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Im Brunnen eines leerstehenden alten Hauses wird die halb verbrannte Leiche einer jungen Frau gefunden. Schnell bringen die gerichtsmedizinischen Untersuchungen Gewissheit. Es handelt sich um die seit vier Wochen vermisste Krankenschwester Eva Zimmermann. Sie hatte eines Tages nach ihrem Frühdienst die Klinik verlassen, um ihre beiden Söhne aus dem Kindergarten abzuholen. Dort ist sie nie angekommen. Sie wurde erwürgt, in den Brunnenschacht gelegt, mit Benzin übergossen und angezündet. Merkwürdige Haarrisse an ihren Unterschenkeln deuten darauf hin, dass sie vorher offenbar mit leichter Geschwindigkeit von einem Auto angefahren wurde. Kriminalkommissarin Kathrin Unglaub und ihre Kollegen der Mordkommission ermitteln in diesem Fall. Sie finden heraus, dass Eva Zimmermann nicht die erste war, die von einem unscheinbaren Mann unter merkwürdigen Umständen angefahren wurde. Ist die Situation diesmal außer Kontrolle geraten? Was ist das für ein Mensch, der auf diese Weise Kontakt zu Frauen sucht? Kathrin Unglaub ahnt nicht, dass der Täter aus Angst vor Entdeckung versucht, ein Verbrechen mit dem nächsten zu verschleiern. Außerdem muss die eigenwillige Polizistin endlich Ordnung in ihr chaotisches Privatleben bringen und ihre schon viel zu lange dauernde Affäre mit einem verheirateten Architekten beenden. Das ständige Auf und Ab der Gefühle raubt ihr die Energie, die sie gerade für diesen komplizierten Fall dringend braucht. Dieser von einem authentischen Fall inspirierte Roman verfolgt nicht nur die Ermittlungen der Polizei. Er blickt auch tief in die Seele des Täters, was die Frage nach der Schuld nicht unbedingt leichter, aber dafür umso spannender macht.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2016
www.tredition.de
Silke van Ryck
Das Schlüsselloch
Roman
www.tredition.de
© 2016 Silke van Ryck
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
978-3-7345-1021-2 (Paperback)
978-3-7345-1022-9 (Hardcover)
978-3-7345-1023-6 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Das Glück hatte schon immer einen großen Bogen um ihn gemacht. Aber nun war es auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Seit vier Wochen war er fahrig und unkonzentriert. Ohne Grund bekam er Schweißausbrüche. Er konnte kaum noch schlafen, hatte keinen Appetit mehr und war stark abgemagert.
Bis zu jenem unglückseligen Tag im September, an dem sein Leben aus dem Ruder geraten war, hatte er sich sein Glück wenigstens erträumen können. Es kam zu ihm, wenn er schlief, in Gestalt einer zierlichen Frau mit schulterlangen blonden Haaren. Im Traum saß er mit ihr beim Abendessen an einem gemütlich gedeckten Küchentisch. Es gab Brot, aufgeschnittene Wurst und Käse, dekoriert mit Tomaten, Gurken und Petersilie. Morgens verabschiedete sie ihn mit einem Kuss auf die Wange zur Arbeit.
Bis vor vier Wochen war sie ihm fast jede Nacht erschienen. Sie hatte kein Gesicht. Er bildete es sich ein, regelrecht zu spüren, wie sie sich an ihn schmiegte, wie sie aneinander gekuschelt auf dem Sofa saßen und einen Film anschauten, wie er ihre Hand hielt. Weiter ging er in seinen Vorstellungen nie. Es gab darin keine leidenschaftlichen Umarmungen und Küsse, kein Stöhnen, Schwitzen, keine ineinander verknoteten Körper.
Solche Bilder verbannte er auch aus seinen Tagträumen, wenn Kundinnen in die Werkstatt kamen, und er sich fragte, ob sie wohl im wirklichen Leben den Platz seiner nächtlichen Liebe einnehmen könnten. Doch welche Frau würde sich schon auf ein Zusammenleben ohne Sex einlassen? Wie sollte er es einem Mädchen erklären, dass er sich davor ekelte? Würden sie nicht alle auf der Stelle weglaufen, wenn er zugeben würde, dass er außer seiner Mutter nie ein weibliches Wesen berührt hatte? Aber vielleicht gab es irgendwo eine Frau, der er vertrauen konnte. Der er erzählen konnte, weshalb er vor der körperlichen Liebe so eine Angst hatte. Vielleicht würde sie ihn ganz vorsichtig an die Hand nehmen und ihm zeigen, dass es gar nicht so schlimm war. So ekelhaft, wie er es früher Nacht für Nacht und auch an so manchem Tag durch sein Schlüsselloch beobachtet hatte. Aber Sehnsucht danach, eine Frau in den Armen zu halten, ihren Körper ganz nahe zu spüren, ihre Wärme und ihre Weichheit, die hatte er. Die war riesengroß und kaum auszuhalten.
Vor ungefähr einem halben Jahr hatte er sich überlegt, wie er sich einer Frau nähern könnte. Vor drei Monaten hatte er angefangen, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Zweimal hatte er seinen Trick, seinen eigentlich hervorragenden Trick, ausprobiert, und es hatte ganz gut geklappt. Er war zwar mit dem Kennenlernen nicht so weit gekommen, wie er es sich gewünscht hätte. Dafür war er zu schüchtern. Aber er hatte Kontakt aufgenommen und die Frauen vorsichtig, fast unmerklich berührt. Sie fühlten sich wunderbar an.
Beim dritten Mal ging alles schief.
Seine Mutter sah nicht, wie es ihm ging. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun. Seine Arbeitskollegen registrierten kaum, wenn er nicht gut drauf war. Eine Stimmungskanone war er ohnehin noch nie gewesen.
Vier Wochen. Und noch war ihm niemand auf die Schliche gekommen. Vielleicht war es ihm ja doch gelungen, alle Spuren zu beseitigen. Vielleicht würde Gras über die Sache wachsen, und er könnte irgendwann wieder ein normales Leben führen. Sein langweiliges, trostloses Leben.
Vielleicht würde dann auch seine Traumfrau wieder zu ihm kommen. Er versuchte, sie sich vor sein inneres Auge zu rufen.
Es war Sonntag. Er musste nicht zur Arbeit und konnte sich noch einmal in seinem Bett umdrehen, wieder einschlafen und versuchen, in seine Phantasiewelt zurück zu finden.
„Ronny!… Ronny!… Ronny, hörst du nicht! Bist du schon wach?“ Seine Mutter rief mit quäkender Stimme aus dem Nebenzimmer. „Ich habe Durst, Ronny. Kannst du mir etwas zu trinken besorgen?“
„Ja gleich, Mutter. Ich stehe schon auf. Hast du die ganze Ration fürs Wochenende schon wieder leer gemacht? Ich habe dir doch erst am Freitag drei Flaschen Korn und 18 Büchsen Bier mitgebracht.“
„Die sind alle, ich konnte nicht schlafen. Ach Junge, sei doch nicht so streng. Du weißt, dass ich das brauche.“
Ronald Schramm öffnete die Tür von seiner kleinen Bude und ging durch das Zimmer seiner Mutter. Sie saß in ihrem zerwühlten Bett, die Haare hingen ihr grau und strähnig ins Gesicht, und sie grinste ihn an. Es roch nach Schnaps und ungewaschenem Menschen.
„Wenn ich dir etwas zu trinken besorge, dann gehst du heute in die Badewanne. Vorher gibt es nichts. Hast du mich verstanden.“
Sonntag, 9. Oktober
„Komm, lass uns sofort hier verschwinden. Ich mach mir fast in die Hosen vor Angst.“ Anne hielt Carsten an seiner alten Lederjacke fest. Das einsame Haus war ihr unheimlich. Der Wind ließ die dicken Äste der Bäume knarren. In der Stille des Abends wirkten die Geräusche überlaut. Das große Haus aus rotem Backstein stand ganz allein auf einem einsamen Grundstück voller alter Bäume. Zwanzig Meter von der Straße entfernt und ein Stück abseits von der Stadt.
Carsten kümmerte sich nicht um die Furcht seiner Freundin. Er war im Jagdfieber. Er witterte förmlich, dass hier noch etwas zu finden war. Ein alter Stuhl, eine Lampe mit Glasschirm, eine verstaubte Schreibtischgarnitur aus Marmor. Dinge, deren Wert die Menschen nicht kannten, die nach dem Tod der Försterswitwe den Haushalt auflösten. Ihr Mann, der 37 Jahre lang den reichen Waldbestand der Universität gepflegt hatte, war kurz vor ihr gestorben. Vielleicht lagen auf dem Boden noch ein paar Dosen herum, Bücher, Kleidung, eine alte Lederjacke – Sachen, die nur aufgemöbelt werden müssten. Auf dem Trödelmarkt in Berlin ließ sich fast alles zu Geld machen. Die Leute zahlten viel für ein unverwechselbares Kleidungsstück, das ihnen in dieser großen Stadt, in dem Heer von Individualisten, etwas Einzigartiges geben sollte. Die besten Sachen würde er natürlich selbst behalten. In ihrer Wohnung gab es kaum noch einen Fleck, der nicht vollgestellt war. Die größte Trophäe war ein Zahnarztstuhl aus den zwanziger Jahren, den Carsten bei einem alten Sanitätsrat aus dem Haus geschleppt hatte, wo er vergessen auf dem Boden herumstand. Der diente nun als Lesesessel in seiner Bibliothek und machte auf jeden Gast großen Eindruck.
Anne fürchtete sich immer ein wenig auf Carstens Beutezügen. Besonders seit sie in der Zeitung gelesen hatte, dass in einem Haus, aus dem sie einen Tisch, vier Stühle und mehrere Lampen herausgeholt hatten, wenige Tage später eine Leiche gefunden wurde. Ein Junge, fünfzehn Jahre alt, hatte sich erhängt. Er war monatelang von seinen Klassenkameraden gequält worden. Die Bewohner des Nachbarhauses waren auf den strengen Geruch aufmerksam geworden. Die Vorstellung, dass der Tote nur kurze Zeit vorher dort hätte hängen können, spukte Anne immer wieder durch den Kopf.
„Lass uns gehen. Wir finden hier nichts“, bettelte sie. Das alte Haus war ihnen aufgefallen, als sie vom Trödelmarkt aus Berlin zurückkamen. Der Herbst hatte die Blätter von den Bäumen gefegt und den Blick auf den idyllischen roten Backsteinbau freigegeben. „Wenn wir mal ein Haus kaufen, dann so eins“, hatte Carsten zu Anne gesagt. Einsam und trotzdem gemütlich, so eingekuschelt in die alten Flieder- und Holunderbüsche. „Es scheint leer zu sein. Das Gras steht hoch und die Einfahrt ist leicht zugewachsen“, stellte Carsten sofort fest. Tag für Tag war er nach seinem Dienst in der Rettungsleitstelle mit dem Fahrrad hingefahren, um nachzuschauen. Egal, ob er nach der Frühschicht, der Spätschicht oder der Nachtschicht vorbeikam, immer bot sich das gleiche Bild. Kein Licht im Haus, kein Fahrzeug in der Nähe, die Werbeprospekte quollen aus dem Briefkasten an der Tür. Einmal hatte er unter dem Vorwand, sich für das Haus zu interessieren, einen Bauern auf dem unmittelbar angrenzenden Feld nach dem Besitzer gefragt. Und der hatte die Geschichte vom Förster und seiner Frau erzählt und dass die Universität noch nicht genau wisse, ob sie das Haus und den Wald verkaufen soll. „Die Tür ist so wunderschön. Und wenn ich einfach die Tür mitnehme? Die bringt mindestens 1000 Euro“, rief Carsten. „Unterstehe dich. Dann ziehe ich heute noch bei dir aus. Damit machst du das Gesicht des Hauses kaputt. Antiquitäten lieben, aber einfach so ’ne Tür klauen. Das ist das Letzte.“ Anne war jetzt richtig wütend. Das Herumschleichen in der Dämmerung dauerte ihr viel zu lange. Sie wollte nach Hause ins Warme und Helle. Außerdem traute sie es Carsten wirklich zu, dass er die Tür ausbauen würde.
„Sieh doch mal. Die Türdrücker und die Knäufe an den Fenstern. Wenn ich die verkaufe …“ Carsten ging jetzt um das Haus herum, während Anne zum VW-Bus zurücklief. Sollte der doch allein die Lage erkunden. „He Anne, hier ist noch ein Schuppen. Den habe ich noch gar nicht gesehen. Das sind die beliebtesten Verstecke für das, was andere Leute Plunder nennen.
Verdammt, das stinkt hier wie Aas. Was mieft denn hier so? Hat hier einer ’ne Leiche vergraben?“
„Ich will weg“, brüllte Anne, die hysterisch wurde vor Angst.
Carsten fiel fast über den Brunnen auf dem Hof. Er hatte das Haus immer nur von vorne gesehen. Der Brunnen war ihm nie aufgefallen. Der Gestank war jetzt so beißend, dass er sich fast übergeben musste. Er kannte den Geruch.
Es stank nach Tod. Im letzten Urlaub in Griechenland hatten sie ein verendetes Schaf gefunden. Viele Meter entfernt war ihnen schon der widerlich süßliche Mief in die Nase gekrochen. Und hier war er wieder, dieser üble Geruch. Genau der gleiche.
„Bitte, bitte, lass es ein Tier sein“, flüsterte Carsten vor sich hin. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er in den Brunnenschacht. „Scheiße“, schrie er. „Hilfe!“ Er ließ die Lampe fallen, rannte zurück zum Auto, sprang auf den Fahrersitz und startete. „Was ist denn los?“, brüllte ihn seine Freundin an. „Sag doch was. Was hast du gesehen?“
„Eine Hand. Ein Bein“, stammelte Carsten und stierte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. „Mensch, da liegt ’ne Leiche. Das darf doch wohl nicht wahr sein.“
„Wir müssen die Polizei anrufen.“ Annes Stimme klang plötzlich ganz ruhig.
*
Als das Handy klingelte, stellte Kathrin Unglaub das Rotweinglas aus der Hand und wickelte sich widerwillig aus ihrer kuscheligen Decke. Wenn sie eins nicht leiden konnte, dann war es das Klingeln des Telefons, während die einzige Sendung im Fernsehen lief, die sie möglichst nie verpassen wollte: Der Tatort oder Polizeiruf am Sonntagabend.
Ihre Freunde und ihre Eltern wussten das und warteten bis pünktlich 21.45 Uhr mit ihren Anrufen. Im Kommissariat war sie die einzige, die sich ganz unvoreingenommen auf die Krimis einlassen konnte. Ihre Kollegen schimpften nur auf die Fernsehermittler, die im Handumdrehen, knallhart und unbeirrbar jeden Fall lösten. Fred Deike und Gerd Senf schauten sie sich an. Aber nur, um am nächsten Tag darüber herzufallen, was wieder unrealistisch war oder wer die Waffe falsch gehalten hat.
Kathrin Unglaub liebte es, ganz naiv in die Geschichte einzutauchen und den Fall mit zu lösen. Sie konnte sich sogar freuen, wenn sie frühzeitig den richtigen Riecher hatte. Zwei Dinge allerdings mochte sie nicht: Wenn die Geschichte das Motiv des Täters schuldig blieb oder wenn am Ende plötzlich ein Schuldiger herbeigezaubert wurde, der während des ganzen Films keine Rolle gespielt hatte.
Tatort oder Polizeiruf zu schauen, das hieß für sie abschalten zu können. Von der Arbeit im Kommissariat, wo vier unaufgeklärte Mordfälle aus 12 Jahren der Aufklärung harrten. Die Presse hatte erst kürzlich gefragt, ob ihre Stadt nicht ein Paradies für Mörder sei. Die anderen Straftaten, die sehr schnell geklärt werden konnten, zählten nicht. Und wer von den Medienvertretern wollte sich schon erklären lassen, wie schwierig es war, Morde aufzuklären, die keine Beziehungstaten waren.
Sie war auch froh, während ihres sonntäglichen Rituals nicht an die Kollegen denken zu müssen. An Hauptkommissar Fred Deike zum Beispiel, ihren Chef, 45 Jahre alt. Sie nannte ihn nur den Zwerg. Na gut, er war einen Meter siebzig groß, aber damit immerhin zehn Zentimeter kleiner als sie. Sie hätte eigentlich kein Problem damit gehabt, hatte sogar schon einige Freunde und Liebhaber, die kleiner waren als sie. Aber Deike ging nicht souverän damit um. Nach seinem Verständnis mussten Männer größer und klüger sein als Frauen und von ihnen bewundert werden. Er mochte niedliche, etwas dralle Weibchen. Kathrin entsprach mit ihrer eher herben Schönheit keinesfalls seinem Ideal. Wenn Deike ihr morgens die Hand gab, blieb er nicht neben ihr stehen, sondern sprang sofort wieder auf Abstand, damit er nicht zu ihr aufschauen musste. Kathrin musste innerlich darüber lachen.
Manchmal war sie aber drauf und dran, seinetwegen um Versetzung zu bitten. Fred Deike hatte ein großes, für einen Kriminalisten geradezu katastrophales Problem. Er konnte beim besten Willen nicht logisch denken. Das disqualifizierte ihn natürlich für die Leitung der Truppe. Doch Chef war Chef. Gut waren die Tage, an denen er seine Kollegen einfach machen ließ. Aber manchmal merkte er, dass ihm die Fäden aus der Hand glitten, und er begann wild Aufgaben zu verteilen und, so blödsinnig sie manchmal auch waren, Weisungen zu geben. In ihrem ersten Jahr hatte Kathrin einmal in einer Besprechung auf die Unsinnigkeit so eines Auftrages hingewiesen. Das hätte sie lieber nicht tun sollen. Wochenlang hatte es in Deike gegärt, bis er ihr eines Tages eine Verwechslung in der Abheftung von Verhörprotokollen als totale Unfähigkeit vorwarf. Warum nur war ausgerechnet der Leiter?
Gerd Senf war eindeutig der Intelligentere, der Organisiertere von beiden. Seine Gedankengänge waren manchmal brillant. Im Gegensatz zu Deike verstand er es perfekt sich auszudrücken. Seine spitze Zunge wurde nicht nur von mutmaßlichen Tätern im Verhör gefürchtet, sondern auch von den Kollegen. Deike hatte deshalb offenbar regelrecht Angst vor ihm. Deshalb ließ er Senf auch bei allem gewähren. Er war faul und unkollegial, drückte sich vor der täglichen Kleinarbeit, wo er konnte. Senf, der lange, schlanke Kerl, hatte mit seinen 38 Jahren bereits eine Vollglatze. Seine Augen waren klein. Ein böser Schalk blitzte daraus, ständig bereit, beim nächst Besten eine Schwäche zu entdecken und diese sofort heraus zu posaunen. Sein Mund war riesengroß und sehr rot, was seinem Gesicht etwas Clowneskes verlieh. Senf hatte Kathrin sofort den Hof gemacht, als sie in die Abteilung kam. Als er nach einem Kneipenabend versuchte, sie zu küssen, erklärte sie ihm freundlich, dass er nicht ihr Typ sei. Senf war beleidigt und sparte seither nicht mit abfälligen Bemerkungen über Frauen bei der Kripo.
Mit Peter Schmieder arbeitete Kathrin gern. Der alte Kriminaltechniker war wie ein väterlicher Freund für sie geworden. Seine Ruhe und Präzision beeindruckten sie. Er hatte vor allem, das wussten die anderen Männer nicht oder wollten es nicht wahrhaben, ein großartiges Einfühlungsvermögen und ein bescheidenes Wesen. Eigentlich war es nicht sein Job, Zeugen zu befragen. Aber wenn Kathrin mit ihm unterwegs war, spannte sie ihn ganz beiläufig mit ein. Die Befragten merkten gar nicht, dass sie ausgehorcht wurden und erzählten Schmieder alles, wie einem guten Freund.
Mit Schmieder ging Kathrin auch mal ins Theater oder in eine Ausstellung. Der alte Herr machte sich dann immer ganz fein. Seine Frau kam manchmal mit, oder sie luden Kathrin zu sich zum Essen ein. Gesine Schmieder war Fotografin und die beiden schienen sich immer noch zu lieben. Dass jeder seine eigenen Interessen hatte, keiner sich ohne den anderen langweilte, war das Geheimnis ihres Glücks. Sie waren so lange verheiratet, wie Kathrin auf dieser Welt war: 35 Jahre. Das würde sie nie schaffen, dachte sie häufig wehmütig.
Dabei wäre Michael der Mann, mit dem sie sich das vorstellen könnte. Er roch gut, fühlte sich wunderbar an, hatte feine Manieren und schöne, kluge Augen, in denen sie immer wieder versinken wollte. Sie hatte sich sofort verliebt, als sie ihn zum ersten Mal in ihrer Stammkneipe sah. Er hatte die Bauleitung für den großen Klinikkomplex übernommen und war an seinem ersten Abend in der Stadt dort eingekehrt. Vier Jahre würde er bleiben, zwei davon waren schon um. Wochenende für Wochenende fuhr er zu seiner Frau und den zwei Kindern nach Berlin in sein großes, teures Haus. Er liebe seine Frau nicht, habe sie eigentlich nie geliebt, sondern sei in die Ehe reingerutscht, als das erste Kind unterwegs war, beteuerte er regelmäßig. Kathrin hatte die beiden mal zusammen gesehen, als seine Frau ihn besuchte um sein Bauprojekt anzusehen. Es schmerzte sie immer noch, wenn sie daran dachte.
Manchmal kam Michael schon Sonntagnacht wieder zurück, klingelte bei ihr und dann fielen sie wie ausgehungert übereinander her. Hinterher schliefen sie nackt und eng aneinander gekuschelt die ganze Nacht. Morgens waren sie wieder wie Fremde. Er zog sich in aller Hektik an und verschwand. Zusammen mit Kathrin frühstücken wollte er nicht.
Da hatte er ein zu schlechtes Gewissen gegenüber seiner Familie.
Sie verabredeten sich nie. Wenn er nicht kam, fühlte sie die Sehnsucht körperlich. Unzählige Male wollte Kathrin die Geschichte beenden. Aber der Gedanke, damit den Mann zu verlieren, den sie zum ersten Mal richtig liebte, der ihr nicht nach wenigen Wochen langweilig wurde, machte sie krank. Ihr war, so intensiv sie auch Ausschau hielt, in der ganzen Zeit niemand begegnet, der sie von Michael abbringen konnte. Vielleicht liebte sie ihn ja auch nur deshalb so sehr, weil sie ihn einfach nicht haben konnte.
Der Krimi am Sonntag half ihr, nicht darauf zu warten, ob er nun an diesem Abend kommen würde oder am nächsten. Der Rotwein war gut fürs Einschlafen. Heute Abend jedoch würde Michael vor verschlossener Tür stehen. Und das gab ihr Genugtuung. So wenig Lust sie auch hatte, jetzt von ihrem Sofa aufzustehen und mit einem wirklichen Tötungsverbrechen konfrontiert zu werden.
*
„Wir haben eine halbverkohlte Leiche. Offenbar weiblich, wahrscheinlich zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, den Händen und dem Bein nach zu urteilen, die nicht verbrannt sind. Die Kollegen versuchen gerade, sie möglichst heil aus dem Brunnen heraus zu holen.“ Professor Eduard Lienert, der Gerichtsmediziner, war schon da. Kathrin mochte ihn. Er war groß und kräftig, ein Mann mit Lebensart und ein Arbeitstier. „Offenbar hat jemand versucht, sie in dem Brunnen zu verbrennen. Es ist ihm aber nur halb gelungen. Ich hoffe, dir kommt dein Abendbrot nicht wieder hoch, wenn du sie siehst. Ich nehme sie dann gleich mit in die Gerichtsmedizin. Wir untersuchen sie heute noch, nicht wahr, Frau Doktor Huhn?“
Lienerts Assistentin, Doktor Greta Huhn, strahlte ihren Chef an. Ob nun mit Leiche oder ohne, ihr war jeder Anlass recht, möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen. Jeder gönnte dem Witwer die Liebschaft mit der 25 Jahre jüngeren frisch gebackenen Pathologin. Er war ihr Doktorvater gewesen. Sie hatte sich sein ganzes Leid angehört, als seine Frau nach einem Fahrradunfall ins Koma fiel und zwei Monate später tot war. Lienert hatte sich zu dreimal mehr Bereitschaftsdiensten eingeteilt, als sie seine Kollegen leisten mussten, und Greta Huhn, die ganz viel lernen wollte und sonst keine Verpflichtungen hatte, assistierte ihm. Nach der Arbeit tranken die beiden oft noch ein Glas zusammen, weil Lienert die Stille in seiner einsamen Wohnung nicht aushalten konnte. Und eines Tages hatte die drahtige, vom Triathlon gestählte Greta Huhn den bärenhaft kräftigen Professor Lienert einfach an ihre kleine feste Brust gedrückt und ihn damit ins Leben zurückgeholt. Sein Arbeitspensum blieb dennoch enorm.
Deike und Senf verhörten die beiden Zeugen. Senf war zu dem jungen Mann in den VW-Bus geklettert und schien, der Mimik nach zu urteilen, ganz sachlich mit ihm zu reden. Deike hatte sich die Frau geschnappt, die wie paralysiert vor sich hin brabbelte: „Ich hab‘s gewusst. Ich hab‘s ganz genau gewusst.“
„Was haben Sie gewusst?“
„Dass wir mal ’ne Leiche finden. Ich hab schon davon geträumt.“ „Was haben Sie hier überhaupt zu suchen?“, echauffierte sich Deike, der immer ein wenig hysterisch klang, wenn er moralisierte.
„Wir haben nach alten Möbeln und Krimskrams gesucht. Das Haus ist doch leer. Schon lange. Manchmal halten die Leute irgendetwas für Plunder, was eigentlich noch Wert hat und lassen es vergammeln“, erzählte Anne wie in Trance.
„So, und da steigen Sie dann einfach in fremde Häuser ein? Ich muss darüber wohl das Diebstahldezernat informieren“, zeterte Deike weiter. „Kann der wieder mal nicht wichtig von unwichtig unterscheiden?“, raunte Peter Schmieder Kathrin zu. Er hatte mit ein paar Technikern das Gelände abgesucht, soweit das bei der Dunkelheit noch möglich war. „Soll er sie doch in Ruhe lassen. Wir haben eine Tote. Und da fragt der nach altem Krempel.“ Nach kurzem Innehalten redete er stockend weiter: „Weißt du, woran ich die ganze Zeit denken muss? Wenn das nun die Krankenschwester ist.“
Seit dem Anruf von Deike war Kathrin dieser Gedanke auch nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und seit Lienerts Feststellung, dass es sich um eine weibliche Leiche zwischen dreißig und vierzig Jahren handelt, war sie sich fast sicher: Das ist Eva Zimmermann.
*
Paul Zimmermann, ihr Mann, hatte sie vor vier Wochen als vermisst gemeldet. Er war damals fast wahnsinnig gewesen vor Angst, schrie und flehte im Revier, doch seine Frau wieder herbei zu schaffen.
Nach der Frühschicht im Krankenhaus am 9. September war Eva Zimmermann nicht nach Hause gekommen. Für gewöhnlich holte sie um 14.30 Uhr die beiden Söhne, fünf und drei Jahre alt, aus dem Kindergarten ab. Um möglichst schnell da zu sein, nahm sie immer eine Abkürzung über die Schienen, lief auf einem Feldweg neben den Gleisen entlang und kam dann durch eine Kleingartenanlage am Rande des Stadtzentrums schnell in die Innenstadt und zum Kindergarten. Von dort waren es nur fünf Minuten bis zu ihrer Wohnung. Paul Zimmermann war Kinderarzt in der 30 Kilometer entfernten Nachbarstadt. Weil die beiden nicht in einer Klinik arbeiten wollten, nahm er die Fahrerei auf sich. Am Abend des 9. September, gegen 18 Uhr, erhielt er während seiner Arbeit einen Anruf aus dem Kindergarten, dass die Söhne immer noch nicht abgeholt seien. Sie hätte schon seit einer Stunde Feierabend, teilte ihm die Erzieherin empört mit. Paul Zimmermann bat einen Kollegen, seinen Dienst weiterzuführen. Dann raste er die 30 Kilometer zurück, nahm die weinenden Jungen von der mürrischen Kindergärtnerin entgegen und fuhr nach Hause.
Von seiner Frau keine Spur.
Er rief eine Freundin von Eva an, die fast wie eine Tante für seine Söhne war. Sie kam, machte den beiden Abendbrot und versuchte sie zu beruhigen. Die Panik des Vaters hatte sich natürlich auf die Kinder übertragen.
Paul telefonierte mit Evas Station im Krankenhaus. Dort wurde bestätigt, dass sie zehn Minuten nach zwei Uhr die Arbeit verlassen und sich darauf gefreut hatte, mit den Kindern an dem schönen Altweibersommertag erst ein Eis zu essen und dann noch auf den Spielplatz zu gehen. Evas Eltern hatten nichts von der Tochter gehört. Keiner der Bekannten wusste etwas.
Da war Paul Zimmermann ins Polizeipräsidium gefahren und hatte seine Frau als vermisst gemeldet.
Einen Tag später wurde die Mordkommission eingeschaltet.
„Ein Fall für dich“, damit hatte Deike die Vermisstenanzeige mit einem süffisanten Lächeln an Kathrin übergeben. „Die unglaubliche Frau Unglaub wird die Sache schon klären. Wahrscheinlich hat die Lady nur mal die Nase voll von ihrem Weichei von Ehemann und hat sich einen ordentlichen Kerl gesucht. Bei so ’ner richtig guten Nummer kann man schon mal die Knirpse im Kindergarten vergessen. Check mal, ob sie einen Liebhaber hat. Du weißt doch wie das ist mit den Krankenschwestern und den Ärzten, wenn die sich im Nachtdienst langweilen.“
Du spuckst große Töne. Dabei ziehst du bei jeder richtigen Frau den Schwanz ein, Deike, hätte Kathrin am liebsten gesagt. Es war ihr aber nicht wert, sich mit seiner kleinen Rache, die diese Worte nach sich gezogen hätte, den Alltag zu vermiesen. Deshalb behielt sie für sich, wie dämlich sie den Spruch ihres Vorgesetzten fand. Sie nahm wortlos die Akte, ging, ihm ein verächtliches Grinsen zuwerfend, aus dem Zimmer und fuhr zum Haus der Zimmermanns.
Paul Zimmermann war nach den 48 Stunden, die seine Frau bereits vermisst war, nur noch ein Häufchen Unglück, als Kathrin ihn am 11. September zu Hause aufsuchte. Pausenlos liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Er kauerte verkrampft auf dem Sofa und zitterte. Die Eltern von Eva Zimmermann waren gekommen. Aber mit ihrer eigenen Angst um die Tochter waren sie auch keine große Hilfe. Wenigstens Helga Eggert, die Mutter von Eva, funktionierte noch so gut, dass sie die Kinder in den Kindergarten bringen und Essen machen konnte. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein Teller mit belegten Broten, offenbar unberührt. Die Leberwurst war schon ganz trocken und braun. Heinz Eggert, Evas Vater, öffnete Kathrin Unglaub mit hängenden Schultern und leeren Augen die Tür. Sein Gesichtsausdruck schwankte in diesem Moment zwischen Angst und Hoffnung. „Wissen Sie etwas Neues von Eva? Habt ihr sie gefunden?“
Nein, sie hatten sie nicht gefunden. Und alle Suchaktionen mit Hubschraubern, Hundestaffeln und Hundertschaften von Kräften aus Polizei, Bundesgrenzschutz und Technischem Hilfswerk, die systematisch die Gegend durchkämmten, hatten nichts genutzt.
*
„Wenn sie es tatsächlich ist, will ich dem Mann nicht die Todesnachricht überbringen. Der ist doch in den vier Wochen seit ihrem Verschwinden ein geistiges und körperliches Wrack geworden. Das überlebt der nicht, wenn er weiß, dass seine Frau nie mehr wieder kommt. Und die Kinder!“ Bei dem Gedanken an die beiden kleinen Jungen krampfte sich Kathrins Herz zusammen. „Warte erst mal die Obduktion ab“, versuchte Schmieder zu beruhigen. Die Haare von der Zimmermann liegen in der Gerichtsmedizin schon vor, nicht wahr?“
Als Kathrin nach Mitternacht todmüde zu Hause ankam, hing ein Zettel an ihrer Tür: „Wo bist du? Ich habe solche Sehnsucht nach dir. Ruf mich an, egal wie spät es wird. M.“
Vergiss es, dachte Kathrin. Sie war froh, dass sie heute einmal nicht da war, wenn er wie selbstverständlich aus dem Bett seines süßen Frauchens in das ihre springen wollte. Wäre sie zu Hause gewesen, hätte sie wieder nicht die Kraft gehabt, ihn wegzuschicken. Ihr Körper verlangte nach ihm, seiner Haut, seinem Duft. Sie kannte keinen besseren Liebhaber. Doch während sie sich zu Beginn ihres Abenteuers vorgenommen hatte, einfach nur den Sex zu genießen und auf den Beziehungsstress zu verzichten und den großzügig seiner Frau zu überlassen, fiel ihr das immer schwerer. Die Gespräche mit ihm waren gut. Sie vermisste ihn, wenn er nicht da war. Träumte davon, mit ihm in den Urlaub zu fahren oder mit ihm ins Theater zu gehen, statt immer mit den Schmieders. Und sie wünschte sich ein Kind. Karla, ihre Kollegin aus dem Dezernat II, hatte auch ein Kind und machte ihren Job gut, weil alle mit anpackten. Ihr Mann, die Großeltern. Auch wenn sie Michael fast glaubte, oder es glauben wollte, dass er seine Frau nicht lieben würde, war der Traum von einer trauten Zwei- oder Dreisamkeit mit ihm illusorisch. Wie sollte er seine Kinder verlassen, um mit ihr neue zu bekommen? Das war vollkommen ausgeschlossen. Dennoch hatte sie einmal nach einem romantischen Essen beim Italiener und nach reichlich genossenem Wein versucht, ihn zu einer Entscheidung zu zwingen. Entweder sie oder seine Frau. Sie hatte ihm einmal gezeigt, was sie wirklich für ihn empfand, war nicht mehr die Coole, die sich nur die Rosinen aus dem Kuchen pickt.
Vielleicht hatte es ihn gefreut, aber offenbar noch mehr verängstigt. Fünf Tage lang meldete er sich nicht mehr. Doch dann zog es sie wieder mit Macht zueinander. Sie wussten, wo sie einander finden konnten: In der Kneipe, in der sie sich das erste Mal begegnet waren. Die Nacht war leidenschaftlich und sie gestanden sich, wie sehr sie sich liebten. Doch das machte alles nur noch schwerer. Es würde immer schwieriger werden, von ihm los zu kommen.
Aber jetzt wollte sie keinen Gedanken mehr an Michael verschwenden und anrufen würde sie ihn schon gar nicht. Noch ein Glas Rotwein und ab ins Bett.
Montag, 10. Oktober
Prof. Lienert hatte wieder einmal eine Nachtschicht eingelegt und rief Kathrin gleich am Montagvormittag zu sich ins Institut. Der Geruch in der Pathologie machte ihr immer wieder zu schaffen. Aber wenn sie sah, wie nüchtern und routiniert Lienert mit den toten Körpern umging, sah sie in den Leichen für einen Augenblick keine Personen mehr, sondern Fleisch, das Auskunft geben soll, was mit ihm passiert war. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie es ihr ging, als sie zum ersten Mal bei einer Obduktion zuschaute. Der Arzt nahm das Herz des ziemlich beleibten Toten in die Hände. Es war von einer fingerdicken Fettschicht umgeben und sah fast ein bisschen aus wie ein Stück Schwein, das man beim Fleischer kaufen kann. Kathrin schämte sich für diesen Vergleich. Aber von da an hatte sie keine Angst mehr vor den aufgeschnittenen Leibern. Der Anblick der halbverkohlten Frauenleiche, von deren Gesicht nichts mehr übrig geblieben war, setzte ihr allerdings zu.
„Genau identifizieren können wir sie, wenn Greta, äh, wenn Frau Doktor Huhn, mit der DNA-Analyse fertig ist. Das wird in wenigen Stunden so weit sein. Aber ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher, dass es die Krankenschwester ist, die ihr sucht. Der Todeszeitpunkt stimmt mit dem Tag ihres Verschwindens überein. Der Täter hat zwar versucht, sie zu verbrennen, aber es ist ihm nur halb gelungen. Die verbliebenen Überreste lassen den Schluss zu, dass sie am 9. September ungefähr am Nachmittag getötet wurde. Die Größe 1 Meter 68 stimmt auch, außerdem hat diese Frau zwei Kinder geboren“, sagte Lienert.
„Woran ist sie gestorben?“, fragte Kathrin. „Wenn auch wegen der nicht mehr vorhandenen Haut im Kehlkopfbereich keine Würgemale zu sehen sind, ist es doch ziemlich wahrscheinlich, dass sie erwürgt wurde. Zungenbein und Kehlkopf sind gebrochen.“
„Irgendwelche Spuren vom Täter?“
„Ausgeschlossen. Ihre Hände sind sehr verbrannt, Spermaspuren nicht mehr nachweisbar, falls es sich um ein Sexualverbrechen handeln sollte. Also wenn du mich fragst, dann ist dieser Fall wieder mal eine harte Nuss.“
„Eduard, hast du die komischen Befunde an den Schienbeinen erwähnt?“, rief Greta Huhn aus dem Nachbarraum. „Ach ja, das ist in der Tat eigenartig. An beiden Schienbeinen haben wir auf gleicher Höhe Haarrisse in den Knochen festgestellt. So, als wäre stumpfe Gewalt auf die Beine ausgeübt worden. Aber nicht mit allzu großer Kraft. Es könnte sein, dass sie mit niedriger Geschwindigkeit angefahren worden ist.“
„Das ist möglich. Ich lasse mal von Peter Schmieder untersuchen, welche Fahrzeugtypen da in Frage kommen“, sagte Kathrin.
Die DNA-Analyse räumte dann jeden Zweifel hinsichtlich der Identität der Frauenleiche aus. Es war Eva Zimmermann, 32 Jahre alt, vermisst seit dem 9. September, 14 Uhr 10. Der Besuch bei ihrem Mann war schrecklich. Natürlich hatten Deike und Senf sich die unangenehme Aufgabe abgewimmelt. Kathrin hatte gleich den Polizeiseelsorger Friedrich Schlothammer mitgenommen.
Sie schätzte ihn sehr. Er war uneitel, hörte sehr genau zu und bekam auf diese Weise schnell mit, wie er Trost spenden konnte. Über 20 Jahre lang hatte Schlothammer eine Gemeinde in einem kleinen Dorf in der Nähe ihrer Stadt geleitet. Die Veranstaltungen, die er in der bescheidenen, weiß getünchten Kirche organisierte, zogen auch viele Besucher aus der Stadt an. Fast die ganze Dorfjugend stand hinter ihm. Für die Großen organisierte er Rockfestivals mitten auf dem Acker, für die Kleinen Fußballmatches, und die Mädchen kochten mit seiner Frau in der Küche des geräumigen Pfarrhauses Soljanka für die tapferen Fußballhelden. Vier Kinder hatten er und seine Frau. Eines Tages, die drei Großen waren schon aus dem Haus, trennten sie sich. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Schlothammers Frau gab vor Jahren ihren eigenen Beruf als Biologin auf, um ein typisches Pfarrfrauenleben ganz im Dienste ihres Mannes, der Kinder und der Gemeinde zu führen. Schlothammer hielt es nicht mehr aus mit seiner viel zu liebevollen Gattin, die alles für ihn tat, und den Menschen in seinem Dorf, die ihn verehrten. Als das Angebot kam, Polizeiseelsorger zu werden, sagte er zu. Ein harter Job, er hatte kaum noch Zeit für sich. Ein Unfall mit Todesfolge, ein Verzweifelter, der sich das Leben nehmen will, Mobbing unter Polizisten, Demonstrationen von Rechtsradikalen, gefährliche Einsätze der Polizei – in allen Extremsituationen war er gefordert. „Manchmal“, so hatte er es mal zu Kathrin gesagt: „Manchmal weiß ich nicht mehr, woher ich meine Kraft nehmen soll. Aber das Gute an dieser Arbeit ist, dass ich mit meiner Haltung zu Gott jeden Tag neu auf den Prüfstand gestellt werde.“
Kathrin mochte solche innerlich unzufriedenen Menschen, die immer auf der Suche waren. Sie war ein wenig platonisch verliebt in Friedrich Schlothammer gewesen, solange jedenfalls, bis ihr Michael begegnet war.
Nachdem sie Paul Zimmermann die Nachricht überbracht hatten, ließ sie ihn mit Schlothammer allein. Am nächsten Tag würde sie versuchen, ihm Fragen zu stellen.
*
„Eva Zimmermann hat also am 9. September kurz nach 14 Uhr ihre Arbeitsstelle im Krankenhaus verlassen und wie üblich den Weg über die Schienen und den Feldweg genommen. Das hat ihre Kollegin noch aus dem Fenster gesehen. Im Kindergarten ist sie aber nie angekommen“, rekonstruierte Kathrin. „So schlau waren wir schon vorher“, motzte Deike. „Weiter!“
„Jetzt haben wir wenigstens Gewissheit, wenn auch die traurige, dass sie ermordet wurde und ihre Familie nicht wegen eines Liebhabers verlassen hat“, konterte Kathrin, etwas giftiger als nötig. „Sie muss ihrem Mörder auf diesem Feldweg begegnet sein. Er hat sie erwürgt und versucht zu verbrennen, was nicht vollständig gelang. Spuren einer Vergewaltigung lassen sich nicht mehr feststellen. Dafür Haarrisse in den Schienbeinknochen, bei beiden Beinen auf gleicher Höhe. Professor Lienert mutmaßt, dass sie möglicherweise mit niedriger Geschwindigkeit angefahren wurde.“
Senf sprang aufgeregt von seinem Stuhl auf und stieß sich dabei das Knie an der Tischplatte, was ihn aber nicht zu stören schien: „Erinnert ihr euch noch an die Zeugenaussage des Zugführers nach der Vermisstenanzeige? Als wir versuchten, den Heimweg von Eva Zimmermann zu rekonstruieren, haben wir auch den Fahrer des Personenzuges befragt, der um 14.20 Uhr an der Stelle vorüber fuhr, an der die Krankenschwester sonst immer die Gleise überquert. Ihm war ein roter Kleinwagen, wahrscheinlich ein Golf II, aufgefallen. Das Auto auf dem Feldweg war ihm merkwürdig vorgekommen. Wir haben seine Zeugenaussage damals zu den Akten gelegt, weil es keinen hinreichenden Verdacht gab, dass dieses Auto etwas mit dem Verschwinden der Zimmermann zu tun haben könnte. Jetzt erscheint diese Aussage aber in einem ganz anderen Licht. Wir sollten Lienert fragen, ob diese Haarrisse an den Knochen der Toten vom leichten Aufprall eines Golf II stammen könnten.“
„Vielleicht ist das eine Spur“, stimmte Deike ihm zu. „Folgende Schritte: Die Pressestelle soll eine Nachricht zum Auffinden der toten Krankenschwester herausgeben. Gleichzeitig fragen wir, wer in diesem Zusammenhang Auskünfte zu dem roten Golf auf dem Feldweg geben kann. Kathrin geht dann allen eingehenden Hinweisen nach. Schmieder prüft die Halter aller entsprechenden Fahrzeuge. Senf und ich befragen noch einmal die Kollegen und Freunde des Opfers. Vielleicht ist ja ein Fahrer eines roten Golf II darunter.“
Dienstag, 11. Oktober
„Krankenschwester tot im Brunnen – Sexmörder zündete sie an“. Das Frühstücksbrot blieb ihm im Hals stecken, als er die Zeitung aufschlug. Das Foto der Frau, die er unbedingt vergessen wollte, unter den zentimetergroßen Buchstaben, die ihn ein Sexmonster nannten. Ihn, der mit 33 Jahren noch Jungfrau war. Sexmonster. Sein Kollege Uwe war eins. Jeden Tag schleppte der ’ne andere ab. Erzählte immer genau, wie es war und lachte ihn nur aus.
„Krankenschwester Eva Zimmermann“, las er weiter. „Nie in ihrem Leben hatte sie jemandem etwas getan. Ihr Job im Klinikum füllte sie aus. Die zarte, dunkelblonde Eva – für Ärzte, Pfleger, Patienten war sie ein Engel. Nie war ihr die schwere Arbeit zu viel. Dann der Spätsommertag im September: Ihre zwei Söhne und ihr Mann warten vergebens auf sie.“
Zwei Kinder hatte sie! Verdammt, dachte er. Das hatte er nicht gewusst. Doch was hätte es geändert? Sie hat sich so gewehrt und geschrien, als er ihr Gesicht streichelte und ihre Brust wie zufällig umfasste, als er ihr ins Auto half. „Du Schwein“, hat sie gebrüllt. „Lass mich los, du Schwein.“ Dabei war er doch kein Schwein. Er doch nicht. Lieb wollte er sein. Ihre Haut berühren, den weichen Körper spüren, an den Haaren riechen. Mehr nicht. Sie war so schön, so warm.