Das rosa Haus am Meer - Susanne Fülscher - E-Book
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Das rosa Haus am Meer E-Book

Susanne Fülscher

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Beschreibung

In Italien liegt die Liebe … und jede Menge Chaos! Bunte Häuserfassaden, Oleanderduft und tiefblaues Meer – für Rosa ist der Traum vom Ruhestand im Inselparadies wahr geworden, denn sie hat ein Haus auf Procida geerbt. Die resolute Berliner Porzellanladenbesitzerin reist mit einer neuen Freundin an, mit der sie eine ungewöhnliche Geschichte verbindet: Paulina, eine junge Schauspielerin auf Jobsuche, ist kurz zuvor in Rosas Leben geplatzt – ein Autounfall, bei dem sie die Scheibe ihres Porzellanladens durchbrochen hat. Auf der malerischen italienischen Insel versuchen sich die beiden Frauen von den gemeinsam erlebten Strapazen zu erholen. Aber mit der Ruhe ist es bald vorbei: Paulinas Verehrer Fabio, Rosas Tochter Charlotte und ein Liebhaber aus Rosas wilder Jugend stehen kurz darauf vor der Tür – und lüften nach und nach ein altes Geheimnis aus Rosas Vergangenheit …  »Ein zauberhafter Sommerroman über Familiengeheimnisse.« Klotener Anzeiger Mal gefühlvoll, mal humorvoll wird dieser Familienroman Fans von Julia Holbe und Monika Peetz begeistern!

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Seitenzahl: 363

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Bunte Häuserfassaden, Oleanderduft und tiefblaues Meer – für Rosa ist der Traum vom Ruhestand im Inselparadies wahr geworden, denn sie hat ein Haus auf Procida geerbt. Die resolute Berliner Porzellanladenbesitzerin reist mit einer neuen Freundin an, mit der sie eine ungewöhnliche Geschichte verbindet: Paulina, eine junge Schauspielerin auf Jobsuche, ist kurz zuvor in Rosas Leben geplatzt – ein Autounfall, bei dem sie die Scheibe ihres Porzellanladens durchbrochen hat. Auf der malerischen italienischen Insel versuchen sich die beiden Frauen von den gemeinsam erlebten Strapazen zu erholen. Aber mit der Ruhe ist es bald vorbei: Paulinas Verehrer Fabio, Rosas Tochter Charlotte und ein Liebhaber aus Rosas wilder Jugend stehen kurz darauf vor der Tür – und lüften nach und nach ein altes Geheimnis aus Rosas Vergangenheit ….

eBook-Neuausgabe September 2025

Copyright © der Originalausgabe Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Motive von Cobalt / mfz / Adobe

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (CdR)

 

ISBN 978-3-98952-893-2

 

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Susanne Fülscher

Das rosa Haus am Meer

Roman

 

Kapitel 1

 

Rosa gab Gas.

Das Leben war kurz, und sie wollte nichts verpassen. Nicht die Krokusse, die überall in der Stadt aufgeblüht waren – eine Farbexplosion in Gelb, Weiß und Lila –, nicht die Menschen, die beschwingt durch die Straßen liefen, nicht mal die Fliege, die gerade an der Windschutzscheibe ihr Ende gefunden hatte. Platsch und weg. So gesehen kein schlechter Tod.

Die Ampel sprang auf Rot, Rosa stieg fluchend auf die Bremse und kam wenige Zentimeter hinter einem Mercedes mit verdunkelter Heckscheibe zum Stehen. Nur schemenhaft konnte sie erkennen, wie ein Stinkefinger in die Luft gereckt wurde. Solche Zeitgenossen konnte sie ja gut leiden! Kutschierten ihre schnittigen Wagen durch die Gegend und hatten alle Zeit der Welt, weil die Sekretärin, die sicher bloß ein schmales Gehalt bezog, sowieso die ganze Arbeit erledigte.

»Ja, du mich auch, du Depp!«, blaffte sie das Tachometer an, das daraufhin erregt zitterte. Ungern wollte sie sich auf das Niveau des Fahrers herablassen und mit entsprechender Gestik antworten.

Die Ampel zeigte Grün, und Rosa fuhr etwas weniger rasant weiter. Sie hielt Verkehrsregeln generell für überbewertet, war jedoch nicht sonderlich versessen darauf, schon wieder geblitzt zu werden. Mit diesen grau-schwarz verschatteten Fotos konnte sie langsam ganze Alben füllen. Hinzu kamen mindestens drei bis vier Knöllchen pro Monat, weil sie es sich partout nicht abgewöhnen konnte, im Halteverbot zu parken. War ja auch so schön praktisch.

Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Tramhaltestelle. Zwanzig nach neun, verflixt und zugenäht! Dabei hatte sie am Morgen gar nicht getrödelt. Nur ein paar Sonnengrüße auf dem Badevorleger geturnt, etwas Staub gewischt und die Wäsche zusammengelegt, ihren grau melierten Bob in Form gekämmt, geknetet und gesprayt, ein Tässchen Kaffee im Stehen getrunken, den neuen apfelgrünen Mantel übergestreift, dann war sie aus der Wohnung geflattert. Nicht mal ein Schnittchen mit Stachelbeermarmelade hatte sie gefrühstückt. Da musste sie eben gleich noch im Barista nebenan vorbeischauen und sich ein tramezzino einpacken lassen. Wie so oft in letzter Zeit. Allein der Gedanke daran ließ ihr Herz wie das eines verknallten Teenagers höher hüpfen. Ein Lächeln von Luigi – das fühlte sich an wie eine Frischzellenkur.

Es war bereits kurz nach halb zehn, als Rosa, einen Pappbecher mit Kaffee in der linken, ein Sandwich in der rechten Hand, die Straße entlang zu ihrem Geschäft eilte. Sie prüfte ihr Spiegelbild im Schaufenster des Ladens – die Frisur saß tadellos – und schloss auf. Sie liebte ihr kleines Porzellanparadies, und wie jeden Morgen führte ihr erster Gang in die Teeküche, um das Fenster aufzureißen. Ihren Mantel legte sie sorgsam über die Lehne eines Stuhls.

Charlotte würde sich wieder aufspulen. Mama, wie ziehst du dich bloß an? Du bist doch keine zwanzig mehr! Na und?

Ein Hauch Jugend stand jeder Frau, und mit siebzig ja wohl erst recht. Unter der Erde, so hatte sie sich sagen lassen, gab es keine Shops mit schicken Sachen. Als nächstes würde sie sich mintfarbene Chucks kaufen. So wie die junge Frau, die schräg gegenüber in der Boutique arbeitete und gerne mal vor der Tür einen Schokoriegel schnabulierte.

Milde Frühlingsluft strömte herein, und Rosa atmete tief durch. Eigentlich ging es ihr heute fabelhaft, es zwickte und zwackte nirgends, sie hatte einen Bärenhunger und freute sich auf alles, was der Tag so bringen würde.

Vielleicht kam ihre Tochter mal auf die Idee und meldete sich bei ihr. Alt genug war Charlotte ja mit ihren neununddreißig Jahren, um zum Hörer zu greifen. Aber gut, die Arme hatte immer so viel um die Ohren. Die Plackerei in der Konditorei, und dann war sie ja auch noch so eine Frau Ehrenamt. Sie kümmerte sich um Demente, um Kinder im Hospiz, sie tat hier, machte dort und war ständig in den Miesen.

Rosas Vormittage verliefen zumeist ruhig. Sie trank Kaffee, aß dazu etwas und blätterte die Tageszeitung durch. Danach ging sie mit dem Staubwedel über das Porzellan und beobachtete das Treiben vor dem Schaufenster. Auf den ersten Blick passierte nicht viel. Der Verkehr floss vorüber, Passanten eilten hin und her, doch wenn man genau hinsah, konnte man in den Gesichtern der Menschen so viel mehr lesen. Liebe und Hass. Freude und Leid. Manchmal aber auch nur Erschöpfung und Müdigkeit.

Rosa gähnte. Oh ja, müde war sie auch. Weil sie selten länger als fünf Stunden am Stück schlief. Morgens stand sie am liebsten mit den Vögeln auf, abends vergnügte sie sich bis in die Puppen mit ihren Stricknadeln vor dem Fernseher, und manchmal führte sie auch imaginäre Dialoge mit Prominenten. Gestern gerade erst mit Serge Gainsbourg. Weil er an Sex-Appeal kaum zu überbieten war. Ebenfalls ganz oben auf ihrer Hitliste standen Mick Jagger und dieser wunderbare britische Schauspieler Colin Firth. Mit Letzterem hätte sie zu gerne mal ein Tête-à-tête gehabt, vorausgesetzt, sie wäre noch ein paar Jährchen jünger und ihr Hintern knackiger.

Dafür scharwenzelte der pensionierte Oberstudienrat Herr Huflander um sie herum wie der Teufel um die arme Seele. Der Mann mit dem schütteren weißen Haar stand bald jeden zweiten Tag im Laden und gab vor, ein Geschenk für seine Cousine oder Nichte, wahlweise auch für seine Tochter kaufen zu wollen. Am Ende schwatzte er jedoch bloß dummes Zeug und verließ das Geschäft, ohne auch nur einen Cent in ihre Kasse zu spülen.

Früher hatte Rosa mehr Glück mit den Herren der Schöpfung gehabt. Manche hatten ihr regelrecht zu Füßen gelegen und ihr so lange den Hof gemacht, bis sie weichgeklopft war. Die Folge: eine stattliche Anzahl Liebhaber, ein paar wenige ernsthafte Beziehungen, eine Tochter, keine Ehe.

Aber sie war auch ohne einen Ehemann gut durchs Leben gekommen. Die Schule hatte sie damals abgebrochen. Weil es so viel anderes gab, was Spaß machte. Sie hatte den Tourneebus einer Band gefahren, ganz Europa bereist, geliebt, gelebt, gelitten.

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten war sie Inhaberin eines kleinen Porzellangeschäfts. Das Schönste im Kiez. Rosa hatte Geschmack, das fand nicht nur sie selbst. Neben der Laufkundschaft hatte sie etliche Stammkunden, die zu Hochzeiten, Geburtstagen oder auch einfach mal zwischendurch bei ihr einkauften. Wozu also aufhören und sich aufs Altenteil setzen? Die Arbeit machte Spaß – und tot würde sie schließlich noch lange genug sein.

Die Türglocke ging, und Rosa ließ die Reste des Frühstücks unter dem Ladentisch verschwinden. Es gehörte sich nicht, vor der Kundschaft zu essen.

Aber es war nur der Briefträger, mit dem sie manchmal ein Schwätzchen hielt.

»Schönen guten Morgen junger Mann!«, flötete sie, doch im nächsten Moment erstarrte sie. Aus einem Stapel Briefe und Wurfsendungen ragte ein Umschlag mit einem schwarzen Rand hervor. Lass es bitte niemanden aus der Band sein, flehte sie stumm, während sie die Post entgegennahm. Es reichte doch schon, dass Herbert tot war. Vor wenigen Monaten erst war sie auf seiner Beerdigung gewesen und hatte den Verlust längst nicht verdaut.

»Mein Beileid«, sagte der Postbote mit Blick auf die Trauersendung.

Rosa lächelte tapfer. »Schnäpschen?«

»Nein danke, bin ja im Dienst. Also, sozusagen.« Er grüßte zackig, dann verließ er übereilt den Laden.

Rosa konnte ihn nur allzu gut verstehen. An seiner Stelle wäre sie auch getürmt. Sie waren weder verwandt noch verschwägert, tranken nur ab und zu mal ein Tässchen Kaffee zusammen.

Rosa sank auf den Stuhl hinter der Kasse. Wenn es nun Kalle war, der Schlagzeuger der Band ... Ganz bestimmt war es Kalle, wer auch sonst? Er hatte sein Leben lang gesoffen, wie ein Schlot gequalmt, und Drogen war er ebenfalls nicht abgeneigt gewesen. Dennoch wäre es schlimm. Der zweite Verlust nach Herbert, ihrer großen und wohl einzigen Liebe. Eine richtige Amour fou war das zwischen ihnen gewesen, damals in den frühen Siebzigern. Allerdings hatte sie nur ein paar Monate gedauert. Weil ihr in ihrer Naivität nicht klar gewesen war, dass eine so besondere, so leidenschaftliche Liebe nicht für die Ewigkeit gemacht ist. Nie.

Unschlüssig, was sie tun sollte, drehte sie den Umschlag in den Händen. Aber es nützte nichts, irgendwann musste sie den Tatsachen ins Auge sehen. Ihr Zeigefinger fuhr unter die Lasche, dann riss sie den Brief auf. Im Nu hatte sie ihn entfaltet und las:

Johannes Greve ... nach kurzer schwerer Krankheit verstorben ...

Sie ließ das Schreiben sinken. Wer zum Teufel war Johannes Greve? Sie kannte niemanden, der so hieß, und sie konnte sich auch nicht erinnern, den Namen schon mal gehört zu haben. Doch offenbar waren sie miteinander bekannt gewesen – zumindest stand sie ja wohl in seinem Adressbuch.

Weil sie nicht wusste, wohin mit dem Brief, stopfte sie ihn in die Schublade in der Teeküche, dann tat sie, als wäre nichts weiter passiert, und fuhr mit der Arbeit fort. Sie bediente Kunden, räumte neu eingetroffenes Geschirr in die Regale, doch so emsig sie auch hin und her wuselte, die Sache wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Ob dieser Johannes aus ihren wilden Zeiten stammte und sie womöglich mit ihm ins Bett gestiegen war? Früher hatten sie ja die aberwitzigsten Spitznamen gehabt. Herbert nannten alle nur Big Harry, Kalle hieß in Wirklichkeit Karl-Heinz, und der Saxofonist der Band wurde wegen seiner fülligen Backen Hamster genannt.

In einer ruhigen Minute griff Rosa zum Hörer und rief ihre Tochter an.

»Was gibt’s, Mama?« Charlotte klang gehetzt.

»Nichts, mein Herzchen, ich wollte nur mal ...«

»Tut mir leid, ich kann jetzt nicht. Bis heute Mittag muss diese Hochzeitstorte ...«

Charlotte fluchte, und Rosa hielt den Hörer vorsichtshalber ein Stück weg vom Ohr.

»Mama?«, tönte es jetzt eine halbe Armlänge entfernt.

»Ja, mein Kind?«

»Die Marzipanbraut ist runtergefallen. Meldest du dich später noch mal?«

»Natürlich. Kein Problem.«

Rosa legte auf. Eigentlich hatte sie Charlotte auch nur angerufen, um nicht an diesen ominösen Johannes denken zu müssen. Vielleicht sollte sie den Laden kurz zu machen, um sich noch einen Espresso im Barista zu genehmigen. Espresso und Luigi hatten sie bisher noch aus jedem Tief geholt.

Entschlossen nahm sie sich zwei Euro aus der Kasse, aber just, als sie wieder hochkam, tat es einen gewaltigen Knall. Im nächsten Moment regnete es Glasscherben. Eine Bombe? Ein Flugzeugabsturz? Das war alles, was Rosa noch denken konnte, dann wurde es um sie herum schwarz.

Kapitel 2

 

Einige Stunden zuvor

 

Die Zeiger des Weckers gingen gegen neun Uhr. Eigentlich viel zu früh, um aufzustehen, doch Paulina schlug die Decke schwungvoll zurück und war mit einem Satz aus dem Bett. Es würde ihr Tag werden, das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers. Heute würde das passieren, worauf sie die letzten Jahre hingearbeitet hatte: die erste Hauptrolle in einem Film.

Schlimm genug, dass ihre Karriere nicht eher Fahrt aufgenommen hatte. Ein Jahr lang tote Hose. Von den unzähligen Castings mal abgesehen. Das ganze Repertoire ihrer Altersklasse hatte sie rauf und runter gespielt: das naive Dummchen, die rebellische Tochter, das Mordopfer, die Prostituierte, das Psychowrack – die Reihe ließ sich unendlich fortsetzen. Wie oft hatte sie es bis in die letzte Runde geschafft, war immer ganz knapp davor gewesen, genommen zu werden, und dann hatte ihr doch eine andere den Job vor der Nase weggeschnappt. Eine, die blonder war, schöner, schlanker, dicker, hässlicher – egal was. Das machte nicht nur unglücklich, sondern auch arm. Bloß deswegen hockte sie immer noch in ihrem Kinderzimmer im Haus ihrer Eltern und wartete darauf, dass eine Schicksalsfee vorbeischaute und ein paar Glückspunkte auf ihr Lebenskonto einzahlte.

Paulinas Blick fiel in den Prinzessinnenspiegel über der Kommode. Sie war gespenstisch blass und hatte dunkle Augenränder, als hätte sie die Nacht durchgefeiert. Dabei war sie um zehn im Bett gewesen, hatte sich in die Kissen gekuschelt und nur noch ein bisschen auf ihrem Handy rumgedaddelt. Ihre Agentin Katja wollte gegen elf anrufen, um ihr Bescheid zu geben. Noch knapp zwei Stunden. Hundertzwanzig Minuten bibbern und die Aufregung mit ganz viel Kaffee wegspülen.

Paulina atmete tief in den Bauch. Einmal, zweimal, beim dritten Mal beruhigte sich ihr Herzschlag. Das Casting war doch ein voller Erfolg gewesen, ihre Angst vollkommen unbegründet. Nach dem üblichen Blabla (ich heiße Paulina Becker, bin einundzwanzig, lebe in Berlin und ... Nein, ich habe kein Problem mit oben ohne, wieso denn auch, schließlich bin ich Schauspielerin ...) war sie in die Rolle der Schwangeren geschlüpft, die ihr Kind im achten Monat tot zur Welt bringen musste.

Nie erlebt, macht aber nichts, hatte sie sich gesagt und drauflosgespielt. Heulend und schreiend, im nächsten Moment ruhig und in sich gekehrt.

Noch Minuten danach war es still gewesen. Unheimlich still, und Paulina hatte sich schon beschämt nach Hause trotten sehen. Vielleicht hatte sie übertrieben, zu viel Drama in die Rolle gelegt, anstatt den leisen Tönen Raum zu geben. Aber dann – und es kam ihr immer noch wie ein Wunder vor – hatten alle geklatscht. Die Casting-Chefin, die Regisseurin, der Kameramann, selbst der Assi mit dem Hipster-Bart. Das war nicht üblich bei Castings. Für gewöhnlich blickte man in undurchdringliche Mienen, vielen Dank, Sie hören von uns und auf Wiedersehen.

Rasch ins Bad und unter die Dusche. Paulina wollte den großen Moment nicht im Schlafanzug erleben. Bevor sie nicht angezogen war, ihre Haare zum Pferdeschwanz gebunden und sich ein paar Tropfen Etro hinters Ohr getupft hatte, fühlte sie sich bloß wie ein halber Mensch.

Während das Wasser an ihr hinabrauschte, drifteten ihre Gedanken ab. Eine laue Sommernacht. Filmpremiere. Überall Fotografen. Und sie lief in einem silbrig schimmernden Abendkleid über den roten Teppich.

»Paulina!«, kam es von allen Seiten. »Hier, Paulina, zeig dich mal!«

»Paulina, ich muss mal!«

Die Stimme, die jetzt an ihr Ohr drang, war ganz real. Ihr kleiner Bruder. Hatte er Ferien, oder warum war er noch nicht in der Schule? Paulina stellte das Wasser ab, schnappte sich das Handtuch und stieg aus der Dusche. Schon wurde die Tür aufgestoßen, und Simon schoss an ihr vorbei.

»Kannst du dich nicht mal zwei Minuten gedulden?«

»Nein!«, quäkte er und plumpste auf die Brille.

Simon auf dem Klo – das musste sie sich nicht geben, also trat sie auf den Flur.

Eine Weile stand sie unschlüssig herum und malte mit dem großen Zeh unsichtbare Muster auf die Dielen.

»Was tust du hier?« Ihre Mutter kam, einen Stapel Wäsche auf dem Arm, aus dem Keller hoch.

»Wonach sieht’s denn aus?«

»Paulina, was soll das denn jetzt? Ich hab dich nur was gefragt.«

Klar, ihr Ton hätte etwas freundlicher sein können, aber warum ließ ihre Mutter sie nicht einfach in Ruhe? Sie wusste doch, was heute anstand, und dass Paulina dann immer besonders nervös war.

Mitten in die Stille klingelte ihr Handy Um Himmels willen, wer rief denn um diese Uhrzeit schon an? Wohl kaum Katja. Und wenn doch? War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

»Willst du nicht rangehen, Paulina?« Die Stimme ihrer Mutter kam wie aus weiter Ferne.

Natürlich wollte sie das. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig.

Ihr Herz hämmerte wie wild, als sie in ihr Zimmer eilte. Verflucht, wo hatte sie das Smartphone gestern Abend nur hingelegt? Das schrille Klingeln schien von überallher zu kommen. Sie hob das Kopfkissen hoch – nichts. Auf dem Schreibtisch lag es ebenfalls nicht. Sie sah in der Schublade nach, schaufelte einen Haufen Klamotten vom Stuhl und zog es schließlich unter einem zusammengeknüllten Schal hervor. Katjas Name auf dem Display.

Paulinas Herzschlag setzte für ein paar Takte aus, als sie ranging. »Ja?«, keuchte sie. Das Handtuch glitt an ihr hinab und drapierte sich um ihre Füße.

»Paulina?« Ihre Agentin klang wie auf Speed.

»Ja, ich bin dran.«

»Paulina«, fuhr sie eine Oktave tiefer fort. »Es tut mir so leid für dich, ich hätte es dir von Herzen gegönnt, aber die Regisseurin hat sich für eine andere entschieden.«

Ein stechender Schmerz durchzuckte Paulinas Schädel. Vielleicht fiel sie ja gleich tot um. Und irgendwie war der Gedanke sogar tröstlich.

»Paulina, bist du noch dran?«

»Klar.«

»Du sagst ja gar nichts.«

»Ist schon okay.« Nach der Anspannung der letzten Tage breitete sich eine fast wohltuende Ruhe in ihr aus. Eine andere ... Das klang so harmlos und besiegelte doch ihr Schicksal.

»Nein, okay ist es nicht«, sprach Katja weiter. »Die Regisseurin hält dich nach wie vor für die bessere Besetzung, aber der Produzent hat seinen Willen durchgesetzt. Er meinte ...« Katja lachte gekünstelt auf. »He, das ist jetzt wirklich absurd. Du bist ihm für die Rolle zu alt.«

Oh ja, das war absurd. Ihre Karriere hatte noch nicht mal richtig begonnen. Sie war einundzwanzig, und an manchen Tagen sah sie aus wie siebzehn.

»Aber ich hab ein Trostpflaster für dich«, drang es an ihr Ohr.

Einmal bei den Dreharbeiten zugucken, oder was, lag es Paulina auf der Zunge, doch sie verkniff sich die Bemerkung.

»Die Brunotte hält dich für unglaublich talentiert. Bei ihrem nächsten Film sollst du auf jeden Fall wieder bei ihr vorsprechen. Na, wie findest du das?«

»Cool. Echt cool.« Paulina wollte nur eins: auflegen. Das sinnlose Geplapper beenden, mit dem ihre Agentin sie bloß zu trösten versuchte. Jeder Dummkopf wusste, dass Regisseure nicht am laufenden Meter Filme drehten. Mit ein bisschen Glück war die Brunotte wieder in ein, zwei Jahren am Start. Bis dahin standen aber ganz andere Talente auf der Matte, und dann würde sich die Frau sowieso nicht mehr an sie erinnern.

»Kopf hoch, Paulina. Das wird schon. Ich schau gleich mal, ob neue Casting-Anfragen reingekommen sind.«

Katja quiekte und säuselte, eine Worthülse reihte sich an die andere, und dann stellte Paulina ihr Handy einfach aus. Ihr war plötzlich kalt. So entsetzlich kalt, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Eilig griff sie nach dem erstbesten Kleidungsstück, das herumlag – es war ihr Schlafanzug –, und streifte es über. Darüber zog sie einen Schlabberpulli, der längst in die Wäsche musste.

»Willst du wieder ins Bett?« Ihre Mutter kam auf ihren Sechs-Zentimeter-Büropumps ins Zimmer gestöckelt.

Paulina schüttelte den Kopf.

»Aber warum hast du denn deinen Schlafanzug an?« Hinter ihr tauchte Simon auf und machte Faxen.

»Weil ... Ach, lass mich doch einfach in Ruhe.«

»Komm, Simon, geh mal zu Papa in die Küche. Der Kakao ist fertig.«

»Musst du nicht ins Büro?«

Paulina wusste nicht, wo sie ihre Socken gelassen hatte, und schlüpfte barfuß in die pinkfarbenen Sneakers. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich in diesem Frühjahr neue anzuschaffen, schwarze oder graue, weg von diesem mädchenhaften Pink. Am besten von ihrer ersten Gage, aber der Traum war ja wohl geplatzt.

»Setz dich doch mal.« Ihre Mutter hatte es sich auf dem zerwühlten Bett bequem gemacht und klopfte neben sich auf die Matratze.

»Mama, ich muss los.«

»Wo willst du denn hin? In dem Aufzug? Du hast ja noch nicht mal gefrühstückt.«

Ihre Mutter streckte die Hand nach ihr aus, und noch während Paulina willenlos aufs Bett sank, liefen schon die Tränen. Einen Moment lang fühlte es sich an wie früher.

Wenn sie sich die Knie blutig geschlagen oder eine Fünf in Mathe geschrieben hatte und ihre Mama sie tröstete. Aber jetzt war sie kein kleines Mädchen mehr. Sie war erwachsen und selbst für ihr Glück verantwortlich.

»Deine Agentin?«

Paulina nickte. Und schniefte. Und zog den Rotz hoch.

»Was hat sie gesagt?«

»Ich bin raus. Zu alt für die Rolle.«

»Zu alt?« Ihre Mutter sah sie ungläubig an. »Paulina, du bist einundzwanzig.«

»Ja, das weiß ich selbst.«

»Diese Leute vom Film ... Die kann man doch gar nicht ernst nehmen.«

»Mama! Hör auf!«

Ihre Eltern hatten überhaupt keine Ahnung. Beide arbeiteten bei der Versicherung – was wussten sie schon von der Filmbranche?

»Ich will nur nicht, dass du leidest.«

»Zu spät.« Paulina stand auf. Wo war jetzt bloß ihr Handy?

»Noch stehen dir alle Türen offen.«

»Ach ja? Welche denn?« Sie fand es auf der kleinen Kommode unter dem Prinzessinnenspiegel und steckte es in die Tasche ihrer Schlafanzughose.

»Du könntest dein Abi nachholen und studieren.« Die Augen ihrer Mutter wurden schmal. »Aber wenn du noch länger wartest, bist du wirklich bald zu alt.«

Du bist jetzt schon alt und vergeudest deine wertvolle Lebenszeit mit einem todlangweiligen Job, dachte Paulina. Mit zwei Sätzen war sie an der Tür.

»Nun lauf doch nicht gleich weg!«

»Was interessiert dich das eigentlich?«

»Ach, mein Schatz!« Ihre Mutter lächelte eine Spur mitleidig. »Hast du denn wirklich geglaubt, sie nehmen dich?«

Im Sekundenbruchteil wurde Paulina übel, und der Boden unter ihren Füßen begann gefährlich zu schwanken. Hatte ihre Mutter das tatsächlich gesagt?

»Das war doch abzusehen«, fuhr sie fort. »Es gibt Schauspielerinnen wie Sand am Meer. Die meisten sind sehr gut ausgebildet und ...«

»Und du denkst, dass ich da nicht mithalten kann, oder was?«

»So habe ich das nicht gemeint.«

Oh doch, das hatte sie. Und weil Paulina es nicht ertrug, auch nur eine Sekunde länger mit ihrer Mutter in einem Raum zu sein, lief sie aus dem Zimmer, schnappte sich den Autoschlüssel, der wie üblich auf dem Sideboard im Shabby-Chic-Stil lag, und im nächsten Moment war sie draußen.

 

***

 

Blind vor Tränen, lenkte sie den Van durch die Stadt. Sie nahm nur selten den Wagen ihrer Eltern. Weil ihre Mutter sich immer so anstellte. Der Van könnte einen Kratzer abbekommen. Oder Paulina einen Unfall bauen. Am liebsten hätte ihre Mutter sie wohl in Watte gepackt und zu Hause eingesperrt. Immer dieser besorgte Muss-das-denn-sein?-Gesichtsausdruck. Wenn Paulina feiern ging und erst im Morgengrauen nach Hause kam. Wenn sie zu dick Nutella aufs Brot strich. Wenn, wenn, wenn ... Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Weil sie auf das alles hier sowieso keine Lust mehr hatte. Wozu eigentlich jeden Morgen aufstehen? Wozu sich aufstylen und sich Etro hinters Ohr tupfen? Wozu Rollen lernen, zu Castings gehen und jedes Mal aufs Neue Ich heiße Paulina Becker, bin einundzwanzig und lebe in Berlin sagen?

Das Handy klingelte auf dem Beifahrersitz. Bestimmt ihre Mutter. Aber Paulina würde sie schmoren lassen. Ein dummer Kommentar, und wieder mal war klar geworden, was sie von ihrer Tochter hielt: nicht besonders viel. Und wenn Paulina jetzt gegen einen Baum fuhr, wen kümmerte es? Dann gäbe es eine Versagerin weniger auf der Welt. Wahrscheinlich würden ihre Eltern ein paar Tage lang weinen, doch schon bald würde ihnen aufgehen, dass es nur gut so war. Und sie würden Simon mit ihrer ganzen Liebe überschütten und ein Prachtexemplar von erfolgreichem Anwalt aus ihm machen.

Es hupte vor ihr, und Paulina ging vom Gas runter.

»Ja, du mich auch!« Sie reckte die geballte Faust in die Höhe.

Was für ein Idiot! Der hatte nicht gerade erfahren, dass er eine Null, ein Nichts, ein Niemand war.

Paulina wechselte auf die rechte Spur, fuhr mit gemächlichen vierzig Stundenkilometern und scannte die Häuser und Straßenschilder. Die Gegend sagte ihr nichts. Wo ging es aus der Stadt raus? Wo war die perfekte Landstraße, wo der perfekte Baum, um den Wagen auf hundertfünfzig zu beschleunigen und ...

Abermals klingelte ihr Handy. Paulina riss den Lenker herum und kam auf dem Seitenstreifen zum Stehen.

»Tschau, Mama«, murmelte sie, dann stellte sie das Handy aus.

Irgendwo musste doch ein Stadtplan sein. Sie zog das Handschuhfach auf – Fehlanzeige. Im Zeitalter von Navis besaßen nicht mal mehr ihre Eltern einen Stadtplan.

Ihr Blick fiel auf ein Straßencafé ein paar Meter weiter; die Tür stand einladend offen. Ein letzter Milchkaffee, ein letztes Croissant – sie sehnte sich plötzlich so sehr danach, dass sie die Wagentür öffnete. Dieser kleine Moment des Glücks sollte ihr vergönnt sein, bevor sie abtrat.

Ein Mann im Alter ihres Vaters zwinkerte ihr zu, als sie, wohl nicht besonders ladylike, ausstieg.

»Ist was?« Sie konnte es auf den Tod nicht leiden, von älteren Herren angebaggert zu werden.

»Nein, Sie haben nur so hübsch gelächelt.«

Kann nicht sein, dachte sie. Ich trage einen Schlafanzug und meinen gammeligsten Pulli und bringe mich gleich um. Doch kein Wort kam über ihre Lippen.

Schon war der Mann vorüber, und Paulina blickte ihm verdutzt nach. Hatte sie wirklich gelächelt? Wenige Minuten vor dem großen Finale?

Der Duft von frischem Gebäck und Kaffee hing in der Luft, als Paulina das Café betrat.

Gleich am Tresen orderte sie ein pain au chocolat und einen Milchkaffee, und als das Frühstück vor ihr stand, überkam sie ein wehmütiges Gefühl. Hätte sie das in den letzten vier Jahren doch bloß öfter getan. Einfach in den Tag leben, statt sich wegen diesem und jenem aufzuregen.

Paulina genoss jeden Bissen ihrer Henkersmahlzeit. Sie leckte sich die Krümel aus den Mundwinkeln und bestellte gleich noch ein Croissant mit Aprikosenfüllung – scheiß auf die vielen Kalorien.

Nur einen Augenblick später fiel ihr ein, dass sie ja gar kein Geld dabeihatte. Nicht einen einzigen Cent.

Ihr Gedankenkarussell nahm Fahrt auf. Was jetzt? Die Zeche prellen, rausrennen und sich schnellstmöglich umbringen? Oder der Bedienung sagen, dass sie ihr Portemonnaie vergessen habe, sich aber gleich das Leben nehmen werde und sie sich wegen der Rechnung doch bitte an ihre Eltern wenden solle?

»Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

Der ältere Herr von vorhin stand wie hergebeamt hinter ihr, und Paulina spürte, dass ihr die Hitze ins Gesicht schoss. Nein, er war kein Traumtyp, immer noch nicht, aber er kam gerade im richtigen Moment.

Der Mann rieb sich den Kinnbart. »Also, darf ich?«

»Sehr gerne, vielen Dank. Und ich hatte noch ein pain au chocolat und ein Croissant.«

»In Ordnung. Und dann erzählen Sie mir, warum Sie noch Ihren Schlafanzug anhaben.«

Er ging zur Kasse, und Paulina nutzte den kurzen Moment, als er ihr den Rücken zukehrte, um sich rückwärts aus dem Café zu schleichen. Schnell ins Auto und den Motor anlassen.

Ihr Herzschlag beruhigte sich erst wieder, als sie längst in einem anderen Stadtteil war. Vermutlich befand sie sich irgendwo im Südwesten. Hochherrschaftliche Gründerzeitvillen säumten die mit Kastanien begrünte Straße. Nicht mehr lange, und die Bäume würden wunderschön blühen.

Sie musste an Simon denken, während sie weiter geradeaus fuhr. Was würde der Kleine nur ohne sie machen? Ja, verdammt, er hing an ihr, und sie an ihm, auch wenn sie einander oft zu Tode nervten. Sie dachte an ihre Freundin Annika, die sich bestimmt die Augen aus dem Kopf heulen würde, an ihre Agentin, an Opa Heinz und Oma Hildegard. Nie wieder würde sie Croissants essen und leckeren Milchkaffee trinken können, und auch kein dämlicher alter Typ würde sie je wieder anbaggern. Und plötzlich ging ihr auf, dass der Freitod keine Lösung war.

Bloß einen Wimpernschlag darauf bemerkte Paulina den Jungen, der sein feuerwehrrotes Rad über den Zebrastreifen schob. Verdammt, wo kam der denn jetzt auf einmal her? Sie stieg auf die Bremse, die Reifen quietschten, und der Van blieb eine halbe Armlänge vor dem Knirps stehen. Der Junge war in eine Art Schockstarre verfallen und blickte sie mit aufgerissenen Augen an.

»Tut mir leid, mein Kleiner«, flüsterte sie lautlos.

Der Junge schob weiter und war zum Glück in Sicherheit, als das Unfassbare geschah. Später hätte Paulina kaum noch zu sagen gewusst, warum sie ausgerechnet in diesem Moment in den Rückspiegel schaute, als er angeschossen kam, dieser schwarze Porsche. Er war viel zu schnell, und im nächsten Augenblick – das war vorauszusehen – würde es einen üblen Auffahrunfall geben. Und weil Paulina plötzlich alles wollte, bloß nicht sterben, gab sie Gas und riss das Steuer herum.

Kapitel 3

 

Fabio hatte schon den ganzen Morgen über ein flaues Gefühl im Magen. Wenn er angestrengt in die Ferne guckte, flirrte es vor den Augen, und manchmal schob sich von links eine imposante Staubfluse in sein Blickfeld. Hatte es da nicht mal einen ähnlichen Fall gegeben? Ein Patient, der über haargenau dieselben Symptome geklagt hatte und kurz darauf in der Klinik verstorben war? Vielleicht verwechselte er das aber auch mit dem Mann, dessen Herz so heftig gepocht hatte – nicht weiter beunruhigend, das kannte man ja –, und der im nächsten Moment tot vom Stuhl gekippt war.

Mit achtzig Sachen, Blaulicht und Martinshorn durch die Straßen zu jagen, über rote Ampeln und Zebrastreifen hinweg, machte Fabio für gewöhnlich nichts aus, nur heute wollte er es nicht drauf ankommen lassen. Was, wenn die Fluse größer wurde? Wenn er einen Herzanfall bekam und mit dem Notarztwagen einen Unfall baute? Ungünstig. Dann würden vielleicht Menschen sterben, die unter anderen Umständen überlebt hätten.

»Komm, ich fahre«, hatte sein Kollege Ralf gesagt, als der Alarmempfänger losgegangen war. »Du siehst ja aus, als könntest du gleich selbst eine Mund-zu-Mund-Beatmung gebrauchen.« Ralf hatte gelacht, wobei das ja nun kein bisschen komisch war. Nicht auszudenken, wenn er bei einem Einsatz tatsächlich kollabierte.

Seit fünf Minuten rasten sie durch die Straßen. Die morgendliche Rushhour war bereits vorbei, der Mittagsverkehr hatte noch nicht eingesetzt.

Dennoch schwitzte Fabio Blut und Wasser. Zu seiner eigenen Unpässlichkeit kam die Angst davor, was ihn am Unfallort erwartete. So manches Mal war er in Situationen geraten, die er lieber nicht erlebt hätte. Ein blau angelaufenes Baby, ein abgerissener Finger; bisweilen waren sie auch einfach zu spät gekommen.

Ein Auto habe das Schaufenster eines Ladens durchbrochen, hatte man ihnen per Funk übermittelt. Nur die Verkäuferin sei zum Zeitpunkt des Unfalls im Geschäft gewesen, am Steuer des Wagens habe eine junge Frau gesessen. Hoffentlich war niemand tot. Und hoffentlich floss nicht zu viel Blut. Beim Anblick von Blut wurde ihm neuerdings schlecht. Ganz anders in seiner Anfangszeit als Rettungssanitäter. Damals hatte er die furchterregendsten Wunden, ohne mit der Wimper zu zucken, versorgt – das gehörte nun mal zu seinem Beruf –, und sein Steak hätte man ihm kaum blutiger servieren können.

Jetzt überkam ihn immer dieses nervöse Zittern, wenn es zum Einsatz ging. Und ohne ein Fläschchen Notfalltropfen in der Jackentasche verließ er schon gar nicht mehr die Wohnung.

»Lass das mit den Augen besser mal abklären«, sagte Ralf, als sie eine längere Strecke geradeaus fuhren.

Fabio wurde schwindelig, und er suchte am Türgriff Halt. »Wieso? Denkst du, das könnte was Schlimmes sein?«

»Nein, ganz bestimmt nicht.« Sein Kollege lachte. »Das ist nur der Stress. Vielleicht auch eine harmlose Glaskörperabhebung.«

Fabio kramte in seinem medizinischen Fachwissen. Glaskörperabhebung – das klang alles andere als harmlos.

»Jetzt mach dir bloß nicht ins Hemd.« Ralf boxte ihn, ohne den Blick von der Straße zu lassen. »Aber ich kenn dich doch. Wenn du dir nicht von einem Facharzt bescheinigen lässt, dass da nichts ist, kommst du tagelang nicht von dem Trip runter.«

Sein Kollege hatte gut reden. Er war ja auch topfit. Obwohl er rauchte, gerne mal einen über den Durst trank und gesunde Ernährung für überbewertet hielt. Nachtschichten steckte er locker weg, und beim Tennis fegte er immer noch jeden Zwanzigjährigen vom Platz. Ralf war ein Unikum, und sterben würde er wahrscheinlich nur, weil man das eines Tages eben tun musste.

Knappe fünf Minuten später trafen sie am Unfallort ein. In dem bodentiefen Schaufenster des Porzellanladens klaffte ein Loch, und das Heck eines Vans schaute wie ein zu dicker Hintern heraus. Überall auf dem Bürgersteig Glassplitter.

Längst hatte sich eine Menschentraube gebildet und blockierte den Zugang zum Geschäft. Die Schaulustigen waren immer das Schlimmste, und manchmal waren sie auch schuld, wenn ein Mensch noch am Unfallort verstarb.

»Weg da!« Ralf war nicht gerade zimperlich und schob besonders hartnäckige Gaffer mit dem Notfallkoffer beiseite.

Fabio blieb seinem Kollegen dicht auf den Fersen. Ihm war immer noch schwindelig, und in seinem Kopf dröhnte es, als würde ein Hubschrauber zur Landung ansetzen. Der Wagen musste mit voller Wucht durch die Scheibe gekracht sein – das sah nicht gut aus. Er mochte sich kaum ausmalen, was für ein Grauen ihn dort drinnen erwartete.

Er war auf alles gefasst, als er die halb offenstehende Tür zum Laden weiter aufstieß, aber dann sah er sie: diese überirdisch schöne Frau. Sie saß inmitten von Porzellanscherben, lange blonde Haare fluteten ihr über die Schultern, und sie blickte ihn aus moosgrünen Augen an. Nie zuvor hatte Fabio so schöne und zugleich traurige Augen gesehen, so fein ziselierte Augenbrauen, so ein Blond, das ihn an wogende Weizenfelder im Sommerwind erinnerte. Er versuchte, den kitschigen Film in seinem Kopf zu stoppen, doch als ihn auch noch der Duft von Heckenrosen anwehte, hakte etwas bei ihm aus, und er konnte nur noch an Sex und Liebe, ans Heiraten und Kinderkriegen denken.

Ralf kniete bereits neben einer älteren Frau, die, halb liegend, halb sitzend, am Boden kauerte, und legte ihr die Blutdruckmanschette an. Er wies mit dem Kinn auf die junge Frau.

»Ist sie okay?«

»Logisch bin ich okay.« Die schöne Blonde stand auf – seltsamerweise trug sie eine Schlafanzughose zum Pullover –, rieb sich dann aber mit schmerzverzerrter Miene das Bein.

Endlich machte es plopp in Fabios Hirn, und er kam wieder in der Gegenwart an. Und die war alles andere als rosig.

»Setzen Sie sich mal hin«, sagte er und wischte mit dem Jackenärmel die Scherben von einem Stuhl. »Ich muss Sie untersuchen.«

»Nein danke!« Ihre Stimme klang schrill.

»Aber Ihr Bein ...«

»Ist völlig okay.«

Sie quetschte sich durch den Spalt zwischen Kotflügel und Regal und stieg über einen umgefallenen Porzellanhund.

»Sie bleiben jetzt mal schön hier!« Ralf sagte das in so scharfem Ton, dass sie zusammenzuckte. »Wo wollen Sie denn überhaupt hin?«

Ein paar Sekunden stand die junge Frau schwankend da, dann fuhr sie herum, das Gesicht verzerrt. »Irgendwohin, wo es nicht mehr wehtut.«

Sie wollte sich verdrücken, keine Frage, doch Fabio war schneller und stellte sich ihr in den Weg. Sie war verwirrt. Möglicherweise ein Anzeichen, dass sie sich bei dem Aufprall eine Kopfverletzung oder innere Blutungen zugezogen hatte.

»Tut mir leid, aber wir müssen Sie ins Krankenhaus bringen.«

»Nur über meine Leiche.«

»Bitte!«, sagte er und atmete ihren wundervollen Duft. »Sie könnten sich ernster verletzt haben, als Sie glauben.«

»Na und? Ist doch meine Sache.«

Ralf löste sich von der alten Dame, die er auf einen Stuhl verfrachtet hatte, und eilte herbei. »Mir reicht es jetzt langsam mit Ihnen. Sie hätten fast diese Frau umgebracht. Da können Sie nicht einfach abhauen.«

Ihre schmalen Schultern sackten in sich zusammen, dann krümmte sie sich wie unter Schmerzen. »Aber Sie rufen nicht die Polizei, oder? Bitte nicht!« Sie blickte erst Ralf, dann Fabio flehend an. »Meine Eltern bringen mich um.«

»Das ist mir offen gestanden ziemlich egal.« Ralf packte sie am Arm und zog sie zurück in den Laden.

»Sagen Sie mal, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?« Die ältere Dame blickte dem Mädchen mit zusammengekniffenen Augen entgegen. »Oder sind Sie betrunken?«

Statt einer Antwort lachte die junge Frau auf, schrill und immer schriller, bis sie jäh verstummte, Fabio aus glasigen Augen ansah und im nächsten Moment in Tränen ausbrach. Und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sie einfach in seine Arme zu schließen, und alles wäre für immer gut.

Kapitel 4

 

Die dreistöckige Hochzeitstorte aus geschichteter Buttercreme war auf den letzten Drücker fertig geworden. Die Auftraggeberin hatte sich neben den obligatorischen Brautpaar-Figürchen handmodellierte Pfingstrosen gewünscht, was Charlotte einiges abverlangt hatte. Doch jetzt stand die Torte, hübsch in einem weiß-mint gestreiften Karton mit passender Schleife verpackt, in der Backstube und musste nur noch ausgeliefert werden.

Charlotte erledigte das am liebsten selbst; nur so konnte sie sicher sein, dass die Bestellung auch heil ankam.

»Reni, ich bin dann mal kurz weg!«, rief sie in den Verkaufsraum der Konditorei und streifte ihre Bikerjacke über. Die Jacke war ihr ganzer Stolz. Sie hatte das Kleidungsstück, das angeblich mal einem Rockmusiker gehört hatte, vor ein paar Jahren in einem Secondhandladen erstanden.

Gerade wollte sie sich die Autoschlüssel schnappen, als ihr Handy klingelte.

»Kirchner?« Das Mobiltelefon untergeklemmt, suchte sie nach ihrer Tasche.

Der Mann am anderen Ende der Leitung klang wie eine bekannte Synchronstimme. Ziemlich lässig. Doch er war von der Polizei, und das, was er sagte, war alles andere als lässig. Angeblich hatte ihre Mutter einen Autounfall gehabt.

»Aber das kann nicht sein. Meine Mutter war vorhin noch im Laden, und während der Geschäftszeiten geht sie eigentlich nicht raus. Und sie fährt auch nirgendwo hin.«

»Ein Auto hat das Schaufenster ihres Geschäfts durchbrochen.«

»Sie machen Witze.«

»Leider nicht. Eine junge Frau hat beim Gasgeben das Lenkrad herumgerissen. Und dann die Kontrolle verloren.«

Er sagte noch mehr, nämlich, dass sie an der Ampel vor dem Laden beinahe gerammt worden sei, aber Charlotte hörte bloß mit halbem Ohr hin. Ihr Puls raste. Nein, der Mann scherzte nicht, das war nun auch ihr endlich klar. Ihr Blick fiel auf den Karton, der so dringend ausgeliefert werden musste, und sie fragte: »Ist meiner Mutter etwas passiert?«

»Ein Rettungswagen bringt sie gerade ins Krankenhaus.«

»IST IHR WAS PASSIERT?«

»Tut mir leid. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht dazu sagen.«

Charlotte ließ sich die Adresse geben, sie fand ihre Tasche neben der Toilettentür, dann nahm sie den Karton und eilte nach draußen.

 

***

 

Ein schier endlos langer Krankenhausflur. Charlottes Sohlen quietschten auf dem Linoleumboden, das Neonlicht blendete ihre empfindlichen Augen, und es roch nach Desinfektionsmitteln.

Station zwei, Zimmer vierundzwanzig. Sie holte tief Luft, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte.

»Ja?«, tönte es ziemlich munter von drinnen, und Charlotte fiel eine Zentnerlast vom Herzen. So schlimm konnte es also nicht um ihre Mutter stehen.

»Mama, was machst du bloß für Sachen!«, rief sie statt einer Begrüßung.

Rosa lag in einer modischen Mustermix-Hose und in einer cremefarbenen Oversize-Tunika auf dem Bett, die cognacfarbene Kelly Bag auf den Knien, und biss in einen Keks. Ihre Stirn war mit mehreren kleinen Pflastern beklebt.

»Ich mache überhaupt keine Sachen, aber das Mädchen da.« Sie wies mit dem Kinn neben sich.

Erst jetzt bemerkte Charlotte die junge blonde Frau im Nebenbett. Sie trug einen karierten Schlafanzug, verschiedenfarbige Socken und starrte apathisch vor sich hin.

»Hallo.« Charlotte hob zaghaft die Hand und lächelte in ihre Richtung, doch sie reagierte nicht.

»Komm mal her, Lotte.« Rosa winkte sie zu sich, dann sagte sie gedämpft: »Die Kleene hat irgendeine Macke. Oder was bei dem Unfall abbekommen. So genau weiß man das nicht.«

Charlotte zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Und du? Wie geht’s dir? Was ist mit deiner Stirn passiert?«

»Nur ein paar Glassplitter. Nicht weiter schlimm.«

»Dann kann ich dich gleich mitnehmen?«

Ihre Mutter legte den angebissenen Keks auf dem Beistelltisch ab. »Sie wollen mich noch untersuchen. Vielleicht tanzt auch noch die Polizei an und nimmt den Fall auf.« Mit gekrauster Stirn fügte sie hinzu: »Wegen des Schadens. Bin ja mal gespannt, wer den bezahlt. Alles ist kaputt. Sogar der schöne Porzellandalmatiner.«

Was für ein Desaster! Ihre arme Mutter! Sie hatte nicht nur sämtliche Ersparnisse, sondern auch ihre ganze Liebe in den Laden gesteckt. Er war doch ihr Baby, alles, was sie noch am Leben erhielt.

»Mach dir keine Sorgen, Mama.« Charlotte tätschelte Rosas Hand. Und dann sagte sie etwas, woran sie selbst kaum glaubte. »Das wird sich alles finden.«

»Nein, Lotte. Ich bin ruiniert. Den Laden von früher gibt es nicht mehr. Und es wird ihn auch nie wieder geben.« Sie wandte den Kopf zur Seite. »Aber der jungen Dame da ist das anscheinend völlig schnuppe.«

Der Blick des Mädchens flackerte nervös, dann schlug es die Decke beiseite und sprang mit leidender Miene aus dem Bett. »Ich hab mich doch entschuldigt. Aber ich kann’s ja nun auch nicht mehr rückgängig machen. Oder soll ich Ihren Dalmatiner vielleicht zusammenkleben?«

Die junge Frau humpelte barfuß durchs Zimmer, im nächsten Moment schlug die Tür krachend hinter ihr zu.

»Von wegen Entschuldigung. Keinen Ton hat sie gesagt.«

»Mama! Sie ist dir bestimmt nicht mit Absicht ins Geschäft gefahren.«

Ihre Mutter sank ermattet in die Kissen. »Lotte, bist du so lieb und bringst mir ein paar Sachen? Nur für den Fall, dass ich über Nacht bleiben muss.«

Charlotte nickte und sah im Geiste ihre schöne Buttercremetorte in der Wärme des Kofferraums zerfließen.

»Du weißt ja, wo du alles findest. Nachthemd, Waschsachen, Kosmetik.« Rosa griff nach ihrer Handtasche und nahm den Haustürschlüssel raus. »Hast du überhaupt Zeit?«

»Ja. Geht schon.«

»Auch, um noch mal schnell im Laden vorbeizufahren?«

Nein, sie hatte keine Zeit! Nicht mal eine Minute! Doch sie sagte: »Klar, Mama.«

»Die Polizei hat den Eingang abgeriegelt, und die Kasse ist auch sichergestellt. Aber im Prinzip kann ja trotzdem Hinz und Kunz reinspazieren und sich meine privaten Sachen rausholen. In der Teeküche ...«, sie senkte die Stimme, als würde sie gleich ein Staatsgeheimnis verraten, »... wenn du vor der Kaffeemaschine stehst ... ungefähr auf Kniehohe ... da ist eine Schublade. Weißt du?«

Charlotte nickte.

»Unter irgendeinem Stapel liegt eine Mappe, schwarz, nein, dunkelgrau ... mit Kontoauszügen, Passwörtern und so weiter. Kannst du dir das merken?«

»Natürlich, Mama!«

»Und eine Traueranzeige«, fuhr sie fort.

Charlotte erschrak. »Wer ist gestorben? Du hast mir ja gar nichts gesagt.«

»Niemand. Die Anzeige ist auch erst heute Morgen mit der Post gekommen.«

»Wenn niemand gestorben ist, gibt es auch keine Anzeige.«

»Du kennst ihn sowieso nicht. Und die Trauerfeier war auch schon.«

»Ehrlich?«

»Ja, ehrlich.« Rosas Blick irrte verloren durchs Krankenzimmer. »Ich kenne ihn ja selbst nicht.«

Und das sollte sie ihrer Mutter glauben? Sie war ja schon immer etwas überkandidelt gewesen, aber jetzt im Alter drehte sie erst richtig auf.

Charlotte rückte näher ans Kopfende heran. »Wenn es mein Vater wäre, würdest du es mir doch sagen, oder?«

Ein gurgelnder Laut kam aus Rosas Kehle, dann ein entrüstetes »Lotte!«. Und noch eins, wohl, um dem Ganzen einen gewissen Nachdruck zu verleihen.

»Würdest du?«

»Er ist nicht dein Vater, verstanden?«

»Aber wenn du gar nicht weißt, wer mein Vater ist, wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Weil ... herrje, ich weiß es eben! Ach, mein Herzchen.« Rosa tätschelte ihr die Wange, als wollte sie sagen: Reiche ich dir denn nicht?