Magnus Chase 3: Das Schiff der Toten - Rick Riordan - E-Book
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Magnus Chase 3: Das Schiff der Toten E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Monster, Mythen und Megakatastrophen – das packende Finale der Fantasy-Buchreihe  Der fiese Gott Loki hat sich nach jahrtausendelanger Gefangenschaft von seinen Fesseln befreit und rüstet zum letzten Kampf! Er bemannt Naglfari, das legendäre Schiff der Toten, mit Zombies und Riesen, um den Weltuntergang Ragnarök einzuläuten und gegen die nordischen Götter zu segeln. Es liegt nun an Magnus Chase und seinen Freunden, Lokis Pläne zu vereiteln. Auf der Suche nach dem Schiff der Toten bereisen sie verschiedene Welten und müssen gegen wütende Meeresgötter, brutale Riesen und feuerspeiende Drachen antreten. Aber Magnus' größte Herausforderung besteht darin, sich seinen eigenen inneren Dämonen zu stellen.   Aus dem Universum von "Percy Jackson" und "Die Kane-Chroniken": Magnus Chase   Der 16-jährige Magnus Chase lebt seit dem mysteriösen Tod seiner Mutter auf der Straße. Mit Diebstählen hält er sich über Wasser – bis er eines Tages von seinem besonderen Erbe erfährt: Magnus ist der Sohn des nordischen Gottes Frey und soll die Welt vor dem Untergang retten.  In der Fantasy-Trilogie überführt Rick Riordan alte Sagen und Legenden in moderne Geschichten und schafft es, Leser*innen überall auf der Welt für die nordische Mythologie zu begeistern. ***Feuerriesen, Walküren und nordische Götter - packende Fantasy für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der nordischen Mythologie*** 

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Rick Riordan:

Magnus Chase – Das Schiff der Toten

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

Der fiese Gott Loki hat sich nach jahrtausendelanger Gefangenschaft von seinen Fesseln befreit und rüstet zum letzten Kampf! Er bemannt Naglfari, das legendäre Schiff der Toten, mit Zombies und Riesen, um den Weltuntergang Ragnarök einzuläuten. Klar, dass Magnus und seine Freunde das nicht zulassen können. Auf der Suche nach dem Schiff der Toten durchsegeln sie verschiedene Welten und müssen gegen wütende Meeresgötter, brutale Riesen und feuerspeiende Drachen antreten. Doch der gefährlichste Feind bleibt Loki selbst …

Das große Finale von Rick Riordans Serie über die nordischen Götter!

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Für Philip José Farmer, dessen Flusswelt-Büchermeine Liebe zur Geschichte losgetreten haben

Percy Jackson gibt sich alle Mühe, mich umzubringen

1»Mach noch einen Versuch«, sagte Percy zu mir. »Und stirb diesmal nicht so oft.«

Wir standen auf der Rahnock der USS Constitution und schauten auf den Hafen von Boston fünfundsechzig Meter unter uns. Ich wünschte mir die Verteidigungstricks eines Truthahngeiers. Dann könnte ich Kotze auf Percy Jackson abfeuern und ihn damit vertreiben.

Als er das letzte Mal versucht hatte, mich zu diesem Sprung zu überreden, vor erst einer Stunde, hatte ich mir jeden Knochen im ganzen Leib gebrochen. Mein Freund Alex Fierro hatte mich gerade noch rechtzeitig ins Hotel Walhalla schaffen können, damit ich in meinem Bett sterben konnte. Eine halbe Stunde später wachte ich auf und war so gut wie neu. Und nun stand ich wieder hier, bereit für neue Schmerzen. Hurra!

»Muss das unbedingt sein?«, fragte ich.

Percy lehnte sich an die Takelage und der Wind wehte kleine Wellen in seine schwarzen Haare.

Er sah aus wie ein ganz normaler Junge – oranges T-Shirt, Jeans, abgenutzte weiße Reeboks aus Leder. Wenn er euch so auf der Straße entgegenkäme, würdet ihr bestimmt nicht denken: He, schau an, ein Halbgott und Sohn des Poseidon, es leben die Olympier! Er hatte keine Kiemen oder Schwimmhäute, aber seine Augen waren meergrün – ungefähr in dem Farbton, den jetzt wohl mein Gesicht aufwies. Das einzig Seltsame war das Tattoo auf der Innenseite seines Unterarms – ein Dreizack so dunkel wie angekokeltes Holz, einmal unterstrichen, dazu die Buchstaben SPQR.

Er hatte mir gesagt, diese Buchstaben stünden für Sono Pazzi Quelli Romani – Die spinnen, die Römer. Ich war nicht sicher, ob das ein Witz sein sollte.

»Hör mal, Magnus«, sagte er. »Du wirst durch feindliches Territorium segeln. Eine Bande von Meeresungeheuern und Meeresgottheiten und was weiß ich wer sonst noch wird versuchen, dich umzubringen.«

»Ja, stimmt schon.«

Womit ich meinte: Bitte, erinnere mich nicht daran. Bitte, lass mich in Ruhe.

»Irgendwann«, sagte Percy, »wirst du aus dem Boot geschleudert, vielleicht aus einer solchen Höhe. Dann musst du wissen, wie du den Aufprall überlebst, ohne zu ertrinken, und wie du kampfbereit wieder an die Wasseroberfläche kommst. Das ist nämlich ganz schön schwer, vor allem in kaltem Wasser.«

Ich wusste, dass er recht hatte. Nach allem, was ich von meiner Cousine Annabeth gehört hatte, hatte Percy noch mehr gefährliche Abenteuer überlebt als ich. (Und dabei lebte ich in Walhalla. Ich starb mindestens ein Mal pro Tag.) Aber sosehr ich es zu schätzen wusste, dass er aus New York hergekommen war, um mich mit heroischen aquatischen Überlebenstipps zu versorgen – ich hatte mein dauerndes Versagen satt.

Am Vortag war ich von einem gewaltigen weißen Hai zerkaut, von einem Riesentintenfisch erwürgt und von tausend wütenden Ohrenquallen gestochen worden. Ich hatte etliche Liter Meerwasser geschluckt in dem Versuch, den Atem anzuhalten, und ich hatte erfahren müssen, dass ich zehn Meter unter Wasser im Einzelkampf auch nicht besser war als auf festem Land.

Am Morgen war Percy mit mir um das auch Old Ironsides genannte Schiff Constitution herumgewandert, um mich in die Kunst des Segelns und der Navigation einzuführen, aber ich konnte Besanmast und Achterdeck noch immer nicht auseinanderhalten.

Und nun stand ich hier: unfähig, von einer Stange zu fallen.

»Du schaffst das, Magnus!«, rief mir Annabeth aufmunternd zu.

Alex Fierro hob beide Daumen. Glaubte ich jedenfalls. Aus dieser Entfernung war ich nicht ganz sicher.

Percy holte tief Luft. Er hatte bisher Geduld mit mir gehabt, aber ich merkte, dass dieses anstrengende Wochenende auch ihm zusetzte. Wenn er mich ansah, zuckte sein linkes Auge.

»Ist schon gut, Mann«, versicherte er. »Ich zeig es dir noch mal, okay? Geh in Position wie ein Fallschirmspringer, breite Arme und Beine aus, um den Fall zu verlangsamen. Dann, unmittelbar ehe du auf das Wasser aufprallst, machst du dich gerade wie ein Pfeil – Kopf hoch, Fersen nach unten, Rücken gerade, Hintern zusammengekniffen. Dieser letzte Teil ist wirklich wichtig.«

»Fallschirmspringer«, sagte ich. »Dann strecken. Pfeil. Hintern.«

»Genau«, sagte Percy. »Sieh zu.«

Er sprang von der Rahnock und hatte im Fall alle viere perfekt ausgestreckt. Im letzten Moment richtete er sich gerade auf, Hacken nach unten, traf auf das Wasser auf und verschwand, fast ohne auch nur einen Kräusel hervorzurufen. Gleich darauf tauchte er wieder auf und hob die Handflächen. Siehst du? Kinderspiel!

Annabeth und Alex applaudierten.

»Okay, Magnus«, rief Alex zu mir hoch. »Du bist dran. Sei ein Mann!«

Das sollte wohl witzig sein. Meistens identifizierte Alex sich als weiblich, aber heute war er einwandfrei männlich. Manchmal versprach ich mich und benutzte die falschen Pronomen für ihn/sie, und im Gegenzug neckte Alex mich gnadenlos. Aus Freundschaft.

Annabeth rief: »Das kannst du doch jetzt, Magnus!«

Unter mir glitzerte die dunkle Oberfläche des Wassers wie ein frisch gescheuertes Waffeleisen, bereit, mich platt zu schlagen.

Na gut, murmelte ich vor mich hin.

Ich sprang.

Eine halbe Sekunde lang war ich ziemlich optimistisch. Der Wind pfiff in meinen Ohren. Ich breitete die Arme aus und es gelang mir, nicht zu schreien.

Okay, dachte ich. Das schaffe ich.

Und dann beschloss mein Schwert Jack, aus dem Nirgendwo aufzutauchen und ein Gespräch anzufangen.

»He, Señor!« Die Runen auf seiner doppelschneidigen Klinge leuchteten. »Was machst’n da?«

Ich fuchtelte mit den Armen und versuchte, mich vor dem Aufprall gerade aufzurichten. »Jack, jetzt nicht!«

»Ach, schon kapiert. Du fällst. Weißt du, einmal als Frey und ich gerade fielen …«

Ehe er mit dieser faszinierenden Geschichte weitermachen konnte, knallte ich ins Wasser.

Wie Percy mich gewarnt hatte, schaltete die Kälte mein System aus. Ich versank, vorübergehend gelähmt, die Luft war aus meiner Lunge hinausgeschlagen. Meine Knöchel pochten, als ob ich auf einem Trampolin aus Backsteinen gesprungen wäre. Aber wenigstens war ich nicht tot.

Ich suchte innerlich nach größeren Verletzungen. Als Einherje wird man ziemlich gut in der Kunst, auf die eigenen Schmerzen zu hören. Man kann auf dem Schlachtfeld von Walhalla herumtorkeln, tödlich verwundet, den letzten Atemzug tun und dabei ganz gelassen denken: Ach, so fühlt sich also ein gebrochener Rippenkorb an. Interessant.

Diesmal hatte ich mir den linken Knöchel gebrochen. Der rechte war nur verstaucht.

Kein Problem. Ich rief die Macht Freys herbei.

Wärme wie die des Sommersonnenscheins strahlte aus meiner Brust in meine Glieder. Die Schmerzen ließen nach. Ich konnte mich selbst nicht ganz so gut behandeln wie andere, aber ich spürte, wie meine Knöchel anfingen zu heilen – als ob ein Schwarm von freundlichen Wespen in meinem Fleisch herumkroch, die Risse verputzte und die Bänder neu zusammenfügte.

Ah, besser, dachte ich, während ich durch die kalte Finsternis schwamm. Aber ich wollte ja noch etwas anderes erledigen … ach, richtig. Atmen.

Jacks Griff stupste meine Hand an wie ein Aufmerksamkeit heischender Hund. Ich schloss die Finger um den Ledergriff und Jack zog mich aufwärts und riss mich aus dem Hafenbecken wie eine rettende Fee mit Raketenantrieb. Ich landete nach Luft schnappend und zitternd neben meinen Freunden auf dem Deck der Old Ironsides.

»Meine Güte.« Percy trat zurück. »Das war schon eine ganz andere Nummer. Alles in Ordnung, Magnus?«

»Klar«, konnte ich aushusten und hörte mich dabei an wie eine Ente mit Bronchitis.

Percy musterte die leuchtenden Runen auf meiner Waffe. »Wo kommt das Schwert denn her?«

»Hallo, ich bin Jack!«, sagte Jack.

Annabeth unterdrückte einen Aufschrei. »Das redet?«

»Das?«, fragte Jack empört. »He, gute Frau, ein bisschen Respekt! Ich bin Sumarbrander! Das Schwert des Sommers! Die Waffe des Frey! Mich gibt es schon seit Jahrtausenden. Und außerdem bin ich ein Kerl!«

Annabeth runzelte die Stirn. »Magnus, als du mir von deinem magischen Schwert erzählt hast, hast du da vielleicht vergessen zu erwähnen, dass es – dass er sprechen kann?«

»Kann sein.« Ehrlich, ich wusste es nicht mehr.

In den vergangenen Wochen war Jack sich selbst überlassen gewesen und hatte das gemacht, was magische Schwerter in ihrer Freizeit eben machen. Percy und ich hatten beim Training die standardisierten Übungsschwerter des Hotels Walhalla benutzt. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, dass Jack aus dem Nirgendwo auftauchen und sich vorstellen könnte. Und die Tatsache, dass er sprechen konnte, war noch seine am wenigsten seltsame Fähigkeit. Dass er sämtliche Lieder aus »Jersey Boys« auswendig konnte – das war bizarr.

Alex Fierro schien ein Lachen zu unterdrücken. Er trug an diesem Tag Grün und Rosa, wie so oft, obwohl ich gerade diese Kombination noch nie gesehen hatte: lederne Schnürstiefel, ultraenge rosa Röhrenjeans, ein lindgrünes Hemd, das er über den Hosenbund hängen ließ, und ein schmaler karierter Schlips, den er locker als Halstuch trug. Mit seiner dicken schwarzen Ray Ban und seiner grünen Stachelfrisur sah er aus wie einem New-Wave-Plattencover von circa 1979 entsprungen.

»Vergiss deine Manieren nicht, Magnus«, sagte er. »Stell deinem Schwert deine Freunde vor.«

»Äh, richtig«, sagte ich. »Jack, das sind Percy und Annabeth. Sie sind Halbgötter – die griechische Sorte.«

»Hmmm.« Jack schien nicht beeindruckt zu sein. »Ich bin einmal Herkules begegnet.«

»Sind wir das nicht alle?«, murmelte Annabeth.

»Stimmt auch wieder«, sagte Jack. »Aber ich vermute, wenn ihr mit Magnus befreundet seid …« Er verstummte abrupt. Seine Runen verblassten. Dann sprang er mir aus der Hand, flog auf Annabeth zu und seine Klinge zuckte, als ob er in der Luft herumschnüffelte. »Wo ist sie? Wo hast du die Süße versteckt?«

Annabeth wich an die Reling zurück. »He, immer mit der Ruhe, Schwert. Schon mal was von Intimsphäre gehört?«

»Jack, benimm dich!«, sagte Alex. »Was soll das denn?«

»Die ist hier irgendwo«, beharrte Jack. Er flog zu Percy. »Aha! Was hast du denn da in der Tasche, Meeresknabe?«

»Entschuldigung?« Percy sah ein wenig nervös aus, als das magische Schwert über seinem Hosenbund schwebte.

Alex schob seine Ray-Ban nach unten. »Okay, jetzt bin ich neugierig. Was hast du denn nun in der Tasche, Percy? Neugierige Schwerter wollen so was wissen.«

Percy zog einen ganz normal aussehenden Kugelscheiber aus seiner Jeanstasche. »Meinst du den hier?«

»BAM!«, sagte Jack. »Wer ist dieser Inbegriff der Lieblichkeit?«

»Jack«, sagte ich. »Das ist ein Kugelschreiber.«

»Nein, ist es nicht. Zeigen! Zeigen!«

»Äh … von mir aus.« Percy drehte die Kappe von dem Kugelschreiber.

Sofort verwandelte der sich in ein neunzig Zentimeter langes Schwert mit einer blattförmigen Klinge aus leuchtender Bronze. Neben Jack sah diese Waffe zierlich aus, zart fast, aber so, wie Percy sie schwang, bezweifelte ich nicht, dass er damit auf den Schlachtfeldern von Walhalla bestehen würde.

Jack richtete seine Spitze auf mich und seine Runen loderten weinrot auf. »Siehst du, Magnus? Ich hab dir doch gesagt, es sei nicht blödsinnig, ein als Kugelschreiber getarntes Schwert in der Tasche zu haben!«

»Jack, das habe ich nie behauptet«, widersprach ich. »Das warst du!«

Percy hob eine Augenbraue. »Wovon redet ihr hier eigentlich?«

»Von nichts«, sagte ich eilig. »Ich nehme an, das ist das berühmte Schwert Springflut? Annabeth hat mir von ihm erzählt.«

»Von ihr«, korrigierte Jack.

Annabeth runzelte die Stirn. »Percys Schwert ist eine Sie?«

Jack lachte. »Allerdings!«

Percy musterte Springflut, aber ich hätte ihm aus Erfahrung sagen können, dass es fast unmöglich ist, einem Schwert sein Geschlecht anzusehen.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Bist du sicher …?«

»Percy«, sagte Alex. »Genderrespekt!«

»Na gut, von mir aus«, sagte er. »Es ist nur irgendwie komisch, dass ich das nie gewusst habe.«

»Andererseits«, sagte Annabeth, »hast du bis voriges Jahr auch nicht gewusst, dass der Kugelschreiber schreiben kann!«

»Das war gemein, weises Mädchen!«

»Egal«, fiel Jack ihnen ins Wort. »Wichtig ist, dass Springflut hier ist, dass sie wunderbar ist und dass sie mich jetzt kennt. Vielleicht könnten wir zwei … ihr wisst schon … ein bisschen Zeit für uns haben, um über, äh, Schwertsachen zu reden?«

Alex feixte. »Das klingt nach einer wunderbaren Idee. Wie wäre es, wenn sich die Schwerter erst einmal miteinander bekannt machen, während wir anderen eine Mittagspause einlegen? Magnus, glaubst du, du könntest eine Runde Falafel essen, ohne dich zu verschlucken?«

Falafel-Sandwiches mit Götterdämmerung als Sättigungsbeilage

2Wir aßen auf dem Spardeck achtern (staunt ihr nur darüber, wie leicht mir die Seefahrtsausdrücke fallen!).

Nach einem harten Morgen, an dem mir so viel misslungen war, hatte ich das Gefühl, meine frittierten Kichererbsenküchlein und mein Pitabrot, meinen Joghurt mit den eisgekühlten Gurkenscheiben und die Beilage aus extrawürzigem Lammkebab wirklich verdient zu haben. Annabeth hatte für das Picknick gesorgt. Sie kannte mich einfach zu gut.

Meine Kleidung wurde in der Sonne schnell trocken. Die warme Brise war angenehm in meinem Gesicht. Segelboote suchten sich ihren Weg durch den Hafen, während Flugzeuge auf dem Weg vom Flughafen Logan nach New York oder Kalifornien oder Ägypten den blauen Himmel durchschnitten. Die ganze Stadt Boston schien geladen mit ungeduldiger Energie, wie eine Klasse eine Minute vor drei, wenn sie auf das Läuten zum Unterrichtsschluss wartet und wenn alle für den Sommer die Stadt verlassen und das gute Wetter genießen wollen.

Ich dagegen wollte wirklich nur bleiben.

Springflut und Jack lehnten in unserer Nähe an einer Taurolle, während ihre Griffe die Reling des Kanonendecks berührten. Springflut verhielt sich wie ein typischer lebloser Gegenstand, Jack rückte immer näher an sie heran und redete auf sie ein, während seine Klinge in der gleichen dunklen Bronze leuchtete wie ihre. Zum Glück war Jack an einseitige Gespräche gewöhnt. Er scherzte. Er schmeichelte. Er ließ wie besessen bekannte Namen fallen. »Also weißt du, als ich einmal mit Thor und Odin in der Kneipe war …«

Wenn Springflut beeindruckt war, ließ sie sich das jedenfalls nicht anmerken.

Percy knüllte seine Falafeltüte zusammen. Der Kerl konnte nicht nur Wasser einatmen, sondern auch Lebensmittel.

»Also«, sagte er. »Wann stecht ihr in See?«

Alex hob eine Augenbraue und sah mich an, wie um zu fragen: Tja, Magnus, wann stechen wir denn in See?

Ich versuchte seit zwei Wochen, Fierro gegenüber dieses Thema zu vermeiden, was mir aber nicht sehr gut gelungen war.

»Bald«, sagte ich. »Wir wissen nicht genau, was unser Ziel ist oder wie lange wir brauchen, um hinzugelangen …«

»Klingt wie meine Lebensgeschichte«, sagte Percy.

»… aber wir müssen Lokis fieses großes Schiff der Toten finden, ehe es zu Mittsommer lossegelt. Es liegt irgendwo zwischen Niflheim und Jotunheim. Wir nehmen an, dass wir für diese Strecke zwei Wochen brauchen.«

»Was bedeutet«, sagte Alex, »wir hätten schon längst aufbrechen müssen. Ende der Woche müssen wir los, egal, ob wir bereit sind oder nicht.«

In seinen dunklen Brillengläsern sah ich das Spiegelbild meines besorgten Gesichtes. Wir wussten beide, dass wir von »bereit« ebenso weit entfernt waren wie von Niflheim.

Annabeth zog die Füße unter sich. Sie hatte sich ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr dunkelblaues T-Shirt trug die gelbe Aufschrift COLLEGE OF ENVIRONMENTAL DESIGN, BERKELEY.

»Helden sind doch nie bereit, oder?«, fragte sie. »Wir tun einfach unser Bestes.«

Percy nickte. »Jep. Meistens klappt es auch. Wir sind noch nicht gestorben.«

»Obwohl du es immer wieder versuchst.« Annabeth versetzte ihm einen Rippenstoß. Percy legte den Arm um sie. Sie schmiegte sich an ihn. Er küsste die blonden Locken oben auf ihrem Kopf.

Diese offenkundige Zuneigung ließ mein Herz einen schmerzhaften kleinen Sprung machen.

Ich freute mich darüber, dass meine Cousine so glücklich war, aber es erinnerte mich daran, was alles auf dem Spiel stand, wenn ich Loki nicht aufhalten könnte.

Alex und ich waren schon gestorben. Wir würden niemals älter werden. Wir würden in Walhalla leben, bis der Letzte Tag gekommen wäre (falls wir nicht vorher außerhalb des Hotels getötet würden). Das bestmögliche Leben bestand für uns darin, für die Götterdämmerung zu trainieren, um diese unvermeidliche Schlacht um so viele Jahrhunderte aufzuschieben wie möglich – und dann, eines Tages, mit Odins Armee aus Walhalla hinauszumarschieren und einen glorreichen Tod zu sterben, während um uns herum die Neun Welten in Flammen standen. Das pure Vergnügen.

Aber Annabeth und Percy hatten eine Chance auf ein normales Leben. Sie hatten die Highschool schon hinter sich gebracht, und Annabeth hatte mir erzählt, das sei die gefährlichste Zeit für griechische Halbgötter. Im Herbst würden sie ein College an der Westküste besuchen. Wenn sie das überlebten, hatten sie eine gute Chance, auch das Erwachsenenalter zu überleben. Sie könnten in der Welt der Sterblichen bleiben, ohne alle fünf Minuten von Monstern angegriffen zu werden.

Außer, es gelang meinen Freunden und mir nicht, Loki zu stoppen, denn dann würde die Welt – würden alle Welten – in wenigen Wochen ein Ende haben. Aber ihr wisst schon … wir sollten uns ja nicht unter Druck gesetzt fühlen.

Ich legte mein Pitabrot weg. Auch Falafel konnte meine Laune nur bis zu einem gewissen Punkt heben.

»Was habt ihr denn so vor, Leute?«, fragte ich. »Heute gleich wieder zurück nach New York?«

»Ja«, sagte Percy. »Ich muss heute Abend babysitten. Total süchtig danach.«

»Stimmt«, es fiel mir wieder ein. »Deine neue kleine Schwester.«

Noch ein wichtiges Leben, das hier auf dem Spiel steht, dachte ich.

Aber ich brachte ein Lächeln zustande. »Ich gratuliere, Mann. Wie heißt sie denn?«

»Estelle. So hieß meine Großmutter. Äh, mütterlicherseits natürlich. Nicht die Mutter von Poseidon.«

»Find ich gut«, sagte Alex. »Altmodisch und elegant. Estelle Jackson.«

»Na ja, Estelle Blofis«, korrigierte Percy. »Weil mein Stiefvater Paul Blofis heißt. An dem Nachnamen kann ich nicht viel ändern, aber mein Schwesterchen ist hinreißend. Zehn Finger. Zehn Zehen. Zwei Augen. Sie sabbert ganz schön viel.«

»Wie ihr Bruder«, sagte Annabeth.

Alex lachte.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie Percy die kleine Estelle in seinen Armen wiegte und dabei »Under the Sea« aus »Arielle, die Meerjungfrau« sang. Und dabei fühlte ich mich nur noch elender.

Auf irgendeine Weise musste ich für die kleine Estelle genug Jahrzehnte herausschlagen, damit sie ein richtiges Leben haben könnte. Ich musste Lokis dämonisches Schiff voller Zombiekrieger finden und verhindern, dass es in den Kampf segelte und die Götterdämmerung auslöste, und dann musste ich Loki fangen und ihn wieder in Ketten legen, damit er kein weltenverbrennendes Unheil mehr anrichten könnte. (Oder jedenfalls nicht ganz so viel weltenverbrennendes Unheil.)

»He.« Alex warf ein Stück Pita nach mir. »Guck nicht so grimmig.«

»Entschuldige.« Ich versuchte, fröhlicher zu wirken. Das war nicht so leicht, wie mit purer Willenskraft meinen Knochen zu heilen. »Ich freue mich darauf, eines Tages, wenn wir von unserem Einsatz zurück sind, Estelle kennenzulernen. Und ich finde es großartig, dass ihr nach Boston hochgekommen seid. Wirklich.«

Percy schaute zu Jack hinüber, der noch immer auf Springflut einredete. »Tut mir leid, dass ich keine größere Hilfe sein konnte. Das Meer ist«, er zuckte mit den Schultern, »irgendwie unvorhersagbar.«

Alex streckte die Beine aus. »Wenigstens ist Magnus beim zweiten Mal sehr viel besser gefallen. Schlimmstenfalls kann ich mich immer noch in einen Delfin verwandelt und seinen lahmen Hintern retten.«

Percys Mundwinkel zuckte. »Du kannst dich in einen Delfin verwandeln?«

»Ich bin ein Kind Lokis. Willst du mal sehen?«

»Nein, ich glaube dir.« Percy schaute in die Ferne. »Ich habe einen Freund namens Frank, der ebenfalls seine Gestalt verändern kann. Delfine liegen ihm. Und Riesengoldfische auch.«

Mir schauderte, als ich mir Alex Fierro als riesigen rosa-grünen Koi vorstellte. »Wir müssen uns mit dem begnügen, was wir haben. Wir haben ein gutes Team.«

»Das ist wichtig«, sagte Percy zustimmend. »Vermutlich wichtiger, als mit der See umgehen zu können …« Er setzte sich auf und runzelte die Stirn.

Annabeth machte sich aus seiner Umarmung los. »Oha. Den Blick kenne ich. Du hast eine Idee.«

»Etwas, was mein Dad mir gesagt hat …« Percy stand auf. Er ging zu seinem Schwert und unterbrach Jack mitten in einer faszinierenden Geschichte darüber, wie er einmal einem Riesen eine Bowlingtasche bestickt hatte. Percy hob Springflut auf und musterte ihre Klinge.

»He, Mann«, beschwerte sich Jack. »Das lief gerade so richtig gut.«

»Tut mir leid, Jack.« Percy zog die Kappe des Kugelschreibers aus der Tasche und drehte sie auf sein Schwert. Mit einem leisen Schink schrumpfte Springflut wieder zu einem Kugelschreiber. »Poseidon und ich haben einmal über Waffen gesprochen. Er hat mir gesagt, dass alle Meeresgottheiten eine Gemeinsamkeit haben. Sie sind total eitel und habgierig, wenn es um magische Gegenstände geht.«

Annabeth verdrehte die Augen. »Das klingt wie alle Götter, die mir je begegnet sind.«

»Stimmt«, sagte Percy. »Aber auf die Meeresgötter trifft es ganz besonders zu. Triton schläft mit seinem Muschelhorn in der Hand. Galatea ist fast die ganze Zeit damit beschäftigt, ihren magischen Seepferdesattel zu polieren. Und mein Dad hat panische Angst davor, seinen Dreizack zu verlieren.«

Ich dachte an meine einzige Begegnung mit einer nordischen Meeresgöttin. Die war nicht gut gelaufen. Ran hatte versprochen, mich zu vernichten, wenn ich je wieder durch ihre Gewässer segelte. Aber sie war wirklich besessen gewesen von ihren magischen Netzen und der Müllsammlung, die darin herumwirbelte. Und deshalb hatte ich sie dazu bringen können, mir mein Schwert zu geben.

»Du meinst, dass ich ihre Sachen gegen sie verwenden muss«, vermutete ich.

»Richtig«, bestätigte Percy. »Und was du darüber gesagt hast, ein gutes Team zu haben – manchmal hat es nicht gereicht, dass ich der Sohn des Meeresgottes bin, um mich zu retten, nicht einmal unter Wasser. Einmal wurden mein Freund Jason und ich von der Sturmgöttin Kymopoleia auf den Meeresgrund gezogen. Ich war hoffnungslos verloren, Jason hat mich durch den Vorschlag gerettet, von ihr Sammelkarten und Spielfiguren zu machen.«

Alex hätte sich an seiner Falafel fast verschluckt. »Was?«

»Ich will damit nur sagen«, fuhr Percy fort, »dass Jason keine Ahnung vom Ozean hatte. Er hat mich aber trotzdem gerettet. Das war irgendwie peinlich.«

Annabeth grinste schadenfroh. »Kann ich mir denken. Ich hab die Details darüber nie erfahren.«

Percys Ohren wurden so rosa wie Alex’ Jeans. »Jedenfalls, wir haben das alles bisher ganz falsch betrachtet. Ich habe versucht, dich seetüchtig zu machen. Aber es geht darum, alles zu nutzen, was du gerade zur Hand hast – dein Team, deinen Verstand, den magischen Kram des Feindes.«

»Und das kann man nicht vorausplanen«, sagte ich.

»Genau«, sagte Percy. »Für mich ist die Sache erledigt!«

Annabeth runzelte die Stirn. »Percy, du sagst damit, der beste Plan sei gar kein Plan. Als Kind der Athene kann ich da wirklich nicht zustimmen.«

»Ja«, sagte Alex. »Und ich finde meinen Plan, mich in ein Meeressäugetier zu verwandeln, noch immer gut.«

Percy hob die Hände. »Ich sag doch nur, dass die mächtigste Halbgottheit hier bei uns sitzt, und ich bin es nicht.« Er nickte zu Annabeth hinüber. »Das Weise Mädchen kann ihre Gestalt nicht ändern oder unter Wasser atmen oder mit Pegasi reden. Sie kann nicht fliegen und sie ist nicht superstark. Aber sie ist wahnsinnig klug und kann gut improvisieren. Das macht sie tödlich. Egal, ob sie an Land, im Wasser, in der Luft oder im Tartarus ist. Magnus, du hast das ganze Wochenende mit mir trainiert. Ich glaube, du hättest besser mit Annabeth trainiert.«

Es war schwer, etwas in Annabeths stürmisch grauen Augen zu lesen. Endlich sagte sie: »Na gut, das war reizend.« Sie küsste Percy auf die Wange.

Alex nickte. »Nicht schlecht, Algenhirn.«

»Fang du jetzt nicht auch noch mit diesem Spitznamen an«, murmelte Percy unwillig.

Von den Speichern her war das tiefe Grollen von Rolltoren zu hören. Stimmen hallten von den Mauern wider.

»Das ist unser Stichwort«, sagte ich. »Wir müssen los. Dieses Schiff ist gerade aus dem Trockendock gekommen. Es wird heute Abend mit einer großen Zeremonie wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.«

»Ja«, sagte Alex. »Der Glamour würde unsere Anwesenheit nicht mehr tarnen, wenn erst die ganze Mannschaft an Bord wäre.«

Percy hob die Augenbrauen. »Glamour? Meinst du deine Klamotten?«

Alex schnaubte. »Nein. Glamour kann auch ein Illusionszauber sein. Er ist die Kraft, die den Blick der gewöhnlichen Sterblichen trübt.«

»Ach was«, sagte Percy. »Das nennen wir den Nebel.«

Annabeth schlug Percy mit den Fingerknöcheln auf den Kopf. »Egal wie wir es nennen, wir sollten uns beeilen. Helft mir beim Aufräumen.«

Wir verließen gerade die Laufplanke, als die ersten Seeleute eintrafen. Jack schwebte vor uns her, leuchtete in unterschiedlichen Farben und sang mit furchtbarer Fistelstimme »Walk like a man«. Alex verwandelte sich aus einem Geparden in einen Wolf und dann in einen Flamingo (als Flamingo ist er erste Sahne).

Die Seeleute sahen uns ausdruckslos an und machten einen weiten Bogen um uns, aber niemand stellte uns zur Rede.

Als wir die Docks verlassen hatten, wurde Jack zu einem Runenanhänger. Er fiel in meine Hand und ich befestigte ihn wieder an meiner Halskette. Dieses plötzliche Verstummen sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Wahrscheinlich ärgerte er sich, weil sein Date mit Springflut so unsanft unterbrochen worden war.

Als wir durch die Constitution Road schlenderten, drehte sich Percy zu mir um. »Was sollte das denn vorhin – das mit dem Gestaltwandeln und dem singenden Schwert? Wolltet ihr erwischt werden?«

»Nö«, sagte ich. »Wenn du mit dem magischen Kram wedelst, verwirrt das die Sterblichen nur noch mehr.« Ich fand es gut, zur Abwechslung ihm etwas beibringen zu können. »Das verursacht in einem sterblichen Gehirn so eine Art Kurzschluss und dann gehen sie dir aus dem Weg.«

»Hm.« Annabeth schüttelte den Kopf. »Jetzt haben wir uns die ganzen Jahre davongestohlen, und dabei hätten wir einfach wir selbst sein können?«

»Das solltet ihr immer.« Alex holte uns ein, nun wieder in Menschengestalt, auch wenn ihm noch Flamingofedern in den Haaren hingen. »Und ihr müsst stets mit dem bizarren Kram herumwedeln, ihr Lieben.«

»Das werde ich zitieren«, sagte Percy.

»Das will ich dir auch geraten haben.«

Wir blieben an der Ecke stehen, wo Percys Toyota Prius neben einer Parkuhr stand. Ich schüttelte ihm die Hand und Annabeth drückte mich an sich.

Meine Cousine packte meine Schultern, schaute mir forschend ins Gesicht und ihre grauen Augen waren voller Sorge. »Pass auf dich auf, Magnus. Du kommst unversehrt zurück. Das ist ein Befehl.«

»Sehr wohl, Chefin«, versprach ich. »Die Chase-Sippe muss zusammenhalten.«

»Wo wir schon davon sprechen …« Sie senkte die Stimme. »Warst du schon mal drüben?«

Ich kam mir wieder vor wie im freien Fall, kopfüber in den sicheren Tod.

»Noch nicht«, gab ich zu. »Heute. Versprochen.«

Das Letzte, was ich von Percy und Annabeth sah, war ihr Prius, der um die Ecke der First Avenue bog; Percy sang zu Led Zeppelin im Radio und Annabeth lachte über seine furchtbare Stimme.

Alex verschränkte die Arme. »Wenn die beiden zusammen noch niedlicher wären, würden sie eine Atomexplosion aus Niedlichkeit auslösen und die Ostküste zerstören.«

»Soll das ein Kompliment sein?«, fragte ich.

»Etwas, das einem Kompliment noch näherkommt, wirst du nicht so schnell hören.« Er warf mir einen Blick zu. »Wohin sollst du gehen, was hast du Annabeth versprochen?«

Ich hatte im Mund einen Geschmack, als ob ich Alufolie gekaut hätte. »Zum Haus meines Onkels. Ich muss da etwas erledigen.«

»Ohhh.« Alex nickte. »Ich hasse dieses Haus.«

Ich schob diese Aufgabe nun schon seit Wochen vor mir her. Ich wollte nicht allein hingehen. Ich wollte auch meine anderen Freunde nicht darum bitten – Samirah, Hearthstone, Blitzen oder die Clique aus dem neunzehnten Stock im Hotel Walhalla. Es ging mir zu nah, tat zu weh. Aber Alex war schon einmal mit mir in der Chase-Villa gewesen. Die Vorstellung, ihn mitzunehmen, machte mir nichts aus. Zu meiner Überraschung ging mir sogar auf, dass ich ihn ziemlich dringend dabeihaben wollte.

»Äh …«, ich räusperte mir die letzten Reste Falafel und Meerwasser aus der Kehle. »Würdest du wohl mit mir in ein Spukhaus kommen und den Kram eines Toten durchsehen?«

Alex strahlte. »Ich hatte schon Angst, du würdest mich niemals fragen.«

Ich erbe einen toten Wolf und etwas Unterwäsche

3»Das ist neu«, sagte Alex.

Die Eingangstür war aufgebrochen worden und der nutzlose Riegel ragte aus dem Türrahmen. Auf dem Perserteppich in der Diele lag ein Wolfskadaver.

Mir schauderte.

In den Neun Welten konnte man nicht einmal eine Streitaxt schwingen, ohne irgendeinen Wolf zu treffen: den Fenriswolf, Odins Wölfe, Lokis Wölfe, Werwölfe, große böse Wölfe und freischaffende kleine Geschäftswölfe, die für den richtigen Preis jeden Mord begehen würden.

Der tote Wolf in Onkel Randolphs Diele hatte sehr große Ähnlichkeit mit den Bestien, die vor zwei Jahren meine Mom überfallen hatten, in der Nacht, in der sie ums Leben gekommen war.

Reste von blauem Licht hingen noch in seinem zottigen grauen Fell. Sein Maul war zu einem ewigen Fauchen verzogen. Oben auf seinem Kopf war in die Haut eine wikingische Rune eingebrannt, nur war das Fell dort dermaßen versengt, dass ich sie nicht erkennen konnte. Mein Freund Hearthstone hätte das sicher geschafft.

Alex umkreiste den ponygroßen Kadaver. Er versetzte ihm einen Tritt in die Rippen. Die Bestie blieb netterweise tot.

»Der Zerfall hat noch nicht eingesetzt«, erklärte Alex. »Meistens zerfallen Monster ziemlich schnell, wenn man sie getötet hat. Du kannst bei diesem hier noch das verbrannte Fell riechen. Kann also noch nicht lange her sein.«

»Glaubst du, die Rune war irgendeine Art Falle?«

Alex feixte. »Ich glaube, dein Onkel hat so allerlei über Magie gewusst. Der Wolf ist auf dem Teppich gelandet, hat diese Rune losgetreten und BAM!«

Ich dachte an die vielen Male, als ich als junger Obdachloser in Onkel Randolphs Haus eingebrochen war, wenn er nicht da war, um Essen zu stehlen, sein Arbeitszimmer zu durchsuchen oder einfach zu nerven. Ich hatte nie irgendein BAM erlebt. Jetzt wurde mir ein bisschen schlecht und ich fragte mich, ob ich auch tot und mit einer in die Stirn gebrannten Rune auf dem Teppich hätte enden können.

War diese Falle der Grund, warum Randolphs Testament ausdrücklich verlangt hatte, dass Annabeth und ich das Haus aufsuchten, ehe wir die Erbschaft antraten? Hatte Randolph versucht, sich noch nach dem Tod ein bisschen zu rächen?

»Meinst du, wir können gefahrlos den Rest des Hauses untersuchen?«, fragte ich.

»Glaub nicht«, sagte Alex fröhlich. »Also los.«

Im Erdgeschoss fanden wir keine weiteren toten Wölfe. Keine Runen explodierten vor unserer Nase. Das Entsetzlichste, was wir entdeckten, befand sich in Onkel Randolphs Kühlschrank, wo Joghurt mit abgelaufenem Verfallsdatum, saure Milch und schimmelige Möhren sich zu einer vorindustriellen Gesellschaft entwickelten. Randolph hatte nicht einmal Schokolade in seiner Speisekammer hinterlassen, der alte Schurke.

Im ersten Stock hatte sich nichts verändert. In Randolphs Arbeitszimmer schien die Sonne durch das Bleiglasfenster und fiel in roten und orangen Streifen über die Bücherregale und die ausgestellten Wikingerfunde. In einer Ecke stand ein großer Runenstein, in den das höhnische Gesicht eines Wolfs (was sonst) eingeritzt war. Zerfledderte Landkarten und verschossene gelbe Pergamentbogen bedeckten Randolphs Schreibtisch. Ich überflog die Dokumente und hielt Ausschau nach etwas Neuem, etwas Wichtigem, aber ich sah nichts, was ich nicht schon bei meinem letzten Besuch hier gesehen hatte.

Ich dachte an den Wortlaut von Randolphs Testament, das Annabeth mir geschickt hatte.

Es ist unbedingt erforderlich, hatte Randolph erklärt, dass mein geliebter Neffe Magnus so bald wie möglich meinen irdischen Besitz durchsieht. Er sollte vor allem auf meine Papiere achten.

Ich wusste nicht, warum Randolph diese Zeilen in sein Testament aufgenommen hatte. In seinen Schreibtischschubladen fand ich keinen an mich gerichteten Brief, keine von Herzen kommende Bitte um Entschuldigung wie Lieber Magnus, es tut mir leid, dass ich deinen Tod verursacht, dich verraten, mich mit Loki zusammengetan und am Ende deinen Freund Blitzen erstochen habe, um dich dann fast noch ein weiteres Mal umzubringen.

Er hatte mir nicht einmal das Passwort für das WLAN in seiner Villa hinterlassen.

Ich schaute aus dem Fenster des Arbeitszimmers. Auf der anderen Straßenseite in der Commonwealth Mall waren Menschen mit ihren Hunden unterwegs, spielten Frisbee, genossen das schöne Wetter. Die Statue von Leif Eriksson stand auf ihrem Sockel, protzte mit ihrem Metall-BH, musterte den Verkehr am Charlesgate und fragte sich vermutlich, warum sie nicht in Norwegen war.

»Also.« Alex trat neben mich. »Du erbst das hier alles, oder?«

Auf dem Weg hierher hatte ich ihm in groben Zügen Onkel Randolphs Testament dargelegt, aber Alex sah noch immer ungläubig, fast beleidigt aus.

»Randolph hat das Haus Annabeth und mir hinterlassen«, sagte ich. »Technisch gesehen bin ich tot. Das bedeutet, dass alles Annabeth gehört. Randolphs Anwälte haben sich an Annabeths Vater gewandt, der hat ihr Bescheid gesagt und sie mir. Annabeth hat mich gebeten, der Sache nachzugehen und«, ich zuckte mit den Schultern, »zu entscheiden, was mit dem Haus geschehen soll.«

Alex nahm aus dem nächststehenden Bücherregal ein gerahmtes Foto von Onkel Randolph mit seiner Frau und seinen Töchtern. Ich hatte Caroline, Emma und Aubrey nie kennengelernt. Sie waren vor vielen Jahren bei einem Sturm auf See umgekommen. Aber ich hatte sie in meinen Albträumen gesehen. Ich wusste, dass Loki sie meinem Onkel gegenüber als Druckmittel benutzte, er hatte versprochen, dass Randolph seine Familie wiedersehen würde, wenn er Loki half, sich aus seinen Fesseln zu befreien … Und in gewisser Weise hatte Loki die Wahrheit gesagt. Als ich Onkel Randolph zuletzt gesehen hatte, war er in einen Abgrund gestürzt, der auf geradem Wege nach Helheim führte, ins Reich der nicht ehrenhaft Gestorbenen.

Alex drehte das Foto um, vielleicht in der Hoffnung, auf der Rückseite eine geheime Mitteilung zu finden. Bei unserem letzten Besuch in diesem Arbeitszimmer hatte er auf diese Weise eine Einladung zu einer Hochzeit gefunden, und das hatte uns eine Menge Probleme eingebracht. Diesmal gab es keine verborgene Botschaft – nur leeres braunes Papier, und es tat viel weniger weh, das anzusehen, als die lächelnden Gesichter meiner toten Verwandten.

Alex stellte das Bild zurück ins Regal. »Annabeth ist es egal, was du mit dem Haus machst?«

»Irgendwie schon. Sie hat genug zu tun mit dem College und, du weißt schon, Halbgötterkram. Ich soll ihr nur sagen, wenn ich etwas Interessantes finde – alte Fotoalben, Familiengeschichte oder so.«

Alex rümpfte die Nase. »Familiengeschichte.« Sein Gesicht zeigte den gleichen leicht angeekelten, leicht neugierigen Ausdruck wie vorhin, als er den toten Wolf getreten hatte. »Was ist denn in den oberen Stockwerken noch?«

»Ich bin nicht sicher. Als Kind durften wir nur die beiden unteren Stockwerke betreten, und die wenigen Male, wenn ich später hier eingebrochen bin …« Ich hob die Handflächen. »Ich hab es wohl nie so weit nach oben geschafft.«

Alex musterte mich über den Brillenrand hinweg und sein dunkelbraunes und sein bernsteingelbes Auge sahen aus wie zwei nicht zueinander passende Monde, die am Horizont ruhten. »Klingt interessant. Also los.«

Im zweiten Stock gab es vor allem zwei große Schlafzimmer. Das vordere war makellos sauber, kalt und unpersönlich. Zwei nebeneinanderstehende Betten. Eine Kommode. Kahle Wände. Vielleicht ein Gästezimmer, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass Randolph oft Besuch gehabt hatte. Oder vielleicht war das hier das Zimmer von Emma und Aubrey gewesen, und dann hatte Randolph alle ihre Habseligkeiten entfernt und nur eine weiße Leere mitten im Haus hinterlassen. Wir blieben nicht lange dort.

Das zweite Schlafzimmer hatte offenbar Randolph gehört. Es roch wie sein altmodisches Gewürznelkenduftwasser. Der Papierkorb lief über vor lauter Schokopapier. Randolph hatte vermutlich seinen ganzen Vorrat verzehrt, ehe er losgegangen war, um Loki bei der Vernichtung der Welt zu helfen.

Ich konnte ihm da keine Vorwürfe machen. Ich sage schließlich immer: Erst Schokolade essen, dann die Welt vernichten.

Alex sprang in das Himmelbett. Er hüpfte auf und ab und grinste, als die Federn quietschten.

»Was machst du denn da?«, fragte ich.

»Krach.« Er beugte sich vor und durchsuchte Randolphs Nachttisch. »Mal sehen. Hustentropfen. Büroklammern. Ein paar zusammengeknüllte Taschentücher, die ich nicht anfassen werde. Und …« Er stieß einen Pfiff aus. »Abführmittel! Magnus, diese ganzen Schätze gehören dir!«

»Du bist verrückt.«

»Ich ziehe die Bezeichnung fabelhaft bizarr vor.«

Wir durchsuchten das restliche Schlafzimmer, obwohl ich nicht so recht wusste, wonach ich suchte. Vor allem auf meine Papiere achten, hatte Randolphs Testament verlangt. Ich bezweifelte, dass er die zusammengeknüllten Taschentücher meinte.

Annabeth hatte Randolphs Anwälten nicht viel an Informationen entlocken können. Unser Onkel hatte sein Testament offenbar am Tag vor seinem Tod noch verändert. Das konnte bedeuten, dass Randolph gewusst hatte, dass ihm nicht mehr lange zu leben blieb. Vielleicht hatte er sich schuldig gefühlt, weil er mich verraten hatte, und mir eine Art letzte Botschaft hinterlassen wollen. Es konnte auch bedeuten, dass er sein Testament auf Befehl von Loki geändert hatte. Aber wenn das hier eine Falle war, um mich herzulocken, warum lag dann in der Diele ein toter Wolf?

In Randolphs Schrank fand ich keine geheimen Papiere. Sein Badezimmer war nicht weiter aufregend, abgesehen von einer beeindruckenden Sammlung von halb leeren Mundwasserflaschen. In der Schublade für Unterwäsche lagen genug marineblaue Boxershorts für eine ganze Kompanie von Randolphs – alle kurz, perfekt gestärkt, gebügelt und zusammengefaltet. Manche Dinge spotten jeglicher Beschreibung.

Im nächsten Stock noch zwei leere Schlafzimmer. Nichts Gefährliches wie Wölfe, explodierende Runen oder Altherrenunterwäsche.

Das oberste Geschoss war eine riesige Bibliothek, noch größer als die in Randolphs Arbeitszimmer. Eine buntgewürfelte Mischung von Romanen stand in den Regalen. In einer Ecke des Raumes gab es eine Kochnische mit einem Minikühlschrank, einem Wasserkocher und – DER TEUFEL SOLL DICH HOLEN, RANDOLPH! – wieder ohne Schokolade. Die Fenster blickten auf die grünen Dachziegel der Back Bay. Am hinteren Ende des Raumes führte eine Treppe nach oben, sicher auf eine Dachterrasse, wie ich annahm.

Dem Kamin gegenüber stand ein bequem aussehender Ledersessel. In die Mitte der marmornen Kamineinfassung war ein zähnebleckender Wolf eingearbeitet (was sonst). Auf dem Kaminsims balancierte auf einem silbernen Dreifuß ein nordisches Trinkhorn mit einem Lederriemen und einem mit Runen versehenen Silberrand. In Walhalla hatte ich Tausende von solchen Hörnern gesehen, aber es überraschte mich, hier eins zu finden. Randolph war mir nie als typischer Metpichler erschienen. Vielleicht hatte er aus dem Horn seinen Earl Grey getrunken.

»Madre de Dios«, sagte Alex.

Ich starrte ihn an. Ich hatte ihn vorher noch nie Spanisch sprechen hören.

Er tippte eines der gerahmten Fotos an der Wand an und grinste gehässig. »Bitte, sag mir, dass nicht du das bist!«

Das Bild war ein Schnappschuss meiner Mutter mit ihrer üblichen Wichtelfrisur, strahlendem Lächeln und einem Campinghemd aus Flanell. Sie stand in einem ausgehöhlten Platanenstamm und hielt Baby Magnus in die Kamera – meine Haare waren ein Flausch aus weißem Gold, mein Mund glitzerte vor Sabber und ich hatte die grauen Augen weit aufgerissen, wie um zu fragen, was zum Henker mach ich eigentlich hier?

»Das bin ich«, gab ich zu.

»Was warst du niedlich«, Alex schaute mich an. »Was ist dann schiefgegangen?«

»Ha, ha.«

Ich sah mir die Fotowand an. Ich staunte darüber, dass Onkel Randolph ein Bild von mir und meiner Mom hier aufgehängt hatte, wo er es sehen musste, wann immer er sich in seinen bequemen Sessel setzte – so, als ob wir ihm wirklich wichtig wären.

Ein weiteres Foto zeigte die drei Geschwister Chase – Natalie, Frederick und Randolph – als Kinder, alle gekleidet in Uniformen aus dem Zweiten Weltkrieg, während sie Spielzeuggewehre schwenkten. Halloween, nahm ich an. Neben diesem Bild hing eins meiner Großeltern, ein stirnrunzelndes weißhaariges Paar, gekleidet in schrille karierte Klamotten aus den Siebzigerjahren, als wären sie gerade auf dem Weg zur Kirche oder zur Senioren-Disco.

Geständnis: Es fiel mir schwer, meinen Großvater und meine Großmutter auseinanderzuhalten. Ich hatte sie nicht mehr kennengelernt, aber den Bildern nach konnte man davon ausgehen, dass sie so ein Paar waren, das sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher wird, bis man sie am Ende einfach nicht mehr unterscheiden kann. Die gleiche weiße Helmfrisur. Die gleiche Brille. Der gleiche dünne Schnurrbart. Auf dem Foto hingen einige Wikingerfundstücke hinter ihnen an der Wand, wie das Trinkhorn, das jetzt auf Randolphs Kaminsims stand. Ich hatte keine Ahnung davon gehabt, dass sich schon meine Großeltern für diesen nordischen Kram interessiert hatten. Ich fragte mich, ob sie je die Neun Welten bereist hatten. Das hätte ihre verwirrten, leicht schielenden Gesichter erklärt.

Alex sah die Titel im Bücherregal durch.

»Irgendwas Interessantes?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Der Herr der Ringe. Nicht schlecht. Sylvia Plath. Nett. Oh, Die linke Hand der Dunkelheit. Dieses Buch liebe ich. Der Rest … Na ja. Das Schwergewicht liegt für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr auf toten weißen Männern.«

»Ich bin ein toter weißer Mann«, wandte ich ein.

Alex hob eine Augenbraue. »Ja, stimmt.«

Ich hatte nicht gewusst, dass Alex viel las. Ich hätte gern gefragt, ob ihm einige meiner Lieblinge gefielen, Scott Pilgrim oder vielleicht Sandman. Die waren wunderbar ausgeflippt. Aber ich kam zu dem Schluss, dass das hier vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt war, um eine Lesegruppe zu gründen.

Ich suchte die Regale nach Tagebüchern oder Geheimfächern ab.

Alex wanderte zur letzten Treppe weiter. Er lugte nach oben und wurde so grün wie seine Haare. »Äh, Magnus? Das solltest du dir vielleicht mal ansehen.«

Ich trat neben ihn.

Oben am Ende der Treppe führte eine gewölbte Luke aus Plexiglas auf das Dach. Und auf der anderen Seite lief zähnebleckend noch ein Wolf hin und her.

Moment! Jetzt zugreifen und den zweiten Wolf gibts gratis!

4»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.

Aus seinen Gürtelschlaufen zog Alex den goldenen Draht, der eine dreifache Funktion als Modeaccessoire, Tonschneider und Kampfwaffe hatte. »Wir könnten das Viech umbringen.«

Der Wolf knurrte und kratzte an der Luke herum. Magische Runen leuchteten im Plexiglas. Das Fell im Gesicht der Bestie rauchte schon und war versengt von früheren Versuchen, durch die Luke zu brechen.

Ich fragte mich, wie lange der Wolf wohl schon auf dem Dach war und warum er nicht versucht hatte, sich auf andere Weise Zutritt zu verschaffen. Vielleicht wollte er nicht tot herumliegen wie sein Freund im Erdgeschoss. Oder vielleicht war er starrköpfig auf dieses besondere Zimmer fixiert.

»Der will irgendwas«, vermutete ich.

»Uns umbringen«, sagte Alex. »Weshalb wir ihm zuvorkommen sollten. Möchtest du die Luke öffnen oder …?«

»Warte.« Normalerweise wäre ich unbedingt dafür gewesen, einen leuchtenden blauen Wolf zu töten, aber etwas an diesem Tier machte mir zu schaffen … Wie seine kalten dunklen Augen an uns vorbeizuschauen schienen, als ob sie nach einer ganz anderen Beute Ausschau hielten. »Was, wenn wir ihn reinlassen?«

Alex starrte mich an, als ob ich verrückt wäre. Das machte er oft. »Möchtest du ihm eine Tasse Tee anbieten? Ihm vielleicht ein Buch leihen?«

»Er muss hier irgendeine Aufgabe haben.« Ich blieb stur. »Irgendwer hat diese Wölfe geschickt, damit sie etwas holen – vielleicht dasselbe, wonach ich auch suche.«

Alex überlegte. »Du meinst, Loki hat die Wölfe geschickt.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Loki bleibt eben Loki.«

»Und wenn wir den Wolf reinlassen, meinst du, er stürzt sich dann sofort auf das, was er eben sucht?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass es ihm nicht um das Abführmittel geht.«

Alex lockerte seinen karierten Schlips noch weiter. »Okay. Wir öffnen die Luke, lassen den Wolf rein, sehen uns an, wohin er läuft, und dann töten wir ihn.«

»Genau.« Ich zog den Runenanhänger von meiner Halskette. Jack wuchs zum Schwert heran, obwohl er sich schwerer anfühlte als sonst, wie ein Kind, das sich in einem Kaufhaus auf den Boden fallen lässt.

»Was ist denn jetzt schon wieder?« Er seufzte. »Siehst du nicht, dass ich an gebrochenem Herzen sterbe?«

Ich hätte darauf hinweisen können, dass er überhaupt nicht sterben konnte und dass er auch kein Herz hatte, aber das wäre gemein gewesen. »Tut mir leid, Jack. Wir müssen einen Wolf erledigen.«

Ich erklärte ihm, was anlag.

Jacks Klinge leuchtete violett. »Aber Springflut hat rasierklingenscharfe Kanten«, sagte er verträumt. »Hast du ihre Kanten gesehen?«

»Ja. Superkanten. Aber jetzt sollten wir erst mal Loki daran hindern, sein gewaltiges Todesschiff vom Stapel zu lassen und die Götterdämmerung loszutreten. Danach können wir vielleicht ein neues Date für dich und Springflut arrangieren.«

Noch ein tiefer Seufzer. »Wolf. Dach. Luke. Alles klar.«

Ich schaute zu Alex hinüber und unterdrückte einen Aufschrei. Während ich nicht hingeschaut hatte, hatte er sich in einen riesigen Timberwolf verwandelt.

»Musst du immer hinter meinem Rücken zum Tier werden?«, fragte ich.

Alex bleckte seine Hauzähne zu einem wölfischen Grinsen. Er wies mit der Schnauze die Treppe hoch, wie um zu sagen: Worauf wartest du noch? Ich bin ein Wolf, ich kann keine Luken öffnen.

Ich stieg die Treppe hoch. Es war so heiß wie in einem Gewächshaus. Auf der anderen Seite der Luke schnüffelte der Wolf am Plexiglas herum, kaute daran und hinterließ Speichelschlieren und Zahnabdrücke. Diese Schutzsperrenrunen schmeckten offenbar köstlich. Weil ich so dicht vor einem feindlichen Wolf stand, sträubten sich die Haare in meinem Nacken wie Igelstacheln.

Was würde geschehen, wenn ich die Luke öffnete? Würden mich die Runen umbringen? Würden sie den Wolf umbringen? Oder würden sie ihre Kraft verlieren, wenn ich den Wolf aus freien Stücken einließ, da das ja nun wirklich das Blödeste war, was ich überhaupt nur tun konnte?

Der Wolf besabberte das Plexiglas.

»He, Kumpel«, sagte ich.

Jack summte in meiner Hand. »Was?«

»Nicht du, Jack. Ich rede mit dem Wolf.« Ich lächelte die Bestie an, aber dann fiel mir ein, dass es bei Hundeverwandten ein Zeichen der Aggression ist, die Zähne zu zeigen. Also zog ich einen Schmollmund. »Ich lasse dich jetzt rein. Das wird nett. Dann kannst du dir holen, was du hier suchst, denn du bist doch wohl nicht gekommen, um mich umzubringen, oder?«

Das Fauchen des Wolfs war keine Beruhigung.

»Na gut«, sagte ich. »Eins, zwei, drei!«

Ich warf mich mit meiner ganzen Einherjerkraft gegen die Luke und stieß den Wolf zurück, als ich auf die Dachterrasse plumpste. Ich konnte gerade noch einen Grill, einige vor Hibiskus überlaufende Blumenkästen und zwei Liegestühle registrieren, die einen unglaublichen Blick auf den Charles River boten. Ich hätte Onkel Randolph ohrfeigen können, weil er mir nie von dieser Top-Partyterrasse erzählt hatte.

Der Wolf kam hinter der Luke hervor und knurrte, sein Fell war gesträubt wie eine zottige Rückenflosse. Eines seiner Augen war zugequollen, das Augenlid verbrannt vom Kontakt mit der Runenfalle meines Onkels.

»Jetzt?«, fragte Jack ohne besondere Begeisterung.

»Noch nicht.« Ich ging ein wenig in die Knie, bereit loszuspringen, wenn es nötig wäre. Ich wollte diesem Wolf zeigen, was ich für ein guter Kämpfer war … oder, ihr wisst schon, wie schnell ich weglaufen konnte, je nachdem, was die Situation gerade erforderte.

Der Wolf musterte mich mit seinem heilen Auge. Er schnaubte verächtlich und polterte dann die Treppe hinunter ins Haus.

Ich war nicht sicher, ob ich erleichtert oder beleidigt sein sollte.

Ich rannte hinterher. Als ich unten an der Treppe ankam, lieferten sich Alex und der andere Wolf mitten in der Bibliothek ein Fauchduell. Sie bleckten die Zähne und umkreisten einander, lauerten auf Anzeichen von Angst oder Schwäche. Der blaue Wolf war viel größer. Die Neonbüschel in seinem Fell gaben ihm einen gewissen coolen Touch. Aber er war halb blind und wand sich vor Schmerzen. Alex, typisch, wirkte kein bisschen eingeschüchtert. Er stand einfach da, während der andere Wolf um ihn herumschlich.

Als unser leuchtend blauer Besucher sich davon überzeugt hatte, dass Alex ihn nicht angreifen würde, hob er die Schnauze und schnupperte in der Luft herum. Ich nahm an, dass er jetzt zum Bücherregal rennen und irgendein geheimes Buch voller Seekarten oder vielleicht ein Exemplar von »Wie man Lokis Todesschiff aufhält – In drei einfachen Schritten« zernagen würde. Stattdessen stürzte er sich auf den Kamin, sprang auf das Sims und packte das Methorn mit den Zähnen.

Irgendein träger Teil meines Gehirns dachte: He, das sollte ich wohl besser verhindern.

Alex war da sehr viel schneller. In einer einzigen gleitenden Bewegung verwandelte er sich wieder in einen Menschen, sprang vor und warf die Garrotte wie eine Bowlingkugel (eigentlich machte er das sogar viel eleganter – ich hatte Alex schon bowlen sehen, und das war kein schöner Anblick gewesen). Die goldene Schnur wickelte sich um den Hals des Wolfes. Mit einem Ruck nach hinten befreite Alex das Tier von allen zukünftigen Kopfschmerzen.

Der kopflose Rumpf fiel auf den Teppich, fing an zu zischen und zerfiel, bis nur noch das Trinkhorn und einige Fellbüschel übrig waren.

Jacks Klinge in meiner Hand wurde schwerer. »Na schön«, sagte er. »Dann brauchst du mich wohl doch nicht. Ich werde also lieber ein paar Liebesgedichte schreiben und bitterlich weinen.« Er schrumpfte wieder zum Runenanhänger.

Alex hockte neben dem Methorn. »Irgendeine Vorstellung, was ein Wolf mit einem Trinkgefäß anfangen will, das nur zur Zierde dient?«

Ich kniete mich neben ihn, hob das Horn auf und schaute hinein. In das Horn hineingeklemmt war ein aufgerolltes Lederbüchlein, es sah aus wie ein Tagebuch. Ich zog es heraus und blätterte eilig darin herum: Zeichnungen von Wikingerrunen, dazwischen kurze Notizen in Onkel Randolphs enger Schreibschrift.

»Ich glaube«, sagte ich, »wir haben den richtigen toten weißen Autor gefunden.«

Wir machten es uns in den Liegestühlen auf der Dachterrasse gemütlich.

Während ich im Notizbuch meines Onkels blätterte und versuchte, den hektischen Runenzeichnungen und dem Irrsinn in Schreibschrift irgendeinen Sinn zu entnehmen, war Alex ganz entspannt und nippte Guavensaft aus dem Methorn.

Warum Onkel Randolph in seinem winzigen Bibliothekskühlschrank Guavensaft stehen hatte, kann ich euch auch nicht sagen.

Ab und zu, nur um mich zu nerven, schlürfte Alex übertrieben genießerisch und schmatzte. »Ahhh.«

»Bist du sicher, dass es nicht gefährlich ist, aus diesem Horn zu trinken?«, fragte ich. »Das könnte doch verflucht sein oder so was.«

Alex griff sich an die Kehle und spielte den Erstickenden. »Oh nein! Ich werde zum Frosch!«

»Bitte nicht!«

Er zeigte auf das Tagebuch. »Bringt das irgendwas?«

Ich starrte die Seiten an. Runen verschwammen vor meinen Augen. Die Notizen waren in einem Sprachgemisch: Altnordisch, Schwedisch und etwas, das ich nicht einmal erahnen konnte. Nicht einmal die Absätze auf Englisch ergaben besonders viel Sinn. Ich hatte das Gefühl, von hinten nach vorn ein in Spiegelschrift verfasstes Lehrbuch der Quantenphysik für Fortgeschrittene zu lesen.

»Das meiste übersteigt meinen Horizont«, gab ich zu. »Die ersten Seiten handeln offenbar von Randolphs Suche nach dem Schwert des Sommers. Ich kann einige Anspielungen erkennen. Aber hier am Ende …«

Die letzten Seiten waren in aller Eile hingekritzelt worden. Randolphs Schrift war jetzt zittrig und hektisch. Das Papier war mit getrockneten Blutstropfen gesprenkelt. Mir fiel ein, dass Randolph im Grab der Wikingerzombies in Provincetown mehrere Finger abgehackt worden waren. Er könnte diese Seiten danach geschrieben haben, mit der Hand, die er sonst nicht benutzte. Die wackelige Schreibschrift erinnerte mich daran, wie ich in der Grundschule geschrieben hatte, als ich vom Lehrer gezwungen worden war, die rechte Hand zu nehmen.

Auf die letzte Seite hatte Randolph meinen Namen gekritzelt: Magnus.

Darunter hatte er zwei zu einer Acht verschlungene Schlangen gezeichnet. Es war eine grottenschlechte Zeichnung, aber ich erkannte das Symbol. Alex hatte es sich in den Nacken tätowieren lassen: das Zeichen Lokis.

Darunter stand ein Wort in einer Sprache, die ich für Altnordisch hielt: mjöð. Darunter dann etwas auf Englisch: könnte L. aufhalten. Wetzstein von Bolverk  >  Wachen. Wo?

Das letzte Wort rutschte nach unten und das Fragezeichen war nur noch ein verzweifeltes Gekritzel.

»Was hältst du davon?« Ich reichte Alex das Buch.

Er runzelte die Stirn. »Das ist jedenfalls das Symbol meiner Mom.«

(Ihr habt richtig gehört. Loki war normalerweise eine männliche Gottheit, aber zufällig war er auch Alex’ Mutter. Lange Geschichte.)

»Und der Rest?«, fragte ich.

»Diese Wort sieht ein bisschen aus wie möö mit einem j. Vielleicht reden skandinavische Kühe so?«

»Ich gehe mal davon aus, dass du kein Altnordisch kannst, oder was immer das für eine Sprache sein mag?«

»Magnus, es ist vielleicht ein Schock für dich zu erfahren, dass ich nicht über jede Fähigkeit auf der Welt verfüge. Nur über die meisten der allerwichtigsten.«

Er musterte die Seite aus zusammengekniffenen Augen. Während er sich konzentrierte, zuckte sein linker Mundwinkel wie bei einem wahnsinnig komischen Insiderwitz. Dieser Tic störte mich. Und ich wollte wissen, was Alex so komisch fand.

»Könnte L. aufhalten«, las Alex vor. »Nehmen wir an, das ist Loki. Wetzstein von Bolverk. Meinst du, das könnte dasselbe sein wie der Skofnungstein?«

Mir schauderte. Wir hatten Skofnungstein und Skofnungschwert auf einem Hochzeitsfest in Lokis Höhle verloren, und Loki war dabei den Fesseln entkommen, die ihn seit Jahrtausenden dort festgehalten hatten. (Huppala. Dumm gelaufen.) Ich wollte diesen Wetzstein niemals wiedersehen.

»Ich hoffe nicht. Irgendeine Ahnung, was das für ein Bollwerk sein kann?«

»Nö.« Alex trank den letzten Schluck Guavensaft. »Ich finde dieses Methorn ganz schön gut. Was dagegen, wenn ich es behalte?«

»Es sei dein.« Auf eine seltsame Weise gefiel mir die Vorstellung, dass Alex aus meinem Familiensitz ein Andenken mitnahm. »Wenn Randolph also wollte, dass ich das Buch finde, und wenn Loki die Wölfe geschickt hat, um es mir wegzuschnappen …«

Alex warf mir das Tagebuch wieder zu. »Angenommen, was du da sagst, trifft zu, und angenommen, es ist keine Falle, und angenommen, diese Notizen sind nicht das Gefasel eines Verrückten …«

»Äh … ja.«

»Dann kommt hier die beste Möglichkeit: Dein Onkel hatte eine Idee, wie Loki aufgehalten werden könnte. Es war nichts, was er selbst tun konnte, aber er hoffte, du würdest es schaffen. Du brauchst dazu einen Wetzstein, ein Bollwerk und möglicherweise eine skandinavische Kuh.«

»Wenn du das so ausdrückst, klingt es nicht gerade vielversprechend.«

Alex spielte an der Spitze des Methorns herum. »Ich ruiniere ja nur ungern deine Illusionen, aber die meisten Pläne, die Loki aufhalten sollen, sind ein Reinfall. Das wissen wir schon.«

Der bittere Unterton in seiner Stimme überraschte mich.

»Du denkst an deine Trainingsrunden mit Sam«, vermutete ich. »Wie laufen die?«

Alex’ Miene war Antwort genug.

Zu Lokis vielen unangenehmen Eigenschaften gehörte es auch, dass er seinen Kindern jeglichen Befehl aufzwingen konnte, wenn er in der Nähe war, und das machte Familientreffen zu einer echten Quälerei. Alex war die Ausnahme. Er hatte auf irgendeine Weise gelernt, sich Lokis Kraft zu widersetzen, und in den vergangenen sechs Wochen hatte er versucht, das auch seiner Halbschwester Samirah al-Abbas beizubringen. Die Tatsache, dass beide nur ungern über dieses Training sprachen, deutete schon an, dass es kein umwerfender Erfolg gewesen war.

»Sie gibt sich Mühe«, sagte Alex. »Es macht es nicht einfacher, dass sie …« Er unterbrach sich.

»Was?«

»Ist egal. Ich habe versprochen, nicht darüber zu reden.«

»Jetzt bin ich aber wirklich neugierig. Ist mit ihr und Amir alles in Ordnung?«

Alex schnaubte. »Aber sicher. Die sind noch immer bis über beide Ohren, träumen von dem Tag, an dem sie heiraten können. Ich schwöre dir, wenn diese beiden mich nicht als Anstandswauwau hätten, würden sie alle Hemmungen verlieren und vielleicht sogar Händchen halten.«

»Aber was ist dann das Problem?«

Alex winkte nur ab. »Ich sage ja bloß, dass du nichts, was von deinem Onkel Randolph kommt, vertrauen solltest. Nicht den Ratschlägen in diesem Buch. Nicht seinem Haus. Was du von deiner Verwandtschaft erbst … das hat immer einen Haken.«

Aus seinem Mund kam mir das wie eine seltsame Bemerkung vor, schließlich hatte er die Aussicht von Randolphs umwerfender Dachterrasse genossen und dabei aus Randolphs wikingischem Methorn kalten Guavensaft genippt, aber ich hatte das Gefühl, dass Alex jetzt gar nicht an meinen dysfunktionalen Onkel dachte.

»Du sprichst nie viel über deine Familie«, sagte ich. »Ich meine, deine sterbliche Familie.«

Er starrte mich düster an. »Und ich werde nicht jetzt damit anfangen. Wenn du auch nur die Hälfte …«

BRAAK! Mit einem Gestöber aus schwarzen Federn landete ein Rabe auf Alex’ Stiefelspitze.

In Boston sieht man nicht so oft wilde Raben. Kanadagänse, Möwen, Enten, Tauben, sogar Habichte, das schon. Aber wenn ein riesiger schwarzer Rabe auf deinem Fuß landet, dann kann das nur eins bedeuten: eine Nachricht aus Walhalla.

Alex streckte die Hand aus. (Ist bei Raben eher nicht zu empfehlen. Die beißen total gemein zu.) Der Vogel hüpfte ihm auf das Handgelenk, kotzte eine harte Kugel von der Größe einer Pecannuss auf Alex’ Handfläche und flog dann wieder davon, nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hatte.

Ja, unsere Raben tragen Mitteilungen per Kotzpost aus. Raben besitzen die natürliche Fähigkeit, ungenießbare Substanzen wie Knochen und Fell wieder herauszuwürgen, deshalb haben sie auch keine Probleme damit, eine Postkapsel zu verschlucken, damit quer durch die Neun Welten zu fliegen und sie dem korrekten Empfänger vor die Füße zu speien. Mein Traumberuf wäre das ja nicht gerade, aber egal, ich will mir da kein Urteil anmaßen.

Alex brach die Kapsel auf. Er faltete den Brief auseinander und fing an zu lesen, wobei sein Mundwinkel wieder loszuckte. »Der ist von T. J.«, sagte er. »Offenbar brechen wir heute auf. Jetzt gleich, um genau zu sein.«

»Was?« Ich setzte mich in meinem Liegestuhl auf. »Warum?«

Natürlich hatte ich gewusst, dass uns die Zeit davonlief. Wir mussten bald losfahren, wenn wir Lokis Schiff vor Mittsommer erreichen wollten. Aber es gibt doch einen großen Unterschied zwischen bald und jetzt sofort. Ich war kein großer Fan von jetzt sofort.

Alex las weiter. »Irgendwas mit den Gezeiten? Keine Ahnung. Na, dann hol ich wohl besser Samirah aus der Schule. Die hat jetzt sicher Mathe. Da wird sie nicht gerade gern mitkommen.«

Er erhob sich und hielt mir eine Hand hin.

Ich wollte nicht aufstehen. Ich wollte auf dieser Dachterrasse bleiben, zusammen mit Alex, und zusehen, wie die Nachmittagssonne die Farbe des Flusses von Blau in Bernsteingelb verwandelte. Vielleicht könnten wir einige von Randolphs alten Taschenbüchern lesen. Wir könnten seinen Guavensaft austrinken. Aber der Rabe hatte Befehle für uns ausgekotzt. Gegen Rabenkotze helfen keine Argumente.

Ich nahm Alex’ Hand und kam auf die Füße. »Soll ich mitkommen?«

Alex runzelte die Stirn. »Nein, du Dussel. Du musst zurück nach Walhalla. Du bist doch der, der das Boot hat. Und wo wir schon davon sprechen, hast du die anderen vorgewarnt …?«

»Nein«, sagte ich und mein Gesicht glühte. »Noch nicht.«

Alex lachte. »Das könnte interessant werden. Wartet nicht auf Sam und mich. Wir holen euch dann unterwegs irgendwo ein.«

Ehe ich fragen konnte, wie er das meinte, verwandelte sich Alex in einen Flamingo, ließ sich in die Luft fallen und bescherte Bostons Vogelbeobachtern einen wunderbaren Tag.

Ich verabschiede mich von Erik, Erik, Erik und außerdem Erik

5Die Sagen behaupten, Walhalla habe fünfhundertvierzig Türen, die überall in den Neun Welten verteilt sind, um problemlosen Zutritt zu gewähren.

Die Sagen erwähnen nicht, dass sich einer dieser Eingänge im Forever-21-Laden in der Newbury Street befindet, gleich hinter der Damensportbekleidung.

Normalerweise benutzte ich diesen Eingang nicht so gern, aber er lag am nächsten zu Onkel Randolphs Villa. Niemand in Walhalla konnte mir erklären, warum wir im Forever 21 ein Portal hatten. Einige vermuteten, es sei ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der sich dort noch kein Laden befunden hatte. Ich hielt diese Platzierung eher für einen von Odins kleinen Scherzen, zumal sehr viele seiner Einherjer im wahrsten Sinne des Wortes für immer einundzwanzig oder sechzehn oder sechzig waren.

Mein zwergischer Freund Blitzen hasste diesen Eingang ganz besonders. Immer, wenn ich das Forever 21 erwähnte, pöbelte er los und erklärte, dass sein Angebot an Kleidung viel besser sei. Es hing irgendwie mit den Saumlängen zusammen. Genau weiß ich das nicht.

Ich schlenderte durch die Unterwäscheabteilung und zog mir einen befremdeten Blick einer Verkäuferin zu, dann tauchte ich in ein Gestell mit Sportbekleidung ein und landete auf der anderen Seite in einem der Spielzimmer von Hotel Walhalla. Dort lief gerade ein Billardturnier; die Wikinger benutzen dabei Speere, keine Billardqueues. (Ein Tipp: Stellt euch nie hinter einen Wikinger, der gerade zum Stoß ansetzt.) Erik der Grüne aus dem 135. Stock begrüßte mich fröhlich. (Wenn ich das richtig verstanden habe, heißen ungefähr zweiundsiebzig Prozent der Bewohner von Walhalla Erik.)

»Heil dir, Magnus Chase!« Er zeigte auf meine Schulter. »Du hast da was kleben!«

»Ach, danke.« Ich zupfte eine hängen gebliebene Yogahose von meinem Hemd und warf sie in die Tonne mit der Aufschrift »Zur Wiederverwertung«.

Dann machte ich mich auf die Suche nach meinen Freunden.

Es wurde nie langweilig, durch das Hotel Walhalla zu gehen. Mir jedenfalls nicht, und Einherjer, die schon seit Jahrhunderten hier waren, hatten mir dasselbe gesagt. Durch die Macht Odins oder den Zauber der Nornen und vielleicht einfach durch die Tatsache, dass wir ein IKEA im Haus hatten, änderte sich die Einrichtung dauernd, auch wenn immer eine Menge Speere und Schilde dabei waren, und vielleicht auch mehr Wolfsmotive, als mir lieb war.

Schon die Suche nach den Fahrstühlen führte mich durch Gänge, die seit dem Morgen Ausmaße und Richtung geändert hatten, vorbei an Zimmern, die ich noch nie gesehen hatte. In einem riesigen Salon mit Eichentäfelung spielten Krieger Shuffleboard mit Rudern als Schiebern und Schilden als Disks. Viele Spieler hatten ein geschientes Bein, einen Arm in der Schlinge oder einen Verband um den Kopf, denn – natürlich – Einherjer spielten Shuffleboard bis zum Tode.