Das Schandmal - Marco Rievel - E-Book

Das Schandmal E-Book

Marco Rievel

4,8

Beschreibung

Der Tod eines Stalkers zwingt Simone und Sven, in ihrem Bekanntenkreis zu ermitteln. Simone zweifelt an Svens Objektivität, da ihr Partner sich für eine der Hauptverdächtigen interessiert. Hinzu kommt, dass sie das Mordopfer zum Todeszeitpunkt observiert hatte, ohne ihre Überwachung mit dem Partner abzusprechen. Als ihre Eigeninitiative herauskommt, wird ihnen ein unbeliebter Kollege als Ermittlungsleiter zugeteilt, was die Disharmonie im Team verstärkt. Der Oberkommissar versucht, sie gegeneinander auszuspielen, während die Ermittlungen sich im Kreis bewegen und scheinbar alle Verdächtigen lügen. Werden die beiden Kommissare es schaffen den Täter zu überführen oder wird ihre Partnerschaft an den internen Querelen zerbrechen?

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Das Schandmal

Marco Rievel

Das Schandmal

Marco Rievel

© 2015 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

© Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Buch: 9783864433900

ISBN e-Book-PDF: 9783864433917

ISBN e-Book-epub: 9783864433924

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Januar

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Juli

Der Autor

Die Spur der Tränen - Mark Neustädter

Januar

Wehmütig öffnete Alexandra Henschel die Augen und ließ ihren Blick durch das sonnendurchflutete Zimmer gleiten. Erinnerungen an ihre Kindheit drängten in ihr Bewusstsein. Glückliche Jahre hatte sie hier verbracht. Ihre erste Liebe, der Kummer als diese zerbrach. Alle menschlichen Empfindungen hatte sie in diesem Raum durchlebt, doch nie hatte sie den Glauben an sich verloren.

Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Sie würde heute abreisen und die Behaglichkeit des elterlichen Hauses bis zu ihrem nächsten Urlaub zurücklassen.

Sie atmete tief ein, versuchte, die beschauliche Ruhe und das Gefühl der Geborgenheit aufzusaugen. Vor dem Fenster ragten hohe Tannen in den strahlend blauen, frostigen Himmel. Eisblumen verzierten die äußere Scheibe der Doppelfenster, in denen sich die Strahlen der aufgehenden Sonne brachen.

Alexandra kuschelte sich unter dem dicken Federbett ein und lauschte den vertrauten Geräuschen, die gedämpft aus dem Erdgeschoss herauf drangen. Ihre Mutter hantierte in der Küche und bereitete wie jeden Morgen das Frühstück vor. Das Knarren der Tür gegenüber ihres Zimmers übertönte die gleichmäßige Monotonie der bekannten Abläufe.

Ihr Bruder war aufgestanden. Kurz darauf klopfte er an ihre Tür und betrat den Raum.

»Aufstehen, du Schlafmütze!«

Sie hob den Kopf und lächelte ihn an. »Ich habe Urlaub! Da kann ich es mir erlauben auszuschlafen.«

»Nur, wenn du auf das ausgiebige, opulente Mahl verzichten willst, das unsere alte Dame gerade zubereitet. Ich geh jedenfalls runter. Mein Magen knurrt.« Peter zog grinsend die Tür hinter sich zu. Sie hörte die leiser werdenden Schritte auf den knarrenden Bohlen der Holztreppe, bis diese völlig verstummten.

Seufzend schlug sie das Oberbett zur Seite. Mit der Wärme verschwanden auch die glücklichen Erinnerungen an ihre Kindheit. Die Realität holte sie ein. Die letzten Tage hatten ihr gut getan. Sie hatte durchgeschlafen und war nicht von ihren Albträumen aus dem Schlaf gerissen worden. Nur widerwillig erhob sie sich, schlenderte ins Bad und warf sich lauwarmes Wasser ins Gesicht.

Eine halbe Stunde später stieg sie die Treppe hinunter. Ehe sie die Küche betrat, hielt sie inne, atmete tief durch und setzte ein unverbindliches Lächeln auf.

»Hallo, mein Liebling.« Ihre Mutter stellte in bester Laune eine abgedeckte Pfanne mit Rührei auf den Tisch. Zufriedenheit lag in ihrem Blick.

Wer soll das nur essen, fragte sich Alexandra und dachte an das eher kärgliche Frühstück, das sie sich selbst in ihrer Wohnung zubereitete. Sie fand vor der Arbeit keine Zeit für eine ausgiebige Mahlzeit. Umso mehr genoss sie den Aufenthalt und die Aufmerksamkeit in ihrem Elternhaus, wo die Familie ihr sämtliche Vorbereitungen abnahm.

Sie trat auf die stämmige Frau zu und küsste sie auf die Wangen. »Morgen, Mama.«

»Setz dich schon mal hin. Dein Vater und Peter kommen gleich.«

Sie trat an den Tisch und zog den massiven Holzstuhl zu sich heran. Ihren Stuhl, auf dem sie auch als Heranwachsende gesessen hatte. Sie griff nach dem Orangensaft, der eingeschenkt vor ihr stand. Wie immer, wenn sie ihre Eltern besuchte, legten diese Wert darauf, dass alles perfekt war. Als wollten sie ihre Tochter zurückholen. Eine verlockende Vorstellung. Hier könnte Dieter sie nicht belästigen.

Ihr Blick schweifte über den Tisch. Neben dem Korb für die Brötchen waren drei Gläser selbst gemachter Marmelade platziert. Bestimmt hatte ihre Mutter auch schon welche zur Seite gestellt, um sie ihr später mitzugeben.

»Soll ich Kaffee einschenken?« Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.

»Gern.«

Ihre Mutter goss eine Tasse ein und stellte sie vor sie hin, ehe sie ihre eigene füllte. Sie trank vorsichtig einen Schluck, bevor sie sich Alexandra mit ernster Miene zuwandte.

»Musst du wirklich heute schon abreisen?«

Erneut flackerte der Wunsch auf, sich hierher zurückzuziehen. In die Geborgenheit der elterlichen Gemeinschaft. Aber so verlockend diese Vorstellung auch war, es wäre ein Schritt in die Vergangenheit.

»Ja, leider«, antwortete Alexandra entschlossen. Sie würde der Versuchung nicht nachgeben, vor ihren Problemen davonzulaufen. Sie war eine erwachsene Frau, sie stand mit beiden Beinen im Leben. Und ihre Freiheit würde sie zu verteidigen wissen. Selbst gegen einen aufdringlichen Ex-Partner, der über die Trennung nicht hinwegkam. Obwohl sein Verhalten sie beunruhigte. Oder war es inzwischen Angst, die sie verspürte?

»Du hast doch noch eine ganze Woche Urlaub. Du könntest am Wochenende zurückfahren.«

Sofort schüttelte sie den Kopf. »Ich habe einiges zu erledigen. Wenn ich erst wieder arbeite, komme ich nicht mehr dazu.«

»Schade.« Ein bedauerndes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Mutter. »Dein Freund wird sich bestimmt freuen, dass du so früh zurückkommst. Nächstes Mal kommt ihr uns aber gemeinsam besuchen! Schließlich will ich ihn auch mal kennenlernen.«

»Das machen wir«, versicherte Alexandra kurz angebunden und führte ihre Tasse zum Mund.

Erleichtert hörte sie, dass die Haustür geöffnet wurde.

»Schuhe abtreten«, rief ihre Mutter.

Lachen und Aufstöhnen ertönte von draußen, gleich darauf traten die beiden Männer der Familie in die Küche. Alexandra atmete auf.

Die beiden bewahrten sie vor einem unangenehmen Gespräch über einen Lebenspartner, von dem sie sich getrennt hatte.

»Hallo, Kleines«, begrüßte ihr Vater sie und strich ihr mit den Fingern durch die Haare. Peter schüttete die Brötchen aus der Tüte in den Korb und setzte sich.

Er warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie mit einem zuversichtlichen Lächeln erwiderte. Er war der Einzige, dem sie von der Trennung erzählt hatte. Und von dem Ärger, der daraufhin begonnen hatte. Für Dieter war die Beziehung noch lange nicht beendet. Er stellte ihr nach. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie so die Gedanken daran zurückdrängen.

Ihr Bruder nickte ihr aufmunternd zu, doch in seinen braunen Augen spiegelte sich seine Besorgnis. Es missfiel ihm, dass seine jüngere Schwester wieder nach Altendorf zurückkehren musste. Wo ein blöder Spinner, wie er ihren aufdringlichen Verehrer tituliert hatte, bereits auf sie wartete.

Alexandra schluckte. Sie verspürte bei dem Gedanken, ebenfalls einen Kloß im Hals. Dabei hatte ihr Schritt in ein selbstbestimmtes Leben so gut begonnen.

Vor einem Jahr war sie stolz gewesen, als sie die Stelle am Rande des Ruhrgebiets bekommen hatte. Sie hatte sich eine gemütliche Wohnung in dem ländlichen Ortsteil gesucht, da sie es sich nicht vorstellen konnte, in einer Großstadt zu wohnen. Die halbstündige Fahrt zu ihrer Arbeitsstelle nahm sie gern in Kauf. Die Nähe zur Natur vermittelte ihr ein Gefühl der Geborgenheit, das sie aus ihrer Kindheit kannte.

Ihre Eigenständigkeit gefiel ihr am besten und dann traf sie Dieter. Dieter Cassel: 1,85 m groß, athletisch gebaut, mit dunkler Stimme und kurzen blonden Haaren.

Es dauerte nicht lange, bis sie sich in ihn verliebte. Seine Aufmerksamkeit und seine Hilfsbereitschaft halfen ihr, sich in der neuen Umgebung einzugewöhnen.

Fast ebenso schnell hatte sie jedoch seine Schattenseiten kennengelernt. Seine Gefälligkeiten waren keineswegs uneigennützig. Sie dienten lediglich dazu, sie zu dominieren. Seine Lügen wurden immer offensichtlicher. Selbst unwichtige Ereignisse bauschte er mit haarsträubenden Details unnötig auf.

Als sie ihn darauf ansprach, gestand er erheitert seine Übertreibungen. Ihr Missfallen und ihre Kritik prallten an seinem Selbstbewusstsein ab. Irgendwann begann er, sie zu kontrollieren. Zunächst mit Anrufen und schließlich tauchte er wie zufällig in ihrer Nähe auf. Vor ihrem Büro, im Supermarkt und sogar in der Kneipe, in der sie mit zwei Arbeitskolleginnen den Abend verbrachte. Diese Begebenheit war der Auslöser für ihre Entscheidung. Sie sah keine Alternative, als sich von ihm zu trennen. Doch statt der erhofften Ruhe verstärkte er seine Bemühungen, ihr zu imponieren. Sein Verhalten war noch aggressiver geworden.

»Nun greif zu.« Ihr Bruder riss sie aus ihren Gedanken. Alexandra zuckte zusammen.

Mit besorgter Miene hielt Peter ihr den Brotkorb hin. Sie nahm sich ein Kürbiskernbrötchen, knibbelte die außen anhaftenden Kerne ab und überlegte, womit sie das Brötchen belegen sollte.

Ihr Vater reichte ihr den Aschekäse, was sie zum Lächeln brachte. Für ihn stand fest, dass sich die Vorlieben seiner Tochter nie ändern würden.

Anderthalb Stunden später lehnte sie sich gesättigt auf ihrem Stuhl nach hinten. Sie holte tief Luft und strich sich mit den Händen über den Bauch.

»Das ist genug für einen ganzen Monat«, sagte sie zu ihrer Mutter, die sie zufrieden anblickte.

»Willst du dich etwas ausruhen, bevor du aufbrichst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fahre nicht gern im Dunkeln. Ich werde mich gleich auf den Weg machen.«

Sie erhob sich. Während ihre Eltern den Tisch abräumten, trug ihr Bruder den Koffer zu ihrem Micra.

Sie schlug den Kofferraum zu und wollte wieder zum Haus gehen, doch er hielt sie am Arm zurück.

»Ich hoffe, dass der Spinner dich in Ruhe lässt?«

»Bestimmt. Schließlich war ich zwei Wochen für ihn unerreichbar. Wahrscheinlich hat er sich bereits eine Neue angelacht«, erwiderte sie zuversichtlich. Obwohl sie selbst nicht an ihre Worte glaubte. Auch Peter teilte ihren Optimismus nicht. Er blickte sie ernst an.

»Falls er dich weiterhin belästigt, rufst du mich sofort an«, sagte er eindringlich. »Ich kann mir ein paar Tage freinehmen. Dann kümmere ich mich persönlich um ihn.« Seine Miene verfinsterte sich. »Danach wird er es nicht einmal mehr wagen, dich anzuschauen!«

Alexandra schluckte. In seinen Augen flackerten Hass und Besorgnis. Beruhigend drückte sie seine Hand.

»Ich werde auf mich aufpassen. Und wenn er wirklich nicht aufhört, mir nachzustellen, rufe ich dich an.«

»Versprochen?«

Sie nickte. »Versprochen.«

Sein Gesicht entspannte sich etwas. Gemeinsam stapften sie durch den Schnee zurück zum Haus.

Beim Abschied unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen. Schon als sie zu ihrem Micra ging, vermisste sie das Gefühl der Geborgenheit, das sie in den letzten zwei Wochen genossen hatte.

Sie winkte der Familie, ehe sie startete, hupte und dann das Fahrzeug vorsichtig auf die Fahrbahn lenkte. Im Rückspiegel verschwand das Elternhaus zwischen den schneebedeckten Kuppen der Landschaft.

Jetzt war sie wieder auf sich allein gestellt. Sie schaltete das Radio ein und hörte aufmerksam die Verkehrsmeldungen. Als sie die schmalen winterlichen Straßen des Dorfes hinter sich ließ und auf die Autobahn auffuhr, atmete sie auf. Der Räumdienst hatte es geschafft, die rechte Fahrspur frei zu halten. Alexandra drehte die Musik lauter und erhöhte die Geschwindigkeit.

Viereinhalb Stunden später fuhr sie von der Autobahn ab. Mit jedem Kilometer, den sie sich Altendorf genähert hatte, hatte ihre Unruhe zugenommen. Die Gedanken an ihren Ex-Freund ergriffen von ihr Besitz, als gäbe es die letzten zwei Wochen ohne ihn nicht. Die Zuversicht, dass er sie vergessen hatte, hatte sich verflüchtigt.

Mit feuchten Fingern umklammerte sie das Lenkrad und bog in die kleine Gasse ein, in der sie wohnte. Nervös taxierte sie die Menschen, die auf dem Bürgersteig unterwegs waren. Zu ihrer Erleichterung konnte sie weder Dieter noch seinen weißen BMW entdecken. Sie parkte direkt vor dem Haus. Sie trug den Koffer in die Wohnung und holte die restlichen Sachen aus dem Wagen. Im Vorbeigehen öffnete sie den Briefkasten, obwohl sie bei der Post einen Antrag gestellt hatte, ihre Sendungen zu lagern. Mehrere Prospekte purzelten auf den Boden und gaben den zusammengedrückten Inhalt frei.

Sie schnappte nach Luft und erstarrte. Der Stoffbeutel mit dem Essenspaket entglitt ihrer Hand und klatschte auf die Steinfliesen im Flur. Das Geräusch der zerbrechenden Marmeladengläser riss sie aus ihrer Erstarrung. Ihr Schrecken verwandelte sich in Wut. Wut über die Unverschämtheit ihres Ex-Freundes.

Mit klopfendem Herzen griff sie nach den drei vertrockneten Rosen. Sie brauchte den an jedem Stiel befestigten Zettel nicht zu lesen.

Er hatte sie keineswegs vergessen.

Sie verließ das Haus und warf die Schnittblumen angewidert in eine der Mülltonnen neben dem Eingang.

Bevor die Tür zufiel, glitt ihr Blick unsicher die Straße entlang. Saß er in seinem Wagen und beobachtete sie?

Frustriert trug sie die beiden Taschen nach oben.

Nur der gut eingepackte Aschekäse, den ihre Mutter aus dem benachbarten Elsass holte, hatte den Sturz unbeschadet überstanden. Sie verstaute ihn im Kühlschrank und hievte den Beutel mit den zerschlagenen Gläsern in eine Plastiktüte, die sie im Hausflur abstellte. Heute würde sie den Müll nicht mehr hinunterbringen.

Alexandra schloss die Wohnungstür zweimal ab. Diese Eigenart war nach der Trennung zu einer festen Gewohnheit geworden. Sie gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, das sie außerhalb ihrer Wohnung nicht verspürte.

Sie drehte die Heizung höher und machte es sich auf der Couch unter ihrer dicken Wolldecke gemütlich. Mit der Fernbedienung schaltete sie den Fernseher ein, ohne sich jedoch auf das Programm konzentrieren zu können. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab.

»Die Rosen sind vertrocknet«, murmelte sie leise, selbstberuhigend vor sich hin. Vielleicht hatte er sie direkt nach ihrer Abreise in den Briefkasten geworfen? Dann wäre er drei Mal hierher gekommen. Wahrscheinlich an aufeinanderfolgenden Tagen. Die restliche Zeit gab es keinerlei Hinweise auf ihn. Wusste er, dass sie zu ihren Eltern gefahren war, oder hatte er es aufgegeben? Ein Hoffnungsschimmer flammte in ihr auf. War eine andere Partnerin in sein Leben getreten? Auch wenn sie es keiner Frau wünschte, sich mit ihm einzulassen, konnte sie das Behagen bei der Vorstellung nicht unterdrücken.

Schließlich schlief sie ein.

Die anschwellende Klingelmelodie ihres Handys holte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Verwirrt griff sie nach dem Handy. Nach der Trennung von Dieter hatte sie den Anbieter gewechselt. Die Nummer kannte nur ihre Familie und einige befreundete Arbeitskolleginnen.

Verschlafen meldete sie sich.

»Wo bist du?«, klang die besorgte Stimme ihres Bruders aus dem Lautsprecher.

»Zu Hause«, antwortete sie krächzend und richtete sich stöhnend auf. Ihr Nacken schmerzte.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich bin eingeschlafen.«

»Hast du vergessen das Telefon einzustöpseln?!«

»Ja. Ich wollte es mir nur ein paar Minuten bequem machen.«

»Mutter hat sich bereits Sorgen gemacht«, drang es vorwurfsvoll aus dem Hörer. Aber auch Erleichterung schwang in seinen Worten mit.

»Sag ihr, dass ich eingenickt bin und mich morgen bei ihr melde.« Alexandra unterdrückte ein Gähnen. Für einen Moment überlegte sie, ihm von den Rosen zu erzählen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Was sollte er schon ausrichten? Vielleicht hatte Dieter es ja doch aufgegeben, sie zu verfolgen. Dann würde sie ihren Bruder umsonst beunruhigen. Sie beschloss ihm nichts zu sagen und beendete das Gespräch.

Sie erhob sich von der Couch, schaltete den Fernseher aus und ging ins Bad. Bevor sie ins Schlafzimmer verschwand, überprüfte sie noch einmal die Wohnungstür und löschte das Licht.

Am nächsten Morgen wachte sie verschwitzt auf. Immer wieder hatte sich ihr Ex in ihre Träume geschlichen und sie schweißgebadet aus dem Schlaf gerissen. Völlig übermüdet stieg sie beim ersten Tageslicht aus dem Bett.

Es hatte geschneit und ein zarter weißer Flaum hatte die Äste der Linde vor ihrem Küchenfenster ebenso wie die Dächer der Häuser und die Straße überzogen. Sie war froh, dass sie entgegen dem Wunsch ihrer Mutter, doch schon am Vortag heimgekehrt war. Graue, schneebeladene Wolken hingen bedrohlich tief über der Stadt.

Alexandra stellte sich unter die Dusche. Das prasselnde, warme Wasser vertrieb langsam die trüben Gedanken an die unerfreuliche Nacht. Erfrischt setzte sie sich eine Weile später an den Küchentisch und schrieb ihre Einkaufsliste.

Sie holte ihre Steppjacke aus dem Schrank, bevor sie sich in die Winterstiefel zwängte. Ihr Vorhaben mit dem Micra zum nahe gelegenen Supermarkt zu fahren verwarf sie wieder. Die Stadtverwaltung unterließ es, trotz zahlreicher Proteste der Anwohner, die Nebenstraßen in dem abgelegenen Ortsteil freizuräumen. Dadurch wurde jede Fahrt zu einem halsbrecherischen Abenteuer.

Zu Fuß zu gehen würde ihr auch nicht schaden. In den zwei Wochen bei ihren Eltern hatte sie drei Kilo zugenommen. Ein kurzer Spaziergang wäre ein Anfang, ihr Körpergewicht zu reduzieren.

Auf dem Heimweg bedauerte sie ihren Entschluss. Mit voll bepackten Taschen stakte sie keuchend den mit Split übersäten Bürgersteig entlang.

Sie erstarrte, als sie ihren Wagen sah.

Das in den Schnee der Windschutzscheibe gezeichnete Herz stach ihr sofort ins Auge. Erst danach entdeckte sie die rote Rose mit der befestigten Karte, die unter dem Wischerblatt klemmte. Langsam ging sie darauf zu. Mit einer Handbewegung wischte sie die Scheibe frei und zog die Blume hinter dem Wischer hervor.

Schön, dass Du wieder da bist, stand in Dieters krakeliger Handschrift auf dem Zettel. Eine Schrift, die sie bedauerlicherweise nur zu gut kannte. Er hatte sie also nicht vergessen.

Alexandra atmete tief durch. Sie verdrängte die aufkeimende Hoffnungslosigkeit. Wütend schnaubte sie. Sie würde nicht zulassen, dass er ihr Leben weiterhin bestimmte!

Auf dem Weg zur Haustür warf sie die Rose zu den anderen in die Mülltonne. Sie trug die Einkäufe nach oben, verstaute sie in der Küche und starrte verärgert aus dem Fenster. Nach kurzem Zögern griff sie zum Telefon und wählte die Nummer ihres Bruders.

»So ein Arschloch!«, dröhnte Peters aufgebrachte Stimme aus dem Hörer, »Ich werde mir nächste Woche ein paar Tage freinehmen. Dann kümmere ich mich persönlich um ihn.«

»Mama darf es aber nicht wissen. Sie soll sich keine Sorgen machen.«

»Natürlich nicht. Mir wird schon was einfallen. Rufe sie heute noch an. Und ich melde mich bei dir, sobald ich weiß, mit welchem Zug ich komme, damit du mich vom Bahnhof abholen kannst.«

Sie verabschiedeten sich.

Bevor Alexandra das unausweichliche Gespräch mit ihrer Mutter führte, machte sie sich einen frischen Kaffee und setzte sich auf die Couch im Wohnzimmer.

Eine halbe Stunde später legte sie erleichtert das Handy zur Seite. Die berechtigten Vorwürfe, weil sie sich am Vortag nicht mehr gemeldet hatte, hatte sie wortlos über sich ergehen lassen.

Viel bedeutsamer war die Zusage ihres Bruders, dass er sich um Dieter kümmern würde. Peter hatte bestimmt andere Möglichkeiten als sie.

Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. Obwohl sie Gewalt verabscheute, konnte sie sich bei dem Gedanken, dass er ihren aufdringlichen Verehrer verprügelte, einer gewissen Genugtuung nicht erwehren.

Es wäre eine gerechte Strafe für die Monate, in denen sie Angst und Unsicherheit ausgestanden hatte. Schließlich hatte sie sich kaum noch aus dem Haus getraut, aus Sorge ihm zu begegnen.

Doch das ist bald vorbei, dachte sie lächelnd und nippte an ihrer Tasse.

Am Nachmittag ging sie bei ihrer Arbeitsstelle vorbei, wo sie von den Kolleginnen freudig begrüßt wurde. Sie genoss die Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte, und blieb länger als sie es geplant hatte. Es dämmerte bereits, als sie sich auf den Heimweg machte.

An einer Verkehrsampel musste sie halten. Neben ihr hielt ein weißer BMW. Alexandra schaute aus dem Seitenfenster. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Dieter!

Unverschämt grinsend winkte er ihr lässig zu. Ihr Kopf zuckte zurück. Das Herz begann zu rasen.

Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Mit aufeinander gepressten Lippen starrte sie nach vorn. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad.

Die Ampel schaltete auf grün. Sie kuppelte hastig ein. Der Nissan ruckelte, schließlich erstarb der Motor.

Hupend fuhr ihr Ex-Freund davon.

Sie zwang sich zur Ruhe. Der Honda hinter ihr scherte aus und preschte an ihr vorbei. Sie warf der Fahrerin ein verlegenes Lächeln zu.

Sie atmete durch und drehte den Zündschlüssel. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass ein Wiedersehen mit ihm, sie so verunsichern würde.

»Nächste Woche kommt Peter«, murmelte sie leise vor sich hin. »Dann hat der Spuk ein Ende.«

Doch sie hatte nicht mit der Hartnäckigkeit ihres Stalkers gerechnet. Es verging kein Tag, an dem er nicht in ihrer Nähe erschien. Als wolle er sie mit seiner Überpräsenz dafür bestrafen, dass sie sich seinem Zugriff so lange entzogen hatte.

Kein Tag ohne eine Rose im Briefkasten oder an ihrem Wagen. Stets mit einem Zettel versehen, auf dem er ihr seine Liebe versicherte und ihre gemeinsame Zukunft heraufbeschwor. Eine Zukunft, an der sie kein Interesse hatte.

Seine Aufdringlichkeit verunsicherte sie immer stärker. Selbst die täglichen Telefongespräche mit ihrem Bruder beruhigten sie nur kurz. Ihre Nervosität steigerte sich mit jeder Begegnung. Abends saß sie bei ausgeschaltetem Licht in ihrer Wohnung, damit er nicht wusste, ob sie zu Hause war.

Regelmäßig schlich sie zum Fenster und schob die Gardine vorsichtig ein kleines Stück zur Seite. Gerade so viel, dass sie die Straße bis zur nächsten Kreuzung einsehen konnte. Wartete er dort draußen auf sie?

Obwohl sie vor dem Zubettgehen mehrmals überprüfte, ob die Tür richtig verschlossen war, fand sie keinen Schlaf. Beim leisesten Geräusch schreckte sie schweißgebadet auf.

An dem Tag, an dem sie Peter abholen wollte, besserte sich ihre Laune. Der Gedanke daran, dass alles bald zu Ende war, verlieh ihr neue Zuversicht. Die Aussicht, dass er eine Woche bei ihr bleiben und ihren Ex zur Räson bringen würde, ließen sie bereits am frühen Morgen aufwachen. Den ganzen Tag über vertrieb sie sich das Warten mit überflüssigen Hausarbeiten. Doch der Schlafmangel der letzten Tage und Nächte forderte seinen Tribut.

Völlig übermüdet machte sie sich um zwanzig Uhr auf den Weg zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof.

Nachdem sie Altendorf verlassen hatte, bemerkte sie einen Wagen, der ihr offensichtlich folgte. Oder litt sie schon an Verfolgungswahn? Sie drosselte das Tempo und beobachtete im Rückspiegel ihren Verfolger. Er wurde langsamer.

Erst als sie nur noch dreißig fuhr, schloss das Fahrzeug auf und wechselte auf die linke Spur. Statt vorbeizuziehen, tuckerte er gemächlich neben ihr her. Sie drehte den Kopf zur Seite.

Dieter winkte ihr grinsend zu, bevor er einige Meter vor ihr wieder einscherte. Dann verringerte er die Geschwindigkeit immer weiter. Genervt schlug Alexandra aufs Lenkrad. Wenn es so weiterging, befürchtete sie, nicht rechtzeitig am Bahnhof zu sein.

»Du Bastard wirst dich wundern«, sagte sie wütend und setzte zum Überholen an. Als sie sich auf gleicher Höhe befand, beschleunigte er. Sie drückte das Gaspedal durch, hatte gegen den deutlich stärker motorisierten BMW jedoch keine Chance.

Den Wagen, der ihr entgegen kam, bemerkte sie zu spät. Mit aufgerissenen Augen riss sie das Steuer herum. Ihr Micra kam von der Straße ab, rutschte in den Graben und überschlug sich mehrmals. Etwas schmerzte unerträglich, dann verlor sie das Bewusstsein.

*

Sven Gruner vergrub seine Hände in den Taschen der rauchblauen Daunenjacke. Trotz der gefütterten Snowboots trat er von einem Fuß auf den anderen, um die Taubheit zu vertreiben, die langsam von seinen Beinen Besitz ergriff. Er blickte auf die Anzeigetafel. Der Zug aus Münster, mit dem seine Kollegin Simone Vollmer eintreffen sollte, würde sich um fünfzehn Minuten verspäten. Er fluchte leise und zog die Schachtel Zigaretten aus der Jacke. Er zündete sich eine an und sog den Qualm tief ein. Die frostige Luft auf dem zugigen Bahnsteig verleidete ihm allerdings den Genuss. Seine Finger färbten sich rot vor Kälte. Sein letztes Paar Handschuhe hatte er vor einer Woche in den Müll geworfen, nachdem beim Rauchen zwei der Lederimitatfinger angeschmort waren.

Hastig rauchte er auf, warf die Kippe in den aufgestellten Ascher und vergrub seine Hand rasch wieder in die wärmende Jackentasche.

Auf der Stelle tretend schaute er sich um.

Eine große schlanke Frau, die, ebenso wie er, versuchte ihre Füße zu wärmen, erweckte sein Interesse. Ihr Gesicht war zur Hälfte von einem dicken Wollschal verdeckt. Als sich ihre Blicke trafen, bildeten sich feine Lachfalten um ihre Augenwinkel. Aufmerksam musterte sie ihn mit ihren hellen blauen Augen.

Svens Körper straffte sich, dann ging er zu ihr hinüber. Ihre Begleiterin, die mit dem Rücken zu ihm gestanden hatte, drehte sich zu ihm um. Die anfängliche Neugierde in ihrem Ausdruck verwandelte sich in Misstrauen, als er sich näherte.

Sein Grinsen wurde breiter. »Wartet ihr auch auf den Zug aus Münster?«

Gleichzeitig schüttelten beide den Kopf.

»Wir warten auf ihren Freund«, erklärte die kleinere von ihnen nachdrücklich und wies mit dem Daumen auf die vermummte Gestalt neben ihr.

Gedämpftes Lachen drang durch den Schal. Die Frau zog ihn herunter und streckte ihm ihre Hand entgegen.

»Anette. Das ist meine Freundin und Aufpasserin Ute.«

Diese verzog verstimmt das Gesicht, grüßte ihn nichtsdestoweniger und brachte sogar ein zaghaftes Lächeln zustande.

»Und hat der Zug ebenfalls Verspätung?«, fragte Sven, nachdem er sich vorgestellt hatte.

»Wie zu vermuten war. Aber bei den Wetterverhältnissen gebe ich mal nicht der Bahn die Schuld. Wen erwartest du denn?«

Sie ließ ihren Blick an ihm hinuntergleiten, als wolle sie sehen, ob er einen Blumenstrauß dabei hatte.

Er grinste. »Meine Arbeitskollegin. Sie war über Weihnachten bei ihren Eltern in Kiel.«

Anette hob die Mundwinkel zu einem süffisanten Grinsen. »Scheint eine gute Bekannte zu sein.«

»Ja«, erwiderte er ohne zu zögern. Obwohl er Simone erst seit gut einem halben Jahr kannte, war er davon überzeugt, dass sie die ideale Kollegin für ihn war. Die anfänglichen Probleme hatten sie überwunden. Er konnte sich auf sie verlassen, auch wenn er ihre Einstellung nicht immer teilte.

Er unterhielt sich mit den beiden, bis die Lautsprecherdurchsage den Zug aus Münster ankündigte. Auf dem Bahnsteig kam Bewegung in die Menschen, die bisher nur starr in der klirrenden Kälte ausgeharrt hatten.

Sie griffen nach den Koffern oder riefen ihre Kinder zu sich, die sie vorsorglich an die Hand nahmen, bevor sie sich der Bahnsteigkante näherten.

Gemächlich rollte der ICE in den Bahnhof ein.

Die Türen öffneten sich zischend. Die Ankommenden stiegen aus dem Zug, zogen ihre Kleidung enger an den Körper und strebten eilig auf den Treppenabgang zu, der ins Innere des Gebäudes führte. Die ungeduldig Wartenden drängten sich zwischen ihnen hindurch, um schnellstmöglich in den Zug zu steigen und den Minusgraden zu entkommen.

Sven reckte sich und inspizierte die aussteigenden Personen. Als er seine Partnerin erblickte, hob er den Arm.

*

Simone trat erleichtert auf den Bahnsteig. Sie sog die kalte Luft ein, um die Müdigkeit zu vertreiben, die sie im stickigen Abteil übermannt hatte. Sie verstaute den MP3-Player in ihrer Tasche und zog den Reißverschluss zu. Suchend schaute sie sich um und entdeckte Sven weit vorn im Raucherbereich.

Ihr Kollege hatte sich auf Zehenspitzen gestellt und winkte wild.

Verwundert nahm sie die beiden Frauen wahr, die neben ihm standen. War seine Ex Claudia etwa mitgekommen? Von dem gemeinsamen Sohn Kevin war nichts zu sehen. Ihre Neugier war geweckt. Sie griff nach ihrem Koffer, warf sich den Schal über die Schulter und machte sich auf den Weg zu Sven.

Er begrüßte sie ausgelassen und stellte seine Begleiterinnen vor. Der feine Unterton, der in seiner Stimme mitschwang, als er Anette erwähnte, entging der Kommissarin ebenso wenig wie das kurze Aufblitzen seiner Augen. Es scheint sich doch etwas verändert zu haben, als ich in Kiel war, dachte sie erheitert.

So aufgekratzt hatte sie ihn noch nie erlebt. Er flirtete mit der schlanken, hochgewachsenen Dunkelhaarigen, und die schien Gefallen daran zu finden. Ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin, die mehrmals den Lebensgefährten ansprach, wegen dem sie auf dem Bahnhof in der Kälte ausharrten.

»Das ist der Zug von Leon«, sagte Ute und deutete auf die umgesprungene Anzeige am Bahngleis. Anette nickte unbekümmert, ohne ihren Blick von Sven abzuwenden, der munter auf sie einredete.

Simone folgte dem Gespräch der beiden belustigt, aber auch mit einem Hauch von Wehmut. So hatte schon lange kein Mann mehr mit ihr gesprochen. Sie würde jedoch wohl kaum so reagieren wie die Frau vor ihr.

Zu langsam verblasste die schlechte Erfahrung, die sie mit ihrem Verlobten gemacht hatte. Von jedem, der sich für sie interessiert hatte, waren die alten Wunden wieder aufgerissen worden und sie hatte sich hinter ihren Schutzwall zurückgezogen.

Doch der Schmerz ließ allmählich nach und der Wunsch, ungezwungen damit umzugehen, wuchs.

»Da kommt der Zug.« Utes Ruf ließ die drei anderen aufsehen.

Kurz darauf kam der häufig erwähnte Leon auf sie zu. Er küsste seine Freundin und legte seinen Arm um ihre Taille. Simone selbst wurde von ihm freundlich begrüßt, während er ihren Kollegen nur misstrauisch, fast feindselig musterte.

Seine Hand blieb auf der Hüfte seiner Freundin liegen und er zog sie nah an sich heran, ganz so, als wolle er seine Besitzansprüche geltend machen.

Gemeinsam gingen sie zu dem Treppenabgang und verabschiedeten sich in der großen Halle voneinander. Ute und Anettes wachsamem Lebensgefährten war die Erleichterung anzusehen, dass die beiden Kommissare eine andere Richtung einschlugen.

Sven drehte sich noch zweimal um, bevor er mit ihr das Gebäude verließ.

Auf dem Vorplatz stieß Simone mit einem Mann zusammen, der sich gleich wortreich bei ihr entschuldigte.

»Kein Problem, war meine Schuld«, lenkte sie beschwichtigend ein. »Können wir Ihnen helfen?«

Der suchende Blick und der süddeutsche Dialekt des Fremden waren ihr sofort aufgefallen.

»Nein. Ich warte hier auf meine Schwester. Sie sollte mich vor einer halben Stunde abholen. Ich hoffe, ihr ist nichts passiert.«

»Sie wird sich nur verspätet haben. Ist ja auch wirklich ein Schietwetter.«

»Das stimmt«, pflichtete der Unbekannte ihr bei, doch seine Besorgnis war ihm anzusehen.

Simone verabschiedete sich von ihm und folgte eilig Sven, der schon vorausgegangen war. Sie wollte nur noch in ihre gemütliche Dachgeschosswohnung. Sie freute sich auf eine heiße Dusche und danach auf ihre Couch, eingepackt in eine dicke Decke, bis die Heizung ihre Wohnung aufgewärmt hätte.

Nach Hause, dachte sie. Ein Gedanke, der ihr vor sechs Monaten niemals in den Sinn gekommen wäre. Als sie ins Ruhrgebiet gezogen war, stand für sie fest, dass es sich nur um eine vorübergehende Stelle handelte. Zu Beginn hatte es ganz so ausgesehen. Sie hatte ernsthaft überlegt, sich erneut versetzen zu lassen. Aber dann hatte sie die Zähne zusammengebissen. Sven und sie mussten sich aneinander gewöhnen. Mittlerweile war er zu einem Partner geworden, mit dem sie gern arbeitete. Obwohl ihre Teamarbeit in den ersten Wochen nicht den Eindruck machte, als würden sie sich jemals verstehen. Sie hatte den Urlaub in Kiel bei ihren Eltern, der Schwester und deren Kindern genossen. Schnell hatte sie bei den Gesprächen jedoch gemerkt, dass sie ihnen nicht mehr so selbstverständlich wie früher folgen konnte. Das Leben an der Ostsee war ohne sie weiter gegangen. Ihr fehlten die Alltäglichkeiten und sie betrachtete die Erlebnisse ihrer Familie mit dem daraus resultierenden Abstand. Sie hatte in Bottrop ihre eigene Existenz aufgebaut. Wenn sie ihrer Mutter davon erzählte, hörte diese ihr zwar aufmerksam zu, doch sie hatte nicht das Gefühl, verstanden zu werden.

»Alles in Ordnung?«, fragte Sven mit einem Seitenblick, während er ihren Koffer in den Skoda hievte.

»Klar«, erwiderte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Und bei dir?«

»Mir geht’s bestens.« Er ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Sie öffnete die Tür, holte noch einmal tief Luft und setzte sich in den Wagen. Der Geruch von kaltem Zigarettenrauch umfing sie. Daran würde sie sich nie gewöhnen. Zu ihrer Erleichterung machte ihr Partner jedoch keinerlei Anstalten sich eine Zigarette anzuzünden. Es muss ihm wirklich gut gehen, dachte Simone. Üblicherweise brannte der Glimmstängel schon, bevor der Zündschlüssel im Schloss steckte. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu.

»Wo hast du die beiden kennengelernt?«, erkundigte sie sich, als er aus dem Parkhaus fuhr.

»Gerade eben erst. Sie warteten auch auf einen Zug.«

»Andere Leute waren ebenfalls dort.«

»Aber die sahen nicht so gut aus«, erwiderte er zufrieden lächelnd.

»So gut wie Anette?«

»Genau! Und deshalb habe ich sie angesprochen.«

»Sie hat einen Freund.«

»Das stand ihr ja nicht auf der Stirn geschrieben.«

Sven schaltete das Radio ein. Auf der B224 hatte sich ein schwerer Autounfall ereignet, es hatte eine Tote gegeben.

»Da hat wohl jemand den Schnee unterschätzt«, sagte er bedauernd. »Liegt alles nur an diesem Scheißwetter. Hoffentlich dauert der Winter nicht wieder bis Ende März, so wie im letzten Jahr.«

»Das hoffe ich«, äußerte Simone optimistisch. Sie konnte der Kälte nichts abgewinnen.

»Sollen wir noch etwas trinken gehen?«, fragte Sven unternehmungslustig.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin viereinhalb Stunden mit der Bahn gefahren. Mir reicht’s. Ich bin froh, wenn ich zu Hause bin und unter der heißen Dusche stehe.«

»Attraktive Vorstellung«, kommentierte er ihre Erklärung und lachte. Sie runzelte die Stirn, dann stimmte sie in sein Lachen ein. Vor ein paar Monaten hätten seine Worte sie verärgert. Doch mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um über solche Äußerungen hinweg zu sehen. Es war seine Art Komplimente zu machen.

Im Nibelungenweg ließ sie ihren Blick verträumt zu dem Wald gleiten, der sich hinter den kleinen Zweifamilienhäusern erhob. Die Last des Schnees bog die Äste der Bäume weit herunter, als verneigten sie sich vor ihr. Das sind die schönen Momente des Winters, dachte sie und nahm sich fest vor am nächsten Tag einen Waldspaziergang zu unternehmen. Obwohl sie bereits einige Male die schneebedeckten Wege entlanggegangen war. Schließlich lag der Schnee seit Ende November und auch während der Weihnachtsfeiertage hatte sich die weiße Pracht gehalten.

Sven hielt vor dem Haus und brachte ihr Gepäck bis zur Tür.

»Danke, dass du mich abgeholt hast«, sagte Simone. »Bei Gelegenheit werde ich dich auf einen Kaffee oder ein Bier einladen, aber nicht mehr heute.«

»Kann ich verstehen. Mach es dir gemütlich. Wir sehen uns am Montag im Präsidium.«

Er schlenderte zurück zum Wagen.

Sie wartete, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, dann kramte sie ihren Schlüssel aus der Tasche.

Mit einem Seufzer griff sie nach dem Koffer und trug ihn nach oben in ihre Wohnung. Geschafft, dachte sie erleichtert und stellte ihn neben der Tür ab. Sie nahm ihr Handy und schickte ihrer Mutter die versprochene SMS, dass sie gut angekommen war.

Nachdem sie das Telefon zur Seite gelegt hatte, drehte sie die Heizung höher. Sie zog ihre Sachen aus und ging unter die Dusche. Das warme Wasser erwärmte ihren Körper und spülte ihre Erschöpfung mit sich fort. Sie trocknete sich ab, schlüpfte in ihren Hausanzug und setzte sich auf die Couch.

Sie wickelte sich in die Fleecedecke und atmete tief ein. Zu Hause! Sie genoss für einen Moment die Stille und den Blick über die Terrasse in den Wald. Sie schaltete die Stereoanlage ein. Ihr Gepäck würde sie am nächsten Tag auspacken. Bei den Liedern von Element of Crime schlief sie ein.

Sommer

Kapitel 1

Vier Monate später hatte Simone die Kälte vergessen. Seit Februar waren die Temperaturen beständig gestiegen und erreichten jetzt im Mai schon die Hochsommermarke von dreißig Grad.

Trotz der weit geöffneten Fenster hielt sich die stickige Schwüle der letzten Tage im Büro. Auch der kleine Ventilator, der leise summend in der Ecke des Raumes seinen Dienst versah, schaffte es nicht für Abkühlung zu sorgen.

In den vergangenen Wochen hatte es kaum geregnet. Die Pflanzen auf den Feldern der Bauern verharrten in ihrem Wachstum und schienen wie die beiden Kommissare jede Anstrengung zu vermeiden.

»Was machst du am Wochenende?«, fragte Sven, während er sich mit einem Schreibblock Luft zu fächelte.

Sie blickte auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hatte vor nach Kiel zu fahren. Aber bei der Hitze verspüre ich nicht das geringste Verlangen, fünf Stunden im Wagen zu sitzen. Zum Glück habe ich mit meiner Mutter noch nichts ausgemacht. Was hast du denn geplant?«

»Ich suche eine Begleitung fürs Café del Sol.«

Sie zog überrascht eine Augenbraue hoch. »Ein Café?«

»Eher eine Kneipe und Restaurant in Marl.«

»Gibt es dort ein Event?«

Er grinste. »Weiß ich nicht. Ich wollte es mir mal ansehen. Die Fotos im Internet sehen vielversprechend aus.«

»Wie bist du darauf gekommen?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Irgendjemand hat es mal erwähnt und mich neugierig gemacht. Das Essen soll gut sein und vor allem besitzen sie eine große überdachte Terrasse, auf der man rauchen kann. - Ohne die Nichtraucher zu stören«, fügte er rasch hinzu.

Simone runzelte die Stirn. Was hatte ihr Partner vor? Seinen zufriedenen, fast selbstgefälligen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten. Aber die Vorstellung, den Abend im Freien zu verbringen, gefiel ihr deutlich besser als der Gedanke an die lange Autofahrt nach Kiel. Sie müsste sich nicht bei der brütenden Hitze über die Autobahn quälen. Die kurze unvermeidliche Fahrt im rauchgeschwängerten Wagen ihres Partners, vor allem mit heruntergelassener Scheibe, wäre dagegen erträglich.

»Kommst du mit?«, hakte Sven nach.

Sie verabschiedete sich von dem Wochenende bei ihren Eltern.

»Okay. Ist bestimmt interessant.« Sie schloss die Akte, in der sie gerade gelesen hatte. »Für heute mache ich Feierabend.«

»Dann hole ich dich Samstag um acht ab?« Er legte einen Zeitpunkt fest, der ihr keinerlei Gelegenheit bot, das Treffen noch abzusagen. Sie wunderte sich ein bisschen darüber, doch da sie das ohnehin nicht vorhatte, nickte sie.