Sicherheit die Getreidearten unterschied, ja sogar von "Mengekorn" und "Wundklee" sprach. Als man schließlich einen Besuch in der Koppel machte, merkte sie sich besondere Kennzeichen an einzelnen Kühen und schwatzte munter mit den Mägden, ob die hübsche Rotbunte, die Line vor sich hatte, mehr Milch gäbe oder die Schwarzweiße, neben der Stine ihren Melkschemel eben aufstellte. Dann wurde sie belehrt, daß die beste Rasse die großen schweren Kühe von gelbweißer Farbe seien, und siehe da, das Fräulein erinnerte sich, solche im Berner Oberland gesehen zu haben.

"Richtig," lobte der Verwalter, "dies sind Schweizer Kühe – das Wertvollste, was wir haben."

"Wie gut, daß denen das Feuer nicht zu nahe gekommen ist," rief Leonore, in der Freude über die ihr gewordene Anerkennung vergessend, daß das Feuer ein Punkt war, über den man lieber nicht sprach.

Abends erzählte sie bei Tische von ihren neuerworbenen Kenntnissen und ließ sich nicht stören durch die gelangweilte Leidensmiene des Fräuleins Philippine.

Der Vater freilich hatte heute auch nicht allzuviel Sinn für ihr Geplauder, denn er war mit der Abendpost beschäftigt. Dabei befand sich ein Brief in Sachen der neu zu besetzenden Schulstelle. Einige Zeit vor den Ferien war der alte Schullehrer von Grünweide gestorben; die Jugend des Dorfes erfreute sich seitdem einer allzu großen Freiheit, da mitten im Vierteljahr nicht sofort Ersatz zu schaffen gewesen war. Heute nun wurden von der Schulbehörde des Landes Anerbietungen gemacht. Darunter waren zwei weibliche Bewerber für die Stelle genannt und merkwürdigerweise gerade diese vorn Oberschulrat besonders warm empfohlen, sowohl die Ältere, die schon langjährige Erfahrungen aufzuweisen hatte, wie die erst unlängst vom Seminar entlassene junge Dame, die in der Arbeit an der Übungsschule während des sogenannten praktischen Jahres viel Lehrgeschick gezeigt hatte und vor allem die nicht zu unterschätzende Gabe besaß, mit Kindern aus dem Volk umzugehen.