Das Schachpuzzle - Veronica Packard - E-Book

Das Schachpuzzle E-Book

Veronica Packard

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Beschreibung

Könnte deine beste Freundin eine Mörderin sein? Ella ist auf dem Weg zu einem Abendessen mit ihren Freundinnen, als sie an ihrer Windschutzscheibe einen Zettel findet:  "Denk an deine beste Freundin. Wie gut kennst du sie wirklich? Kannst du dir vorstellen, dass sie einen Mord geplant hat? Und zwar an demselben Tag und demselben Mann ... wie du." Ella glaubt zunächst nicht an die Anschuldigung, doch im Laufe des Abends werden ihre Zweifel immer größer. Denn alle ihre Freundinnen hatten Kontakt zu dem Geschäftsmann, der am Tag zuvor erschlagen wurde. Ist tatsächlich eine von ihnen die wahre Mörderin? Oder sind die Dinge doch anders, als sie scheinen? Ein spannender Thriller, der dich bis zur letzten Seite in Atem hält.

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Das Schachpuzzle

von

Veronica Packard

Thriller

Der Tag

Sie tritt in den Raum. Die Suite ist groß und hell. Ihr Blick verharrt auf dem weißen Wollteppich mit der hellroten Einfärbung seines Blutes direkt zu ihren Füßen. Aus zwei großen Wunden läuft es noch immer über sein Gesicht und tropft auf den Boden. Verquollene Augen, geschwollene Hände. Seine leicht geöffneten Lippen fördern eine zähe, fast schwarze Flüssigkeit hervor - Blut, vermischt mit was auch immer der Magen bei Todesangst freigibt. Gemessen an seiner Kleidung, den gepflegten Händen, der perfekten Frisur, seinem Reichtum und Einfluss, scheint es unwürdig zu sein, in diesem erbärmlichen Zustand zu sterben. Aber sie misst ihn an seinen Taten. Sie sieht sich um. Fensterfronten geben den Blick auf die Themse und das London Eye frei. Es ist April, die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Aber die Lichter der Großstadt lassen keine Dunkelheit zu. Auf der Straße herrschen noch immer die Geräusche des Tages. Doch hier im obersten Stock ist es leise, fast lautlos. Totenstille. Kein Atem ist zu hören. Ganz ruhig steht sie da. Beide Füße fest am Boden, ohne Angst, ohne Reue, ohne Mitleid. Sie nimmt sich die Zeit, um einen letzten Moment innezuhalten, um durchzuatmen und loszulassen.

Dann muss alles schnell gehen, Spuren verwischen, Mordwaffe mitnehmen und möglichst unerkannt das Hotel verlassen.

Im Hinausgehen dreht sie sich noch einmal kurz um und wirft einen letzten Blick auf den Toten am Boden. Einen letzten Blick auf ihre Vergangenheit.

Erstes Kapitel

Ella ließ sich auf einen Hocker sinken. Erneut fiel es ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Mit dem Handrücken wischte sie über ihre feuchten Wangen, griff nach einem Glas Wasser, das sich auf ihrer schmalen Kommode befand, und dem Döschen daneben. Sie zögerte einen Moment beim Blick in die kleine Schachtel. Ein oder zwei Tabletten? Tavor wirkte nicht nur beruhigend, sondern konnte müde machen und das wäre kein guter Einstieg in den heutigen Abend. „Eine Tablette reicht“, entschied sie, schluckte sie hinunter und leerte im Anschluss das Glas Wasser.

Antriebslos kauerte sie im schmalen Durchgang, der vom Schlafzimmer ins Bad führte. Durch Ablagen und Kleiderstangen, die beidseitig an den Wänden angebracht waren, war dieser in einen begehbaren Kleiderschrank verwandelt worden.

Schwarz und Beige – das waren die Farben, die sie umgaben und die mit Ellas zunehmendem Alter Einzug in ihren Schrank gehalten hatten. Die bunten Kleidungsstücke waren denen gewichen, welche die Überbleibsel von zwei Geburten und zu wenig Zeit und Disziplin für sportliche Aktivitäten am besten kaschierten. Aber auch das funktionierte nicht immer. Die Vergangenheit hatte Spuren hinterlassen. Gute wie schlechte. Das war eben der Lauf der Dinge und sie hatte es so akzeptiert. Dennoch bereitete es ihr zuweilen Kopfzerbrechen, das richtige Outfit für den Besuch eines eleganten Restaurants zu finden. So wie heute.

Das Mädelstreffen, wie ihr Mann es gerne nannte, fand ein- bis zweimal jährlich statt und die Termine standen meist seit Monaten fest. Die teilnehmenden Frauen hatten sich über die Jahre kennengelernt. Während Alexandras und Ellas Verbindung bis in die Schulzeit zurückreichte, waren Anuschka, Cecilia und Liane erst nach und nach dazugestoßen. Ella hatte den ganzen Tag die Entscheidung vor sich hergeschoben, heute zu dem Treffen mit ihren Freundinnen zu fahren oder lieber zu Hause zu bleiben. Die Ereignisse der letzten Tage hatten sie völlig überfordert. Doch ihr Verstand hatte sie davon überzeugt, dass ihr eine Ablenkung guttun würde. Außerdem hatte Isa wieder ihr Zimmer verlassen. Alles Weitere war im Moment nicht von Bedeutung.

Sie stand auf, ließ die Tagträume hinter sich und suchte erneut nach der passenden Kleidung. Vorsichtig klopfte es an der Tür. Gerade noch rechtzeitig wischte Ella sich die letzte Träne von der Wange. Isabell, ihre sechzehnjährige Tochter, betrat das Badezimmer. Sie war eine natürliche Schönheit, mit langen dunklen Haaren, großen braunen Rehaugen und einer kleinen Stupsnase. Selbst in der schlabbrigen Jogginghose, die sie trug, und dem übergroßen T-Shirt sah sie noch zauberhaft aus.

„Mum? Mila kommt gleich und ich habe gestern schon mit ihr ausgemacht, dass ich ihr heute ein bisschen beim Kochen helfe. Wir kümmern uns auch um Nate, er durfte sich sogar das Abendessen aussuchen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.“

„Danke, mein Schatz.“

„Wie läuft es bei dir? Kann ich dir vielleicht bei deinem Outfit helfen? Du scheinst noch nicht weit gekommen zu sein“, scherzte sie und musterte ihre Mutter, die in Jeans und T-Shirt vor ihr stand.

„Das wäre lieb von dir“, Ella sah ihre Tochter erleichtert an. „Ich komme tatsächlich nicht voran. Irgendwie finde ich nichts Passendes. Und dann denke ich an Anuschka. Sie wird wie immer perfekt gestylt sein.“

„Ach Mama, mit ihr musst du dich nicht vergleichen, wahrscheinlich isst sie nur Salat und verbringt Stunden bei der Kosmetikerin. Was zählt, ist doch, dass man Charakter hat und nicht eine schlanke Taille und große Brüste. Du bist attraktiv, so wie du bist!“

Ella lächelte. „In deinem Alter ist es leicht, so zu denken. Du hast im Grunde ja recht. Dennoch gibt es Augenblicke, in denen ich mir sehnsüchtig einen Körper wie den von Anuschka wünsche, wenn auch nur für die Dauer dieses einen Abends.“

„Schau Mum,“ Isabell hatte zwei Kleidungsstücke aus dem Schrank gefischt und hielt diese in die Höhe. „Schwarzer Rollkragenpulli und schwarze Röhrenjeans. Das macht schlank und du kannst es mit einem bunten Tuch aufpeppen. Dann ziehst du dazu die Kette an, die Papa dir aus Schanghai mitgebracht hat.“

„Das ist eine hervorragende Idee. Danke, dass du mir hilfst, ich war tatsächlich ein bisschen verzweifelt.“

Beide lachten und Ella nahm ihre Tochter in den Arm.

Für einen Moment verharrten die zwei in einer innigen Umarmung und sie spürte, dass von Isabell eine gewisse Spannung abfiel.

„Da wäre noch etwas,“ brachte Ellas Tochter zaghaft hervor, ihr Blick war auf den Boden gerichtet. „Es tut mir leid, wie ich mich in den letzten Tagen verhalten habe. Ich wollte euch nicht beunruhigen. Du und Papa, ihr habt euch so viele Sorgen gemacht.“ Isabell schaute ihrer Mutter schuldbewusst in die Augen.

„Vielen Dank für eure Hilfe.“

Ella unterdrückte einen Seufzer.

„Wir lieben dich, meine Kleine, und sind froh, dass es dir wieder besser geht. Aber denke immer daran, du kannst über alles mit uns reden und sei es noch so verstörend.“ ‚Mach nicht den gleichen Fehler, wie ich’ ging es ihr durch den Kopf und sie hielt die Tränen zurück, die ihr erneut in die Augen schießen wollten. Ein lautes Klingeln riss sie aus den Gedanken. Mila, das Kindermädchen, stand vor der Tür, was bedeutete, dass es höchste Zeit war, loszufahren. Ella und Isabell durchquerten gleichzeitig das angrenzende Schlafzimmer und liefen in den Flur.

„Ich mach' schon!“ Isabell hielt ihre Mutter zurück. „Beeil du dich lieber, damit du pünktlich bist. Sonst klaust du Anuschka noch die Show. Das Zuspätkommen ist doch ihr Part.“

Dabei lachte sie und sprang in hopsenden Schritten die Treppe zum Erdgeschoss hinunter, um die Tür zu öffnen. Ella schaute ihr nach und nahm wahr, wie eine enorme Last von ihr abfiel. Dann verschwand sie im Schlafzimmer, zog sich rasch um und bürstete ihre Haare. Bevor sie nach unten ging, warf sie noch schnell einen prüfenden Blick in die Kinderzimmer. Waren alle Hausaufgaben gemacht? Die Schultaschen für den nächsten Tag gepackt?

Einige Minuten später ließ sie sich erschöpft in den Autositz fallen und startete den Wagen. Der Abschied von ihrem Jüngsten hatte mal wieder mehr Zeit in Anspruch genommen, als ihr lieb war. An der ersten Ampel warf sie einen nervösen Blick auf ihre Armbanduhr. Wenn sie pünktlich im Restaurant erscheinen wollte, dann durfte es jetzt zu keinen weiteren Verzögerungen kommen.

Als sie wieder aufblickte, fiel er ihr ins Auge. Der weiße Zettel, der unter ihrem Scheibenwischer steckte. Er sah nicht wie ein Werbeflyer oder ein Strafzettel aus. Sie fuhr zunächst weiter, aber ihre Gedanken kreisten weiterhin um die Notiz an der Windschutzscheibe. Sie war fein säuberlich zusammengefaltet und wahrscheinlich vom Verfasser selbst dort hinterlegt worden. Noel hatte gestern Vormittag ihren Wagen benutzt, vielleicht war die Nachricht für ihn. Das Stück Papier konnte aber auch schon länger dort hängen und ihr heute zum ersten Mal aufgefallen sein. An der nächsten großen Kreuzung beschloss sie, das Rätsel zu lösen. Sie schnallte sich ab, öffnete die Tür einen Spalt und lehnte sich so weit hinaus, dass sie den Zettel greifen konnte.

Denk an deine beste Freundin.

Wie gut kennst du sie wirklich?

Kannst du dir vorstellen, dass sie einen Mord geplant hat?

Und zwar an demselben Tag und demselben Mann ... wie du.

Das laute Hupen der Autos hinter Ella riss sie aus ihrer Erstarrung. Die Ampel war längst auf Grün gesprungen. Durch ihre mit Tränen gefüllten Augen erkannte sie kaum die Fahrbahn. Bei der nächstbesten Gelegenheit hielt sie am Straßenrand. Ein weiteres Mal las sie die Nachricht durch. Die Worte waren auf weißem Papier gedruckt und in einer Ecke befand sich ein kleines Zeichen, maximal 2cm groß. Dieses Symbol sagte ihr nichts. Vielleicht war es ein Firmenlogo. Es sah wie die Figur eines Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiels aus, ein runder Kopf mit einem ausladenden Stand.

Sie widmete sich wieder dem Geschriebenen.

War der Inhalt überhaupt an sie gerichtet? Wer konnte so etwas verfasst haben? Ihre Hände zitterten, und Tränen rannen über ihre Wangen. Zurück nach Hause konnte sie in diesem Zustand nicht, das hätte viel zu viele Fragen aufgeworfen, denen sie nicht gewachsen war. Und zu ihrer Verabredung? Trotz ihrer Verzweiflung realisierte sie den Inhalt des Textes. Wenn er an sie gerichtet war, dann ging es darin um ihre Freundinnen. Die, mit denen sie in Kürze verabredet war? Kurz entschlossen fuhr sie wieder los. Wie ferngesteuert lenkte Ella den Wagen durch die Londoner Innenstadt zu dem Restaurant, in dem das heutige Treffen stattfand.

Um ihre Gedanken zu zerstreuen, schaltete sie das Radio an, das auf den Nachrichtensender eingestellt war, den ihr Mann für gewöhnlich hörte.

„… tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus, hält sich aber mit genauen Details zum Tathergang zurück, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Es steht jedoch fest …“ mit einem Klick schaltete Ella das Radio aus.

Sie zögerte, die Finger am Lautstärkeregler, ein kurzes Innehalten. Klick – und an.

Das Gespräch

Etwas Vergleichbares war Diana in den Jahren, die sie hier gearbeitet hatte, noch nie passiert. Die Kanzlei war kurzfristig über den Besuch eines äußerst wichtigen Klienten informiert worden. Die gesamte Belegschaft war in Aufruhr. Diana stand an der gläsernen Eingangstür und schaute zurück an den Empfangstisch, an dem Lucy und Emma hastig im Begriff waren, die Termine von Mr. Lloyd zu verlegen. Lucy hielt den Telefonhörer am Ohr und brachte die üblichen Floskeln hervor: unvorhergesehen - Planänderung - unabkömmlich. Emmas Finger tippten ununterbrochen auf die Tastatur des Computers ein, während ihr Blick den Bildschirm fixierte.

Der Aufzug gab ein kurzes Klingeln von sich, bevor er das Stockwerk erreichte. Er stammte aus dem letzten Jahrhundert, wie auch das ganze Gebäude und war aufwendig renoviert worden. Während die Büros nach der Renovierung modern gehalten waren, schien in diesem Aufzug die Zeit stehen geblieben zu sein. Seine Optik erinnerte an die Inneneinrichtung der Titanic. Er war mit Holz vertäfelt und die Innentüren bestanden aus zwei Gittern, die man manuell zurückschieben musste, um ihn zu betreten.

Diana zischte kurz, die Frauen hielten einen Moment inne. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus, in der einzig der eigene Herzschlag wahrzunehmen war. Dann öffneten sich die Türen und gaben den Blick auf den unangekündigten Gast frei.

Ein mittelgroßer, älterer Herr stand in dem Fahrstuhl. Er trug Anzug und Weste, maßgeschneidert, sowie einen Stock mit silbernem Knauf – keinen Gehstock, ein Accessoire. Unter dem Arm hatte er ein kleines Paket.

Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen Teil der Einrichtung halten können. Seine Erscheinung passte zu diesem Aufzug, eine Antiquität, die das Interieur bereicherte.

Diana begrüßte ihn freundlich: „Sir Cavendish Morthall, herzlich willkommen bei Lloyd & Miller. Darf ich Ihnen etwas abnehmen? Ihren Mantel aufhängen?“

„Vielen Dank, das ist nicht nötig“, wehrte er höflich ab und betrat den Eingangsbereich des Büros.

„Wie wäre es mit einem Tee oder einem anderen Getränk, das wir Ihnen in die Besprechung bringen könnten?“

„Alles bestens, meine Liebe, ich komme gerade vom Frühstück.“

Er lächelte Diana freundlich zu, die ihren Blick verunsichert zu Boden senkte.

„Gut, dann werde ich Sie zu Mr. Lloyds Arbeitszimmer begleiten, folgen Sie mir bitte.“

Sie gab sich einen Ruck, während sie einen kurzen Blick in Richtung des Empfangstresens warf, hinter dem Emma und Lucy wie versteinert standen und sich kaum rührten. Sir Cavendish Morthall rief nicht nur durch sein Äußeres große Ehrfurcht hervor, er war einer der einflussreichsten Männer – nicht der Stadt, sondern weltweit. Seine Präsenz war sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik allgegenwärtig und verlieh ihm vielleicht sogar etwas Diabolisches. Höchstpersönlich und ohne Termin in einem Büro zu erscheinen, sorgte zweifellos für Unruhe.

Diana begleitete ihn durch den ausladenden Eingangsbereich des großen Bürokomplexes bis in die weitläufigen Räumlichkeiten hinein, in denen Mr. Lloyd arbeitete. Sie lief schnell und sprach viel. Ihre Hände hielt sie unruhig vor dem Körper und wünschte sich, eine Mappe oder ein paar Blätter zu halten, das hätte einen weitaus professionelleren Eindruck hinterlassen. Sir Cavendish Morthall folgte ihr langsam, aber ohne den Anschluss zu verlieren. Sie liefen den langen Gang entlang, der zu den Räumen der Geschäftsleitung führte.

Nach der Renovierung war die Etage kaum wiederzuerkennen. Die verwinkelten britischen Flure waren verschwunden und durch gerade, lichtdurchflutete Räume ersetzt worden. Die Fassade blieb unverändert, doch moderne Fenster und Oberlichter waren hinzugekommen. Trotz des sonnigen Aprilwetters glaubte Diana, der Himmel verdunkele sich, je weiter sie den Flur entlanggingen – als würden die Lichter hinter ihnen nach und nach erlöschen.

Sie hielt kurz inne und drehte sich um, in der Hoffnung, dieses Gefühl zu entkräften. Aber ihr Blick wurde von den tiefgrünen Augen ihres Begleiters aufgefangen, was sie dazu veranlasste, noch ein wenig schneller zu gehen, um sich baldmöglichst wieder hinter der sicheren Festung des Empfangstisches verschanzen zu können.

„Sir Cavendish Morthall … ich gestehe, es verwirrt mich in der Tat, Sie hier persönlich begrüßen zu dürfen. Das Wort „überrascht“ würde meinem Zustand nicht gerecht werden. Man hat mich erst vor ein paar Minuten über Ihr Kommen informiert. Aber bitte nehmen Sie Platz! Ich hoffe, Sie wurden am Empfang nach Ihren Wünschen gefragt. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Mr. Lloyd schaute seinem Gast direkt in die Augen, während er diesem die Tür öffnete und ihn in sein Büro bat. Seine Hände waren feucht und so vermied er die Begrüßung per Handschlag. Seine Aussage und sein Herzschlag ließen auf ein gewisses Maß an Aufregung schließen, aber seine Gesichtszüge waren ungewöhnlich kontrolliert und offenbarten seinem Gegenüber keinerlei Einsicht in seinen Gemütszustand.

„Ich schätze Ihre erfrischende Ehrlichkeit, mein Lieber. Das unterscheidet Sie noch immer von Ihren Kollegen, die jegliche Natürlichkeit ihrem Job geopfert haben.

Und ich kann Sie beruhigen, Ihre Damen am Empfang haben sich vorbildlich verhalten, ich habe keine offenen Wünsche.“

Sir Cavendish Morthall steuerte geradewegs auf den großen antiken Eichenschreibtisch zu und nahm in einem Ledersessel Platz. Dann öffnete er sein Jackett, lehnte sich bedächtig zurück und schlug die Beine übereinander. Der Tisch befand sich an der Stirnseite des Raumes. Ein Eckzimmer mit Fensterfronten zu beiden Seiten und fast uneingeschränktem Blick auf The Gherkin. Mr. Lloyd lächelte kurz, dieses hochmoderne Gebäude bildete einen seltsamen Kontrast zu dem vornehmen, altehrwürdigen Herren, der soeben sein Büro betreten hatte. Er stand noch immer an der Tür und spielte mit dem Gedanken, seinem Gast einen Whisky anzubieten. Aber offensichtlich handelte es sich hier nicht um irgendein unwichtiges Geschäftsgespräch. Es lag etwas anderes in der Luft. Was immer es sein mochte, ein Drink schien nicht angebracht zu sein.

Somit verwarf er diese Überlegung und begab sich zu seinem Schreibtisch. Er hätte die gemütliche Sitzecke mit Couch, Tisch und den zwei Ohrensesseln im hinteren Teil des Büros bevorzugt, aber sein Besuch hatte sich für die förmlichere Sitzgelegenheit entschieden.

„Ich werde umgehend zum Punkt kommen, Mr. Lloyd. Da ich mir der Anspannung bewusst bin, die mein ungeplantes Erscheinen auslöst.“ Sir Cavendish Morthall hatte beide Hände auf seinen Stock gestützt, und seine perfekt manikürten Finger umspielten den silbernen Knauf.

„Es geht um eine Frage des Vertrauens. Für mich persönlich und für den Verlauf unseres heutigen Treffens ist es überaus wichtig, dass wir ehrlich zueinander sind. Darauf lege ich großen Wert. Denn das, was ich Ihnen erzählen werde, betrifft nicht alleine uns beide.“

Mr. Lloyd lehnte sich gemächlich zurück, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu verlieren. Was in ihm vorging, vermochte er jedoch mühelos zu verbergen.

Sir Cavendish Morthall warf einen kurzen Blick auf das Paket, das er auf Mr. Lloyds Schreibtisch abgelegt hatte, und fuhr dann fort: „Und am Ende unseres Gesprächs habe ich noch ein Geschenk für Sie. Es ist etwas sehr Persönliches und Wertvolles für denjenigen, der es zurückgelassen hat.“

Der Anflug eines Lächelns überzog sein Gesicht, als wäre er voller Erwartung, einem kleinen Kind sein Lieblingsgeschenk zu überreichen.

„Aber nehmen Sie sich bitte Zeit für mich, so wie ich mir Zeit für Sie nehme, und lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte von fünf Frauen. Nennen wir sie A, B, C, D und E.“

Dann winkte Sir Cavendish Morthall ab und verwarf seinen eigenen Gedanken.

„Nein, nennen wir sie Alexandra, Anuschka, Cecilia, Liane und Ella. Die ein oder andere Person mag Ihnen bekannt vorkommen, das ist durchaus so gewollt. Diese fünf Frauen kennen sich bereits sehr lange, ihre engste Verbindung ist jedoch nicht ihre Freundschaft, sondern ihr Geheimnis.“

Zweites Kapitel

Die Tür des Restaurants öffnete sich und ein Luftzug war spürbar, der unweigerlich einige Gäste dazu verleitete, in die Richtung zu schauen, aus der er kam. Anuschka, groß, blond und schlank, stand im Türrahmen und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Die lange, perfekt gestylte Mähne fiel locker über ihre Schultern und mit einer gekonnten Handbewegung schob sie die Sonnenbrille von ihren Augen in die Haare, die dadurch noch ein bisschen besser saßen.

Anuschka entdeckte sofort ihre Freundinnen, lächelte und schlenderte zielsicher auf ihren High Heels an der Bar vorbei. Bewusst wählte sie ihren Weg durch die Menge, damit sich der Duft ihres Parfums mit der frischen Frühlingsluft vermischte und einen zusätzlichen Sinn ansprach.

Das Restaurant, in dem sich die Frauen trafen, war der neue In-Treff der Stadt, nobel und lässig zugleich. Zu der Lokalität gehörten eine Bar und ein Klub. Man sah der Räumlichkeit an, dass sie, bevor sie zum Gourmettempel wurde, eine Art Lagerhalle gewesen sein musste. Hängende Decken waren auf vier bis fünf Meter eingezogen und in unterschiedlichen Höhen angebracht worden. Durch die Zwischenräume war das Dach der Halle zu erahnen. Indirekte Beleuchtung schimmerte daraus hervor und gab dem Setting einen gemütlichen Anstrich.

Am Tisch angekommen, wurde jede der Frauen mit einem Küsschen auf die Wange von Anuschka begrüßt. Sie schien gerannt zu sein, denn ihr Atem ging schnell. Ella bemerkte, wie Liane auf die Uhr schaute. Das Zuspätkommen war keine Überraschung für die Anwesenden, alle hatten damit gerechnet. Anuschka wäre schließlich das erste Mal pünktlich zu einem Treffen erschienen. Nur diesmal hatte sie die Viertelstunde deutlich überschritten, die man sonst von ihr kannte. Für gewöhnlich störte sie sich selbst am wenigsten an ihrer Verspätung, das verärgerte besonders Liane manchmal. Aber heute war ihr eine ungewohnte Anspannung anzumerken. Ella schaute die groß gewachsene Russin durchdringend an. Gab es da Anzeichen, die auf den Zettel an ihrer Windschutzscheibe hinweisen konnten? Bezog der Inhalt sich auf Anuschka? Ella hatte nicht mit ihren Freundinnen über die Nachricht gesprochen, die sie so verunsicherte. Sie wusste selbst noch nicht, was sie davon halten sollte.

„Setz' dich doch erst einmal hin, Anna. Du bist ja völlig aufgeregt.“ Cecilia legte die Hand auf Anuschkas Arm.

„Es tut mir so leid, ich war noch mit Yuri in der russischen Botschaft… für ein Konzert und der Verkehr … ach ihr wisst schon“, winkte sie ab.

Ein Kellner trat herbei, um Anuschka den sommerlichen Kaschmirmantel abzunehmen, und rückte den freien Stuhl am Tisch für sie zurecht. Sie nahm Platz, schaute in die Runde und versuchte, die Anspannung wegzulächeln.

„Schön, euch zu sehen! Es ist ja ewig her, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Zum Glück hat es endlich wieder geklappt. Wir müssen diese Abende häufiger ausrichten.“

Die Frauen hatten die ersten Getränke bereits vor sich auf dem Tisch stehen. Liane warf ihre rote Mähne, die sie heute glatt geföhnt trug, in den Nacken, und wandte sich an Anuschka: „Was möchtest du trinken, Anouk?“

Sie reichte ihr die Getränkekarte.

„Ella und Alex teilen sich eine Flasche Wein. Cecilia und ich haben uns für Cocktails entschieden. Sie haben hier eine einzigartige Karte, da ist sicherlich etwas für dich dabei.“ Die übrigen Freundinnen hatten sich an die Abkürzung Anna für Anuschka gewöhnt, wohingegen Liane sich nicht von der russisch angehauchten Variante des Namens lossagen konnte. Sie bestand darauf, dass für sie Anuschka einfach keine Anna sei. Dabei hatte die Russin alles darangesetzt, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Etliche Monate hatte sie bei verschiedenen Logopäden und Gesangslehrern an ihrem Akzent gearbeitet und war mittlerweile kaum von einer waschechten Britin zu unterscheiden. Selten und nur, wenn sie sich nicht unter Kontrolle hatte, mogelte sich noch ein russisches „R“ in ihre Aussprache. Anuschka griff zur Cocktailkarte und wandte sich dann erneut Liane zu.

„Es ist fantastisch, dass ihr wieder in London seid. Manchmal habe ich dich allerdings um dein Diplomatenleben beneidet. Gibt es etwas Tolleres, als drei Jahre in New York zu leben?“

Liane zwirbelte an einer Haarsträhne und holte damit ihre ursprüngliche lockige Form hervor.

„Ach weißt du, mit der Zeit ist das nicht mehr so aufregend, wie man es sich als Außenstehender zunächst vorstellt. Die amerikanischen Großstädte sind wie Klone, eine gleicht der anderen und Idylle wirkt dort immer irgendwie künstlich. Von den asiatischen Metropolen brauchen wir gar nicht zu reden. Die laugen mich aus. Man findet kein ruhiges Fleckchen mehr. Ich bin froh, wieder in London zu sein.“ Ihr Mann und sie hatten vor nicht allzu langer Zeit den diplomatischen Dienst verlassen, und Liane liebte es, zu Hause zu sein.

Anuschka hatte mittlerweile einen Blick in die Getränke-Karte geworfen und mit einem Mal begannen ihre Augen zu glänzen.

„Oh mein Gott, ich nehme einen Kardamom Bramble. Dass sie hier diesen Cocktail haben, ist ja ein Zufall! Den habe ich früher als junges Mädchen in Moskau …“ Ein plötzlicher Hustenanfall von Ella unterbrach die Unterhaltung. Sie hatte ihr Weinglas nicht mehr unter Kontrolle, sodass es eine gefährliche Neigung erreichte. Alexandra machte eine schnelle Bewegung und fing es auf, bevor sich der Inhalt über den ganzen Tisch ergießen konnte. Ella wurde schwarz vor Augen. Ein Kardamom Bramble! Das konnte nicht wahr sein! Sie hatte diesen Cocktail ebenfalls seit Jahren nicht mehr getrunken. Genau genommen seit ihrem Abschlussball. War das wirklich ein Zufall? Der Zettel? Der Drink in diesem Restaurant? Wer hatte diese Location überhaupt ausgewählt? Anuschka? Nein. Cecilia. Es war Cecilia, die auf diesen Ort bestanden hatte. Anuschka schien außerdem von dem Cocktail in der Karte überrascht gewesen zu sein.

„Ella? Alles okay?“, fragte Alex und schaute sie besorgt an.

„Entschuldige, ich habe mich verschluckt. Tut mir leid.“ Ella legte sich die Hand an die Brust, um wieder atmen zu können. Dann griff sie nach einem Glas Wasser, das sie fest umklammerte und in einem Zug austrank. Nachdem sie es geleert hatte, sah Ella in die verunsicherten Gesichter ihrer Freundinnen und lächelte unbeholfen. Ein Kellner hatte sich dem Tisch genähert, um zu sehen, ob Hilfe gebraucht wurde.

„Es ist alles in Ordnung“, wehrte sie höflich in seine Richtung ab. Ihre Stimme klang noch etwas kratzig.

„Ich habe zu schnell getrunken. Ich sollte es langsamer angehen lassen.“ Alexandra zwinkerte ihr zu und legte beruhigend den Arm um ihre Schulter. Ella versuchte, ruhig zu atmen, und blickte durch den Raum. Cecilia Louise hatte ihnen erzählt, sie hätte bei der Geschäftsführung des Restaurants einen abgeschirmten Tisch angefragt. Und den hatte sie auch bekommen. Sie saßen an einer komplett verglasten Seitenwand der großen Halle, hinter der sich ein kleiner Garten befand. Von hier aus hatte man einen erstklassigen Blick auf das Geschehen im Speisesaal, sowie auf den Eingangsbereich.

„Wir sitzen hier wirklich traumhaft, Cecilia. Wie hast du das nur hinbekommen? Das Restaurant hat doch erst vor Kurzem eröffnet und ist meines Wissens seit Monaten ausgebucht.“ Anuschka sah beeindruckt zu ihrer Freundin hinüber.„Ja, ganz einfach war es nicht, aber über die Eventagentur habe ich persönlichen Kontakt zu dem Geschäftsführer, nur so war es mir möglich, noch einen Tisch für uns zu reservieren.“ Cecilias spitze Nase wippte bei diesen Worten auf und ab. Mit ihrer blonden Hochsteckfrisur strahlte sie beinahe etwas Königliches aus, und das war durchaus beabsichtigt. Als Mitglied einer wohlhabenden Adelsfamilie mit prächtigen Anwesen in ganz Großbritannien und einer eigenen Event-Firma wirkte ihr Alltag wie eine endlose Reihe von glamourösen Partys, Galeriebesuchen und anderen Veranstaltungen.

„Das war vielleicht ein Verkehr heute.“ Anuschka atmete tief durch, nachdem sie den ersten Schluck ihres Cocktails genommen hatte, den sie mit einem anerkennenden Blick würdigte.

„Einige Straßen waren gesperrt. Ich nehme an, es ist wieder irgendein Politiker in der Stadt, damit würde sich auch dieses hohe Polizeiaufkommen erklären. Na ja, …“ Sie zögerte einen Augenblick, sah in die Runde der Frauen, fuhr aber fort: „… und wahrscheinlich wegen des Unglücks im Hotel Palace.“

Dann griff sie fast verlegen zu der Speisekarte, die der Kellner zusammen mit den neuen Cocktails gebracht hatte.

„Unglück ist gut, das war eindeutig Mord! Aber es würde mich gar nicht wundern, wenn in seinen Kreisen der ein oder andere diese Absicht gehegt hat.“ Der abfällige Ton in Lianes Aussage war nicht zu überhören.

„Die Medien sehen darin schon einen Auftragsmord“, sie senkte dabei die Stimme und beugte sich leicht nach vorn. „Kaum Spuren, keine Fingerabdrücke, gar nichts.“ Ihr Blick glitt über die Gesichter der Freundinnen. „Die Behörden schweigen eisern zur Ermittlung. Kein Überwachungsbildmaterial. Er hat angeblich sämtliche Kameras auf der Etage seines Hotelzimmers deaktivieren lassen. Sogar im Aufzug.“ Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sie völlig verständnislos den Kopf schüttelte. „Erstaunlich, dass die Hotels das überhaupt mitgemacht haben.“

Ella hielt sich an ihrer Speisekarte fest und wagte kaum aufzuschauen, ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Liane schien ungewöhnlich gut informiert zu sein über die gestrigen Vorgänge im Hotel Palace.

„Einen Auftragsmord halte ich durchaus für möglich, dieser Mann hatte genug Feinde mit kriminellem Hintergrund, die dazu fähig wären“, stimmte Cecilia ihrer Freundin beiläufig zu und warf dabei ebenfalls einen Blick in das Menü.

„Ihr meint Egidius van Bergen, den südafrikanischen Geschäftsmann?“ Alexandra war die Einzige, die seinen Namen direkt aussprach. Sie musterte Cecilia eindringlich mit ihren stahlblauen Augen. Der Kontrast zu ihren kurzen schwarzen Haaren hatte Ella schon immer fasziniert. In der Schulzeit hätten eigentlich die Verehrer Schlange stehen müssen. Aber ihre selbstbewusste Art hatte die meisten Jungs abgeschreckt.

„Hatte deine Familie Kontakt zu ihm?“

„Nur entfernten geschäftlichen Umgang“, erwiderte Cecilia, wobei sie dem Blick Alexandras auswich.

„Hast du ihn denn jemals kennengelernt?“, bohrte Alexandra weiter. Ella hob den Kopf aus der Speisekarte und fixierte die Befragte.

„Flüchtig, ja, bei einer Gartenparty meiner Eltern“, antwortete sie und sah Alexandra nun direkt an. Noch bevor die nächste Frage von ihr kommen konnte, konterte Cecilia: „Was wird das hier? Ein Verhör?“

Alexandra lächelte und zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht.“

„Und du? Hast du ihn gekannt? In deinem Arbeitsumfeld wird er doch auch sicher sein Unwesen getrieben haben?“ Sie hatte eindeutig klar gemacht, dass sie sich nicht weiter dazu äußern wollte.

Alexandras Arbeitsumfeld, das waren die Banken. Wer darauf abzielte sein Geld anzulegen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie es sich in kürzester Zeit außergewöhnlich lukrativ entwickelte, der war bei ihr an der richtigen Stelle. Alles, was sie tat, war legal, wenn auch nicht immer moralisch einwandfrei. Gelder jonglierte sie mit einer Leichtigkeit einmal um die Welt, um sie dann wieder mit riesigen Gewinnen aufzufangen. Sie war ein Geheimtipp – mit Betonung auf geheim. In der Branche kannte und schätzte man sie, aber wer versuchte, sie zu googeln, wurde kaum fündig.

„Ja, ich habe ihn gekannt. Nicht besonders gut, da ich keine privaten Kontakte mit Geschäftspartnern pflege. Aber ja, wir sind uns auf geschäftlicher Ebene begegnet.“

Alexandra ließ den Wein in ihrem Glas kreisen und sah den gleichmäßigen Wellen einen Moment lang zu. Dann richtete sie erneut den Blick auf Cecilia und fuhr fort: „Er war ein ungewöhnlicher Mensch, über die Maße fokussiert auf das Geschäft, mit messerscharfem Verstand. Aber dann wieder ließ er sich von irgendeinem hübschen Mädchen derart ablenken, dass er lang geplante Geschäftstermine von einem Moment auf den anderen absagte. Äußerst erstaunlich. Empathie gehörte allerdings nicht zu seinen Stärken. Was aber nicht ungewöhnlich ist, in einer solchen Position.“

Ihre drahtig sportliche Figur steckte in einem dunkelblauen Hosenanzug, ihre Arbeitskleidung. Sie war, wie es schien, nach der Arbeit nicht mehr zu Hause gewesen. Ihre Haare waren leicht feucht von der Dusche nach dem Sport. Sie verzichtete nie auf ihre täglichen Kampfsportübungen, die sie in einem einschlägigen Studio der Stadt absolvierte.

„Ach, lasst uns doch über andere Themen reden. Es ist schon ewig her, dass wir uns getroffen haben und wer weiß, wann es das nächste Mal wieder klappt.“ Ella spielte bei diesen Worten angespannt mit einem Ring an ihrer Hand, es fiel ihr schwer, ihre Freundinnen direkt anzusehen. Die Gedanken in ihrem Kopf drehten sich erneut um die Nachricht, die sie an ihrem Auto gefunden hatte. Es handelte sich in dem Schreiben womöglich um den Mord an Egidius van Bergen und alle hier Anwesenden wussten davon.

„Wollen wir die Vorspeisen teilen?“ Cecilia sah in die Runde. Ein Kellner war an den Tisch gekommen, um die ersten Essenbestellungen aufzunehmen.

„Ich war bereits ein paar Mal hier und könnte euch einige Empfehlungen geben.“

„Sehr gerne. Wäre großartig, wenn etwas Vegetarisches dabei ist.“ Alexandra lehnte sich zurück und legte ihre Speisekarte beiseite.

„Aber selbstverständlich, ich esse selber kaum Fleisch. Ich werde eine kleine Auswahl zusammenstellen, die euch schmecken wird. Vertraut mir.“

Cecilia zwinkerte ihren Freundinnen zu, dann winkte sie den Kellner zu sich. Die zwei tauschten seltsame französische Begriffe untereinander aus, sie wies den Ober an, dass man den Büffelmozzarella doch mit der Champagner-Marmelade füllen solle und nicht, wie in der Karte angeboten, mit dem Sherry-Confit. Sie orderte den vegetarischen Kaviar gleich dreimal und warf einen wohlwollenden Blick zu Alexandra. Doch Alexandras Aufmerksamkeit galt einer kleinen Nische auf der anderen Seite der Halle, kaum einsehbar. Der Tisch in der letzten Ecke am Rande der Fensterfront schien leer zu sein, aber das Personal schenkte diesem Teil des Restaurants eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit.

„Was ist, Alex, hast du einen Geist gesehen?“

Ella legte ihre Hand auf die ihrer Freundin und riss sie mit dieser Berührung aus den Gedanken.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt. Ich nahm an, jemanden erkannt zu haben, aber selbst wenn, wäre es unwichtig.“

Sie sah Ella an: „Ich werde mal auf die Toilette gehen, Cecilia scheint ja eine Weile beschäftigt zu sein. Kommst du mit? Wie früher als Teenager?“

„Wir sind nie zu zweit auf die Toilette gegangen, Alex. Was erzählst du da? Du warst viel zu cool für so etwas“, konterte Ella.

„Na, wenn das so ist, dann wird es aber mal Zeit.“

Alexandra hakte ihre Freundin unter und lief mit ihr los. Ella war froh, eine kurze Auszeit von der Unterhaltung am Tisch zu bekommen. Sie wollte unbedingt einen Blick in den Spiegel werfen, um zu sehen, ob ihr all das anzusehen war, was sie beschäftigte. Doch Alexandra hielt plötzlich inne, drehte sich um und blickte erneut in Richtung der schwer einsehbaren Nische, als wäre ihr etwas eingefallen. Ella, die abrupt zum Stehen gebracht worden war, sah ihre Freundin verwundert an.

„Da ist jemand, den du kennst, oder?“

„Es ist eigentlich nicht von Bedeutung, aber es wäre ungewöhnlich, wenn er hier wäre.“

Mit dieser Aussage zog sie Ella erneut mit sich in Richtung der Toiletten.

Das Gespräch

„Waren Sie dort? In dem Restaurant?“ Mr. Lloyd unterbrach die Erzählung seines Gastes.

„Das tut eigentlich gar nichts zur Sache“, erwiderte Sir Cavendish Morthall. „Aber wenn man sich die Ereignisse des Vortages durch den Kopf gehen lässt, wäre meine Anwesenheit vor Ort durchaus angebracht. Schließlich war es überaus wichtig, die Sache nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.“

„Die Sache? Sie meinen den Vorfall vom Vortag?“, wiederholte Mr. Lloyd nachdenklich.

„Gab es denn die Möglichkeit der Kontrolle? Im Nachhinein, meine ich?“

„Sie stellen außergewöhnlich gute Fragen Mr. Lloyd. Kennen Sie meine Theorie zur Veränderung der Vergangenheit?“

„Wurde diese in irgendwelchen einschlägigen Magazinen veröffentlicht? Ich muss leider gestehen, dass sie mir nicht geläufig ist.“

Sir Cavendish Morthall lächelte, er schätzte Mr. Lloyds Sarkasmus.

„Wir sind uns doch einig, dass die Vergangenheit unveränderlich ist, oder? Aber was ist mit subjektiven Wahrnehmungen? Nehmen wir einmal an, jemand gesteht Ihnen seine Liebe – vielleicht jemand, den Sie schon lange kennen. Und mit einem Mal können sich Ereignisse der Vergangenheit in Ihrer Wahrnehmung grundlegend ändern. Angenommen, Ihre Frau teilt Ihnen heute Abend mit, dass sie Sie verlässt, weil sie seit einigen Monaten eine Affäre mit Ihrem besten Freund hat. Plötzlich sehen Sie die Ereignisse der letzten Wochen mit Ihrem Freund und Ihrer Frau völlig anders. Die Vergangenheit hat sich für Sie verändert.“

Sir Cavendish Morthall hielt inne und sah sein Gegenüber erwartungsvoll an.

„Eine über die Maße interessante Theorie. Aus dieser Sicht habe ich die Dinge noch nie betrachtet. Aber was hat das mit unserer Unterhaltung zu tun? Ich hoffe doch sehr, dass das Beispiel mit meiner Frau nicht aus einer vertrauenswürdigen Quelle stammt.“ Wieder ein zynisches Lächeln auf den Lippen von Mr. Lloyd.

„Stellen Sie sich vor, Sie glauben, einen Mord begangen zu haben. Sie haben jemanden niedergeschlagen, und es stellt sich heraus, dass die Person tatsächlich gestorben ist. Was ginge in Ihnen vor, wenn Sie zu einem späteren Zeitpunkt feststellen würden, dass nicht Sie für den Tod verantwortlich waren, sondern ein anderer? Oder es sogar eine Gruppe von möglichen Tätern gibt, darunter Menschen, denen Sie sehr nahestehen und von denen Sie so etwas nie erwartet hätten. Ihre gesamte Vergangenheit könnte sich ändern, sogar bis zurück in Ihre Kindheit.“

Dann warf er einen vielsagenden Blick auf Mr. Lloyd.

„Und wer weiß, vielleicht ändert sich nach unserem heutigen Gespräch sogar Ihre Wahrnehmung meiner Person.“

Drittes Kapitel

„Erzähl doch mal, Anna – warum warst du mit Yuri in der Botschaft?“

Nachdem Ella mit Alexandra von der Toilette zurückgekehrt war, versuchte sie die Unterhaltung wieder ins Laufen zu bringen. Und Anuschkas Sohn war genau das richtige Thema dafür.

„Ich befürchtete schon, ihr fragt nie!“ Das Lachen stand Anuschka ausgezeichnet und es schwang darin eine gewisse Erleichterung mit.

„Es ist ja kein Geheimnis, dass es mir wichtig ist, die Kinder musikalisch zu erziehen. Aber es freut mich doch jedes Mal, wenn Yuri eine so große Chance erhält wie dieses Konzert heute. Es waren sehr einflussreiche Gäste geladen. Aus solchen Gelegenheiten entwickelt sich schon mal etwas Besonderes.“

„Yuri hat doch ein großes Talent, ich denke, er wird seinen Weg gehen. Zu derartigen Anlässen wird er gewiss öfter eingeladen.“

Cecilia sprach das aus, was alle am Tisch wussten. Yuris Fähigkeiten reichten weit über das hinaus, was die meisten Kinder in der Musikschule und bei Privatlehrern erlernten. Er besaß ein unvergleichliches musikalisches Verständnis und vermochte es, jedem Stück eine Seele zu verleihen.

Anuschka sah ihre Freundin etwas nachdenklich an. Sie spielte mit den Fingern am Besteck.

„Das ist schon richtig, Cecilia, aber Andrew ist der Meinung, ich bin eine totale Tiger Mama und solle ihm seine Freiheit lassen. Ich glaube sogar, er ist davon überzeugt, dass Yuri von sich aus gar nicht mehr Klavier spielen würde, sondern es nur für mich tut.“

„Das stimmt doch gar nicht, Anouk.“ Liane stellte ihr Glas ab.

„Es ist naheliegend, dass ein junger Mann, der er ja mit sechzehn Jahren schon ist, sich nichts mehr von seiner Mutter sagen lässt. Er liebt die Musik, das ist nicht zu übersehen. Ich glaube eher, dass Andrew Schwierigkeiten mit Yuris Erfolg hat.“

Anuschka schaute sie verwundert an.

„Meinst du? Warum sollte er ein Problem damit haben?“

Liane seufzte, womöglich war sie mit dieser Aussage über das Ziel hinausgeschossen.

„Ich hatte immer das Gefühl, es fehle ihm das Interesse an Yuris Erfolgen. Ich denke, jede von uns hier am Tisch hat schon mehr Konzerte von Yuri besucht als er. Bitte versteh mich nicht falsch, Anouk, Andrew ist viel unterwegs. Er findet in seiner Position als Vorstand nicht immer die Zeit für private Ereignisse. Ich will ihm nicht unterstellen, dass er nicht an seinem Sohn interessiert wäre. Womöglich liegt es an der klassischen Musik, unter Umständen würde er mehr Begeisterung aufbringen, wenn Yuri Cricket spielen würde oder so.“