Das rote Haus - Anna Becker - E-Book

Das rote Haus E-Book

Anna Becker

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Beschreibung

Marie heiratet den Besitzer des roten Hauses, in welchem sie nicht ganz freiwillig gelandet ist, und was durchaus nicht ist, wonach es aussieht. In der Nacht, nach der Hochzeitsnacht wird ihr frisch angetrauter Mann ermordet aufgefunden. Der Barbetrieb läuft unter Maries Regie weiter.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Prolog

„Kaffee ist fertig.“ Marcella betrat das Büro mit zwei Bechern Kaffee vom Kaffeeautomaten. „Ich muss dann auch schon weg.“ Die junge Frau drehte sich um und ließ die Tür hinter sich ins Schloss krachen. Ihren Kaffee hatte sie mitgenommen.

Er galt als der Teilnahmslose.

Hauptkommissar Fritz Mittag kam gerade aus seiner Mittagspause zurück. Heute hatte er wieder, wie so oft schon, allein an einem Tisch gesessen. Der Kommissar war ein Einzelgänger. Auch gab sich der Zweiundfünfzigjährige äußerst verschlossen, wirkte desinteressiert und war wortkarg. Seine Kollegen nahm er meistens nicht zur Kenntnis, deshalb suchten auch sie nicht nach seiner Gesellschaft. Es spielte keine Rolle, ob sie denselben Dienstrang hatten oder ihm unterstellt waren. Von Zusammenarbeit oder Besprechungen hielt er überhaupt nichts. Er blieb ihnen schlichtweg fern, weil er sowieso nichts mitzuteilen hatte und auch keinen Wert auf die Meinung der Kollegen legte. Trotzdem war er unangefochten, weil sich seine Fälle scheinbar von selbst lösten. Siegen durch Abwarten oder Aufgeben war seine goldene Regel.

Allerdings unterhielt er nebenbei gute Kontakte zum Hessischen Kultusminister, mit dem er einige Semester Jura studiert hatte. Der Polizeipräsident teilte seine kühle Arroganz und verfügte durch Fritz Mittag nicht nur über einen Ermittler mit hoher Aufklärungsquote, sondern auch über einen exzellenten Informanten. Ihn informierte der Hauptkommissar über alle Vorgänge im Präsidium, die ihm mühelos ohne sein Zutun zu Ohren kamen. Schließlich verfügte er noch über einen sehr guten Stand in der Rechtsmedizin. Die Leiterin des Zentrums der Rechtsmedizin war geradezu verrückt nach ihm. Die dunkle Schönheit mit romanischen Zügen überragte ihn um mindestens zehn Zentimeter. Die Obduktion seiner Leichen übernahm immer sie persönlich, um ihm die Merkmale der Todesursache zu erläutern, indem sie abstandslos neben ihn trat. Er konnte jeweils ihr Parfüm riechen. Schon oft hatte sie ihm angeboten, dieses oder jenes in einem anderen Rahmen näher zu erläutern. Fritz Mittag hatte bisher diesen Vorschlägen keine Beachtung geschenkt. Er überhörte sie ganz einfach, obwohl sie ihm nicht unangenehm war. Er wartete auch hier ab und ließ den Dingen seinen Lauf.

Fritz Mittag war nur mittelgroß, schlank, braunhaarig mit grauen Schläfen und hatte ungewöhnlich dunkelbraune, fast schwarz zu nennende Augen. Mit Vorliebe trug er schwarze Hosen, einen klassischen grauen Pullover und weiße oder schwarze Hemden, manchmal griff er auch zu einem schwarzen Rollkragenpullover.

In letzter Zeit sorgte der Kommissar im Polizeipräsidium an der Adickesallee allerdings für Gerede, das über das normale Maß hinausging, denn neuerdings verfügte er über eine junge Praktikantin, die er offenbar zur Überraschung aller Kollegen an sich heranließ. Jedenfalls saß sie in seinem Büro und begleitete ihn auch zum Essen in die Kantine. Sie war das Gegenbild zu dem korrekten Kommissar und sah überaus gut aus, wenn man nicht ihre Aufmachung in den Vordergrund stellte. Die Gerüchte bekamen auch dadurch Nahrung, weil diese junge Praktikantin manchmal tagelang nicht erschien. Gerne wurde über die Gründe für ihre Abwesenheit gerätselt. Heute war die hübsche junge Frau nach ihrem kurzen Auftritt mit dem Kaffee wieder abgängig. Wenn Fritz Mittag versuchte, sie während dieser Abwesenheiten anzurufen, ging sie nicht an ihr Telefon.

Als sie sich vor einigen Wochen bei ihm vorgestellt hatte, war sie ehrlich genug gewesen, von ihren psychischen Schwankungen zu reden, den Zweifeln an ihr selbst und an der Welt, der Angst vor dem Versagen. Fritz Mittag mochte die knabenhafte junge Frau auf Anhieb. Große traurige Augen waren unter weißblonden Haarspitzen auf ihn gerichtet. Eigentlich sei sie dunkelhaarig, erklärte sie dem Hauptkommissar, denn sie hatte seinen Blick verstanden. Sehr offen erwähnte sie, dass sie keine Lust gehabt habe, bei ihm vorzusprechen. Die Bewerbung sei von ihrer Mutter abgeschickt worden, die sich in den Kopf gesetzt habe, dass ihre schwierige Tochter eine Ausbildung als Kriminalkommissarin machen solle. Um einem größeren häuslichen Konflikt aus dem Weg zu gehen, sei sie bereit gewesen, zu dem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Sie war mit einem übergroßen cognacfarbenen Wildlederblouson und schwarzen Samtleggins bekleidet gewesen. Unumwunden hatte sie zu ihm gesagt, dass sie hoffe, dass er ihr den Praktikumsplatz verweigern würde, weil sie von vornherein ungeeignet für den Polizeidienst sei. Fritz Mittag hatte ihr den Gefallen nicht getan und ihr den Praktikumsplatz gegeben. Schon bald beeindruckte sie ihn mit ihrer Intuition. Sie erkannte sofort, wenn jemand log. Fritz Mittag nahm sie daher immer mit, denn sie verhielt sich unauffällig und blieb im Hintergrund. Ihrer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe entging nicht das geringste Detail. Aus dem einsamen und eigenbrötlerischen Hauptkommissar, der sich die Namen und Gesichter seiner Kollegen nicht merken wollte, war der Beschützer einer ebenso einsamen und verzweifelten jungen Frau geworden.

Es ärgerte ihn maßlos, dass sie nun offenbar wieder abgetaucht war, nachdem sie keine zwei Minuten bei ihm im Büro gestanden hatte. Die gemeinsamen Mittagessen der letzten Wochen waren die Gelegenheit, zu der sie ungefragt ihre Meinung zu den laufenden Ermittlungen kundtat. Meistens gelang es ihr, ihn auf völlig überraschende Einsichten zu bringen.

Auf dem Rückweg in sein Büro ahnte Fritz Mittag bereits, dass ihm die Erbsensuppe mit Schweinebauch Bauchschmerzen bereiten würde. Wahrscheinlich hätte ihm auch jedes andere Essen heute oder an einem anderen Tag Magenschmerzen bereitet. In jedem Fall bedeutete es einen größeren Schluck aus dem Fläschchen, das in seiner Schreibtischschublade weit hinten lag. Damit verschmerzte er auch Marcellas Abwesenheit und schärfte seine Sinne. Fritz Mittag wusste, dass sein Auftritt mit der weißblonden Praktikantin belächelt wurde. Es war ihm egal. Vielleicht freute es ihn auch. Seit er ihre dünnen Arme gesehen hatte, waren ihm die dicken fleischigen Arme seiner geschiedenen Frau noch mehr verhasst als vorher. Mittlerweile wusste er auch nicht mehr, ob seine Töchter eher dick oder eher dünn waren. Warum war er eigentlich Kommissar geworden? Diese Frage stellte er sich heute wieder. Eigentlich hatte er sich immer als Einzelgänger gesehen. Die anderen fand er doof. In der Schule hatten sie ihn verfolgt. Jetzt verfolgte er sie. Vielleicht war er als Hauptkommissar dafür zuständig, in seinem Bereich dafür zu sorgen, dass die brutal Dummen in dieser Welt nicht das Sagen hatten. Intelligente Verbrechen waren eine besondere Herausforderung für ihn. Zwischen diesen beiden Extremen hatte er selbst sich für eine kühle und korrekte Mittelmäßigkeit entschieden.

Fritz Mittag hatte das Einzelgängertum eines jeden Gewaltverbrechens gesehen. Er allein wollte sich dagegenstellen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Seine dunklen Augen blickten ernst in eine Welt, der er nur wenig abgewinnen konnte und die er sich in wenigen, meist alkoholisierten Momenten besser vorstellen konnte. In diesem Zustand wollte er seine Welt dahin führen, dass sie korrekt funktionierte, so korrekt, wie er es war. Einen Schluck Wodka zu trinken und seine Praktikantin zu vermissen war nicht unkorrekt.

Fritz Mittag sah schon von Weitem im Gang vor seinem Büro eine Frau sitzen. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie nicht mehr ganz jung war. Er nahm ihre Blässe und die müden Augen wahr. Sie hatte ihren Mantel anbehalten. Trotzdem machte sie einen eleganten Eindruck. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, erklärte sie dem überraschten Hauptkommissar, dass sie eine Aussage machen wollte. Maries Mutter hatte all ihre Kräfte zusammengenommen.

Fritz Mittag zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Bitte setzen Sie sich. Was führt Sie hierher?“ Sie berichtete von ihrer Tochter und von gelegentlichen Unterredungen mit dem Verlobten der Tochter, in denen dieser seine Schwierigkeiten im Frankfurter Bahnhofsviertel erwähnt hatte. Max habe trotz seiner beiden Bars nicht zum Rotlichtmilieu gehört, war aber den Bordellbetreibern ein Dorn im Auge. Deshalb sei er immer wieder gezwungen gewesen unterzutauchen. Ihrer Tochter Marie hatte sie aber nicht gesagt, dass sie sich manchmal mit ihrem zukünftigen Schwiegersohn traf. Marie sollte nichts von den Schwierigkeiten erfahren, mit denen sich Max im Milieu konfrontiert sah. Sie, die Mutter, hatte auch nicht genau verstanden, worum es in diesem Konflikt ging. „Er war ein Visionär“, fügte sie hinzu. „Er hatte die Idee, dass auf die sexbetonte Kultur der Jetztzeit eine Antisexwelle folgen würde. Dem wollte er Rechnung tragen. Im Milieu hieß es wohl, dass er mit seinem Konzept das uralte Gewerbe kaputt machen würde.“ Die sichtbar erschöpfte Frau seufzte und machte eine Pause. Der Kommissar schwieg ebenfalls. „Ich wollte nur, dass das der Polizei bekannt ist. Es liegt etwas in der Luft.“ Mit diesen Worten stand sie mühsam auf. Schleppenden Schrittes ging sie zur Tür. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Ich meine nur, falls ein Verbrechen geschieht.“ Fritz Mittag sprang auf und öffnete die Tür für seine Besucherin. „Vielen Dank für die Information“, sagte er. „Allerdings weiß ich nicht, was wir präventiv in der Sache unternehmen sollen.“

Nach dieser Aussage, die er nicht einschätzen konnte, quittierte der Kommissar vorzeitig den Dienst. Fritz Mittag vermisste seine Praktikantin. Sie hätte ihm sicher erklärt, was Frau Binder, Mutter einer Marie, mit ihrer Aussage bezweckte, warum sie zu ihm gekommen war. Mittag fuhr über den Alleenring nach Bornheim, um im Panoramabad einige Runden zu schwimmen, obwohl er wusste, dass ein voller Bauch nicht gerne schwimmt. Trotzdem setzte er auf die reinigende Kraft des kalten Wassers und der Bewegung, um wieder zu seiner emotionslosen Haltung zurückzufinden. Er schwamm schnell und rücksichtslos.

1

Sie saß in einem Schnellimbiss und wartete auf die Fähre, die sie von Göteborg nach Dänemark bringen sollte. Sie hatte gerade noch das Geld für die Überfahrt. Danach musste sie sich als Anhalterin auf den langen Weg nach Hause machen. Marie verspürte eine unbeschreibliche Sehnsucht nach ihrer Mutter und ihrer Heimat. Selbst Hubert tauchte wieder in ihren Gedanken auf. Dass sie sich seit Monaten nicht mehr bei beiden gemeldet hatte, trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Tränen liefen über ihre heißen Wangen. Ihre Hände umklammerten einen Becher Kaffee. Vor sieben Monaten war sie, die Touristin, wiedergekommen und hatte sich Jürgen an den Hals geworfen. Genau wie er, der der Liebe wegen aus Deutschland gekommen war, hatte sie gehandelt. Jürgen war beeindruckt gewesen von Maries Engagement für ihn und hatte alles für seine Besucherin getan, sie überallhin mitgenommen, ihr Geld gegeben, ihr Geschenke gemacht, nur körperlich hatte er sich von ihr ferngehalten. Er hatte ihr erklärt, dass er noch nicht so weit sei, weil er noch nicht von seiner Frau geschieden sei.

Eines Morgens aber hatte Marie eine junge Frau aus Jürgens Schlafzimmer kommen sehen. Sie hatte nicht schlafen können und war früher aufgestanden als sonst. Aufgrund ihrer rein freundschaftlichen Verbindung hatte Marie sich nicht getraut zu fragen, wer das war und warum sie bei Jürgen im Zimmer geschlafen hatte. Ein Privileg, das ihr nicht vergönnt gewesen war.

Marie fror. Der Sommer war so schnell vergangen. Wo waren die langen Stunden der hellen schwedischen Nächte geblieben? Jürgen und sie hatten sich nie gestritten. Er erklärte ihr alles, was Land und Leute betraf. Damals war sie so voller Hoffnung gewesen. Nähe wollte sie zu ihm aufbauen, Nähe, die sie brauchte. Die Distanz, die ihn umgab, blieb jedoch. Während sie auf die Fähre wartete, spürte sie das Fehlen seiner Liebe deutlich. Marie erkannte, dass es auch die Gefühlskälte war, der sie zu entkommen suchte. Jetzt schämte sie sich auch dafür, dass sie ihren Freund aus Kindertagen, mit dem sie bisher Seite an Seite durch das Leben gegangen war, so heimtückisch auf der Suche nach Liebe hatte sitzen lassen. Wie konnte sie ihm nur diese Geschichte von der Ausbildung in Hamburg erzählen, um stattdessen heimlich nach Schweden zu fahren in der Hoffnung auf ein erfülltes Liebesleben? Marie wollte wieder bei ihrer Mutter das Kind sein, das an Weihnachten liebevoll verwöhnt wurde.

Dabei war das Fest der Liebe in ihrer Kindheit nur allzu oft durch den schnell betrunkenen Vater ausgeartet. Einmal hatte er sogar den Baum umgestoßen. Marie lächelte unter Tränen. Genau wie damals musste sie einfach weinen. Die Erklärung der Mutter, dass Zahnärzte an Weihnachten schon einmal den Baum umwerfen dürfen, empfand sie als tröstend. In der Adventszeit durfte sie als kleines Mädchen beim Plätzchen backen helfen. Einmal benutzte ihre Mutter Stroh-Rum für die Rumkugeln. Es duftete so gut. In einem unbemerkten Moment löffelte Marie in Windeseile eine große Menge der Schokoladenmasse in sich hinein. Ihr wurde so schlecht, dass sie am nächsten Morgen nicht in die Schule gehen konnte.

Sie hatte Jürgen das Frühstück ans Bett gebracht. Schon lange vor dem Luciatag waren ihr die Bräuche erklärt worden. Dabei bedauerte Jürgen es so sehr, dass er nur Vater eines Sohnes war, denn es war die Rolle der ältesten Tochter, das traditionelle Frühstück mit dem Luciagebäck zu servieren. Marie hatte diesen Sohn nie kennengelernt.

In der Göteborger Innenstadt kaufte sie daraufhin einen Luciakranz für sich. Am Vortag hatte sie das Safrangebäck fabriziert, während Jürgen zu einem Ortstermin unterwegs war. Sie lüftete gründlich und spülte das Backgeschirr mit der Hand. Nichts sollte er in der Spülmaschine finden. Als sie ihn weckte, bekrönte der Kranz brennender Kerzen ihr Haar. Sie besaß kein weißes Kleid, deshalb erschien sie in einem schwarzen spitzenbesetzten Nachthemd. Jürgen sah sie irritiert an, freute sich aber dann doch sehr. Unter seinen roten Haaren färbte sich auch sein Gesicht rot und er stand mit einem Ruck auf, nicht ohne Marie einen zärtlichen Kuss zu geben. „Danke, mein Schatz. Aber das Nachthemd ist so schön.“ Er bat Marie, dass sie ihn abends in die Schule seiner Frau begleiten möge.

Dort beging man vor einem hohen Feuer das Fest. Gemeinsam sangen die Feiernden Lieder, die um die Heilige Lucia kreisten. Glögg, Rentierschinken und Pfefferkuchen wurden wie jedes Jahr gereicht. Lucia stand mit ihrem weiß gekleideten Gefolge auf einem Podest. Während sie die wenigen rohgezimmerten Stufen hochstieg, konnte man ihre gläsernen Schuhe sehen. Von oben überbrachte sie den Anwesenden die frohe Botschaft.

Auf dem Schulhof wurden auch Geschenke verteilt. Jürgen führte Marie in die Wärme des Feuers. Sie sollte in der Nähe von Lucias Gefolge auf ihn warten, denn er wollte noch kurz nach seiner Frau suchen. Marie trug ihre weiße Sommerjeans und zwei weiße T-Shirts, die sie sich aus Jürgens Schrank genommen hatte. Eine dunkelrote Daunenjacke schützte sie vor der Kälte. Dennoch war sie froh über die Wärme des Feuers. Den dicken Anorak hatte Jürgen ihr im Frühherbst gekauft. Sie war im Mai ohne Wintersachen gekommen.

Zum ersten Mal ließ Jürgen sie so lange allein herumstehen. Viele der Festteilnehmer waren schon gegangen. Lucia hatte mittlerweile das Podest wieder verlassen. Sie stand lachend mit ihrem Gefolge und ihren Freunden in der Nähe der wartenden jungen Frau und verteilte das eine oder andere Autogramm. Marie fühlte sich trotz weißer Kleidung ausgeschlossen.

Sie wollte weg. Auf Englisch fragte sie einen vom Schulhof eilenden Mann, wie sie zum Hafen käme. Erklärend fügte sie hinzu, dass sie Touristin sei. Der alte Schwede deutete auf eine Bushaltestelle. Frierend wartete Marie auf den Bus. Sie vermisste das Feuer. Schließlich stellte sie sich hinter das Wartehäuschen, damit ihre weiße Hose sie in der Dunkelheit nicht verraten würde.

Marie stieg bei dem Fahrer ein und fragte noch einmal nach der Fähre. Sie konnte mit diesem Bus direkt zum Hafen fahren. Erleichtert setzte sie sich in die vorletzte Reihe. Bunte und helle Lichter flogen an ihr vorbei. Sie nahm sie nicht wahr. Sie hatte Tränen in den Augen.

Jetzt saß sie in dem Schnellimbiss im grellen Neonlicht. Die letzte Fähre sollte um 20:15 Uhr ablegen. Marie hatte keine Ahnung, was sie dreieinhalb Stunden später in Frederikshavn tun sollte. Ratlos beschloss sie, trotzdem an Bord zu gehen, und lief mit hochgezogenen Schultern in Richtung Schiffsrampe, als sich zwei starke Arme von hinten um sie legten. Marie erkannte den Besitzer der Arme sofort, es war ein ihr wohlbekanntes Gefühl. Sie drehte sich langsam um. Jürgen stand mit blassem Gesicht vor ihr. „Ich wollte mich von dir verabschieden.“ Marie erstarrte. Im hintersten Winkel ihres Herzens hatte sie doch gehofft, dass er versuchen würde, ihre Flucht zu vereiteln. Wortlos machte sie sich los, als Jürgen sie noch einmal am Arm fasste. Mit der anderen Hand griff er nach einer Papiertüte, die neben ihm auf dem Pflaster stand. Der Inhalt fühlte sich weich und voluminös an. „Ja“, sagte Jürgen ernst. „Es ist ein weißes Kleid. Du hast in dem Nachthemd so schön ausgesehen, auch wenn es schwarz war. Wenn du nächstes Jahr wieder zu mir zurückfindest, heiraten wir am Luciatag. Meine Frau lässt sich jetzt scheiden. Sie will auch wieder heiraten. Ich habe das Kleid heute Vormittag für dich gekauft.“

„Doch nicht ihren ehemaligen Schüler, von dem du mir erzählt hast?“, fragte Marie entgeistert. Dann warf sie sich Jürgen so heftig in die Arme, dass sie ihn fast zu Fall brachte. „Ich komme wieder“, flüsterte sie und fügte ein tonloses „vielleicht“ an. Lautlos griff sie nach der Papiertüte. Sie winkte noch einmal im Weggehen.

Der Abschied war verwirrend. An Deck der Fähre blieb Marie an der Reling stehen. Vor ihren Augen verschwammen die Lichter der Stadt. Irgendwann erfasste ein Beben das riesige Schiff. Die Fähre legte ab. Nun gab es kein Zurück mehr. Langsam ließ sich die Heimkehrerin wider Willen auf den Boden sinken. Hier war der Fahrtwind weniger zu spüren. Sie kuschelte sich eng an das Metall der Schiffswand und zog die Beine an. Achtlos gingen andere Passagiere an ihr vorbei. Niemand nahm Notiz von der dort kauernden Frau.

Es musste ein Traum im Traum gewesen sein. In diesem Traum stand Jürgen am Kai. Dort wartete er, bis die Nacht ihn verschlang. Es musste wieder ein Jahr vergangen sein. Erneut stand der rothaarige Deutsche einen Tag lang am Wasser. Das Geschehen wiederholte sich Jahr für Jahr. Marie träumte schneller. Die Lider ihrer geschlossenen Augen flatterten. Sie versuchte, aufzuwachen und aufzustehen. Als sie eine weißhaarige Frau in einem weißen Brautkleid auf sich zukommen sah, erschrak Marie sehr, denn Haare und Kleid standen in merkwürdigem Kontrast zu den Falten ihres von Wind und Wetter gegerbten Gesichts.

Es ruckte heftig. Die Motoren liefen aus. Die Fähre hatte angelegt. Kurze Zeit später begann das Laufen und Rollen. Marie verließ mit traumwandlerischer Sicherheit das Schiff. Sie wusste, dass sie auf dem Heimweg zu ihrer Mutter war. An Land blieb sie orientierungslos stehen, bis sich die Menge verlaufen hatte.

Der Mann am Steuer des schwarzen Mercedes mit getönten Scheiben zog zufrieden den Ärmel über das tätowierte Handgelenk. Er hielt das Bündchen fest. Nun würde es doch noch einen Neuzugang für seinen Betrieb geben. Das Warten an der Fähre hatte sich gelohnt. Vorsichtig ließ er sein Gefährt neben der unschlüssigen Person zum Stehen kommen. Als er die Fahrertür öffnete, stand ein Lächeln strahlend weißer Zähne in seinem dunklen Gesicht. „May I pick you up, please?”, fragte er. „I know a very good place for you to stay tonight.” Dankbar lächelnd war Marie eingestiegen.

„My name ist Antoine“, sagte ihr Chauffeur. Antoine fuhr in einem sehr hohen Tempo auf die nächtlich leere Autobahn auf. Er raste in Richtung Frankfurt, ihre Heimatstadt.

Marie entspannte sich, nachdem sie trotz der hohen Geschwindigkeit erkannt hatte, dass die Richtung stimmte. Ihr Chauffeur fuhr sehr sicher. Sie dachte wieder an ihre Mutter und prüfte ihr Handy. Während sie sich durch das nächtliche Land fahren ließ, schickte sie ihrer Mutter eine Kurzmitteilung. „Mama, ich habe zu dir zurückgefunden. Kannst du mir vergeben, wenn ich in den nächsten Tagen nach Hause komme? Ich habe den Abstand zu allem gebraucht. Ich bin aus der täglichen Enge rausgekommen, jetzt kann ich wieder bei dir sein und weiß, wie sehr ich meine Heimat und dich liebe. Danke für alles. Bald bin ich zu Hause.“

Es war Maries erstes Lebenszeichen, seit sie im September weggegangen war mit dem Hinweis auf eine Ausbildung, die sie in Hamburg absolvieren würde.

Marie war kurz eingeschlafen. Während sie schlief, fühlte sie trotzdem, wie Antoine sie die ganze Zeit im Innenspiegel beobachtet hatte. Plötzlich verlangsamte Antoine die Fahrt und hielt auf einem Parkplatz an. Marie begriff nicht, was vor sich ging. Sie öffnete unkontrolliert die Autotür und hörte den lauten Schmerzensschrei eines Mannes. Sogleich bekam sie eine Nadel in den Arm gejagt. „Mein Fahrer ist doch seriös“, dachte sie noch, bevor sie abdriftete.

Antoine nahm keine Notiz von dem jungen Mann, der sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte. Marie hatte ihn mit der Autotür zu Boden geschleudert. „Ich werde euch alle töten“, schrie er dem abfahrenden Auto hinterher. Antoine hatte ihm die Worte von den Lippen abgelesen. Im Rückspiegel sah er die erhobene und zur Faust geballte Hand. Er interessierte sich nicht besonders für die Drohgebärde. Seine Gedanken kreisten um die Qualität seiner schlafenden Passagierin. Marie bekam nicht mit, dass sie in einem Zimmer auf ein Bett gelegt wurde. Sie schlief fest und traumlos. Als sie zum ersten Mal in dem roten Haus erwachte, hatte sie Kopfschmerzen.

2

Agnes hatte ihm gesagt, dass Marie gleich nachkomme. Sie selbst wollte sich vor dem Abendessen noch etwas auf das Bett legen. Sie dachte darüber nach, wie sie Antoine kennengelernt hatte.

Sie war fast vierzig Jahre alt und hatte die Abwesenheit ihres neuen Freundes genutzt, um sich ein wenig in dessen Wohnung umzusehen. Sie öffnete Schranktüren, zog Schubladen heraus. Alles war ordentlich aufgeräumt. Sie fühlte sich wohl in der Wohnung. Zufällig hatten sie sich in einem Weinlokal an der Theke kennengelernt. Ihr Wein war übergeschwappt, als sie das Glas nicht vorsichtig genug anhob. Er hatte sein Stofftaschentuch genommen und die Lache auf der Thekenoberfläche aufgewischt. Anschließend brachte er das Glas zu ihrem Tisch, gab ihr seine Karte mit der Bitte, ihn doch für ein Wiedersehen in dem Weinlokal anzurufen. Sein dunkles Gesicht wies Züge auf, die eine deutliche Sprache davon sprachen, dass ihm das Leben schon eine Menge Leid zugefügt haben musste. Sein Gesichtsausdruck war ihr schon aufgefallen, als sie neben ihm stehend auf den Wein wartete. Agnes, die viele Porträtaufnahmen gemacht hatte, war fasziniert von solchen Gesichtern.

Es war zu dem Wiedersehen und weiteren Verabredungen in dem Lokal gekommen. Schließlich hatte Antoine ihr den Schlüssel für seine Wohnung gegeben. Vor Dienstbeginn war sie am nächsten Tag dort gewesen. Sie wusste, dass er beschäftigt war, und wollte wissen, worauf sie sich einließ.

Es begann schon zu dämmern, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig ihren Dienst als Krankenpflegerin im Krankenhaus anzutreten. Vorsichtig hatte sie sich in der kleinen aufgeräumten Wohnung umgesehen. Ihr Herz klopfte wie wild. Als sie gerade den Kleiderschrank öffnete, hörte sie plötzlich hinter sich ein Geräusch. Agnes zuckte zusammen und drehte sich um. Vor ihr stand er, ihr neuer Freund. Er hielt eine Waffe auf sie gerichtet.

„Du kommst jetzt mit, ohne einen Aufstand zu machen, sonst bist du tot. Ist das klar?“ Der ausgemergelte Nordafrikaner, der Agnes in dem Weinlokal so kultiviert vorgekommen war, hatte sich mit einem katzenhaften Schritt weiter auf sie zubewegt, sie war zurückgewichen. Als sie mit dem Rücken an der Wand stand, drückte er ihr die Mündung des Revolvers auf die Brust.

„Nicht, nicht schießen. Ich komme mit.“ Das war alles, was sie jammern konnte. Danach war sie weinend die Wand entlang nach unten gerutscht, wobei sie die Hände schützend über den Kopf gehalten hatte. Mit der einen Hand hatte er weiter das Kleinkaliber auf sie gerichtet, während er mit der anderen Hand ein Blatt Papier aus der Tasche zog.

„Unterschreib das.“ Dort stand, dass sie, Agnes, sich freiwillig dazu entschlossen habe, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Sie verzichte ab sofort auf ihre Wohnung, ihren Job und ihre persönliche Habe, um ein neues Leben zu beginnen, in welches ihr niemand aus ihrem bisherigen Umfeld folgen sollte. Agnes hatte die Waffe gespürt und unterschrieben.

„Kann ich wenigstens etwas zum Anziehen mitnehmen und meiner Mutter Bescheid geben?“ Er hatte den Kopf geschüttelt und ihr die Waffenmündung noch etwas fester in die Rippen gedrückt.

„Wir werden den Brief an deine Mutter schicken. Sie soll sich um die Abwicklung deiner Angelegenheiten kümmern. Außerdem habe ich für dich gepackt. Komm jetzt.“ Sie verließen das Haus. Er hatte sich dicht neben ihr gehalten. Mit der einen Hand blieb die Waffe seitlich in ihre Rippen gepresst. Die andere Hand lag zentnerschwer auf ihrer Schulter. Schnell schob er sie in Richtung eines Autos. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, drückte er sie in das Wageninnere. Zuerst wurden ihre Hände gefesselt, dann ihre Füße. Dabei beugte er sich über sie, um sie vor etwaigen Blicken abzuschirmen. Schließlich breitete er eine Decke über ihren Schoß, sodass man von außen die Fesselungen nicht sah.

Er war losgefahren und hatte das Radio laut aufgedreht. Es begann ein Verwirrspiel. Damit Agnes nicht bemerken konnte, wohin sie gebracht wurde, fuhr er ein Stück Autobahn. Dort schaltete er die Musik ab und erklärte ihr, dass sie ihr neues Leben lieben werde, sobald sie sich daran gewöhnt habe und dass sie ihm eines Tages dankbar sein werde. Er sei ihr Freund und nicht ihr Feind. Auf einem Parkplatz hatte er ihr die Fesseln abgenommen. Agnes hatte die ganze Zeit nichts gesagt und nur schweigend geradeaus geblickt. Antoine hatte noch einmal betont, dass sie glücklich werden würde. Dass sie mithelfen solle, eine Rotlichtbar der besonderen Art zum Leben zu erwecken, in der es sich nicht so verhielt, wie man gemeinhin annehmen würde.

In den ersten Tagen im roten Haus hatte sie kein Wort zu ihm gesagt, egal, worüber er mit ihr reden wollte. Stumm befolgte sie seine Anweisungen und dachte an die Waffe, die er besaß. Sie war die erste Bewohnerin in den Appartements über dem Barbetrieb. Antoine hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie männliche Gäste in der Bar sehr freundlich zu behandeln habe, dass sie jedoch nur zu Gesprächen bereit sein müsse. Sei sie doch allein in einer Weinkneipe gewesen und hätte sich ansprechen lassen. Keinesfalls sollte sie sich verkaufen. Agnes antwortete nicht.

Schließlich versuchte er noch ein letztes Mal, sie aus der Reserve zu locken, indem er sie fragte, ob sie mit ihm ausgehen würde. Zu Antoines Überraschung willigte Agnes mit der Bemerkung „Ja gerne“ ein. Erleichterung hatte sich auf seinem Gesicht breitgemacht und lächelnd meinte er, dass er sich schon Gedanken gemacht habe, weil sie solche Schwierigkeiten mit der Anpassung an die Situation hätte. „Wo gehen wir hin?“, fragte sie stattdessen. Antoine erklärte ihr, dass sie das Lokal eines Freundes aufsuchen würden.

Antoine führte Agnes lediglich nach nebenan in die kleine katalanische Bodega, die direkt an das rote Haus grenzte. Agnes stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Unwirsch sagte sie ihm, dass sie ihm schon längst hätte sagen wollen, dass ihr die Idee mit der überraschenden ungeplanten Schicksalswendung gar nicht gefallen würde. Antoine ging nicht darauf ein und erklärte ihr, dass sie so schön und so normal wirke, so frei sei von aufreizendem Verhalten und dass sie Hilfsbereitschaft ausstrahle. Agnes hörte desinteressiert zu. Sie betrachtete gelangweilt die Einrichtung des Lokals. Nach einer Weile fixierte sie Antoine und fragte nach ihrer Mutter. Zum zweiten Mal machte sich Erleichterung in Antoines Brust breit, denn er hatte damit gerechnet, dass Agnes ihr Schweigen fortzusetzen gedachte.

„Was ist mit meiner Mutter? Es wird ihr das Herz brechen, dass ich plötzlich verschwunden bin. Sie hat nur noch mich.“

„Du täuschst dich. Ich habe deine Mutter zwei-, dreimal beschattet. Natürlich wollten wir vorher einen gewissen Eindruck des familiären Umfelds gewinnen. So wie du auch mein Umfeld besichtigen wolltest, indem du dich in meine Wohnung geschlichen hast.“ Antoine lächelte und hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr. „Meiner Meinung nach erpresst dich deine Mutter mit dem Jammern über ihre Einsamkeit. Einmal war sie mit anderen Frauen Kaffee trinken. Es wurde viel gelacht. Einmal hat sie einen Mann getroffen. Sie sind zusammen im Kino verschwunden.“

„Ich weiß nicht“, antwortete Agnes. „Ich glaube, dass du dich irrst. Bestimmt bist du der falschen Frau gefolgt.“ Antoine nahm sein Mobiltelefon in die Hand und suchte nach einem Bild. Als er es gefunden hatte, hielt er es Agnes unter die Nase. „Das ist doch deine Mutter, oder nicht?“ Agnes zuckte zusammen. Das Foto zeigte ihre Mutter. Sie hing lächelnd am Arm eines Mannes. „Das glaube ich nicht“, sagte sie kopfschüttelnd. Die Bemerkung galt mehr dem Benehmen ihrer Mutter als der ihr dargestellten Tatsache.

In diesem Moment erschien endlich der Wirt mit den Getränken. Sie tranken Sangria. Der Inhaber des Lokals war kein Katalane, sondern ein Nordafrikaner wie Antoine. Die beiden Männer verstanden sich gut. Agnes beobachtete sie aus den Augenwinkeln.

Agnes trug an diesem Abend lediglich eine blaue Jeans und ein lockeres graues T-Shirt. Es war die Kleidung, in der sie das rote Haus erstmals betreten hatte. Antoine hatte neue Kleidung für sie gekauft und nur wenige ihrer alten Sachen aus ihrer Wohnung mitgenommen. Der Barmann war genauso gekleidet wie Agnes. Das stellte er lächelnd fest, als er an ihren Tisch getreten war. Agnes fühlte nach dieser Bemerkung eine gewisse Wärme in ihrem Gesicht. Der Mann musste ungefähr auch genauso alt sein wie sie. Auf einmal fand sie es völlig in Ordnung, dass Antoine sie lediglich in das Nachbarhaus verfrachtet hatte. „Auf gute Nachbarschaft“, meinte Jeremias und nahm sich auch ein Glas, als er mit Agnes anstieß. Er sah ihr mit einem feinen Lächeln direkt in die Augen.

Agnes wollte jetzt wissen, was aus der von ihr unterschriebenen Erklärung geworden sei, ob sie an ihre Mutter geschickt worden sei. Antoine erklärte ihr, dass Max, der Besitzer des roten Hauses, das Originalpapier verwahre und ihre Mutter eine Kopie davon erhalten habe.

Im Verlauf des Abends bekundete Antoine seine Dankbarkeit dafür, dass sie sich nicht gewehrt hatte. Dass er für Max den Aufreißer spielen musste, hatte er ihr ebenfalls erklärt. Euphorisch betonte er, dass Agnes den Grundstein für das rote Haus in seiner Funktion als Arbeits- und Wohngemeinschaft gelegt habe. Er hoffe, dass sie sich nun damit arrangiere, dass sie zu einem neuen anderen Leben gezwungen worden sei. Sie habe Zutritt in eine Welt gefunden, die sie für sich in der Form nicht hätte planen können in ihrem bürgerlichen Umfeld. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte Antoine ihr dann auch eröffnet, dass Max die Wohnung angemietet habe, um sich mit Frauen zu treffen, die nicht unbedingt für das Haus rekrutiert wurden, sondern dem einmaligen Vergnügen des Besitzers dienen sollten. Die persönliche Habe, die Agnes dort vorgefunden hatte, gehöre Max, der aber noch über eine Hauptwohnung verfüge, die jedoch von keiner Frau mehr betreten werden dürfe. Es sei aber weiterhin Antoines Aufgabe, vier andere geeignete Damen kennenzulernen, die in dem roten Haus leben und es durch ihre Persönlichkeit bereichern sollten.

Nie hätte er geschossen, das hatte er Agnes an diesem Abend auch versichert. Er ergriff ihre Hand und legte sie auf sein Herz.

Agnes hatte daraufhin lächelnd die Hand, die auf seinem Herzen gelegen hatte, auf seinen Arm gelegt. Sie war lockerer geworden, denn Jeremias war immer wieder an den Tisch gekommen, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei, und hatte Agnes jedes Mal lange angesehen. Als er schließlich die Rechnung gebracht hatte, sagte er, dass die Dame auf Kosten des Hauses eingeladen sei. Sie möge ihm doch bitte die Freude machen, wiederzukommen. Wenn sie früh am Abend käme, hätte er Zeit, sich mit ihr zu unterhalten, oder noch besser sollte sie vor der Öffnung des Lokals einfach an die Tür klopfen. Er würde sie immer erwarten. Und falls sie sich nicht zu dem kurzen Weg entschließen könne, würde einfach er ins rote Haus kommen. Agnes wurde rot, als er das leichthin verkündete, als er sie und Antoine zur Tür brachte.

Der Eingangsbereich des roten Hauses präsentierte sich leer und die Tür war abgeschlossen. Das bedeutete, dass Max nicht anwesend war. Antoine meinte, dass Agnes schlafen gehen solle, in dieser Nacht komme niemand mehr. Außerdem hätten sie genug getrunken und geredet. Er bliebe noch eine Weile hier sitzen und werde aufpassen. Agnes konnte lange nicht einschlafen.

Tatsächlich hatte Jeremias bereits am nächsten Abend nach Lokalschluss Agnes in der Bar besucht und einige Cocktails konsumiert. Antoine hatte ihr später deswegen Vorhaltungen gemacht. Da Jeremias korrekt bezahlt hatte, gab er ihm keine Handhabe für einen Verweis. Antoine ärgerte sich über die sich offensichtlich anbahnende Liaison zwischen seinem Landsmann und seiner Vertrauten.

In den nächsten Tagen erlebte Agnes mit, wie die anderen Frauen ins Haus gekommen waren. Die Verschleppung der beiden mittellosen Schwedenheimkehrerinnen hatte gut funktioniert. Allerdings wurde dabei deren Notlage ausgenutzt. Auch die Erste von ihnen, Pernilla, hatte kurz nach ihrer Ankunft im Haus unterschreiben müssen, dass sie freiwillig hier sei und es sofort getan. Warum man die andere, Marie, nichts hatte erklären lassen, wollte Agnes später einmal wissen. Antoine meinte achselzuckend, dass es sehr schnell offenkundig gewesen sei, dass Marie zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz ihrer Jungfräulichkeit gewesen sei. Agnes konnte nicht verstehen, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, aber sie verzichtete auf Nachfragen.

Die beiden anderen Frauen aus ihrem Team waren von Max noch vor dem Zuzug von Pernilla direkt im Bahnhofsviertel angesprochen und angeworben worden.

3

Marie verstand nicht oder wollte zumindest nicht verstehen, was in diesem Haus vorging. Gerade war sie noch in Schweden gewesen. Sie sah sich vorsichtig um. Das Zimmer war ganz in Weiß gehalten, Wände und Vorhänge trugen diese Helligkeit. Die Bettwäsche war allerdings aus dunkelgrauem Satin. Das angrenzende Arbeitszimmer war ebenfalls in Weiß gehalten. Schließlich weigerte sie sich nicht mehr zu verstehen, dass sie als Bardame eingestellt worden war, die die Barbesucher zu Champagner und ähnlich teuren Getränken animieren sollte. Sie hob die Augen und bemerkte einen Kristallleuchter. Ohne zu blinzeln, sah sie in das Lampenlicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen. Offenbar hatte man ihre Bewegung vom Flur aus wahrgenommen. Eine Frau mittleren Alters mit langen dunkelblonden gewellten Haaren betrat den Raum. Sie trug einen grauen Bademantel, der ihre schwarze Unterwäsche erkennen ließ. „Hallo, Kleine“, sagte sie freundlich. Marie erkannte an der Sprache, dass sie es mit einer Frankfurterin zu tun hatte. Sie war erleichtert. „Bin ich in Frankfurt?“, fragte sie.

„Ja, das bist du. Hast du gut geschlafen? Komm, ich zeige dir das Haus. Anschließend willst du bestimmt duschen. Du bist so lange unterwegs gewesen. Ich heiße übrigens Agnes.“ Die Dunkelblonde lächelte freundlich und machte eine Pause. „Danach frühstücken wir und sitzen in der Bar.“ Marie schüttelte den Kopf. „Ich will aber nicht hierbleiben. Ich will nach Hause. Ich wohne doch in Frankfurt.“

„Wir alle wollen immer irgendwann nach Hause“, sagte die Dunkelblonde liebevoll. „Wir müssen unser Zuhause finden. Manchmal ändert das Leben unsere Pläne spontan. Du wirst aber sehen, dass es sehr angenehm ist, zusammenzuarbeiten und zusammenzuleben. Es ist auch eine sinnvolle Beschäftigung und sehr schön, für ihn zu arbeiten. Das wirst du sehen, auch wenn du das Verfahren seltsam findest. Über unsere Dienstleistungen werden so viele Geschichten erzählt.“ Sie lächelte. „Jetzt bin ich deine Mentorin und werde dich in deine Aufgaben einführen. Wie heißt du, Kleine?“ Marie wehrte sich nicht gegen die Bezeichnung. Sie war gerne wieder Kind und fühlte sich schon ein bisschen wohler in ihrer Haut.

Bei einem Rundgang durch ihr neues Zuhause hatte sie bald herausgefunden, dass es sich um ein dreigeschossiges Haus handelte. Es war schmal und in die Jahre gekommen. Wenn man das Haus betrat, befand man sich sofort in einer Bar. Im Erdgeschoss befanden sich außerdem eine Küche, ein Büro und ein Bad. In den drei Stockwerken darüber gab es jeweils zwei kleine Appartements, deren Türen meistens offen standen. Nur die Tür eines Appartements im dritten Stock war verschlossen. In den Zimmern konnte Marie die Bewohnerinnen sehen, die nur mit grauen Bademänteln über der Spitzenwäsche bekleidet waren. Sie gingen trotz der legeren Aufmachung ihren persönlichen Angelegenheiten nach. Entweder waren es Beschäftigungen wie Malen und Schreiben oder sie überließen sich einem Roman. Marie fand diese grauen Bademäntel hässlich. Eine Ausnahme bildete ein Hausmantel, der auf einem rosafarbenen Untergrund mit großen blauen Flamingos bedruckt war. „Oh, wie schön“, sagte Marie, als ihr Agnes dessen Trägerin vorstellte. Spontan ließ Marisa das Gewand auf den Boden gleiten, hob es auf und reichte es Marie. Marie errötete und bedankte sich. Marie hatte den Eindruck, in eine Kommune geraten zu sein, wobei sie nicht genau wusste, was das war.

Im dritten Stock in dem Appartement mit der geschlossenen Tür wohnte Maries Chauffeur. Dass er Antoine hieß, hatte sie schon gehört.

Willig betrat Marie in ihrem Appartement die Dusche. Agnes reichte ihr Shampoo und eine Bodylotion, gab ihr eine Bürste, Nagellack und einen weißen BH, ein weißes Höschen, weiße Strapse und hautfarbene Netzstrümpfe. Darüber sollte sie den Flamingomantel tragen und in weiße Pantoletten schlüpfen. Schwarz sei nicht die Wäschefarbe, die für sie angezeigt war.

Das Frühstück gab es in der Bar. Marie war über die frischen Croissants und den Milchkaffee hoch erfreut. Später erklärte ihr Agnes, dass es in ihrem Zimmer eine Kommode gebe, in der sie weitere Wäsche finden werde. In ihrem kleinen Arbeitszimmer solle sie keine privaten Dinge aufbewahren. Schmutzige Wäsche sei im Bad im Erdgeschoß zu deponieren. Dort stünden Waschmaschine und Trockner. Auch alle anderen Mahlzeiten nehme man gemeinsam in der Bar ein. Abends sei dort Thekendienst angesagt, dafür befinde sich ein entsprechendes Kleid in ihrem Schrank. Wenn es zu eng sei, dann sei es genau richtig.

„Heute Abend beobachtest du zuerst nur, wie es die anderen Frauen machen. Ich gebe dir ein Zeichen, wenn du den ersten Gast für ein nettes Gespräch gewinnen kannst, damit er sich in unserem gemütlichen Ambiente zu Hause fühlt. Er wird sich dann weiter öffnen und sagen, was ihn bewegt, zu uns geführt hat.“ Marie hoffte in diesem Moment inständig, dass sie für die Tätigkeit völlig ungeeignet war, dass niemand mit ihr reden wollte und dass man sie wegschicken würde.

„Wir haben ein Stammpublikum, anderen Gästen sind wir empfohlen worden. Es kommen immer wieder neue Gäste. Touristen und Geschäftsleute. Viele werden aus den umliegenden Restaurants zu uns geschickt, wenn sie sich nach einer Bar erkundigen.“ Agnes machte eine Pause. „Am besten gehst du jetzt wieder in dein Zimmer. Lass die Tür aufstehen. Wenn du hörst, dass einer unserer Stammgäste die Bar betritt, nur solche dürfen uns tagsüber besuchen, kannst du leise die Treppe hinuntergehen, dich auf die unterste Stufe setzen und zuhören, wie deine Kollegin mit der Situation umgeht, sehen, wie sie ihm die Hand auf den Arm legt. Es sind Männer, die Trost bedürfen, die in ihrem Leben unterdrückt werden oder einsam sind. Hier ist der Dialog zwischen Mann und Frau ganz selbstverständlich und unverkrampft.“ Maries Laune verdunkelte sich schlagartig. Sie wollte doch keine Seelentrösterin sein und sich Praktiken abschauen für etwas, was ihr völlig fernlag. Sie wollte nicht mit Männern trinken bis zum Umfallen.

Schüchtern fragte sie, ob sie vielleicht zuerst einen kleinen Spaziergang machen könne, um die Umgebung zu erkunden. Sie wollte wissen, in welchem Stadtteil sie sich befinde. Außerdem brauchte sie frische Luft. Agnes schüttelte bedauernd ihre dunkelblonden Locken. „Ausgang hast du erst später, wenn du dich eingewöhnt hast und freiwillig hierbleiben willst. Wenn du etwas brauchst, sag es mir. Ich werde die Putzfrau einkaufen schicken oder selbst gerne für dich gehen.“

„Darf ich gar nicht das Haus verlassen?“, fragte Marie erschrocken. „Ich will hier nicht eingesperrt sein.“

„Doch, manchmal sind wir unterwegs. Dann machen wir mit der Limousine einen Ausflug ins Grüne. Meistens fahren wir nach Bad Homburg und gehen im Kurpark spazieren. Dort ist es sehr schön.“ Agnes streichelte Marie mit einem wehmütigen Blick die Wange und ging nicht weiter auf deren Gefangenschaft ein.

In ihrem Wohnschlafzimmer befand sich auch ein großer Flachbildschirm. Agnes erklärte Marie die Bedienung. „Es wird dich ablenken“, meinte sie.

Marie bemerkte, dass alle Zimmerfenster vergittert waren. „Damit niemand einbrechen kann“, erklärte Agnes ruhig. „Und damit niemand springt. Man weiß doch nicht, welches Schicksal die Männer hinter sich haben, wenn sie uns besuchen.“

Nachdem sie gegangen war, untersuchte Marie die Kommode und den Schrank. Sie fand ihre Sachen nicht. Wo war das Brautkleid? Auch ihre Tasche mit dem Mobiltelefon und ihrem Ausweis war verschwunden. Beunruhigt schaltete Marie den Fernseher an. Sie wollte sich tatsächlich ablenken. Den Ton stellte sie leise. Sie hörte Nachrichten, die sie nicht verstand und nicht zuordnen konnte. In Schweden hatte sie das Weltgeschehen noch mehr als vorher zu Hause bei ihrer Mutter ausgeblendet. Auch wenn sie vielleicht jetzt gerne etwas über die Welt erfahren hätte, in der sie lebte, wollte sie doch lieber die Geräusche im Hause wahrnehmen, wollte wissen, was um sie herum geschah. Nach einer Weile, sie war gerade dabei, doch wieder einzuschlafen, hörte sie ein wütendes Stampfen in der Bar. Marie hielt den Atem an. Doch sie hörte zu ihrer Erleichterung nichts mehr. Marie wollte nicht, dass ihr ein Mann zu nahe kam, auch wenn sie es in Schweden für einen Moment beabsichtigt hatte. Kurz vor dem Ziel wusste sie, dass sie nicht konnte und nicht wollte. Bei dem Gedanken an die erste Nacht mit einem Mann, in der sie unter ihm lag, war sie angewidert und wollte nie in eine derartige Situation kommen. Marie glaubte nicht an die Rederei in dem Haus. So naiv war sie nun auch wieder nicht. Sie wollte nicht abgestochen, beschmutzt oder gefühlsmäßig abhängig werden. Nie, nie, nie.

4

Marie hatte angstvoll gelauscht, was im Haus vor sich ging. Sie fuhr auf, als eine schrille männliche Stimme zu ihr nach oben durchdrang. Sie hörte, wie diese klirrende Tonlage in ein hemmungsloses Weinen übergegangen war. Marie zitterte regelrecht vor Angst, dass man sie rufen könnte, um diesen Mann, der so durchgedreht klang, zur Vernunft zu bringen, sein Problem zu lösen und ihn zum Guten zu bestärken. Sie hatte auch Angst, dass er gewalttätig würde, wenn er schon so schrie. Verängstigt lag sie in ihrem Schlafzimmer, bis ein silberhelles Glöckchen dreimal erklang. Mehrere leichte Schritte huschten nach unten. Marie wusste, dass es zum Essen geläutet hatte. Obwohl sie Hunger verspürte, blieb sie in ihrem Zimmer. Schließlich wurde an ihrer Tür geklopft. Agnes, ihre Mentorin, lud sie ein, doch zum Mittagessen zu kommen. Nach der Mahlzeit wollte außerdem der Chef mit ihr reden, deshalb sollte sich Marie etwas anziehen. „Wo sind meine Sachen?“, fragte Marie. „Sie sind in der Reinigung. Nimm den Bademantel aus der Dusche und zieh ihn fest zu und tausche die Pantoffeln gegen Pumps aus.“ Agnes wartete freundlich auf Marie und zog sie dann hinter sich her. In der Bar saßen die Frauen bereits an dem runden Tisch und löffelten Linsensuppe. Sie schauten Marie freundlich entgegen. Agnes schob sich auf einen Stuhl und setzte sich neben sie.

Marie bemerkte, dass der Chauffeur auch in der Küche zugange war. Mit einer großen weißen Schürze, die er vor seine schwarze Anzughose gebunden hatte, servierte er den Nachzüglerinnen die Linsensuppe. Agnes meinte, dass sich der letzte Küchenjunge abgesetzt habe. Der Chef wolle demnächst einen Flüchtling aufnehmen, der kochen könne. Marie konnte nicht umhin, ihren Chauffeur als vertraut zu empfinden. Sie hatte schon einmal etwas darüber gehört, dass sich Opfer in ihre Peiniger verlieben. Bildete sie es sich nur ein oder hatte sie ein Lächeln auf seinem olivfarbenen Gesicht gesehen, als er ihren Teller besonders voll schöpfte?

„Er ist aber nicht auch noch der Chef?“, wollte Marie wissen. Agnes verneinte. Antoine sei das Mädchen für alles, in erster Linie sei er aber der Chauffeur der Familie. „Du musst wissen, Marie, dass wir uns wie eine große Familie fühlen. Eine Wohngruppe kann zur Familie werden.“ Marie nickte zustimmend und fragte, warum der Chef mit ihr reden wolle. „Kannst du es dir nicht denken?“, fragte Agnes. „Er möchte dich kennenlernen. Es interessiert ihn auch, wie es um deine soziale Kompetenz bestellt ist. Schließlich bist du deinen Kolleginnen nicht spontan zu Hilfe gekommen und hast dich noch nicht am Barbetrieb beteiligt.“ Marie schluckte. „Es war nur ...“ Sie brach ab. In dem Moment kam Antoine mit einer großen Platte, auf der sich ein Berg Wiener Würstchen befand, an den Tisch. „Ich bin doch noch Jungfrau“, flüsterte sie, nachdem Antoine ihr umständlich ein Paar Wiener in die Suppe gelegt hatte. Agnes hatte es nicht gehört. Nach dem Essen gab es noch einen Espresso. „Putz dir die Zähne, bevor wir zum Chef gehen. Er mag keinen schlechten Atem. In der Toilette findest du eine Zahnbürste.“

Agnes hatte sie in das hinter der Bar befindliche Büro geführt. Auf der Ecke des Schreibtischs stand ein halbvoller Teller Linsensuppe, daneben eine geöffnete Flasche Wodka und ein halbleeres Glas, das die durchsichtige Flüssigkeit enthielt. Erst jetzt fiel Maries Blick auf den Mann, der sich in seinem Schreibtischsessel zurückgelehnt und die Beine übereinander geschlagen hatte. Sie selbst traf ein stechender Blick aus blassblauen Augen, vielleicht waren sie auch grau, die in einem seltsamen Kontrast zu seinem schwarzen, von grauen Fäden durchzogenen Haar standen. Marie war eher erschrocken über seine Blässe, die er offenbar noch mit hellem Puder und schwarzer Wimperntusche hervorhob. So viel verstand Marie von Schminke, dass sie das erkannte. Trotz dieses Make-ups sah ihr Gegenüber keinesfalls halbseiden aus, eher hatte er die Aura von Bühne und Theater, was ihn umso attraktiver machte. Dazu kam, dass dieser Mann äußerst kultiviert wirkte. Marie fühlte sich sofort zutiefst eingeschüchtert.

Schweigend bedeutete er Agnes und Marie, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Nun neigte er seinen Oberkörper nach vorne und musterte Marie noch intensiver. Mit leiser, sehr eindringlicher Stimme, die in Maries Ohren wie eine Singstimme klang, ergriff er das Wort. „Schön, dich kennenzulernen, Marie.“ Marie schluckte. „Guten Tag, Herr ...“ Marie zögerte.

„Sag einfach Max zu mir, aber du bleibst beim Sie.“ Seine Stimme gewann etwas an Tiefe, klang aber fast wie ein Tierlaut, als er sie unversehens anherrschte. „Warum läuft es mit dir noch nicht an der Bar? Es ist dir noch nicht gelungen, einen unserer Gäste in ein Gespräch zu verwickeln. Niemandem wolltest du dich öffnen. Für uns ist es keine gute Werbung, wenn von einer spröden Person geredet wird, die nicht hinter dem Geschäftsmodell steht.“ Marie schluckte. „Ich bin doch noch ganz neu und weiß nicht, was ich sagen soll“, flüsterte Marie mit Tränen in den Augen. Mit dieser Aussage war sie der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Sie wusste schon kaum, was sie mit ihrem Freund reden sollte. Auch bei Jürgen war es ihr schwergefallen, mit ihm locker zu plaudern. Wie hätte sie mit einem Fremden über dessen Probleme oder zur Zerstreuung ein Gespräch führen können? Außerdem kam ihre Abneigung gegen jegliches Arbeiten dazu. Eigentlich wollte Marie fragen, ob sie das Haus wieder verlassen dürfte, da sie so ungeeignet war. Sie traute sich nicht, die Frage zu stellen. Sie fühlte sich zu sehr eingeschüchtert und verängstigt.

An einer weiteren Äußerung von ihr schien Max auch nicht interessiert zu sein. Er wandte sich an Agnes. „Sag Antoine, dass er dafür sorgen soll, dass Marie etwas gesprächiger wird.“ Er winkte in Richtung Tür, unterbrach sich jedoch sogleich wieder. „Noch etwas. Ich erwarte, dass du dich auch für den Umsatz in der Bar interessierst und dich einladen lässt. Je weniger Gäste wir haben, desto teurer müssen die verkauften Getränke sein. Nicht umsonst gibt es keine Karte. Klein, aber fein. Der Umsatz gehört insgesamt in die Kasse an der Bar. Auch die Trinkgelder.“