Das Schweigen der Puppen - Simon Bartsch - E-Book

Das Schweigen der Puppen E-Book

Simon Bartsch

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Beschreibung

Wunderbare Pasta, gemütlicher Kerzenschein, romantische Musik – er hat alles für das perfekte Candle-Light-Dinner vorbereitet. Wie schade, dass seine Angebetete dafür so gar nichts übrig hat. Wie soll sie auch. Kristina Kuhn ist tot. Kriminalhauptkommissar Philipp Jansen steht vor seinem bis dato schwersten Fall. Die Studentin ist nicht nur grausam ermordet worden, sie sitzt geschminkt wie eine Puppe am Esstisch. Natürlich hat es Jansen mit einem Psychopathen zu tun. Mit einem Psychopathen und Serienkiller. Denn weitere geschminkte Leichen lassen nicht lange auf sich warten. Der Täter drapiert seine stillen Zeugen. Ein schauriges Bild. Und ein Wettkampf mit der Zeit. Denn die Boulevardpresse ist längst auf die Serie angesprungen: der Puppenspieler treibt sein Unwesen. Auch die Kölner Ermittlerin Iris Lottner hat es mit einer Leiche zu tun. Eine ältere Dame ist erschlagen worden. Gibt es eine Verbindung? Vermutlich schon. Sie ist zwar ungeschminkt, doch die Tat geschah weiteren zahlreichen Zeugen. Stillen Zeugen. Denn Puppen können nicht reden - sie sind schon tot.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Simon Bartsch

Das Schweigen der Puppen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Danksagung

Der Richter

Impressum neobooks

1

Das brandneue Smartphone vibriert auf dem blank polierten Wohnzimmertisch. Jenem Möbelstück, das zugleich als Ess- und Schreibtisch, dann und wann aber wiederum nur als Ablage dient. Das Handy summt zwischen Ordnern, Lehrbüchern und viel zu viel bekritzeltem Papier. Ein brummendes, nerviges Geräusch, das ausgerechnet den James-Blunt-Song übertönt. Doch zurzeit nervt Kristina so gut wie alles, was aus dem kleinen Gerät kommt. Ausgerechnet ihrem Smartphone, das sie sonst nicht einmal für drei Minuten aus der Hand legen kann. Sie wirft einen flüchtigen Blick in Richtung Tisch. Julian. Bestimmt wieder Julian. Die gefühlt tausendste Nachricht von ihm. Kristina lässt das Smartphone links liegen und widmet sich wieder ihrem Gesicht. Lidschatten, ein wenig Rouge. Sie blickt in den Spiegel, der auf dem Schminktisch im Flur steht, ein Erbstück ihrer Großmutter. Das vergangene Jahr mit ihrem Freund, nein, jetzt ihrem Ex-Freund, hat Spuren hinterlassen. Tiefe Spuren. Nicht nur die Falten in ihrem Gesicht. Eifersucht, verbale, aber auch physische Gewalt, dazu seine unfassbaren Psychospielchen. Über den Schaden ihrer Seele will sie gar nicht nachdenken. Nein, sie hat die richtige Entscheidung getroffen. Auch, wenn es noch immer wehtut. Verdammt weh. Falten. Sie lacht. Galgenhumor. Falten mit gerade einmal 25 Jahren. Kristina steht auf und betrachtet das Gesamtkunstwerk. Ganz passabel, denkt sie sich. Zumindest für den heutigen Abend wird es reichen. Der Liebeskummer hat ihr immerhin geholfen, ein paar Kilo zu verlieren. Ganz offensichtlich an den richtigen Stellen, denkt sie stolz und schaut auf ihr üppiges Dekolleté.

Sie greift nach dem Smartphone, hat Schmetterlinge im Bauch. Angst vor der Nachricht, Furcht vor der nächsten Schimpftirade, genauso aber vor dem nächsten Liebesschwur. Zunächst sieht sie die Uhr. Sie ist viel zu früh dran. Dann entsperrt Kristina den Bildschirmschoner, wechselt in das Chat-Menü. Die Nachricht kommt von Elena. Zum Glück. Doch der Inhalt verärgert sie trotzdem. „Julian will kommen“, steht dort simpel, in ganzen drei Wörtern. Sie verspürt wieder das flaue Gefühl im Magen, vielleicht sogar ein wenig Übelkeit. Wütend wählt sie die Nummer ihrer Freundin, ihrer Freundin und seiner Schwester.

„Elena, was soll das?“, raunzt sie wütend in das Smartphone, nachdem Elena das Gespräch angenommen hat. „Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.“

„Ich habe ihn nicht darum gebeten“, zickt Elena zurück. In der jüngsten Vergangenheit reagieren ihre Freundinnen zunehmend genervt auf das sensible Thema Julian. Vermutlich können sie dieselben Fragen, dieselben Floskeln einfach nicht mehr hören. „Soll ich ihn nicht doch anrufen?“, „Vielleicht kann er sich noch mal ändern.“, „Es war ja nicht alles schlimm.“ Wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, war es schlimm. Sehr schlimm. Kristina schleicht die wenigen Schritte zum Fenster.

„Aber du hast es auch nicht verhindert“, sagt sie trotzig.

„Mein Gott, Kristina“, schimpft Elena. „Komm mal runter. Wir leben in einem freien Land. Wie soll ich Julian denn verbieten, in eine Kneipe zu gehen?“ Natürlich hat sie recht.

„Du bist meine Freundin“, antwortet Kristina, wohl wissend, dass das keine Erklärung ist. „Er hat mit Richard überhaupt nichts zu tun, er kennt ihn nur durch mich. Ich verstehe nicht, was das soll.“ Kristina klingt nicht mehr so aufgebracht, ist aber dennoch rasend vor Wut. Doch ihr Zorn richtet sich nicht mehr gegen Elena.

Eine plötzliche Bewegung lässt sie stocken. Ein dunkler Schatten bewegt sich behutsam zwischen den Bäumen. Für ein Tier zu groß und seltsam langsam. Wieder überkommt sie das ungute Gefühl, das sie bereits in den vergangenen Tagen begleitet hat. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie stellt sich näher an das Fenster, doch in der Dunkelheit ist der Schatten nicht mehr zu sehen. Kristina hasst den Herbst. Sie hasst die Dunkelheit, die Kälte, das Alleinsein. Aber in gewisser Einsamkeit wird sie nun überwintern müssen. Vielleicht fährt sie weg. In die Sonne. Über Weihnachten, Neujahr. Vielleicht nochmal in die USA, wie im Sommer. Mit Julian. Verdammt.

„Ich weiß“, flüstert Elena. „Aber was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragt sie fast schon verzweifelt. Wieder meint Kristina, den Schatten zu sehen. Handelt es sich um die Konturen eines Menschen? Doch bei Licht in die Dunkelheit blicken, ist nicht wirklich zielführend. Der Schatten kann alles sein. Und doch verspürt sie diesen Anflug von Angst. Schon wieder.

„Nichts“, sagt Kristina abgelenkt. Da draußen ist irgendetwas. Sie beendet das Gespräch und schleicht zum Schminktisch. Sie spürt ihren Herzschlag. Sie schaltet das Licht aus und geht zurück zum Fenster. Kristina legt die Stirn gegen das Glas, hält die Hand über die Augen, um das Spiegelbild der Badezimmerbeleuchtung auszublenden, und blickt hinaus. Ihr Atem zeichnet sich auf der Scheibe ab. Sie schaut in den Garten, sieht die Bäume, den kleinen Steinweg, der zum Gartenhäuschen der Vermieter führt. Ein paar Lichter. Dahinter befinden sich zwei weitere große Bäume. Auch die kann Kristina jetzt erkennen. Dazwischen ein Schatten. Es könnte sich genauso gut um einen Strauch handeln. Oder doch nicht? Er bewegt sich. Vielleicht der Wind, den sie in den Nachrichten angekündigt haben. Ihr Handy vibriert. Kurz. Sie schreckt zusammen. Wenn sie sich nicht so sicher wäre, dass die Vermieter verreist wären, wäre die Situation nicht so unheimlich. Und wenn da nicht die geöffnete Schranktür am Nachmittag, der laufende Wasserhahn gestern Abend und der kalte Zug in ihrem kleinen Schlafzimmer am Morgen gewesen wären. Für einen Moment ist sich Kristina sicher, Julian zu sehen. Kann das wirklich sein? Stalkt ihr Ex-Freund sie jetzt auch noch? Zuzutrauen ist es ihm. Sie entsperrt ihr Smartphone, stellt fest, dass sie nun doch spät dran ist. Sie öffnet die weitere Kurznachricht. Erneut Elena. „Er überlegt es sich“, schreibt sie. Kristina sendet ein küssendes Emoji zurück und sperrt das Display. Sie nimmt die Winterjacke von dem Haken im Flur, streift sie über und greift nach ihrer Tasche. Sie passt perfekt zu dem blauen Kleid, nur die Jacke stört ihr Outfit. Sie öffnet die Wohnungstür, hält dann aber noch einmal inne. Sie schleicht zurück zu der kleinen weißen Kommode, die im Flur steht und wird in der zweiten Schublade fündig. Das Pfefferspray. Wer weiß, denkt sie sich und verlässt die Wohnung.

Im Treppenhaus ist es frisch. Kristina zieht den Reißverschluss bis unters Kinn. Sie steigt die Treppe hinab und sieht den Grund für die Kälte. Die Haustür steht einen Spalt weit offen. Wieder überkommt sie ein Gefühl der Angst. Die Vermieter sind im Urlaub, sie hat den Schlüssel, um nach dem Rechten zu sehen. Wer soll die Tür sonst geöffnet haben? Oder hat noch ein Nachbar einen Schlüssel? Vielleicht die alte Dame mit den Katzen von nebenan. Nein, bestimmt nicht. Die Bauchschmerzen nehmen zu. Das sind zu viele „Vorfälle“ in den vergangenen Tagen. Irgendetwas geht hier vor sich. Vielleicht sollte sie die Nacht lieber bei Elena verbringen? Kristina spürt die Anspannung, sie ballt die Fäuste, beißt die Zähne fest aufeinander. Das Atmen fällt ihr schwer und das Blut pocht in ihrer Stirn. Sie schiebt sich durch die Tür. Ihr Atem verwandelt sich an der frischen Luft in feine Dampfwolken. Die Kälte durchdringt ihre Jacke. Für Oktober ist es am Abend doch schon sehr frostig. Sie wird sich nicht nur auf einen einsamen, sondern auf einen besonders kalten Winter einstellen müssen. Kristina läuft die Hauptstraße entlang und fühlt sich im Laternenlicht sicher. Ein Trugschluss. Denn er ist ihr schon längst auf den Fersen.

2

Die Kneipe befindet sich nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Das Licht der Laternen und Reklame spiegelt sich in vereinzelten Pfützen wider. Das Leuchten der Großstadt, obwohl es hier einigermaßen ländlich ist. Es regnet nicht mehr, doch der Nachmittag war nass. Auf dem Asphalt hallen die Stöckel ihrer blauen Schuhe. In regelmäßigen Abständen ist eine kleine Dampfwolke über ihrem Kopf zu sehen. Über dem hellblonden Haar, das sie so wunderschön offen trägt. Die Straße ist auf der linken Seite von Häusern und Geschäften gesäumt. Rechts reihen sich Bäume auf, dahinter liegt eine Grünfläche. Das Parfüm ist süßlich, aber nicht zu aufdringlich. Irgendwie angenehm, vielleicht sogar stimulierend. Sie geht nicht sonderlich schnell, aber so, als müsse sie Zeit aufholen. Die Fingernägel sind lackiert. Dunkel. Vielleicht blau. Die Finger lang. Er stellt sich vor, wie sie ganz langsam über sein Gesicht streichen, über die Brust, über seinen Penis. Die Vorstellung macht ihn an, schreckt ihn zugleich aber auch ab. Behutsam folgt er ihr, nicht auffällig. Sie ist fünf Meter entfernt, vielleicht sechs, und dennoch versucht er, ihr Parfum einzuatmen. Er leckt sich über die Lippen, will es schmecken. Eigentlich will er sie schmecken. Er stößt versehentlich einen Grunzlaut aus. Sie dreht sich um, sieht ihn. Sein Herz bleibt stehen. Für diesen kurzen Augenblick spürt er diese unfassbare Angst. Doch sie wird von seinem Zorn übermannt.

„Julian?“, fragt sie. „Bist du das?“ Ihre Augen funkeln wütend. Sie sind so wunderschön. Doch sie hat den Kopf bereits wieder weggedreht. „Du dummer Idiot“, flucht sie. Und das verletzt ihn. Sie kennt ihn doch gar nicht. Zumindest nicht so, wie er sie kennt. Das Mädchen beschleunigt seinen Gang. Ein wenig. Aber ausreichend, um ihm ihre Angst zu signalisieren. Ihre rechte Hand wandert in ihre kleine Tasche. Möglicherweise hat sie eine Waffe dabei. Vielleicht ein Messer oder sogar eine Pistole. Vielleicht sucht sie aber auch nur ihr Smartphone, will Hilfe holen. Also ändert er seinen Plan. Er biegt in eine kleine Seitenstraße ab. Erleichtert hört er ihre Schritte. Vermutlich wird sie genauso erleichtert sein. Er zählt innerlich bis 20, dann kehrt er zurück auf die Hauptstraße. Ein Auto fährt vorbei. Er dreht den Kopf zur Seite, als die Scheinwerfer ihn anstrahlen. Er will nicht gesehen werden. Das Mädchen hat ihren Vorsprung vergrößert. Immer wieder stellt er sich in einen Hauseingang oder hinter eine Hecke, falls sie sich doch nochmal umdreht. Als er gerade seine Deckung hinter einer Mülltonne aufgibt, sieht er, wie sie die Tür zu einer Kneipe öffnet. Sie blickt sich um, kann ihn aber vermutlich auf diese Distanz nicht erkennen. Er wechselt die Straßenseite, sucht Schutz hinter einem Baum, lehnt sich an ihn und beobachtet durch das große Fenster, wie sie die Kneipe betritt. Er sieht, wie sie ihre Jacke auszieht, ein anderes Mädchen umarmt und sich dann lachend mit einem weiteren unterhält. Es ist die graue Jacke, in der er sich auf ihr Bett gelegt hat. Er hat den Mantel zugezogen, damit ihm schnell ganz warm wird. Das Bett hat nach diesem angenehmen Waschpulver gerochen. Ein Geruch, den er von seinem Bett nicht kennt. Das Bett, in dem er lag, als sie nur wenige Meter von ihm entfernt ein Bad genommen hat. Er hat es genossen, ihre Anwesenheit zu spüren. Sie zu hören, als sie dieses Lied gesungen hat. Nun steht sie inmitten ihrer Freundinnen. Die Angst ist, genau wie er, einfach vor dem Lokal geblieben. Nur, dass diese nicht hinter einem Baum lauert. Sie wird zurückkehren, wenn sie seine Anwesenheit spürt. Wenn sie im Augenwinkel eine schnelle Bewegung oder einen Schatten sieht. Wenn sie merkt, dass der Wasserhahn läuft oder die Tür offensteht. Er ist auf diese Handlungen sicher nicht stolz. Wieso auch? Er hat mal gelesen, dass Ängste Sinne schärfen. Insofern ist sie für ihn kontraproduktiv. Auf der anderen Seite befriedigt ihn das Gefühl, ihre Angst zu spüren. Macht.

Die Tür der Gaststätte öffnet sich, und ein Pärchen kommt heraus. Er ist sportlich gekleidet, vielleicht ein wenig zu dünn für diese Jahreszeit. Den linken Arm hat der Kerl über ihre Schulter gelegt. Sie trägt einen viel zu kurzen Rock. Sie ist wahrlich nicht sein Typ. In erster Linie ist sie einfach zu alt für ihn. Und dann noch die dunklen Haare. Die beiden wechseln ebenfalls die Straßenseite, laufen direkt auf ihn zu. Doch sehen können sie ihn nicht. Sie lachen, kichern, glucksen. Ein nerviges Getue. Als sie weg sind, schaut er wieder durch das Kneipenfenster. Mittlerweile hat sie sich hingesetzt, an einen Tisch, der ein wenig weiter entfernt steht. Er schaut sich nach einer besseren Position um, entscheidet sich dann aber, zu bleiben. Der Gedanke an ihr Bett, ihre Badewanne hat die Lust in ihm geweckt. Soll er ihre Wanne nutzen? Ja, mit ihrem Badeöl.

Er verlässt sein Versteck, schlendert mitten über die Straße. Er pfeift ein Lied, versucht, die Melodie ihrer Gesänge zu imitieren, kann sich aber nicht mehr gut genug daran erinnern. Egal. Er erreicht das winzige Haus nach wenigen Minuten. Das kleine Steinchen in der Tür, das er bereits am Nachmittag dort platziert hat, erfüllt seine Aufgabe. Die Tür ist nicht komplett zugefallen. Unglaublich, dass sie das nicht überprüft. Nicht unglaublich, eher leichtsinnig. Er schleicht durch das Treppenhaus, obwohl er genau weiß, dass niemand da ist. Im Flur riecht es muffig. Das ist ihm in den vergangenen Tagen schon aufgefallen. Doch es stört ihn nicht. Bei ihm zu Hause ist es doch auch nicht besser. In dem kleinen Holz-Häuschen, das dekorativ in dem Blumenkübel vor der Wohnungstür steht, befindet sich der Ersatzschlüssel. Der Schlüssel, den sie benutzt, wenn sie Joggen geht. Das hat er schon so oft beobachtet. Er nimmt ihn und öffnet die Tür, dann legt er ihn zurück. Er schaltet das Licht ein, denn er weiß genau, dass es niemanden stören wird. Er schaut sich die Mäntel an, streicht darüber, riecht an ihnen. Er öffnet seine Jacke. Dann setzt er sich an den kleinen Schminktisch. Dort sitzt sie so gerne. Er blickt in die schmale Küche. Von hier kann er sie genau beobachten, ohne dass er im Spiegel sichtbar wäre. Er lacht. Er ist ein Schatten, ein dunkler Schatten. Und das Gefühl gefällt ihm. Er ist sicher, wenn er unsichtbar ist. In der Gegenwart anderer fühlt er sich dagegen so unsicher. Er berührt den kleinen Pinsel, den Bleistift. Im Papierkorb liegt ein Taschentuch. Doch so sehr es ihn reizt, er lässt es liegen. Dann steht er wieder auf und schlendert in das Badezimmer. Er zieht sich die Hose herunter und setzt sich auf die Toilette. Hier hat sie vor wenigen Minuten noch gesessen - und das stimuliert ihn. Nachdem er fertig ist, steht er auf und zieht ab. Er betätigt die Spülung und wäscht sich die Hände. Irgendetwas an diesem scheiß Hahn klemmt. Auch dieses Mal bekommt er ihn nicht vollständig zugedreht. Sei es drum. Sie wird das schon übernehmen. Er sieht ihre Zahnbürste, nimmt sie in die Hand, beobachtet sie und steckt sie dann in den Mund. Sie schmeckt noch nach ein wenig Zahnpasta. Dann stellt er sie zurück in das kleine Glas. Er zieht sich aus und setzt sich in die leere Badewanne. Er lässt das Wasser einlaufen. Warmes Wasser. Er genießt das Gefühl, wie ihn langsam die Wärme übermannt. Er nimmt ihr Badeöl und lässt es in das Wasser laufen. Dann streichelt er sich über die eigene Haut und stellt sich vor, dass es ihre ist. Er döst ein wenig vor sich hin. Nach einigen Minuten verlässt er gestärkt das Badezimmer und betritt den Schlafraum. Das Bett ist gemacht und lädt geradezu ein, sich hinzulegen, einzukuscheln, ihren Duft einzuatmen. Doch die Gefahr, einzuschlafen, ist nach dem Bad zu groß. Er öffnet den kleinen Schrank, schaut sich ihre Kleider an. Er würde sie so gerne in dem roten Stoff sehen. Dazu ist es leider nicht gekommen. Doch dazu wird es kommen. Er nimmt das Kleid aus dem Schrank und legt es schon mal auf das Bett. Das wird sie nicht mehr stören, denkt er sich. Er streicht es glatt, damit es keine Falten wirft. Dann sucht er die passenden Schuhe dazu. Sie befinden sich in einem kleinen Schrank, in dem das Mädchen auch die blauen Schuhe gefunden hat. Doch damit ist er noch nicht fertig. Er öffnet eine andere Kommode und sucht sich die Unterwäsche aus. Dunkel, Spitze. So schön. Er riecht an der Unterwäsche. Dasselbe Waschmittel. Er lächelt, spürt die Erregung. Er legt Slip und BH neben das Kleid. Ein Klingeln lässt ihn zusammenschrecken. Reflexartig geht er in Deckung. Und kommt sich direkt doof vor, denn von da unten kann man sicherlich nicht hier hochblicken. Er verlässt das Schlafzimmer, schleicht vorsichtig in den Flur. Wieder klingelt es. Scheiße. Er legt sein Ohr an die Tür. Was, wenn der Besucher auch einen Schlüssel hat? Doch er hört nichts. Gar nichts. Er atmet tief durch, spürt seinen Puls. Er setzt sich auf die Couch und wartet noch ein paar Minuten. Der Besucher ist offensichtlich abgezogen. Das wird er nun auch wieder tun. Er zieht den Reißverschluss seiner Jacke wieder zu, schaltet überall das Licht aus und verlässt die Wohnung. Die Tür ist mittlerweile verschlossen. Offenbar hat der Besucher den Stein entfernt. Macht nichts, denkt er sich.

Er schlendert pfeifend zurück zu der urigen Kneipe. Dieses Mal sucht er sich ein anderes Versteck. Eins, das sich näher an dem Fenster befindet. Eins, durch das er einen besseren Blick auf das Mädchen hat. Doch das Bild, das er sieht, gefällt ihm gar nicht. Das Mädchen unterhält sich mit einem Mann. Energisch. Sie ist nicht glücklich. Beide stehen, er wirkt besonders aufgeregt. Das Gespräch ist angespannt, so wie ihre Körperhaltung. Sie wird wütend. Der Mann redet auf sie ein. Er kommt ihm bekannt vor. Mit seiner komischen Brille, seinem viel zu engen Pullover, seiner selten dämlichen Frisur. Er hat ihn vor ihrem Haus gesehen. Schon mehrfach. Auch auf den Fotos, die sich in ihrer Kommode im Schlafzimmer befinden. Sie wirkt aufgebracht, ihr Gesicht erscheint gerötet, aber das mag vielleicht auch das Licht sein. Ihre Arme wirbeln durch die Gegend. Der Typ lächelt. Aber nicht freundlich, eher böse. Dann redet er wieder. Sie stellt ihr Getränk mit einer so schnellen Bewegung auf den Tisch, dass er Angst hat, das Glas würde in ihrer zarten Hand zerbrechen. Dann schmeißt sie sich ihre Jacke über. Eine Freundin hält sie zurück und redet nun auch auf den Typen ein. Ähnlich energisch. Sie ist klein, dunkelhaarig. Hübsch. Aber nicht so hübsch wie Kristina, so heißt sie. Das weiß er von der Post, die auf der kleinen Kommode gelegen hat. Ihm ist kalt. Er zittert sogar. Kristina lässt sich offensichtlich von ihrer Freundin überzeugen, zu bleiben. Sie zieht die Jacke wieder aus, dafür der Kerl seine an. Wütend verlässt er das Lokal. Er blickt sogar in seine Richtung. Als er die kleine Treppe hinuntersteigt, sieht ihn aber hinter der Mülltonne nicht. Er murmelt etwas, vielleicht schimpft er auch. Dann verschwindet er zwischen den Bäumen. Auch im Lokal legt sich der Zorn offenbar nicht. Sie diskutiert mit ihrer Freundin. Nun zieht sie doch ihre Jacke an und geht ebenfalls Richtung Tür. Er spürt die Anspannung in sich aufsteigen, eine besondere Aufregung. Vermutlich sind das die Schmetterlinge im Bauch, von denen er gehört hat. Sie verlässt die Kneipe. Ihr Gesicht ist tatsächlich rot. Vielleicht vor Zorn, vielleicht aber auch von der Wärme, die sicherlich in der Gaststätte herrscht. Nein, der Gesichtsausdruck ist eindeutig. Ihre Stöckelschuhe knallen auf den Boden. Sie geht wesentlich schneller als noch auf dem Hinweg, es hört sich an wie ein leises Maschinengewehr. Tack, tack, tack. Er folgt ihr erneut in sicherem Abstand. Dieses Mal aber verdeckt hinter den Bäumen. Sie ist bereits aufgebracht, vielleicht sensibler. Die Aufregung lässt ihn die Kälte vergessen. Sie steuert auf das Haus zu, bleibt vor der Tür stehen. Sie greift nach ihrer Tasche, sucht hektisch. Er lauert hinter der Hecke, nur wenige Meter entfernt. Sie sucht, wühlt, flucht. Als sie den Schlüssel gefunden hat, tritt er aus dem Schatten. Sie drückt gegen den Griff. Mit schnellen, leisen Schritten nähert er sich. Sie sieht den Schatten, dreht sich um. Doch da ist es schon zu spät.

3

Die Wohnung liegt im ersten Stock. Sie ist hell, warm, aber vor allem großzügig geschnitten. Für seine Lebensumstände vielleicht ein wenig zu groß. Er sitzt auf der Couch und starrt auf sein Smartphone. Auf dem Flachbildschirm an der Wand läuft ein Fußballspiel, das ihn eigentlich interessieren würde. Doch im Moment gibt es für Philipp Jansen nur sein Handy. Dabei tut sich gerade erschreckend wenig. Es liegt still auf dem Tisch, das Display dunkel. Da ist sie wieder, diese innere Anspannung, er kann nicht ruhig sitzen. Jansen steht auf, nimmt das Smartphone in die Hand, damit er auch ja nicht den Vibrationsalarm verpasst, und geht zum Fenster. Der Blick auf den Rhein stellt bei ihm seit jeher ein Heimatgefühl her. Seine Ex-Freundin hat ihn für die Verbundenheit zu seiner Herkunft für verrückt gehalten. Aber so sind die Rheinländer nun mal, und die „Immis“, wie die Nicht-Rheinländer liebevoll genannt werden, haben nicht immer Verständnis. Der Fluss funkelt in dem schwachen Licht der Laternen, die das Rheinufer beleuchten. Beuel ist die schönere Seite der Stadt, denkt er sich immer, weiß aber, dass man es linksrheinisch genauso behauptet. Menschen flanieren den schmalen Weg entlang. Er spielt mit dem Gedanken, sich einen Hund anzuschaffen. Vielleicht einen Labrador oder einen Dalmatiner. Auf der anderen Seite weiß er aber, dass ein Haustier intensive Pflege benötigt. Und wenn er über ein kostbares Gut nicht verfügt, dann ist es Zeit. Na ja, eigentlich verfügt er über so gut wie kein kostbares Gut. Und genau da liegt auch sein Hauptproblem. Wieder der obligatorische Blick auf sein Smartphone. Noch immer nichts. Nervös schlendert er im Wohnzimmer auf und ab. Normalerweise hätte er sich um diese Uhrzeit schon längst etwas zu essen bestellt oder vom Italiener aus der Innenstadt mitgebracht. Doch heute ist nichts normal. Heute läuft das Ultimatum ab, und das bereitet ihm Kopfzerbrechen. Obwohl er damit gerechnet hat, schreckt er zusammen, als das Smartphone schließlich vibriert. Ungeduldig entsperrt er das Gerät und liest die Kurznachricht. „Heute Abend Döner?“, lauten die drei harmlosen Worte. Doch so harmlos sind sie gar nicht. Es geht los. „Keine Zeit, vielleicht ein andermal“, schreibt er zufrieden zurück. Sein V-Mann hat ihn nicht angelogen. Das ist gut. Denn nun ist er sich sicher, dass er ihm vertrauen kann. Jansen läuft in den Flur und zieht sich seine Jacke über. Er schnappt sich den Schlüssel von der Kommode und aus der Schublade mit dem Geschenkpapier seine Waffe. Er lässt die Tür ins Schloss fallen und rennt die Treppe herunter.

„So spät noch unterwegs?“, fragt Sabrina lächelnd, die gerade einen Kranz mit Nüssen und getrockneten Äpfeln an ihrer Wohnungstür im ersten Stock befestigt. Jansen mag Sabrina so gar nicht. Sie bringt eigentlich viel mit, was er an einer Frau schätzt. Sie ist hübsch, sportlich und vermutlich auch intelligent. Nur: Sie nervt ihn. Er kann noch nicht einmal sagen, was ihn nervt. Was auch immer es ist, es nervt ihn kolossal.

„Auf ein Bier mit den Jungs“, lügt Jansen.

„Viel Spaß“, ruft sie ihm nach, als er das Haus schon längst verlassen hat. Das Auto steht auf der anderen Straßenseite. Jansen ist kein großer Freund der Kälte. Doch jetzt, in diesem Moment, hat der Frost für ihn keine Bedeutung. Das Adrenalin hält ihn warm oder lässt ihn die Gegebenheiten der Umgebung einfach vergessen. Er setzt sich in den Q2 und startet den Motor. Dann fährt er los. Die Bonner Innenstadt ist zu dieser Tageszeit nur wenige Minuten entfernt. Die Laternen fliegen an ihm wie Sternschnuppen vorbei, als er über die Kennedybrücke den Rhein quert. Er fährt mitten durch die Stadt und befindet sich nach wenigen Minuten im Norden Bonns. Dort, wo es soziale Brennpunkte gibt. Er kennt die Brennpunkte. Natürlich. Das war sein Revier. Als Schüler hat er hier kleinere Elektrogeräte vertickt, später als Streifenpolizist seine eigenen Freunde verwarnt. Er kennt Vucko schon seit Kindesbeinen. Und wer Vucko kennt, der weiß, wie der Teil der Stadt tickt. Denn in diesem Gebiet gibt es nur wenig Judikative. Hier gilt an vielen Stellen das Gesetz der Gewalt. Nein, hier gilt Vuckos Gesetz.

Er parkt den Wagen vor einem dieser 70er Jahre Gebäudekomplexe, die in den besseren Gegenden Bonns schon längst abgerissen und durch moderne Luxuswohnungen ersetzt worden wären. Aus dem Handschuhfach nimmt er eine kleine Plastiktüte und packt sie in seine Jackentasche. Dann steigt er aus. Die Straßen sind durch die Laternen in ein leicht gelbes Licht gehüllt. Die Häuser bauen sich bedrohlich an den Straßenrändern auf. Einzig die beleuchteten Küchen oder Wohnzimmer, manche mit bunten Lichterketten verziert, spenden ein bisschen Wärme. Natürlich hat er ein wenig Angst. Das ist nicht sein Terrain. Und nur, weil er Vucko kennt, heißt das nicht, dass ein Bulle problemlos durch die Stadt laufen kann.

Er zündet sich eine Zigarette an. Ein Laster, das er schon seit Kindheit hat und schon tausendmal aufgeben wollte. Er biegt in eine kleine Gasse ein. Die Dunkelheit bietet ihm Schutz und macht ihm Angst zugleich. „Angst essen Seele auf“, würde seine Mutter jetzt sagen. Und Angst kann Jansen nun am wenigsten gebrauchen. Sein Handy vibriert. Er zieht es aus der Tasche. Daniel, einer seiner ältesten Freunde. No way. Er hat gerade andere Sorgen. Er läuft an einem weiteren Hochhaus vorbei. Eine Gruppe Jugendlicher lungert davor herum. Sie lachen, rauchen, vermutlich trinken sie auch etwas. Er geht schnurstracks weiter, vermeidet den Blickkontakt. Seine Strategie zur Stressunterbindung. Er ist schon knapp 100 Meter entfernt, als ihn offenbar doch einer der Kerle sieht.

„Hey Lady“, ruft der Typ. Jansen reagiert nicht, ignoriert den Jungen. Er schreitet fokussiert weiter voran. Doch er weiß, dass er nun Freiwild ist. „Lady, ich rede mit dir“, schreit der Kerl. Eine Glasflasche zerschellt auf dem Boden. Nur wenige Meter von Jansen entfernt. Ihm ist klar, dass er am besten rennen sollte. Doch gegen vier Jugendliche wird er vermutlich keine Chance haben. Er hat ohnehin schon eine Minute zu lange nachgedacht. Die nächste Glasflasche fliegt. Ganz langsam dreht er sich um. Die vier Jungs sind nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Jetzt sieht er ihre Gesichter. Einer ist schwarz, zwei könnten arabischer Abstammung sein, einer europäisch. Jansen schmunzelt. Wenn die Integration, das Miteinander doch überall so gut funktionieren würde. Dann stehen die Halbstarken direkt vor ihm. Vermutlich haben sie die 16 noch nicht erreicht. „Bist du taub, Mann?“, fragt der Schwarze.

„Was läufst du hier rum?“, will ein anderer wissen. Jansen taxiert die Kerle, sucht die Schwachstelle, findet keine.

„Ich habe keine Zeit für Kinderspielchen“, sagt er schließlich.

„Kinderspielchen?“, wiederholt einer der Jungs und schubst Jansen mit einem heftigen Schlag vor die Brust. Der Polizist lächelt müde. Dann zieht er seine Waffe hervor und hält sie dem Europäer an die Stirn. Er ist der Kräftigste, Jansen hat ihn als den Anführer ausgemacht. Die Angst in den Augen der Jungs ist nicht zu übersehen.

„Kinderspielchen“, sagt Jansen sachlich. „Wenn ihr mich ficken wollt, ficke ich euch.“

„Weißt du, wer ich bin?“, sagt der vermeintliche Anführer.

„Nein“, antwortet Jansen. „Und offensichtlich weißt du auch nicht, wer ich bin.“ Er schaut sich die Kerle der Reihe nach an. „Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagt er schließlich. „Ich knalle eurem Capitano hier das Hirn aus dem Schädel. Dann könnt ihr mit der Kavallerie anrücken, aber euer Mann ist dennoch tot. Oder - und zu der Variante tendiere ich - wir gehen jetzt alle schön nach Hause mit Bauklötzen spielen.“ Die Jungs hadern mit sich. Natürlich können sie ihn hier plattmachen. Auf der Stelle. Das ist auch Jansen bewusst.

„Du bringst keinen um“, sagt der Anführer. „Du bist `ne Kartoffel.“

„Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?“, fragt Jansen mutiger, als er ist. „Also?“ Einer der Typen greift an die Tasche. Jansen spannt den Hahn. „Letzte Chance.“

„Ist ja gut, Mann“, sagt nun der Blonde. Die anderen drei hadern noch immer mit sich. Doch Jansen hat recht gehabt. Er hat den Anführer ausgesucht. „Los, lasst uns gehen.“

„Beim nächsten Mal ficke ich deine Mutter“, sagt der Kleinste der Gruppe und spuckt auf den Boden.

„Vielleicht übst du das erst mal an deinen Kuscheltieren“, erwidert Jansen und grinst über beide Ohren. Wieder spuckt einer der Jungs auf den Boden. Doch sie haben den Rückzug angetreten. Ganz langsam zieht einer von ihnen sein Smartphone aus der Tasche und macht ein Foto von Jansen. Na klasse, denkt er sich. Doch ändern kann er es jetzt ohnehin nicht mehr. Er hält die Waffe noch ein paar Sekunden in der Hand, dann macht er sich erneut auf den Weg. Allerdings deutlich schneller. Jansen ist klar, dass er nicht als Sieger aus diesem Wortgefecht hervorgegangen ist. Sie werden ihn suchen, und wenn er sich zu lange in diesen Gefilden aufhält, werden sie ihn auch finden. Und dann hat er ein ernstes Problem.

Der kleine Spielplatz befindet sich nur wenige Minuten fußläufig entfernt. Obwohl er eigentlich durchtrainiert ist, ist Jansen außer Atem, als er ihn schließlich erreicht. Außer Atem und nassgeschwitzt. Das feuchte T-Shirt klebt an seinem Rücken. Der Spielplatz ist dunkel und doch fällt es ihm nicht schwer, den Kerl auszumachen. Alle paar Sekunden leuchtet eine orangefarbene Stelle auf. Etwa da, wo sich die Wackelbrücke befindet. Jansen geht durch das kleine Tor. Je näher er der Brücke kommt, umso deutlicher sieht er die Konturen. Yassin ist deutlich kleiner, als er gedacht hat. Aber kompakt. Er trägt eine Trainingshose und eine Sportjacke. Dazu eine Kappe falsch herum. Jansen muss lächeln, als er das Hip-Bag über seiner Schulter sieht. So etwas war schon in den 90ern total peinlich, denkt er sich. Yassin kommt einen Schritt auf Jansen zu.

„Du bist der Deutsche?“, will er wissen.

„Ich bin der Deutsche“, antwortet Jansen. „Hast du das Zeug?“

„Natürlich“, antwortet er. „Gib mir die Kohle und du bekommst es.“ Yassin lächelt ihn an. Sein Gesicht ist überraschend weich, doch in seinen Augen liegt Kälte.

„Ich mache die Regeln“, sagt Yassin.

„Laber nicht und gib mir die Kohle“, faucht Jansen sein Gegenüber an. Er zieht die Plastiktüte aus der Tasche und reicht sie dem türkischen Mann. Der greift wiederum nach einem Papierumschlag und übergibt ihn an Jansen. Er nimmt den Umschlag und öffnet ihn. Genau in diesem Moment schlägt Yassin zu. Der kleine Mann rammt Jansen seinen Schädel unter das Kinn. Der Polizist ist so überrascht, dass er das Gleichgewicht verliert. Nur mit Mühe kann Jansen den Umschlag fest- und sich gleichzeitig auf den Beinen halten. Als er wieder sicheren Stand hat, ist der kleine Kerl schon abgehauen. „Fuck“, flucht Jansen. Er springt von der Brücke und läuft durch den Sand Richtung Tür. Er klettert über den kleinen Zaun, doch von Yassin fehlt bereits jede Spur.

4

Sie ist so wunderschön. Ihre Haut ist weich. Auf den Armen, aber auch auf dem Rücken und dem Bauch hat sie kleine, blonde Härchen. Er legt sein Kinn auf ihren nackten Körper und pustet ganz sachte. Die Haare bewegen sich nur minimal. Er genießt den Moment, kann sein Glück gar nicht fassen. Wer hätte gedacht, dass er mal so intim, so eng mit einer Frau sein würde. Und dann auch noch mit einer so hübschen Dame. Er streichelt ihr über den Nacken, die Wirbelsäule entlang. Hält aber am Po inne. Nein, das gehört sich nicht. Er lächelt sie an, kann verstehen, dass sie dieses Zeichen der Zuneigung nicht erwidert. Er kann verstehen, dass sie nicht besonders positiv auf seine Liebkosungen reagiert. Das ist schade, aber verständlich. Er streichelt über ihre Arme, ihre Beine - ganz vorsichtig mit dem Handrücken. Er würde sie so gerne küssen, doch bringt es nicht übers Herz. Noch nicht. Dann reißt er sich los. Er stellt sich neben das Bett und schaut sich die Unterwäsche an, das rote Kleid. Es kostet ihn Überwindung, denn sie ist für seine Handlung alles andere als empfänglich. Dennoch zieht er ihr die Wäsche an. Erst den Slip, dann den BH und schließlich das Kleid. Das Unterfangen strengt ihn schon an, aber mein Gott, er hat es sich genauso ausgesucht. Als er fertig ist, schaut er sich das Gesamtkunstwerk an. Er nickt zufrieden. Sie sieht gut aus, besser als zuvor. Natürlich. Dann verlässt er das Schlafzimmer. Er schleicht in den Flur, pfeift das Lied, das sie so gerne in der Badewanne gesungen hat – so gut er kann. Er würde sie gerne baden, mit ihr zusammen das Lied singen, doch so weit ist es noch nicht. Später. Er geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Sie wird staunen, was für ein guter Koch er doch ist. Er nimmt Gemüse aus dem Kühlfach und findet ein wenig Fleisch. Natürlich weiß er, wo die Pfannen sind. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich in dieser Küche etwas kocht. Erst gestern Mittag, als sie in der Uni studierte, hat er sich ein grandioses Omelett zubereitet – mit Paprika und Zwiebeln. Er findet auch das Olivenöl und den Knoblauch auf Anhieb. Dieses Mal macht er Pasta. Sie wird es lieben. Jeder mag Nudeln. Und seine sind besonders gut. In einem weiteren Schrank steht eine Schachtel mit Penne. Er schüttet die Nudeln in das kochende Wasser und bereitet die Soße zu. Er fühlt sich wohl, geradezu frei. Was gibt es denn Schöneres, als nackt zu kochen? Dann lässt er die Soße auf dem Herd köcheln und verschwindet wieder im Schlafzimmer. Sie liegt auf dem Bett. Unverändert. Ihr Gesicht ist so weich, so lieblich. Nur der dicke Knebel stört das wunderschöne Bild. Er geht zu ihr, kniet sich neben das Bett. Nur wenige Zentimeter trennen ihre Gesichter. Er beugt sich über sie und streichelt ihr ganz vorsichtig über die zarten Wangen. Dann geht er ein Stückchen weiter und leckt ihr über die Lippen. Die Eieruhr reißt ihn aus dem Verlangen. Er lächelt. Denn jetzt gibt es die Nudeln. Natürlich wird sie es nicht ohne ihn zum Tisch schaffen. Doch er kann sie ja tragen. Stark genug ist er allemal. Er geht gerade in die Knie, als die Klingel ertönt. Er schreckt zusammen, spürt, dass sein Herzschlag sich beschleunigt, vielleicht auch einmal kurz aussetzt. Extrasystolen, das hat er im Internet gelesen. Er hat schon so viel im Internet gelesen. Er dreht sich zur Tür, blickt ihr in die weit geöffneten Augen. Dann eilt er mit schnellen, aber leisen Schritten zur Tür. Es gibt dieses kleine Guckloch, wie in den Filmen, die er gesehen hat. Zu Hause gibt es so etwas nicht. Der junge Mann aus der Kneipe steht vor der Tür. Der Typ, der sich mit Kristina gestritten hat. Wieder ertönt die Klingel. Dann klopft er. Hoffentlich hat er keinen Schlüssel. Das wäre eine Unbekannte, die er nicht mit einberechnet hat. Und diese Variablen sind die Gefährlichen. Wäre er dann nicht schon in der Wohnung?

„Kristina“, ruft der Kerl. „Mach die scheiß Tür auf.“ Er hämmert gegen das Holz. Möglicherweise weckt er die gesamte Nachbarschaft. „Du dumme Hure“, schreit er. „Ich weiß, dass du da bist.“ Immerhin weiß er durch die Schimpftirade, dass der Typ keinen Schlüssel besitzt. Das Hämmern wird intensiver. Nicht, dass der Kerl die Tür einschlägt. „Mach schon, du Schlampe.“ Dann ist es plötzlich still. Er atmet durch, wirft einen Blick durch den Spion. Nichts. Doch. Ein Schatten. Dann sieht er den Kerl doch wieder, der gerade Anlauf nimmt und sich mit Kraft gegen die Tür schmeißt. Sie gibt minimal nach. Wieder nimmt der Typ Anlauf. Okay, was kann er tun? Er lehnt sich gegen die Tür. Schweiß läuft ihm über die Stirn. Ein einzelner Tropfen löst sich und rollt auf die Nase und diese entlang. Der Tropfen bleibt an der Nasenspitze hängen, kitzelt ihn. Ein Weiterer rollt von der Stirn los. Dann spürt er einen dumpfen Stoß in seinem Rücken. Nach wenigen Sekunden den Nächsten. Das wird er nicht lange durchhalten. Doch er ist das kleinste Problem. Denn auch die Holztür gibt gespenstige Geräusche von sich. Der nächste Stoß. Er spielt mit dem Gedanken, den Kerl einfach reinzulassen, ihm mit einem Hammer den Kopf einzuschlagen oder das Messer in die Brust zu rammen. Er geht einen Schritt zur Seite, befindet sich bereits auf dem Weg zur Tür. Doch das dumpfe, erwartete Geräusch bleibt aus. „Das ist noch nicht zu Ende“, schreit er. „Ich komme wieder, und dann bist du dran, Kristina.“ Er atmet durch, setzt sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Jetzt sind es gleich mehrere Tropfen Schweiß, die sich an seiner Stirn gesammelt haben. Er wischt sie mit seinem Handrücken weg. Als er sich beruhigt hat, steht er auf. Er geht in das Schlafzimmer. Sie liegt mit angsterfüllten Augen auf dem Bett.

„Keine Sorge, Kristina“, sagt er beruhigend. „Ich habe den Kerl davongejagt. Und ich werde dafür sorgen, dass er dich nie wieder belästigt.“

5

Auf dem großen Flachbildfernseher an der Rückwand des Lokals läuft ein Fußballspiel. Die Männer an der Theke interessiert die Partie herzlich wenig. Das Bier vor ihrer Nase ist wichtiger. An den Tischen wird sich angeregt unterhalten. Der Geräuschpegel ist riesig. Aus den Boxen beschallt gerade Billy Joels „Piano Man“ die Anwesenden. Dazu schlagen Gläser oder Teller zusammen, ab und an meldet sich eine Kaffeemaschine mit einem ziemlich nervenden Geräusch zu Wort. Es riecht nach einer Mischung aus Kölsch und Frittenfett. Philipp Jansens Sinne sind geschärft. Er nimmt alles auf. Eine Art Schutzmechanismus, den er sich angeeignet hat oder aneignen musste. Er sieht lachende Gesichter, gefüllte Gläser, diverse Speisen. Und umgehend fällt ihm auf, wie groß der eigene Hunger ist. Das Lokal ist in zwei Räume unterteilt. Der Erste ist ein wenig größer, doch die Musik dafür umso lauter. Im Zweiten braucht Jansen nicht mehr lange zu suchen. Direkt am ersten Tisch sitzen seine Freunde Daniel und Milos.

„Herr Kriminalhauptkommissar“, sagt Milos, als er Jansen wahrnimmt. „Alle Strafzettel verteilt?“ Er grinst seinen Kumpel frech an und erinnert Jansen damit an den Jungen, den er vor fast zwanzig Jahren auf dem Schulhof kennengelernt hat. Daniel kam deutlich später dazu. Doch auch er ist einer seiner besten Freunde.

„Du bist spät“, sagt er mürrisch. Daniel ist immer nachdenklich, so ernst, hat aber einen urkomisch derben Humor.

„Ich hatte noch etwas zu regeln“, sagt Jansen, als er sich neben Milos auf die Bank setzt. Er legt sein Smartphone auf den Tisch.

„Langfinger dingfest machen?“ Wieder lacht sich Milos über seinen eigenen Spruch kaputt. Manchmal wundert sich Jansen, dass sich drei so unterschiedliche Menschen so nahe sein können. Aber vielleicht ist es gerade die Mischung, die es ausmacht.

„Eher Richtung Prostitution“, lügt er. Jansen hebt eine Hand, um die Kellnerin auf sich aufmerksam zu machen. Es dauert einen Moment, bis sie seine Geste versteht. Dann kommt sie zu dem Holztisch und lächelt den Beamten an. Er schätzt sie auf gerade einmal 18 Jahre ein, vielleicht jünger. Sie wirkt sehr kindlich. „Ich nehme einen Whiskey-Cola und für meine Jungs auch noch eine Runde.“

„Zwei Bier und einen Whiskey-Cola?“, fragt sie noch einmal. Milos nickt. Das Mädchen verschwindet.

„Ob sie um die Zeit überhaupt noch arbeiten darf?“, will Jansen wissen.

„Junge, lass gut sein“, ermahnt ihn Daniel. „Du hast frei.“

„Das stimmt. Das ganze Wochenende“, erwidert Jansen. „Morgen werde ich den ganzen Tag nur rumlümmeln, vielleicht ein bisschen Fußball schauen. Mehr nicht.“ Die Kellnerin kehrt mit den bestellten Getränken zurück. Etwas mühsam stellt sie zunächst das Tablett und anschließend die drei Gläser auf den Tisch. Sie fischt einen Kuli aus ihrem Gürtel und macht ein paar Zeichen auf dem Bierdeckel. Dann verschwindet sie wieder.

„Auf dich“, sagt Daniel und hebt sein Bier. Milos tut es ihm gleich. Jansen nimmt seinen Whiskey-Cola und prostet den beiden Freunden zu. Es entwickelt sich der erwartete Männerabend – mit derben Gesprächsthemen, schlechten Witzen und Alkohol. Irgendwann gibt es ein Schnitzel, dann geht die Sauferei weiter. Erst sein Smartphone reißt Jansen aus den Gedanken. Er spürt die Anspannung, als er den Namen auf dem Display liest: Vucko. Vor gut zwanzig Jahren sind die beiden zusammen zur Schule gegangen. Nun liegen Welten zwischen ihnen. Er ist heute Kriminalhauptkommissar, Vucko Drogendealer, der möglicherweise gefährlicher ist, als es Jansen lieb sein dürfte. Er nimmt das Smartphone in die Hand, in der Hoffnung, seine Freunde haben den Namen nicht gelesen. Milos kennt Vucko ebenfalls aus der Schulzeit. Daniel wird in seiner Funktion als Anwalt vermutlich auch schon mit dem Kerl zu tun gehabt oder zumindest von ihm gehört haben.

„Ja?“, meldet er sich ganz unverbindlich, steht auf und verlässt den Tisch. „Einen Moment bitte.“ Jansen tritt aus dem Lokal auf die Straße. Es ist kalt. Sehr kalt. Doch die innere Anspannung lässt ihn nicht über den Frost nachdenken.

„Philipp“, sagt Vucko. „Ich habe nicht viel Zeit.“ Seine Stimme klingt ernst.

„Ivo“, antwortet der Polizist. Er hat Vucko damals als Ivo kennengelernt. Den Spitznamen hat er nur selten benutzt. Vucko lacht.

„So nennt mich sonst nur meine Mutter“, sagt er ruhig. Dann wird er wieder ernst. „Du solltest keine Späßchen mit mir machen.“

„Ich habe dich immer Ivo genannt“, verteidigt Jansen sich, wohlwissend, dass es darum nicht geht.

„Wo ist mein Geld?“, fragt er.

„Es gab Probleme mit dem Türken.“

„Gibt es nicht immer irgendein Problem?“, will Vucko wissen. Seine ruhige, besonnene Art ist Jansen unheimlich.

„Dieses Mal wirklich.“

„Aber Junge, das ist doch nicht mein Problem, oder?“ Er hat recht. Das ist nicht Vuckos Problem. Vucko hat mit Yassin nichts am Hut. „Du bist mein Problem.“

„Ich besorg es dir.“

„Da liegt der Fehler, du hättest es mir schon besorgen müssen, Philipp.“ Noch immer ist seine Stimme erschreckend ruhig.

„Wir sind Freunde“, sagt der Polizist.

„Was heißt schon Freunde“, entgegnet Vucko. „Geld kennt keine Freunde.“ Es entsteht ein kleiner Moment der Stille. „30.000 - Dienstagmorgen habe ich das Geld. Um 11 Uhr.“

„30.000? Wir waren bei 25.000“, stellt der Beamte fest.

„30.000 bis Dienstagmorgen.“

„Du bekommst das Geld“, sagt Jansen versöhnlich. „Bis Dienstag.“

„Gut“, sagt Vucko. „Ach, und noch etwas, Philipp.“

„Ja?“

„Wenn du noch einmal meinen kleinen Bruder mit einer Waffe bedrohst, bist du ein toter Mann.“

6

Sie sitzt auf dem Stuhl, ganz still. Ihre Augen starren aus dem Fenster, zumindest sieht es so aus. Der Besuch hat sie nicht sonderlich gestört – ihn schon. Der Schweiß steht ihm noch immer auf der Stirn und läuft ihm gleichzeitig den Rücken herunter. Er trägt eine Schürze, die er in der Küche gefunden hat. Dazu Topflappen, mit denen er das heiße Geschirr balanciert. Er stellt die Nudeln auf den Tisch. Einen Teller ans Kopfende, den anderen vor Kristina. Dann holt er aus der Küche zwei Gläser und die Flasche Rotwein. Er öffnet sie nicht. Nein, er wird sicherlich keinen Alkohol trinken. Doch ein guter Wein gehört zu einem Candle-Light-Dinner nun mal dazu. Und um nichts anderes handelt es sich. Dementsprechend zückt er die kleine Packung Streichhölzer und zündet die Kerze auf dem Tisch an. Eigentlich hatte er sich einen schmalen, langen Kerzenständer vorgestellt, nun muss es eine dicke Kerze auf einer Untertasse sein. Als der Tisch final gedeckt ist, setzt er sich ans Kopfende. Er blickt sie an, spricht ein Tischgebet und nimmt Gabel und Löffel in die Hand. Dann dreht er die Nudeln mit Hilfe des Bestecks und schiebt sie sich in den Mund. Es ist köstlich, vielleicht ein wenig zu kalt. „Willst du nichts essen?“, fragt er sie freundlich. Doch Kristina antwortet nicht. Sie blickt weiterhin aus dem Fenster, als würde sie ihre Umwelt gar nicht wahrnehmen. „Musst du ja auch nicht“, sagt er. „Ich will nur nicht, dass du später Hunger bekommst.“ Doch Kristina geht nicht auf seine Fürsorge ein.