Das Schlaflabor - Marc Meller - E-Book

Das Schlaflabor E-Book

Marc Meller

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Beschreibung

Tom Sonnborn hat alles versucht, um seine Schlafstörungen loszuwerden - ohne Erfolg. Als er von einem Schlaflabor in den Schweizer Alpen hört, das auf eine neuartige Therapieform setzt, schöpft er neue Hoffnung. Und tatsächlich: Bereits kurz nach seiner Ankunft in der Klinik schläft Tom so gut wie lange nicht mehr. Auch zuhause wird er zum regelrechten Langschläfer. Er ist überglücklich - bis er eines Morgens blutverschmiert aufwacht und die Polizei ihn verdächtigt, einen Mord begangen zu haben. Tom kann sich nicht erinnern und zweifelt plötzlich: Schläft er nachts wirklich? Schlafwandelt er etwa? Noch ahnt er nicht, dass die Wahrheit düsterer ist als jeder Albtraum.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumMYRIAMI. INSOMNIE – SchlaflosigkeitKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10II. AMNESIE – GedächtnisverlustKAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36KAPITEL 37KAPITEL 38KAPITEL 39KAPITEL 40KAPITEL 41KAPITEL 42KAPITEL 43KAPITEL 44KAPITEL 45III. HYPERMNESIE – Extrem gesteigertes ErinnerungsvermögenKAPITEL 46KAPITEL 47KAPITEL 48KAPITEL 49KAPITEL 50KAPITEL 51KAPITEL 52KAPITEL 53KAPITEL 54KAPITEL 55NACHWORT & DANKSAGUNG

Über dieses Buch

Tom Sonnborn hat alles versucht, um seine Schlafstörungen loszuwerden – ohne Erfolg. Als er von einem Schlaflabor in den Schweizer Alpen hört, das auf eine neuartige Therapieform setzt, schöpft er neue Hoffnung. Und tatsächlich: Bereits kurz nach seiner Ankunft in der Klinik schläft Tom so gut wie lange nicht mehr. Auch zuhause wird er zum regelrechten Langschläfer. Er ist überglücklich – bis er eines Morgens blutverschmiert aufwacht und die Polizei ihn verdächtigt, einen Mord begangen zu haben. Tom kann sich nicht erinnern und zweifelt plötzlich: Schläft er nachts wirklich? Schlafwandelt er etwa? Noch ahnt er nicht, dass die Wahrheit düsterer ist als jeder Albtraum.

Über den Autor

Marc Meller ist das Pseudonym eines erfolgreichen Autors von Film- und Fernsehdrehbüchern, Kriminalromanen und Thrillern. Eigentlich ist Marc ein guter Schläfer – wenn er nicht gerade an seinem nächsten Buch arbeitet und die Nacht zum Tag werden lässt. Er lebt, schreibt und schläft in Köln.

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Einband-/Umschlagmotiv: © FinePic®, München; ACALU Studio/Stocksy

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2103-5

luebbe.de

lesejury.de

MYRIAM
* 13.9.1992

Früh am Tag oder mitten in der Nacht, alles eine Frage der Perspektive – so wie ein Glas Wasser halbvoll oder halbleer sein konnte. Für Myriam war es mitten in der Nacht. Ihr Blick ging hinauf zu den Sternen, die ausgedünnt vom Licht der Großstadt wenig zahlreich am Firmament erschienen. Am Strand von Kreta, wo sie vor einem Jahr noch im Urlaub war, wurde die Unendlichkeit des Weltalls sichtbar. Dort hinterließen einige Sternschnuppen ihre Spur am Nachthimmel. Mehr, als Myriam Wünsche gehabt hätte. Jetzt hatte sie nur einen Wunsch, aber da war keine einzige Sternschnuppe.

Gelangweilt trottete sie in Richtung der Kranhäuser. Die Architekten hatten sich von alten Verladekränen inspirieren lassen, wie es sie früher am Rheinauhafen zuhauf gegeben hatte. Daher rührte der Name dieses modernen Gebäudekomplexes. Hier zu wohnen war kostspielig, das wusste Myriam, weil sie einmal in einem der oberen Stockwerke eine Nacht verbracht hatte. Ihr Blick wanderte an der Fassade hinauf bis zur fünfzehnten Etage. Hinter den Fenstern war es dunkel, ein Stockwerk darüber brannte noch Licht. Es gab also noch mehr Leute, die nicht schliefen. Vielleicht nicht schlafen konnten, so wie sie.

Früher, als Studentin, hatte Myriam gerne die Nacht zum Tag gemacht. Freiwillig. Heute war es was anderes, sie litt an Insomnie. Schlaflosigkeit. Es wollte einfach nicht klappen. Wenn sie todmüde war, fielen ihr kurz die Augen zu, aber das wohlige Gefühl, wenn man die Grenze des Bewusstseins überschritt und in den Schlaf hinüberdämmerte, dieses schöne Gefühl hielt nur kurz an und dann: war sie wieder hellwach. Angefangen hatte es kurz vor ihrem zweiten Staatsexamen. Die Erklärung dafür, logisch: der Stress. Dann war die Prüfung bestanden, ein Examen mit Prädikat, aber die Insomnie hielt an. Zwei, drei Stunden Schlaf pro Nacht, mehr war nicht drin. Myriam hatte sofort nach dem Studium ein gutes Angebot von einer renommierten Kanzlei angenommen. Und gleich danach hatten die Ärzte wieder simple Diagnosen für die Insomnie: der neue Job. Der Stress. Versagensängste. Erklärungen von Seiten der Experten gab es schon immer genug. Lösungen? Fehlanzeige. Aber mit dem Stress war es schnell vorbei gewesen. Nach nur drei Monaten hatte man ihr gekündigt, weil sie stets verschlafen und unkonzentriert wirkte, antriebslos. Sie konnte es ihrem Chef nicht mal verübeln, er hatte schließlich Verantwortung für seine Kanzlei und die anderen Mitarbeiter.

Der Rheinboulevard war um diese Uhrzeit wie leergefegt, kaum jemand unterwegs. Von Zeit zu Zeit kamen Myriam ein paar Nachtschwärmer entgegen oder Leute, die mit ihren Hunden Gassi gingen. Vielleicht sollte sie sich auch einen zulegen, dachte sie. Dann wäre sie wenigstens nicht allein unterwegs. Aber sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Womöglich würde sie in eine kleinere Wohnung umziehen müssen. Vielleicht war es falsch gewesen, sich auf den ersten Job und das sichere Einkommen zu verlassen. Hinterher war man immer schlauer.

Ihre letzten Ersparnisse hatte sie in den Besuch einer Privatklinik investiert. Ein Schlaflabor in der Schweiz. Dort konnte sie schlafen wie ein Murmeltier. Kaum war sie zurück in Köln, verkürzten sich die Stunden der Erholung, das Einschlafen dauerte immer länger, die Schlafphase wurde immer kürzer. Mittlerweile war Myriam wieder bei drei Stunden pro Nacht angekommen. Man hatte ihr gesagt, dass die Therapie nicht bei jedem Patienten sofort anschlüge. Für einen zweiten Versuch fehlte ihr das Geld – und der Glaube, dass es irgendwann besser werden könnte. Gedanken an die Zukunft konnte Myriam sich nicht leisten, jedes Mal schossen ihr Tränen in die Augen. In einer Woche war ihr dreißigster Geburtstag. So wie im Moment konnte es nicht weitergehen. Unmöglich.

Mit jedem Schritt, den sie über den Rheinboulevard flanierte, verging ein wenig Zeit. Sie musste spontan gähnen, ein gutes Zeichen. Vielleicht würde es diesmal klappen. Myriam sah auf die Uhr, halb drei. Sie sollte noch mindestens eine halbe Stunde aushalten, das hatte die Erfahrung gezeigt. Vielleicht wären dann mal mehr als drei Stunden Schlaf drin. Dreieinhalb, vier oder sogar fünf. Zu Beginn hatten die Ärzte ihr Hoffnungen gemacht. Nach der zweiten Schlaftherapie klang alles schon etwas verhaltener. Myriam hatte Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe aufgenommen. Das Gefühl, nicht allein zu sein mit ihrem Problem, half nicht dabei, in den Schlaf zu finden, aber sie hatte wenigstens ein paar Leidensgenossen, mit denen sie telefonieren konnte.

Vor ihr, noch etwa fünfzig Meter entfernt, sah sie einen Mann, der über den Rheinboulevard schlenderte. In der rechten Hand hielt er eine Hundeleine. Myriam taxierte ihn, als er unter einer Laterne entlangschritt und Licht auf sein Gesicht fiel. Er trug eine Brille und hatte einen dunklen Vollbart. Dann tauchte sein Gesicht wieder ins Halbdunkel der Nacht ab. Myriam blickte sich um, wo war sein Hund? Als ob der Mann sich dieselbe Frage stellte, wanderte sein Blick umher. Dann blieb der Mann stehen, wodurch sich der Abstand mit jedem von Myriams Schritten verringerte. Ihre Hand glitt instinktiv in die Manteltasche, sie ertastete das Pfefferspray. Auch wenn der Mann nicht den Eindruck machte, dass von ihm eine Gefahr ausging, die Sprühflasche gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Der Boulevard war breit genug, um mit Abstand an ihm vorbeizugehen. Er schien immer noch Ausschau nach seinem Hund zu halten, pfiff einmal laut.

»Lucius«, rief er in Richtung der Häuserschlucht.

Was für ein blöder Name für einen Hund, dachte Myriam, als sie an dem Mann vorbeischritt und aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Im selben Moment traf sie ein harter Gegenstand an der Stirn, über dem linken Auge. Myriam riss instinktiv ihre linke Hand hoch, um sie schützend vor das Auge zu halten, ihre rechte Hand mit dem Pfefferspray fuhr aus der Tasche. Aber Myriam konnte vor Schmerz und Tränen nicht richtig sehen. Sie spürte die Feuchtigkeit in ihrem Gesicht, schmeckte das Blut, das ihr auch ins Auge rann. Mit dem Pfefferspray zielte sie in die Richtung, wo sie den Angreifer vermutete, und verteilte das Aerosol. Da spürte sie seine Hand, die zupackte, ihr den Arm verdrehte, ihren Zeigefinger auf die Düse drückte und den Strahl des Pfeffersprays gegen sie selbst richtete. Ihr ganzes Gesicht fing an zu brennen, die Augen, die Haut. Sie ließ ihre einzige Waffe fallen. Der Schmerz im Handgelenk zwang Myriam, in die Richtung zu gehen, in die der Mann sie nun manövrierte: weg vom Ufer, von den Laternen, in die Dunkelheit. Myriam wollte losschreien, doch da traf sie ein Faustschlag in die Seite. Ihr blieb die Luft weg, sie sackte auf die Knie. Das Kopfsteinpflaster war hart, und der Schmerz schoss ihr durch die Beine. Sie schnappte nach Luft. Der Mann schien genau zu wissen, was er tat, machte so etwas nicht zum ersten Mal. Er riss ihr den Mantel über die Schultern, sodass sie kaum ihre Arme bewegen konnte, dann durchsuchte er ihre Taschen nach dem Handy, nahm es. Myriam spürte etwas an ihrem Hals, das ihr die Kehle abschnürte, hörte ein klickendes Geräusch neben dem Ohr, das Einrasten eines Karabinerhakens. Ihre Hand fuhr hoch, und sie bekam das Halsband zu fassen, es war mit Nieten besetzt. Der Mann hatte sie an die Leine genommen. Anstatt eines Hundes, den es nicht gab. Vor ihrem inneren Auge lief der Film ab, wie sie am Boden kniete, mit Lederhalsband und Hundeleine. Als Nächstes würde er sich an ihrer Jeans zu schaffen machen, sie runterziehen, dann den Slip und – oh Gott. Wie würde er sie vergewaltigen? Von hinten. Brutal. Wie sollte sie sich verhalten? Flehen oder stark sein? Laut oder leise? Um Hilfe schreien. Auf den richtigen Moment warten. Was war der richtige Moment?

Während ihr all diese Gedanken durch den Kopf schossen, passierte allerdings nichts dergleichen. Keine der Befürchtungen nahm Gestalt an. Stattdessen kehrte Ruhe ein. Sie nahm den Schmerz wahr, in den Knien, an den Rippen. Myriam merkte, wie die Angst in ihr hochkroch, sie keuchte. Was hatte er vor mit ihr? Worauf wartete er? Waren Passanten in der Nähe? Hoffnung blitzte auf. Das Lederhalsband drückte Myriam die Kehle zu, aber sie hatte das Gefühl, wieder etwas besser Luft zu bekommen, auch der Schmerz im Rippenbogen ließ ein wenig nach.

Wieso legte er eine Pause ein?

Das war vielleicht ihre Chance. »Bitte«, wimmerte sie. »Bitte tun Sie mir nichts, ich werde auch nicht die Polizei rufen.«

Er gab keine Antwort, keinen Mucks von sich. Aus der Ferne drang das monotone Dröhnen eines Schiffsdiesels an ihr Ohr. Nichts geschah. Der Schiffsmotor wurde leiser. Myriam kniete in einer dunklen Ecke, wo es nach Urin stank. Als sie nach unten schielte, sah sie, was der Mann machte. Neben ihren Knien stand ein Betonklotz mit einer Metallöse dran. Ein Gewicht, wie man es zum Beschweren von großen Zelten oder Sonnenschirmen benutzte. Der Mann führte die Hundeleine durch die Öse und hakte einen weiteren Karabiner ein. Dann hob er den Klotz hoch, mit der anderen Hand riss er an Myriams Haaren.

Er hatte nicht vor, sie zu vergewaltigen, schoss es ihr in den Sinn. Was dann? Myriam fehlte es an Kraft, dagegenzuhalten, Widerstand zu leisten. Sie folgte seinem Druck, um dem Schmerz zu entgehen, kam wieder auf die Beine. Es fühlte sich an, als wären die Kniescheiben gebrochen, so stark waren die Schmerzen. Er schob Myriam vor sich her, sie stolperte, er hielt sie an den Haaren fest. Weiter vorwärts. Immer weiter. Wo wollte er hin? Da stieß sie mit ihren Hüften gegen das Geländer. Myriam konnte wieder etwas besser sehen, starrte vor sich in die Tiefe, wo das dunkle Wasser des Rheins unter ihr vorbeiströmte. Wellen und Strudel bildeten sich. Ihre Hände krallten sich am Geländer fest. Dann sah sie, wie der Betonklotz nach unten fiel, eine Sekunde später folgte ein heftiger Ruck. Das Gewicht baumelte an ihrem Hals, sie bekam keine Luft mehr, beugte sich vor, ließ das Geländer mit einer Hand los, um nach der Hundeleine zu greifen. Da spürte sie seine Hände an den Fußgelenken. Myriam begriff. Sie war schon weit nach vorn gelehnt, es fehlte nicht mehr viel, und sie würde über das Geländer rutschen, mit dem Betonklotz in die Tiefe fallen. Myriam hielt die Luft an, ließ die Hundeleine los, um sich wieder mit beiden Händen am Geländer festzuhalten. Das Gewicht schnürte ihr weiter die Kehle zu, aber sie durfte nicht – sie durfte nicht loslassen.

Nicht loslassen, lieber ersticken. Nicht ertrinken.

Als sie den Kopf ein bisschen drehte, sah sie, wie der Mann die Faust ballte. Durch ihre rechte Hand, mit der sie sich festkrallte, fuhr der Schmerz. Myriam ließ los, befreite ihren Arm aus dem Ärmel, hielt sich mit der linken Hand weiter am Geländer fest. Er holte zum nächsten Schlag aus. Myriam zog die Hand weg. Sie musste atmen, griff nach der Hundeleine, zerrte an dem Gewicht, schnappte wieder nach Luft. Da geschah es. Er packte ihre Fußgelenke, hob ihre Beine an, wie bei einer Schubkarre. Myriam glitt über das Geländer und schlug mit der Schulter an der Kaimauer auf, bevor sie in den freien Fall überging. Es folgte der Aufprall aufs Wasser. Sie wurde von der Kälte eingehüllt. Der Druck aufs Trommelfell erzeugte furchtbare Schmerzen im Innenohr. Myriams Unterarme waren frei, sie ruderte panisch umher. Ihre mit Luft gefüllten Lungen sorgten für Auftrieb. Aber der Betonklotz wog mehr, zog sie bis auf den Grund des Rheins. Es war stockdunkel. Myriam tastete an der Hundeleine entlang, spürte die Öse und den Karabiner zwischen ihren Fingern. Sie zerrte an der Leine, schaffte es kaum noch, dem Atemreflex zu widerstehen. Der Drang wurde immer stärker. Nur nicht ausatmen, dachte Myriam, nicht nach Luft schnappen. Durchhalten.

Sie rüttelte panisch an dem Karabiner, doch er ging nicht auf. Es war dunkel, sie sah nichts. Der Reflex ließ sich nicht mehr unterdrücken. Die ersten Luftblasen entwichen aus ihrem Mund, blubberten an ihren Augen vorbei. Myriam mobilisierte ihre letzten Kräfte, riss an der Hundeleine.

Dann hatte sich ihre Lunge entleert. Und sie atmete tief ein, das Wasser strömte in ihre Lungen.

*

Der Mann stand am Geländer und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe aufs Wasser. Zwischen den Strudeln meinte er ein paar Luftblasen zu erkennen. Länger als zwei Minuten würde sie nicht schaffen. Vor allem nicht unter Stress. Todesangst. Die zwei Minuten waren um. Er schaltete die Taschenlampe aus. Dann wanderte seine Hand zum Vollbart; er strich noch einmal hindurch, bevor er ihn mit einem Ruck abriss und in den Rhein warf. Die Brille flog hinterher. Danach setzte er seinen nächtlichen Spaziergang fort.

I.

INSOMNIE

Schlaflosigkeit

KAPITEL 1

Melatonin. Hoggar Night. Sogar Cannabis. Auch stärkere Geschütze: Zolpidem und Diazepam. Meine Schublade im Nachtschrank sah aus wie die von einem Junkie. Ich hatte alles Menschenmögliche unternommen. Neurologe, Schlaflabor, MRT, Psychotherapie, Medikamente, autogenes Training, Pillen, Yoga, sogar einen Badewannenschaum probiert, der beruhigend und einschläfernd wirken sollte. Einmal hatte Rohypnol auf der Medikamentenpackung gestanden. Zugegeben, es hatte gewirkt, keine Frage, ich hatte geschlafen – und wie. Tief und fest, aber am nächsten Tag war ich kaputter als je zuvor. Dieses Mittel landete auch im Mülleimer.

Ich litt an primärer Insomnie, der keine organische oder psychische Erkrankung zugrunde lag. Ich hatte das Bett umgestellt, mehrfach. Nach Feng-Shui-Regeln die Möbel verschoben, auf dem Boden geschlafen, unter freiem Himmel. Sogar einmal im Winter, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass man in einem Iglu besonders gut pennen könnte. Handy und WLAN abgeschaltet. Ohrstöpsel. Jede erdenkliche Matratze getestet: weich, mittel, hart, steinhart, Futon. Mal mit Schlafmaske, mal ohne. Mit etwas Licht, etwas mehr, ganz hell. Völlige Dunkelheit. Irgendwann hatte ich sogar einen Wünschelrutengänger gebeten, nach einer verborgenen Wasserader zu suchen. Ich hätte selbst breitbeinig auf dem Kopf geschlafen, wenn es etwas bringen würde.

Aber nein. Nichts. Gar nichts half.

Das Display des Weckers war von mir abgewandt, weil ich die Zahlen nicht sehen wollte. Schlaf sollte kein Qualifying werden, kein Wettlauf gegen die Uhr. Schließlich griff ich, wie jeden Morgen, zur Fernbedienung.

Donald Bäcker stand vor seinem großen Bildschirm, auf dem die Wetterkarte eingeblendet war, und er versprach einen sonnigen Tag. Ein Scheißtag, wenn man sich immer müde und erschöpft fühlte. Wenn man wie ein Zombie durch die Gegend schlich. Das Morgenmagazin hatte gerade erst begonnen, die Zeit war am unteren Bildrand eingeblendet, kurz nach halb sechs. Um drei Uhr war ich das letzte Mal auf der Toilette gewesen. Gut zwei Stunden also, so lange hatte mein Qualifying diese Nacht gedauert. Die Beiträge im Fernsehen wiederholten sich im Stundentakt, was bei einem Frühstückskanal normal war, schließlich blieb keiner von Anfang bis Ende dabei. Außer mir.

Was war nur los mit mir?

Warum konnte ich nicht schlafen?

Auf die Winterdepression folgte die Frühjahrsmüdigkeit – ohne Schlaf. Im Hochsommer war es zu heiß zum Schlafen, und jetzt nahte der Herbst. Was würde im Herbst der Grund sein? Vielleicht die Blätter, die von den Bäumen herabfielen und beim Aufprall auf dem Boden so laute Geräusche erzeugten?

Nein, verdammt, ich wusste es nicht. Und die sogenannten Experten erst recht nicht. Weder mein Neurologe – ein Freund der Familie – noch die Ärzte in den zwei Schlafkliniken, in denen ich bislang gewesen war. Experten! Sie hatten noch nicht mal den Hauch einer Idee gehabt. Aber kluge Ratschläge, davon hatten sie genug. Ein Psychologe erklärte mir, Schlafprobleme hätten mit unterdrückten Konflikten zu tun. Konflikte gab es reichlich in meinem Leben. Die meisten rührten daher, dass ich nicht schlafen konnte.

Nun lag ein neues Angebot vor. Einerseits verlockend, was die Versprechungen anging, aber auch frustrierend, wenn ich mir die Preisliste ansah. Andere flogen für das Geld drei Wochen auf die Malediven. Doch was nützte einem eine Insel im Indischen Ozean, wenn man dort kein Auge schließen würde? Eine Privatklinik in der Schweiz. Mein Neurologe hatte noch nie von denen gehört und riet mir ab. Aber – er hatte das Problem nicht, er konnte schlafen. Zwölftausend Franken für eine fünftägige Therapie. Kosten, die keine Krankenkasse übernahm, denn die Methode war neu und der Heilungserfolg nicht wissenschaftlich erwiesen. »Wer heilt, hat recht«, hatte irgendwann mal ein Arzt zu mir gesagt. Dafür würden meine letzten Ersparnisse draufgehen.

Sollte ich es riskieren? Eigentlich hatte ich mich längst entschieden. Aber Zweifel blieben. Was wäre die Alternative?

Es gab keine.

Gedankenverloren starrte ich auf den Fernseher, mit offenen Augen, trotz schweren Lidern. Ich nahm kaum wahr, was da über den Bildschirm flimmerte. Der nächste Wetterbericht, wieder war eine halbe Stunde vergangen. Das Wetter: dasselbe. Die Moderation variierte leicht. Donald Bäcker schien keinen Teleprompter zu haben, was ihn sympathisch machte. Sie wirkten alle sympathisch, die Fernsehleute, ich hasste sie trotzdem. Sie waren ausgeschlafen, gut gelaunt. Das Lächeln der Moderatorin brachte mich auf die Palme.

Ich schaltete den Fernseher ab, schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Erstes Ziel: die Toilette. Danach schlurfte ich in die offene Küche, schaltete die Kaffeemaschine an, wartete, bis sie aufgeheizt war, und drückte den Knopf. Ich sah zu, wie die braune Brühe in die Tasse tropfte und sich eine Schaumkrone bildete. Der Geruch nach Röstaromen stieg in meine Nase. Die letzten Tropfen fielen in den Schaum. Ich starrte in die Tasse. Schon beim Ausholen verschüttete ich die Hälfte, der Rest klatschte an die Wand, die Porzellantasse löste sich in Scherben auf. Die braune Brühe rann in Streifen an der weißen Tapete herunter. Auch die Couch hatte ein paar Spritzer abbekommen. Ich sank auf die Knie, setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken an die Spülmaschine. Ich spürte, wie mein Körper bebte, fing an zu heulen. Das Kind in mir hatte verlernt zu weinen. Egal, was in den letzten Jahren passiert war, der Tod meiner Mutter, der Autounfall oder eine der Frauen, die mich verlassen hatten: Heulen war mir nie in den Sinn gekommen. Jetzt aber, ich war am Ende. Ich musste es schaffen, das Unmögliche.

Das Angebot der Klinik. Es war meine letzte Chance.

KAPITEL 2

»Tom?«

Ich schlug die Augen auf. In den zwei Monitoren, die nach einer Viertelstunde von selbst in den Standby-Modus geschaltet hatten, spiegelte sich Lisa, die hinter mir stand.

Ich tippte mit dem Finger gegen die Maus, damit die Bildschirme wieder aufleuchteten, und drehte mich in meinem Bürostuhl herum. Meine Parzelle im Großraumbüro war im Laufe der Jahre immer kleiner geworden. Ein sicheres Zeichen, dass ich mich auf dem Abstieg der Karriereleiter befand.

»Hi, was gibt’s?«, fragte ich und versuchte, ausgeschlafen zu wirken.

Lisa wusste, wie es mir ging, und hatte stets Mitleid. Sie sah mich mit ihren großen braunen Augen an. »Kannst du mir noch mal helfen?«

Ich war froh über jeden Grund, mich zu bewegen, erhob mich träge aus meinem Bürostuhl und folgte Lisa zu ihrem Kabuff. Vom ersten Tag an hatten wir uns prima verstanden. Sie war so wunderschön, und ich ging davon aus, dass sie wusste, wie sehr ich auf sie stand. Leider war Lisa vergeben, in festen Händen, der Glückliche.

Es störte mich nicht sonderlich, dass Lisas Arbeitsplatz genauso groß war wie meiner, obwohl sie erst seit einem Jahr in dieser Firma arbeitete. Andere Kollegen, die an mir vorbeigezogen waren, machten mir dagegen zu schaffen. Ich bewunderte jeden Menschen, der von sich sagen konnte, nicht neidisch zu sein auf andere, denn ich war es – definitiv. Bei Lisa überwog die Sympathie. Leider gab es nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass es in ihrer Beziehung kriselte. Im Gegenteil, sie wartete auf einen Heiratsantrag, das hatte sie mir mal in einem vertraulichen Gespräch unter vier Augen gesagt. Trotzdem, sie blieb mein heimlicher Schwarm, was unserer Freundschaft zum Glück nicht schadete.

Lisa ließ sich in ihren Bürostuhl plumpsen, ich schaute über ihre Schulter auf den Monitor und erkannte das Problem. Lisa war klug und ehrgeizig, aber ihre Karriere war etwas zu steil verlaufen. Unser Chef hatte sie zügig befördert, und ich fragte mich, ob da auch persönliche Interessen im Spiel waren. Der schnelle Aufstieg führte dazu, dass Lisa manchmal leicht überfordert war und mich um Hilfe bat. Sie zeigte auf den Monitor, und ihre Stimme klang genervt. »Ich habe heute zum wiederholten Male die Verbindung zum Server verloren und muss verdammt noch mal etwas fertig kriegen.«

»Darf ich?«

Sie beugte sich ein wenig zur Seite. Ich roch ihr Parfüm, ein erfrischender Duft, den man nirgendwo kaufen konnte, denn Lisa hatte ihn selbst kreiert. Im Internet, mithilfe eines Algorithmus. Was heutzutage alles möglich war?

Ich bewegte die Maus. »An sich aktualisiert das Virenprogramm sich täglich, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass dem nicht immer so ist, und dann bekommst du Probleme. Also machen wir das jetzt von Hand, dann müsste es wieder gehen.«

Ich klickte im Virenprogramm auf Aktualisieren, und der Rechner fing an zu arbeiten. »Jetzt einen Moment warten.«

»Danke«, sagte sie. »Du bist ein Schatz.«

»Warten wir ab, ob es funktioniert.«

Ich stellte mich wieder hinter sie, der Geruch ihres Parfüms ließ nach. Dann musste ich spontan gähnen. Sie drehte sich mit dem Stuhl zu mir herum, schlug ihre Beine in den engen Jeans übereinander und sah etwas mitleidig zu mir hinauf. »Du siehst echt scheiße aus.«

»Danke, du nicht.«

Lisa blieb ernst. »Hast du dich entschieden?«

Ich nickte. »Heute Morgen habe ich angerufen und den Termin bestätigt.«

»Wann geht’s los?«

»In drei Tagen. Ich lasse mich krankschreiben.«

Sie stand von ihrem Stuhl auf und nahm mich fest in den Arm. »Ich wünsche mir so sehr, dass es klappt.«

Ich spürte ihren Herzschlag, roch ihren Atem, ihr Parfüm und wünschte mir, dass sie mich nicht mehr loslassen würde. Aber es blieb ein Wunsch.

»Wenn du während meiner Abwesenheit Hilfe brauchst, ruf mich an«, sagte ich ihr.

»Mach dir keine Gedanken um mich«, erwiderte sie, und ihre Stimme verriet, dass sie wirklich mitfühlte. »Das einzig Wichtige jetzt bist du, dass du wieder ganz der Alte wirst.«

Ich musste grinsen. Wir kannten uns noch nicht lange genug, als dass sie wissen konnte, wer der echte Tom Sonnborn war.

»Herr Sonnborn«, ertönte da eine bekannte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Vor mir stand mein Chef, Dirk Finke. In seiner Stimme schwang der Hauch einer Ermahnung mit. »Ich habe Sie gesucht, Sie waren nicht an Ihrem Platz.«

»Er musste mir helfen«, sprang Lisa mir sofort bei. Wenn sie etwas sagte, egal was, lächelte unser Abteilungsleiter. Sie könnte die Telefonnummer der Feuerwehr diktieren, und er würde sie anlächeln. Mich dagegen sah er mit ernster Miene an. »Können Sie mal bitte mit in mein Büro kommen?«

»Jetzt?«

Der Tonfall verriet seine schlechte Laune. »Wenn Sie es einrichten könnten, vielleicht ja. Jetzt.«

Er ging vor, ich folgte ihm. Seine Bürotür stand die meiste Zeit offen, was aber nicht hieß, dass er für seine Mitarbeiter immer ein offenes Ohr hatte. Er war ein Kontrollfreak und musste stets einen Blick auf seine Untergebenen haben.

»Machen Sie bitte die Tür zu«, sagte er und ging zum Schreibtisch.

Die Tür zu schließen bedeutete nichts Gutes. Er hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und deutete auf den Stuhl auf der anderen Seite.

Dirk Finke trug stets Anzüge, grau bis schwarz, selten Krawatte. Die oberen Knöpfe seines weißen Hemdes waren offen, das Jackett hing über dem Stuhl. Da er über ein Meter neunzig groß war und den Chefsessel auf maximale Höhe gestellt hatte, sah er auch im Sitzen auf mich herab. »Ich muss Ihnen nicht sagen, dass Sie unserer Abteilung in letzter Zeit einigen Ärger bereitet haben?«

»Und ich muss Ihnen nicht sagen, warum.«

Er wusste von meinen Problemen. Nicht zuletzt, weil ich ihm schon mehrere Krankmeldungen auf den Tisch gelegt hatte.

»Haben Sie eine BU?«, fragte er geradeheraus.

»Eine Berufsunfähigkeitsversicherung?«

Er nickte. »Ja. Denn die würde einspringen, wenn Sie Ihre Arbeit nicht mehr leisten können.«

»Nein, habe ich nicht.« Ich sah ihn entgeistert an. »Wollen Sie mich etwa loswerden?«

»Ich will, dass diese Abteilung funktioniert. Fast alle Controller überall auf der Welt haben kurz vor Monatsende ein paar schlaflose Nächte.«

»Bei mir sind es nicht nur ein paar.«

»Wir können es uns nicht leisten, dass Sie Termine sprichwörtlich verpennen. Und wer darf Ihre Fehler wieder ausbügeln? Ich. Ich musste mich zigmal entschuldigen bei unseren Kunden. Ihretwegen.«

Ich schaltete einen Gang runter, denn ich war nicht auf einen Streit aus. »Das tut mir leid, ehrlich.«

Er sah mich fordernd an. »Was unternehmen Sie, um das Problem zu lösen?«

Ich versuchte, hellwach zu klingen. »Ich werde nächste Woche nicht da sein, wie ich bereits angedeutet habe. Mein Arzt schreibt mich krank, damit ich eine Spezialklinik in der Schweiz aufsuchen kann. Die haben da eine neue Methode, die …«

»So genau will ich es gar nicht wissen«, schnitt Finke mir das Wort ab und öffnete die Schreibtischschublade, um eine Klarsichtfolie herauszuholen. In der steckten zwei Briefe. Er nahm die Blätter heraus, legte sie nebeneinander vor sich auf den Tisch und unterzeichnete sie, bevor er sie mir herüberschob. »Tut mir leid, mir bleibt keine andere Wahl. Auch ich muss mich gegenüber meinen Vorgesetzten rechtfertigen.«

Ich sah aufs Papier. Die Briefe waren identisch. Im Adressfeld stand jeweils mein Name, meine Abteilung. Und darunter in fetten Lettern: ABMAHNUNG. Den Text übersprang ich, eine Standardfloskel, juristisch einwandfrei. Denn nur darum ging es: eine mögliche Kündigung vorzubereiten. Für den Fall, dass sich an meinem Zustand nichts änderte. Links unten hatte er bereits unterschrieben. Rechts war das Feld, wo ich den Erhalt der Abmahnung bestätigen sollte.

Finke hielt mir einen Kugelschreiber hin. Was sollte ich tun? Sein Blick vermittelte mir das Gefühl, dass ich keine andere Wahl hatte. Also nahm ich den Kugelschreiber, unterzeichnete und schob ihm sein Exemplar über den Tisch.

»Tut mir leid«, sagte er mit heuchlerischem Unterton. »Ich war früher mal sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit. Ich hatte Sie als Aufsteiger gesehen.«

Oha! – Ich fragte mich, ob das als Kompliment gemeint war oder ob er einfach noch einen draufsetzen wollte. Die Abmahnung verschwand zuerst in der Klarsichthülle, dann in seiner Schublade. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich erhob mich von meinem Stuhl und ging zur Tür. »Soll ich offen lassen?«

»Ja, bitte.«

Ich trat durch die Tür, lief zügig zu den Toiletten. Dort angekommen, blickte ich in den Spiegel. Lisa hatte recht, ich sah beschissen aus. Mein Chef wusste nicht, was er mir mit der drohenden Kündigung antat. Der Job war meine einzige Konstante im Leben, die meinem Tagesablauf eine Struktur verlieh. Ich war Single, hatte viele Freunde verloren, ging kaum noch weg, machte keinen Sport mehr.

Ich betrachtete mein Spiegelbild. Selbstmitleid würde mich jetzt auch nicht weiterbringen.

Bald würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Oder aber … darüber wollte ich gar nicht nachdenken.

KAPITEL 3

Die Berglandschaft zog vor dem Fenster vorbei, ich war fast allein in dem Waggon. Mein Auto, einen fast neuen Mazda MX-5, hatte ich vor drei Monaten zu Schrott gefahren. Totalschaden. Da die Polizei in meinem Blut neben ein wenig Alkohol auch noch Überreste von Schlafmitteln gefunden hatte, stellte sich die Versicherung quer und wollte den Vollkaskoschaden nicht bezahlen. Es würde wohl auf einen Vergleich hinauslaufen, der mich am Ende mehr kosten würde als der Klinikaufenthalt. Zugegeben, ich war alles andere als fahrtüchtig gewesen und musste mir eingestehen, dass die Unfallursache womöglich Sekundenschlaf gewesen war. Sollte ich nicht von meinem Schlafproblem erlöst werden, wäre der soziale Abstieg unvermeidlich. Ich hatte meine Ersparnisse beinahe aufgebraucht und wäre womöglich bald arbeitslos.

Erik, mein Neurologe, hatte mir von der Therapie in der Schweiz abgeraten, weil er davon ausging, dass diese Klinik reine Abzocke sei. Menschen in Not klammerten sich oftmals an jeden Strohhalm, auch wenn die Heilungschancen noch so gering erschienen. Im Internet war wenig über die Therapie zu finden gewesen, was Eriks Zweifel noch verstärkte. Aber er hatte auch keine Schlafprobleme. Egal, wie ich es drehte und wendete, er war nicht in der Lage gewesen, mir zu helfen, alle seine Vorschläge und Therapien waren fehlgeschlagen. Die Entscheidung hatte allein bei mir gelegen, und manchmal hegte ich den Verdacht, es könnte an Eriks Ego kratzen, wenn jemand anders als er mich von meinem Problem erlösen würde. Dann müsste er mir und sich selbst eingestehen, die falschen Methoden angewendet zu haben. Aber was, wenn nicht? Was, wenn mein behandelnder Arzt und guter Freund recht behielt und es denen in der Schweiz nicht um mein Wohl, sondern nur um mein Geld ging? Daran mochte ich im Moment nicht denken.

Ich saß in einem Regionalzug. Die Anreise dauerte nun schon neun Stunden. Kurz vor Mitternacht war ich in Köln in den ICE nach Basel eingestiegen und in den folgenden sechs Stunden nur einmal kurz eingenickt. Ansonsten zog sich die Reise wie Kaugummi. Die meiste Zeit hatte ich mein Spiegelbild in der Scheibe angestarrt, bis endlich draußen die Sonne aufging. Von Basel ging es weiter nach Interlaken, in einem modernen Zug, und dann folgten noch weitere zehn Minuten mit der Berner Oberlandbahn, einem nostalgisch anmutenden Schmalspurzug. Die Waggons, blau-gelb lackiert, hinterließen den Eindruck, als wären sie irgendwann Mitte des letzten Jahrhunderts gebaut worden. Eine Männerstimme drang knarzend aus dem Lautsprecher über mir und verkündete in hochdeutscher Sprache mit Schweizer Akzent, dass wir in wenigen Minuten in Zweilütschinen ankämen. Der Ortsname trieb mir ein Grinsen ins Gesicht, vor allem da er von einem Schweizer gesagt wurde. Der Sprecher wies darauf hin, dass sich an diesem Bahnhof die Gleise trennten, weshalb ich hier aussteigen musste, auch wenn ich mein endgültiges Ziel noch nicht erreicht hatte.

Ich erhob mich von meinem Sitzplatz, nahm mein einziges Gepäckstück aus der Ablage und ging zur Tür. Außer mir saß ganz am Ende des Waggons nur noch eine ältere Frau, die in einer Schweizer Illustrierten blätterte und keine Notiz von mir nahm.

Ich schulterte meine Umhängetasche. Der Zug ruckelte umso mehr, je langsamer wir wurden, bis er mit quietschenden Bremsen zum Stillstand kam. Die Tür musste ich von Hand öffnen; ich stieß sie mit einem Ruck auf. Dass es so etwas noch gab. Ich trat auf den Bahnsteig. Kurz darauf fiel hinter mir die Waggontür wieder zu, und die Bahn fuhr weiter. Erst als der Zug außer Hörweite war, nahm ich das Rauschen des Flusses wahr, der hinter der Bahnhofstraße entlanglief.

Zweilütschinen befand sich in einem Tal und war benannt nach den beiden Flüssen Weiße und Schwarze Lütschine, die sich hier vereinigten und von da an nur noch Lütschine hießen. Ein leichter Windhauch umgab mich. Die Sonne brannte warm auf meinem Gesicht, während die Luft kalt war. Um mich herum ragten grünbedeckte Berge in den Morgenhimmel. Der Geruch von brennendem Holz lag in der Luft und weckte in mir die Erinnerungen an mehrere Skiurlaube mit der Familie. Eine Familie, die es nicht mehr gab.

Meine Mutter war bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen, ohne schuld daran gewesen zu sein. Der Verursacher hatte Fahrerflucht begangen, und die Ermittlungen in dem Fall wurden irgendwann wegen mangelnder Erkenntnisse eingestellt. Aber erst nachdem wir alle befragt worden waren, meine ältere Schwester Vera, Erik und ich. Es war ein Schock für uns alle. Erik hatte sieben Jahre lang mit meiner Mutter zusammengelebt. In manchen Familien schweißte ein Schicksalsschlag die Angehörigen wieder zusammen, nicht so bei meiner Schwester und mir.

Schon seit einigen Jahren war unser Verhältnis nicht das beste gewesen. Nach der Beerdigung wurde es richtig schlimm. Wir fingen an zu streiten. Zuerst nur wegen Kleinigkeiten, aber wir konnten beide sehr, sehr stur sein, jeder wollte das letzte Wort haben. Das hatten wir wohl von unserer Mutter geerbt. Wir machten uns gegenseitig Vorwürfe, schrien uns an, und am Ende ging es nur noch darum, den anderen irgendwie zu verletzen. Nicht mal Erik konnte verhindern, dass meine Schwester und ich nicht mehr miteinander redeten. Sie hatte sogar meine Telefonnummern blockiert. Er hielt den Kontakt zu uns beiden, gab aber keine Informationen über den jeweils anderen weiter. Ich wusste nur, dass Vera noch lebte, nicht aber, wie es ihr ging und was sie machte.

Mutterseelenallein schritt ich über den Bahnsteig an den überdachten Fahrkartenautomaten vorbei zum Ausgang. Die Klinik lag im Zentrum von Gündlischwand, einem Ort mit nur rund dreihundert Einwohnern. Die Bahnhofstraße verlief parallel zu den Bahnsteigen. Ich sah weit und breit kein Auto. Am Taxistand herrschte gähnende Leere, genauso auf dem kleinen Parkplatz.

Um mich herum war es so still, dass ich das Geräusch des Hubschraubers schon aus weiter Ferne wahrnahm. Das Rattern der Rotoren wurde lauter, und schließlich entdeckte ich den Helikopter zwischen den Bergen. Die rot-weiße Lackierung verriet, dass es sich um einen Rettungshubschrauber handelte. In den Bergen nichts Ungewöhnliches. Er flog relativ niedrig über mich hinweg, sodass es entsetzlich laut wurde und dann schnell wieder leiser. Die geringe Höhe deutete darauf hin, dass er irgendwo in der Nähe landen würde. Nachdem die Rotoren verklungen waren, fühlte ich mich noch verlassener als vorher. Es hatte geheißen, man würde mich am Bahnhof abholen. Hatten die mich vergessen? Oder hätte ich mich doch noch mal melden müssen?

Gerade als ich den Brief aus meiner Tasche holen wollte, um nachzusehen, näherte sich auf der Landstraße ein PKW. Er wurde aber nicht langsamer, sondern fuhr vorbei. Also holte ich den Brief doch noch heraus und las meine letzte Mail. Ich hatte der Klinik meine Reisedaten mitgeteilt, sie wussten, wann ich ankommen würde. Als ich wieder von dem Brief aufschaute, näherte sich ein schwarzer Mercedes Vito. Der Transporter verringerte sein Tempo und bog von der Straße ab auf den Parkplatz. Ich ging davon aus, dass das mein Fahrer war, und schulterte die Tasche, die ich zwischenzeitlich abgesetzt hatte. Der schwarze Lack des Vito glänzte in der Sonne, die Scheiben waren getönt, und die Kofferraumklappe öffnete sich vollautomatisch. Der Fahrer stieg aus. Er hatte graumelierte Haare, trug einen Janker, ein rot-weißes Hemd sowie eine dunkle Cordhose. Da öffnete sich auch die Schiebetür auf der Fahrerseite, und eine Frau stieg aus. Ich schätzte sie auf etwa fünfzig. Sie trug ein sommerliches Kleid und eine rot-weiße, grobgestrickte Wolljacke. Die Farben der Schweiz.

Der Fahrer hatte ihren kleinen Koffer aus dem Heck des Wagens geholt und schleppte ihn an mir vorbei zum Bahnsteig.

»Grüezi. Ich bringe die Dame eben zum Bahnsteig. Danach bin ich für Sie da.« Sein starker Akzent verriet, dass er ein Einheimischer war.

Die Frau kam auf mich zu, lächelte. »Nachschub?«

Ich nickte. »Wenn Sie die Klinik meinen, ja. Thomas Sonnborn.«

»Carmen.« Sie ließ ihren Nachnamen weg. »Unter Leidensgenossen sind wir alle per Du.«

Carmen wirkte ebenso ausgeschlafen wie gut gelaunt. Ich nahm ihren Körpergeruch auf die Entfernung wahr, anscheinend hatte sie nicht geduscht oder was Falsches gegessen. Oder beides.

»Wie war es?«, fragte ich und trat dezent einen Schritt zurück.

Ihre Augen strahlten. »Ein halbes Jahr lang, ach was, noch länger, konnte ich nicht mehr richtig schlafen. Ich habe beinahe alles versucht.« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts hat geholfen. Die letzten fünf Tage aber …« – sie sog die kalte Luft tief in ihre Lungen ein und stieß sie wieder aus – »… habe ich geschlafen wie ein Baby.«

Ihre Worte klangen mehr als glaubhaft. Carmen schien von ihrem Dämon befreit worden zu sein. Ich hörte, dass sich ein Zug näherte. Ihr Blick ging zum Fahrer, der am Bahnsteig auf sie wartete. »Ich wünsche dir alles Gute. Du siehst wirklich fertig aus.«

»Du dagegen umso besser«, erwiderte ich.

Sie drehte sich im Gehen noch mal um und lächelte wieder. »Wart’s ab. In fünf Tagen geht es dir genauso hervorragend wie mir.«

Ich sah ihr hinterher und hoffte, dass Carmen recht behalten würde. Der Fahrer machte noch keine Anstalten zurückzukommen. Er wollte ihr den Koffer wohl bis in den Zug tragen. Also ging ich mit meiner Tasche zum geöffneten Heck des Vito. Der Kofferraum war kleiner, als ich angenommen hatte, was daran lag, dass an den Seitenwänden links und rechts schwarze Plastikbehälter eingebaut waren. Ich stellte meine Tasche in die Mitte. Die Behälter hatten rote Hebel zum Aufklappen. Meine Neugier siegte, ich schaute zuerst rechts nach. In dem Fach war ein Defibrillator. In dem linken befanden sich ein voluminöser Arztkoffer und eine Sauerstoffflasche. Ich klappte ihn gerade wieder zu, als der Fahrer neben mir erschien. »Alles verstaut?«

Ich nickte.

Er betätigte einen Knopf an der Kofferraumklappe, und sie schloss sich automatisch. »Bitte steigen Sie ein.«

Ich konnte meine Neugier nicht zügeln. »Wozu haben Sie einen Defibrillator dabei?«

»Für Notfälle«, antwortete er kurz angebunden und setzte sich hinters Steuer.

Ich nahm auf der Rückbank Platz. Die Seitentür ging automatisch zu, und wir fuhren in gemächlichem Tempo los. Es bestand kein Grund zur Eile. Ich sah durch die getönte Scheibe, ganz oben auf den Berggipfeln lag noch Schnee – oder schon wieder? Es war Ende August. Wir kamen an einem schroff abfallenden Felsen vorbei und hatten kurz darauf wieder einen wunderschönen Ausblick ins Tal. Die Wiesen strahlten in sattem Grün. Wären da nur nicht meine negativen Gedanken gewesen, die sich in meinem Kopf festsetzten und die Idylle konterkarierten. Weshalb war der Kofferraum ausgestattet wie ein Krankenwagen? Wurde der Defibrillator öfter mal gebraucht? – Eine dumme Angewohnheit von mir, die ich nicht loswurde. Zweifeln, anstatt abzuwarten. Erik war nicht ganz unschuldig daran. Seine Worte kamen mir wieder in den Sinn, dass die Klinik Abzocke sei, ein Hotel für zweitausend Euro die Nacht. War Carmen echt? Oder eine Schauspielerin, die jeden Neuankömmling so begrüßte?

Während ich aus dem Fenster sah und grübelte, musste ich an Svenja denken, eine Freundin aus Schulzeiten. Meine Liebe war leider unerfüllt geblieben. Mit ihr hatte ich den Film Harry und Sally gesehen, und als Harry seine Meinung zum Besten gab: »Männer und Frauen können nie Freunde sein! Der Sex kommt ihnen immer wieder dazwischen«,da hatten wir beide herzhaft gelacht. Aus unterschiedlichen Gründen. Svenja konnte sich eine Freundschaft ohne Sex vorstellen, ich nicht. Aber das schien nicht der Grund gewesen zu sein, weshalb wir uns nach dem Abitur aus den Augen verloren. Mir war zu Ohren gekommen, dass sie mittlerweile verheiratet und Mutter von zwei Kindern war. Zwillingen. Svenjas Lebensmotto lautete stets, man müsse immer mit allem rechnen, auch mit dem Guten. Darin unterschieden wir uns. Und manchmal fragte ich mich, ob meine Schlafprobleme vielleicht mit diesen negativen Gedanken zu tun hatten. Ich gab mir innerlich einen Ruck: Der Defibrillator und die Sauerstoffflasche waren für Notfälle. Punkt. Eine Vorsichtsmaßnahme, die wohl eher für die Seriosität der Klinik sprach. Womöglich war der Fahrer sogar ein ausgebildeter Rettungssanitäter. Und warum sollte Carmen eine Schauspielerin sein? Sie hatte glücklich und zufrieden gewirkt, und zwar nur aus einem einzigen Grund: weil es ihr einfach gut ging. Eine Schauspielerin hätte sich auch vorher geduscht und nicht nach Schweiß gerochen.

Da hörte ich wieder das Geräusch der Rotoren und sah, wie der Hubschrauber das Tal überquerte, bevor er zwischen zwei Bergen aus meinem Blickfeld verschwand. Kurz darauf setzte der Fahrer den Blinker, wir wurden langsamer und bogen rechts in die Zufahrt zur Klinik ein. Der Vito wurde noch langsamer, dann hielten wir direkt vor dem Eingang einer altehrwürdigen Villa. Die getönten Scheiben wirkten wie eine Sonnenbrille, und das Tageslicht blendete mich, als die Seitentür automatisch aufging. Ich blinzelte, beschirmte mit der rechten Hand meine Augen und stieg aus. Die Außenwände der Villa bestanden etwa bis zur Hälfte der ersten Etage aus ungleich großen Natursteinen, darüber begann das dunkle Fachwerk. Über dem Eingang mit zwei massiven Eichentüren war das Jahr 1732 a.d. in einen Balken eingeschnitzt. Die Schindeln auf dem Dach leuchteten dunkelrot in der Sonne. Ich war etwas irritiert. Die Bilder im Internet hatten ein modernes Gebäude aus Beton und Glas gezeigt.

Eine junge Frau in hellblauer Schwesterntracht schritt auf mich zu. Ihre schwarzen, kurzgeschnittenen Haare standen in hartem Kontrast zu ihrer blassen Haut und den strahlend weißen Vorderzähnen. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig.

»Guten Tag, ich bin Schwester Fabienne und heiße Sie herzlich willkommen in der Gerolamo-Cardano-Klinik.«

Auf deren Internetseite hatte ich eine Zeichnung des Namensgebers gefunden. Gerolamo Cardano schien für die Zeit im sechzehnten Jahrhundert relativ groß gewesen zu sein, er hatte hagere Gesichtszüge und einen Spitzbart gehabt. Und er war ein Universalgelehrter: Arzt, Mathematiker, Philosoph; noch heute galt er als einer der berühmtesten Humanisten der Renaissance. Sogar ein Mondkrater und eine Kryptowährung waren nach ihm benannt. Die Klinik warb mit der Legende, dass Cardano zu seiner Zeit zahlreiche Patienten geheilt hatte, die von anderen Ärzten als unheilbar abgeschrieben worden waren. Darüber hinaus hatte er schon vor gut fünfhundert Jahren die nach ihm benannte Kardanwelle erfunden.

Fabienne, ihren Nachnamen verschwieg sie, lächelte mich an. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise?«

»Ja, hat alles prima geklappt.« Ich musste spontan gähnen.

Sie lächelte erneut. »Ich bringe Sie jetzt zu Frau Dr. Liechti. Sie wird mit Ihnen alles Weitere besprechen. Für die Zeit Ihres Aufenthaltes bin ich Ihre Betreuerin.«

»Das freut mich«, sagte ich.

Sie drehte sich um und schritt voran. Ich zögerte einen Moment, sah noch mal in den strahlend blauen Morgenhimmel hinauf, atmete tief die kalte Bergluft ein. Das Wetter war ein gutes Omen. Es konnte losgehen.

KAPITEL 4

Das Kraniotom, von der Funktionsweise einer Stichsäge ähnlich, kreischte beim Eindringen in den Schädelknochen.

Jasper Rochat, Fahnder bei der Kantonspolizei Bern, stand am Fußende des Seziertisches, neben ihm sein junger Kollege Marco Brunner, der zu Rochats Team gehörte. Für Brunner, der frisch von der Polizeischule kam, war es die erste Obduktion, die erste Leiche in seinem Leben überhaupt. Rochat wusste das und hielt die bevorstehende Obduktion für einen guten Einstieg in dieses manchmal unappetitliche Gewerbe.

Prof. Dr. Kurt Stöckli, der den Schädel öffnete, war ein Rechtsmediziner mit hohem Bekanntheitsgrad in der Schweiz. Er lehrte an der Universität Bern und hatte sich vor über zwanzig Jahren bei einem spektakulären Fall einen Namen gemacht. Damals war eine Pilzsucherin in einem Waldstück im Kanton Zürich über einen menschlichen Schädel gestolpert. Gerichtsmedizinische Untersuchungen führten zu einer vermissten Frau, wodurch das bis dahin ungewisse Schicksal einer Tierärztin aufgeklärt werden konnte. Ihr Ehemann, der bereits kurz in Untersuchungshaft gesessen hatte, aber wieder freigelassen werden musste, war aufgrund von Stöcklis Arbeit zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der Fall hatte landesweit für Aufsehen gesorgt.

Jasper Rochat war damals noch neu bei der Polizei. Seitdem hatte er bei zahlreichen Fällen mit dem Professor zu tun gehabt. Rochat vermochte nicht zu sagen, ob der Mediziner ihn schätzte, gar leiden konnte oder nur der Anstand es ihm gebot, höflich zu sein.

Stöckli schaltete das neurochirurgische Werkzeug aus und legte es auf einem Beistelltisch ab, bevor er zu seinem Gegenüber aufsah. »Wovon reden wir hier?«

Rochat kam einen Schritt näher, blieb aber auf der anderen Seite des Seziertisches. »Wie meinen Sie das?«

Stöckli wirkte ein wenig missmutig, als ob er nicht genau wüsste, wieso er an diesem Seziertisch stand. »Na. Warum sollte diese Obduktion unbedingt vorgezogen werden? Ich musste andere Patienten hintanstellen. Warum?«

Der Professor mochte es nicht, wenn sein Zeitplan von einem eifrigen, manchmal sogar übereifrigen Fahnder durcheinandergebracht wurde. Rochat hatte einen guten Grund, weshalb er auf die zügige Obduktion bestehen musste. Die Überführung der Leiche per Hubschrauber war schon gewagt und nur schwer gegenüber seinen Vorgesetzten zu rechtfertigen gewesen. Das Problem für Rochat lag darin, dass sein Verdacht in wenigen Sätzen ausgesprochen wie Spinnerei klingen könnte. Vielleicht war es das sogar, ein reines Konstrukt, aber das wollte er dem Professor in dieser Situation so nicht sagen.

»Wir müssen wissen, ob Drogen im Spiel waren, und wenn ja, welche«, antwortete Rochat und legte mit einem Schmunzeln nach. »Sie waren es, der mir gesagt hat, dass manche Substanzen schon nach kurzer Zeit nicht mehr nachweisbar sind.«

Stöckli erwiderte mit einem Grinsen. »Gut aufgepasst.«

Er wendete sich wieder seiner Arbeit zu und entfernte die Schädelkalotte. Nun lag das Gehirn offen vor ihnen. Stöckli schaute zu Brunner, der am Fußende des Tisches verharrte. »Bitte erbrechen Sie sich nicht auf den Seziertisch.«

Brunner schluckte. Seine Gesichtsfarbe bewegte sich ins Grünliche. Er stammelte, sichtlich verunsichert. »Soll ich lieber rausgehen?«

»Nein, nein«, erwiderte Stöckli trocken. »Treten Sie nur einen Schritt zurück und – geben Sie auf Ihre Schuhe acht. Die sehen ziemlich neu aus.«

Brunner folgte der Aufforderung. Die Schuhe waren nicht neu, aber frisch geputzt.

Stöckli blickte wieder zu Rochat. »Erzählen Sie mir ein bisschen über den Fall.«

Rochat fasste die Ereignisse in aller Kürze zusammen. Die Schweizer Bundespolizei Fedpol hatte ein Computersystem, mit dem kantonsübergreifend Informationen ausgetauscht wurden. Rochat hatte über Fedpol von dem Todesfall in der Klinik erfahren, weil er einen Informationsmarker im Computer gesetzt hatte, und als er die Nachricht erhielt, entschied Rochat sofort und eigenmächtig, den Leichnam der Frau per Hubschrauber nach Bern zu holen. Dieser Transport wäre im Nachhinein nur zu rechtfertigen, wenn auch die Obduktion sofort stattfinden würde.

»Und warum haben Sie die Leiche per Hubschrauber abgeholt?«, wollte Stöckli wissen.

Rochat erklärte. Hintergrund war, dass es rund um die Privatklinik in Gündlischwand zwei weitere mysteriöse Todesfälle in den letzten sechs Monaten gegeben hatte. Ein Freund und Kollege, den er seit der Polizeischule kannte, hatte den Fahnder auf diese Vorfälle aufmerksam gemacht.

»Und Sie haben den Verdacht, dass dieser Tod mit den zwei anderen in Verbindung steht?«

Rochat nickte. »Es besteht ein Anfangsverdacht.«

»Wer ist gestorben und woran?«

»Zwei Angestellte der Klinik. Eine Krankenschwester hatte einen Autounfall, sie ist in eine Schlucht gestürzt. Der Wagen war total zerstört, das Wrack ließ sich nicht mehr auf technische Mängel untersuchen.«

»Nun ja«, wandte Stöckli ein. »Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, und schon ist es passiert. Und der zweite Fall?«

»Ein technischer Mitarbeiter, der für die EDV zuständig war. Er kam mit dem Gift des Roten Fingerhuts in Kontakt, erlitt einen Herzstillstand.«

Stöckli verstand sofort. »Digitalis-Glykoside, die sind sehr gefährlich. Auch so etwas kann passieren. Wo soll nun der Zusammenhang mit dieser Frau bestehen?«

»Das kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen.«

Prof. Stöckli schien nicht gerade überzeugt. Rochat hielt es aber für besser, wenn Dienstleister, wie Mediziner oder auch Kollegen der Spurensicherung, möglichst unvoreingenommen an einen Fall herangingen. Außerdem hatte er keine Lust, sich weiter zu rechtfertigen.

Der Professor setzte seine Arbeit fort. Die nackte Frau, die vor ihnen auf dem Seziertisch lag, hieß Alexandra Demant, war einundvierzig Jahre alt geworden und wohnhaft in Zürich. Ihr Körper war unterhalb des Kopfes völlig zerschmettert, was nach Meinung des Professors nicht ungewöhnlich schien, da sie aus etwa zwölf Metern Höhe vom Dach der Privatklinik gestürzt war.

»Haben Sie die Krankenakte der Toten?«, fragte Stöckli.

»Noch nicht. Wir brauchen erst einen triftigen Grund, um sie anfordern zu können, einen richterlichen Beschluss. Deshalb bin ich hier. Hat sie Drogen genommen, oder stand sie unter Medikamenteneinfluss?«

»Wenn sie Patientin in einer Klinik war, werden wir mit Sicherheit Metaboliten von Medikamenten in ihrem Blut finden. Wissen Sie, was ihr fehlte?«

»Es handelt sich um ein Schlaflabor«, antwortete Rochat.

Stöckli hakte nach. »Schlafapnoe oder was genau behandeln die da?«

»Schlafstörungen. Insomnie. Schlafwandeln. Angeblich haben die dort eine neue Methode entwickelt, um auch den aussichtslosen Fällen helfen zu können. So steht es zumindest im Internet. Viel mehr kann ich Ihnen im Moment auch nicht sagen.«

Stöckli hob die Augenbrauen. Er schien zum ersten Mal von dieser Klinik zu hören. »Ich habe jemanden in meinem Bekanntenkreis, der an Schlaflosigkeit leidet. Ganz schlimm, der geht auf dem Zahnfleisch. Und diese Privatklinik kann da helfen?«

Rochat nickte. »Wenn Sie zwölftausend Franken für eine fünftägige Therapie übrig haben.«

Stöckli sah ihn entgeistert an. »Zwölftausend? Das klingt für mich nach …«, er zögerte.

»Abzocke?«, fragte Rochat.

Der Professor nickte. »Was wissen Sie über die Behandlungsmethode?«

Rochat zuckte mit den Schultern. »So gut wie nichts. Im Internet steht kaum was.«

Stöckli verzog das Gesicht. »Wenn jemand mit dem Rücken zur Wand steht und keinen Ausweg mehr sieht, dann kann man ihm«, er sah zu der Leiche, »oder ihr – leicht das Geld aus der Tasche ziehen. Ich hasse Kollegen, die so etwas machen.«

Stöckli sprach in ein Mikrofon, das von der Decke herabhing, und begann mit der Feststellung von Konsistenz, Größe, Gestalt und Oberflächenbeschaffenheit des Gehirns, bevor er mit der Sektion fortfuhr. Er griff zu einem Skalpell und löste die Hirnhäute ab. Dann folgte der schwierige Teil, das Organ aus dem Schädel zu holen. Im jetzigen Zustand war es eine glibberige Masse, die der Mediziner vorsichtig mit beiden Händen aus dem Schädel hob und sie in eine Waagschale legte, die ebenfalls von der Decke über dem Seziertisch herabhing. Das Display verriet, dass das Gehirn etwa tausendzweihundert Gramm wog.

Marco Brunner drehte sich plötzlich um und verließ eiligst den Saal. Rochat und Stöckli erhoben keine Einwände. Der Mediziner nahm das Gehirn aus der Waagschale, legte es auf den Seziertisch am Fußende des Opfers und sah es sich genau an. »Keine makroskopischen oder offensichtlichen Verletzungen. Heißt: Sie dürfte mit den Füßen zuerst aufgekommen sein.«

Er schaute zu ihren Beinen. Die waren enorm gestaucht. Weiße, gesplitterte Knochen hatten die Haut durchstoßen. Der Arzt wendete sich wieder dem Gehirn zu, sah es sich an und nahm ein Messer, um es zu zerschneiden. Die Hirnmasse war sehr weich, beinahe wie wenn man Marmelade zerteilen würde.

Der Professor sah sich das Organ an. »Kein Glioblastom oder ein anderer erkennbarer Tumor.« Er zeigte auf die Schnittfläche und sprach zu Rochat. »Sie sehen hier die Substantia alba, die weiße Substanz, die überwiegend aus Leitungsbahnen und Nervenfasern besteht.« Er deutete auf eine andere Stelle. »Und hier ist die graue Substanz, wie man so schön sagt: die grauen Zellen. Mit dem bloßen Auge sind keine Läsionen in der Tiefe erkennbar. Ich werde jetzt Proben nehmen für die Toxikologie. Danach muss das Gehirn erst in Formalin aushärten. Und dann werden wir sehen, ob der Neuropathologe irgendwelche Veränderungen feststellen kann.«

Rochat interessierte vor allem eine Frage. »Ist sie vom Dach gestürzt oder gesprungen? Oder gestoßen worden. Darum geht es in diesem Fall.«

Stöckli schüttelte den Kopf und zeigte auf den unteren Teil des Körpers. »Fremdeinwirkung wird schwer, sehr schwer nachzuweisen sein, nicht bei solch multiplen Verletzungen. Es sei denn, sie hat sich gewehrt und wir finden fremde DNA unter ihren Fingernägeln.«

»Was ist mit Medikamenten? Psychopharmaka?«

»Genau deshalb nehme ich ja Proben und schicke sie den Toxikologen.« Stöckli fiel in sein altes Muster zurück, der Missmut war wieder geweckt. »Bei allem Respekt. Ich habe hier Fälle liegen, die sind – ich möchte nicht sarkastisch klingen, aber: Das sind richtige Fälle. Und die liegen schon seit ein paar Tagen im Kühlschrank. Sie haben lediglich drei Tote in sechs Monaten, die zufällig mit dieser Klinik in Verbindung stehen, ist es so?«

Rochat schüttelte den Kopf. Er hatte Stöckli noch nicht alles erzählt, was er in der Kürze der Zeit über die Tote herausgefunden hatte. Das würde er jetzt nachholen müssen.

KAPITEL 5

»Bitte halten Sie den Kopf absolut still. Atmen Sie möglichst ruhig und flach«, ertönte Fabiennes Stimme durch einen Lautsprecher.

Ich lag in der Röhre eines MRT, hielt die Augen geschlossen, atmete flach durch die Nase. Fabienne hatte mir versprochen, dass dies die letzte medizinische Untersuchung für heute sein würde. EKG, EEG, Blutuntersuchung, Urinprobe, all das hatte ich schon hinter mir. Jetzt machten sie noch ein Bild von meinem Schädel, um jegliche organische Ursache ausschließen zu können. Solche Untersuchungen hatten bereits mehrfach in Deutschland stattgefunden, aber die Statuten der Klinik verlangten, dass sich die Ärzte hier ein eigenes Bild vom Patienten machen sollten. Dieser Maßnahme hatte ich bereits mit meiner Anmeldung zugestimmt. In meiner rechten Hand steckte eine Nadel, durch die der Radiologe ein Kontrastmittel gespritzt hatte. Das MRT-Gerät gab seltsame Geräusche von sich. Zuerst ein mechanisches, als würde etwas rotieren, gefolgt von rhythmischem Klicken, dann wiederholte sich das Ganze von vorn. Hochfrequente Magnetfelder stimulierten meine Moleküle im Gehirn, damit sie ihren Aufenthaltsort preisgaben. Der Computer würde aus diesen Daten ein Bild konstruieren.

Die Geräusche verstummten. Endlich.

Ich wartete darauf, dass es wieder losging, da ertönte eine mir unbekannte Stimme aus dem Lautsprecher. »Sie dürfen wieder normal atmen.«

Ich öffnete die Augen. Im selben Moment ging das Licht an, und der Tisch, auf dem ich lag, bewegte sich aus der Röhre heraus. Fabienne betrat den Raum und stützte mich, als ich etwas wackelig auf die Beine kam. »Geht es Ihnen gut?«

»Ja. Ich bin nur hundemüde und total schlapp«, sagte ich und hielt ihr meine rechte Hand hin, in der Erwartung, sie würde die Kanüle herausziehen.

»Nein, die bleibt noch drin. Sie kriegen heute noch was Schönes von uns«, sagte sie und unterstrich es mit einem Grinsen. »Aber erst müssen wir noch ins Videostudio gehen.«

»Videostudio?«

Fabienne lächelte. »Frau Dr. Liechti wird Ihnen später alles erklären.«

Diesen Satz hatte ich heute schon mehrmals gehört. Wann würde »später«