Das Schweigen des Wassers - Susanne Tägder - E-Book

Das Schweigen des Wassers E-Book

Susanne Tägder

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

»Diese Autorin ist gekommen, um zu bleiben.«  Andreas Pflüger Ein Toter im See. Ein Hauptkommissar zurück am Ort seiner Kindheit. Eine Stadt, die zu schweigen gelernt hat. Scharfsichtig und spannungsgeladen bis zum Schluss zeigt Susanne Tägder, was geschieht, wenn Menschen um jeden Preis ihre Macht erhalten wollen. Inspiriert von einem wahren Fall. Mecklenburg, Anfang der Neunziger: Hauptkommissar Groth wird nach Jahren im Westen zurück in seine Heimatstadt geschickt. Als Aufbauhelfer Ost soll er Kollegen in westdeutscher Polizeiarbeit schulen. Dabei hat er selbst so seine Schwierigkeiten mit den Vorschriften, seit seine Tochter gestorben ist.Auf seinen Instinkt kann er sich allerdings noch immer verlassen.Als die Leiche des Bootsverleihers Siegmar Eck aus dem örtlichen See gefischt wird, weiß Groth, dass das kein Unfall war. Warum sollte ein guter Schwimmer wie Eck im See ertrinken? Und das kurz nachdem er Groth aufgesucht und behauptet hat, er würde verfolgt? Die Kollegen wollen den Fall zu den Akten legen, doch Groth ermittelt weiter. Und stößt dabei auf eine Spur, die ihn zu einer Kellnerin im nahegelegenen Ausflugslokal und zurück zu einem ungelösten Mordfall führt. »Ein Roman von einer ungeheuer subtilen Wucht, der einen einsaugt und nicht mehr loslässt, nicht mal nach der letzten Seite. Susanne Tägder ist eine absolute Entdeckung!« Lucy Fricke 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 410

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Dies ist der Umschlag des Buches »Das Schweigen des Wassers« von Susanne Tägder

Susanne Tägder

Das Schweigen des Wassers

Kriminalroman

Tropen

Impressum

Die Arbeit an dem vorliegenden Roman wurde durch einen Werkbeitrag der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich gefördert.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Favoritbuero, München

unter Verwendung zweier Abbildungen von © Hurst Photo/Shutterstock.com und © Loes Kieboom/Shutterstock.com

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50194-0

E-Book ISBN 978-3-608-12254-1

Für meine Eltern.

Und für alle, die ein rauer Wind aus ihrer Heimat fortgeweht hat.

Warum? Warum?

Sieht man manches erst so spät?

Haben wir nicht Augen und Verstand,

dass man diese Welt versteht?

Puhdys, »Manchmal im Schlaf« (1975)

Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen.

Franz Kafka, Ein Hungerkünstler

Tannenkruger Forst im Mai 1980

Wie so oft ist es Frau Schulte, die ihm mit der Brötchentüte die Neuigkeit des Tages zuschiebt. »Ham’ Se schon gehört, Herr Hennemann? Im Tannenkruger Forst ist mächtig was los. Ein Großeinsatz, sag ich Ihnen. Den ganzen Morgen schon Polizeisirenen, dass die Wände wackeln.« Hennemann greift nach der Tüte. Er ist Fotograf bei der Demminer Freien Presse. Bei dem Wort »Großeinsatz« kriegt er Gänsehaut. Erst letzte Woche stand eine Vermisstenmeldung in der Zeitung. Eine Schülerin aus der Gegend, keine zwanzig Jahre alt. Hennemann fackelt nicht lange, holt seine Pentacon und schwingt sich aufs Rad. Er will mit der Kamera vor Ort sein, bevor Chefredakteur Lossewitz ihn zurückpfeifen kann.

Auf der Fernverkehrsstraße oberhalb des Waldes wimmelt es bereits von Polizei. Hennemann steigt ab und schiebt sein Rad an einem geparkten Kleintransporter mit geöffneter Hecktür vorbei. Er kann nicht fassen, wie viele Streifenwagen hier stehen, dazu mehrere Barkas-Transporter, alle mit Rostocker Bezirkskennzeichen. Er lehnt sein Fahrrad an eine Birke und macht Fotos. Aus dem Wald dringt Hundegebell, dazwischen Kommandorufe, das Knacken von toten Ästen im Unterholz.

Der Einsatzort liegt zweihundert Meter waldeinwärts. Als Hennemann eintrifft, mischt er sich unter die Ermittler, sie beachten ihn nicht. Zuerst sieht er nichts außer dichtem Gestrüpp, darin ein Bündel, das nicht dorthin zu gehören scheint. Doch bald weht ein Fäulnisgeruch zu ihm heran. Hennemann reckt sich. Er nimmt außer Stoff auch Beine wahr, die nackten Beine einer jungen Frau, die sehr bleich wirken. Er erkennt Füße, einer mit Schuh, einer ohne. Schnürschuh, denkt er und bewegt sich schrittweise weiter auf das Unterholz zu, stellt sich mit der Kamera wie selbstverständlich neben die Kriminaltechniker in ihren Kitteln. Immer wieder drängeln sich Rücken ins Bild, Arme, untätig in die Hüften gestemmt mit abgespreizten Ellenbogen. Die Kamera baumelt von seiner Schulter, sein Herz schlägt überraschend schnell.

Als der richtige Moment kommt, ist Hennemann bereit. Die Rücken bewegen sich, jemand verschafft sich Zugang zum Fundort, jemand, der wichtig aussieht, in einem karierten Jackett, für den sich alle zum Halbkreis formieren. Plötzlich findet sich Hennemann allein wieder, genau an der Stelle, die ihm den Blick ins freigelegte Unterholz erlaubt. Er nimmt die Kamera hoch und hält sie auf die Leiche. Der Auslöser klackt so laut, dass sich einige Köpfe zu ihm umwenden, auch der des Mannes im karierten Jackett, der ihn mit eisigem Blick anstarrt. Hennemann nickt in die Gesichter, und während sie ihn noch einzuordnen versuchen, dreht er sich um und marschiert, so gelassen er kann, über den weichen Laubboden zurück zur Chaussee. Die Blicke brennen sich in seinen Rücken, selbst dann noch, als er schon auf dem Fahrrad sitzt und Richtung Stadt radelt, was das Zeug hält. Das Hemd klebt ihm am Körper, als er in der Redaktion eintrifft.

In der Dunkelkammer entwickelt Hennemann den Film, lässt ihn trocknen und macht noch am Nachmittag Abzüge. Er taucht das Fotopapier mit der Zange unter, schiebt es in der Wanne hin und her, bis sich erste Konturen zeigen, sich die Grauschattierungen verdichten und in Umrissen das Gehölz erscheint. Er ist so gebannt, dass er das Papier ein wenig zu lange im Entwicklerbad lässt, denn jetzt sticht das Gesicht der Toten aus dem dunklen Unterholz heraus, der Kopf ist zur Seite geneigt, die Lippen geöffnet, und auf dem Kinn kleben Spuren von Blattwerk und Matsch. Eine junge Frau, sehr jung. Dunkle Locken umrahmen ihr Gesicht. Im letzten Moment befördert er das Papier mit der Zange ins Fixierbad.

Als Hennemann am nächsten Morgen in die Redaktion kommt, ist die Dunkelkammer wie leergefegt, die Klammern weisen kopfüber nach unten. Er hatte die Bilder über Nacht zum Trocknen auf der Leine gelassen, die Fotos hingen in Reih und Glied genau hier über ihm, als er gestern das Licht löschte. Nur eines hat er nicht aufgehängt, sein bestes Bild, die Nahaufnahme der Leiche. Er hat sie auf ein Trockengitter gelegt, auf sein Schränkchen unter dem Waschbecken. Hennemann bückt sich danach, doch in diesem Moment wird hinter ihm die Tür aufgerissen, und Chefredakteur Lossewitz’ Stimme füllt den winzigen Raum. »In mein Büro, jetzt sofort.«

Die Bilder vom Tatort liegen vor Lossewitz auf dem Tisch, er hat sie zu einem lieblosen Stapel geschichtet, und Hennemann kann erkennen, dass das schon gestern gewesen sein muss, denn die Bilder wurden nass von der Leine gepflückt und kleben aneinander fest, als der Chef sie ihm hinhält.

»Was sollte das hier eigentlich werden, Kollege Hennemann?« Lossewitz lässt die Fotos auf den Tisch klatschen. »Sie fahren zu einem Polizeieinsatz, spionieren herum, spielen sich auf, als wären Sie selbst von der Kriminalpolizei – ach wo, von wegen bei der K«, unterbricht sich Lossewitz selbst. »Niemand bei der K würde durch die Gegend laufen und den Tatort zertrampeln. Können Sie sich vorstellen, was ich mir Ihretwegen anhören musste?«

Hennemann beginnt zu ahnen, woher der Wind weht. Er starrt auf das graue Telefon auf dem Schreibtisch und malt sich aus, wie es geklingelt hat und wie Lossewitz’ Hals rot anlief, als man ihm von Hennemanns »Einsatz« berichtete.

»Ich habe denen nichts zertrampelt«, sagt Hennemann. »Sondern fotografiert.«

Lossewitz schnaubt. »Nichts zertrampelt? Unsere ausgezeichnete Beziehung zur Bezirksdirektion, die haben Sie zertrampelt. Da kann ich von vorne anfangen!« Die letzten Worte brüllt Lossewitz.

Hennemann nimmt wahr, wie in diesem Moment das Geklapper der Schreibmaschinen abstirbt. Die Redaktion verstummt.

»Wieder der Pennemann«, werden die Kollegen flüstern. »Wer auch sonst. Was er wohl diesmal verbockt hat.«

Es erscheint kein Bericht über die Tote, kein Foto. Anfang August, als Hennemann schon fast nicht mehr an das Mädchen im Wald denkt, wird er von Lossewitz entlassen. Seine Negative muss er abgeben, den Schlüssel fürs Büro, sein Dienstfahrrad. Angeblich kann Hennemann in der Demminer Redaktion nun doch nicht bleiben, es sei keine Stelle frei, man bedauere das und empfehle den jungen Kollegen als fähigen Vermittler der sozialistischen Werte hier im Bezirk und darüber hinaus weiter.

Hennemann nimmt nichts mit außer seiner Pentacon und dem Foto des toten Mädchens, das ihn die Stelle gekostet hat und das noch immer auf dem Trockengitter unter dem Handwaschbecken liegt. Er versteht selbst nicht warum, aber er hat es niemandem gezeigt.

Herbst 1991

1

Groths neues Büro liegt nach hinten raus, Erdgeschoss, mit Blick auf den Fuhrpark der Polizeiwache Wechtershagen. Er hatte um ein ruhiges Büro gebeten, ein wenig ab vom Schuss, gerne in einer der oberen Etagen, und das genaue Gegenteil erhalten. Direkt vor seinem Fenster parken Einsatzfahrzeuge, Dienstwagen aus DDR-Bestand mit kreisrunden Lautsprechern auf dem Dach, die wie Ohren aussehen. Bei jedem Ausrücken zittert der Stifteköcher auf Groths Schreibtisch.

Das Zimmer ist spärlich möbliert; Schreibtisch, grünes Telefon, Klemmleuchte. Ein Holzstuhl für Besucher, auf dem Groth morgens seine Aktentasche abstellt. Ein Waschbecken mit Spiegel in der Ecke und daneben ein Schrank. Der einzige Wandschmuck ist ein Abreißkalender, der noch immer den Spruch vom 30. September zeigt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. M. Gorbatschow.

Groth steht am Fenster und kämpft mit der Gardine, die sich im Kippspalt verhakt hat, als er auf der anderen Hofseite den Mann im gelben Hemd sieht. Groth hat ihn schon vor einigen Tagen bemerkt, er erinnert sich genau, da stand der Mann im Schatten der gegenüberliegenden Hauswand rauchend da und schien zu warten. Groth fand das nicht weiter ungewöhnlich, es hätte ja sein können, dass der Unbekannte jemanden begleitet hatte, das kam im Hof einer Polizeiwache häufig vor, aber als Groth an jenem Abend zum Auto ging und im aufflammenden Licht der Hoflampen einen interessierten Blick in seine Richtung warf, da nahm der Mann seinen Rucksack vom Boden auf, duckte sich unter der Schranke durch und verschwand. Er erinnert sich, dass er den Mann in Gedanken als lichtscheu betitelt hatte.

Groth geht zurück zum Schreibtisch und nimmt das Diktiergerät zur Hand. Er hört Gelächter aus dem Nebenraum, Gerda Küttels Schreibmaschinengeklapper im Vorzimmer, dann die Stimme von Bekendorf, seinem Chef, der nach Lübeck pendelt und sich ins Wochenende verabschiedet. Kurz darauf wird im Hof ein Auto angelassen.

Groth seufzt. Er sitzt an seiner Unterrichtsvorbereitung. Bekendorf hat ihm die Fortbildung der Volkspolizisten, Modul Vernehmungslehre, übertragen. Groth ist Aufbauhelfer Ost, als solcher steht er jede Woche vor einer Klasse an der Polizeischule in Pasewalk. Viele der Rekruten sind bereits voll ausgebildete Volkspolizisten, denen das altbekannte Rechtssystem weggebrochen ist, manche so erfahren wie Groth selbst. Dass sie ein Polizeihauptkommissar aus Hamburg unterrichtet, beeindruckt sie wenig. Wenn Groth in die Gesichter schaut, liest er Sorge in den Blicken. Manchmal auch Wut. Wut ist ihm lieber, damit kann er umgehen. Bisher hat niemand mit ihm gesprochen. Sobald die Unterrichtsstunde beendet ist, leert sich der Raum.

»Die kriminalpolizeiliche Vernehmung«, diktiert Groth, »ist eine Mischung aus gezielter Fragetechnik und genauem Zuhören. Besonders Letzteres wird oft vernachlässigt. Das Ungesagte«, diktiert er weiter, dann unterbricht er sich. Er darf nicht philosophisch werden. Die Rekruten haben aufgrund seiner Exkurse bereits einen Spitznamen für ihn, Laberoth, was Groth beinahe originell findet. Ebenso originell findet er, dass man ausgerechnet ihm die Anpassungsfortbildung übertragen hat, denn eigentlich ist es Groth selbst, der einen Neuanfang braucht. Nach der Diagnose, die ihm der Polizeiarzt Dr. Ewald schon vor einem Jahr in Hamburg gestellt hat, schrammte er knapp an der Dienstuntauglichkeit vorbei.

Er spult zurück und beobachtet eine Weile die Blähbewegung der dünnen Gardine im Wind. Sein Hamburger Büro war kaum größer als dieses, noch dazu teilte er es sich mit Geert Lüppert, der schon morgens Fischbrötchen mit Zwiebeln aß, aber es lag im vierten Stock mit Blick über den Hafen. Dieser Blick, so merkt Groth jetzt, hat seinem Leben eine gewisse Weite verliehen. Eine Weite, die er vermisst. Als Groth nach einigen Minuten wieder zur anderen Hofseite hinüberschaut, denkt er im ersten Moment, dass der junge Mann mit dem gelben Hemd verschwunden ist. Aber dann entdeckt er ihn. Der Mann lehnt jetzt keine zehn Meter entfernt an Groths VW Passat.

Groth öffnet den Fensterflügel.

»Kann man was helfen?«, ruft er.

»Möglich«, sagt der Mann.

Er löst sich von der Kühlerhaube, nimmt seinen Rucksack vom Boden und bewegt sich auf Groth zu. Aus der Nähe wirkt der junge Mann mager. Er trägt eine weite Cordhose, die ihm selbst mit Gürtel fast über die Hüften rutscht. Wie alt mag er sein? Um die dreißig vielleicht? Schwer zu schätzen im schwindenden Licht. Das Gesicht des Mannes wirkt grau. Wenn Groth richtig sieht, ist er barfuß, ein Detail, das Groth nicht einzuordnen weiß.

Seine neue Nachbarin aus dem Parterre hat ihm erst kürzlich erzählt, dass es plötzlich Obdachlose gebe in der Stadt. Auch wenn man sich frage, so die Nachbarin, wohin der ganze Wohnraum plötzlich verschwunden sein soll. Groth wusste es auch nicht.

»Das ist eben die Freiheit«, sagte die Nachbarin. »Det hamwa jetzt davon.«

Die Gestalt, die sich seinem Fenster nähert, scheint gegen das feuchtkalte Wetter immun, die Schritte sind lautlos und tastend wie die einer Katze.

Sie stehen sich also mit reichlich Abstand gegenüber. Groth spürt die Herbstkälte, er nimmt wahr, dass ein strenger Körpergeruch ins Zimmer weht. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, konzentriert sich auf das Gesicht seines Gegenübers.

»Darf man hier rauchen?«, fragt der Barfüßige. Er zieht einen Tabakbeutel aus der Hosentasche.

»Frau Küttel«, ruft Groth ins Nebenzimmer. »Hätten Sie vielleicht einen Aschenbecher für Herrn –«

Groth schaut den Barfüßigen fragend an.

»Eck«, sagt der Mann.

»Für Herrn Eck«, vervollständigt Groth.

Er hört, wie Gerda Küttel nebenan aufsteht und kurz darauf eine Schranktür zufallen lässt. Sie erscheint mit einem Keramikbecher im Büro, geht einige Schritte Richtung Schreibtisch, bevor sie Groth am Fenster entdeckt und im Hof davor den Unbekannten.

»Hier.« Sie reicht Groth eine Tasse, die wie das Töpferstück eines Grundschülers aussieht. Seine Tochter brachte früher solche Stücke aus der Schule mit nach Hause, Tiegel, Becher, Vasen, alle identisch geformt. Groth fragt sich, ob er sie weggeworfen hat. Das sähe ihm ähnlich.

An der Tür dreht sich Gerda Küttel noch einmal um.

»Ich würde dann jetzt ins Wochenende gehen«, sagt sie. Ihr Blick streift den Mann vor dem Fenster. »Oder brauchen Sie mich noch?«

»Nein, das geht in Ordnung«, sagt Groth. »Bis Montag.«

Er kann spüren, dass Gerda Küttel etwas auf der Zunge liegt, etwas über diesen ungewaschenen Gast, den er, Groth, auch noch mit einem Aschenbecher bedient. Sie ist ohnehin der Meinung, dass Kommissar Groth sich zu schnell um den Finger wickeln lässt.

Während Eck sich am Fensterbrett einrichtet und seine Zigarette dreht, überlegt Groth, wie er ihn abwimmeln kann.

Dieser Eck wirkt schreckhaft. Das dünne Blättchen, das er mit Tabak befüllt, zittert zwischen seinen Fingern. Außerdem kann Groth in dem Geruch, den Eck verströmt, eine Schnapsfahne ausmachen.

»Das da ist Ihr Auto, oder?«, fragt Eck. Er zeigt mit dem Kinn auf Groths Passat.

»Stimmt«, sagt Groth.

»Sie sind aus dem Westen«, sagt Eck.

Groth ist sich nicht sicher, ob das eine Frage ist.

»Aus Hamburg.«

»Freiwillig?«, fragt Eck.

Groth hört die Frage, er hört den Unterton und muss sich anstrengen, die Leichtigkeit in der Stimme zu behalten.

»Freiwillig«, antwortet er.

Es ist gelogen. Jo Allers, sein Vorgesetzter in Hamburg, hat ihn überredet, es doch mal im Osten zu versuchen.

»Die suchen erfahrene Kollegen wie dich«, sagte Allers. »Kein Mensch kennt sich da drüben mit dem neuen Rechtssystem aus.«

Als Groth schwieg, fügte Allers hinzu: »Kann ein echtes Sprungbrett sein, Arno.«

»Warum gehst du dann nicht selbst hin?«, hatte Groth gefragt. Aber der Stachel saß bereits in seinem Fleisch. Groth stammt aus Wechtershagen. Er hat hier Wurzeln. Und nach allem, was vorgefallen ist, läuft er in Hamburg als Altlast. Da macht er sich nichts vor.

Eck scheint mit Groths Antwort zufrieden zu sein. Er entzündet die Zigarette hinter der gewölbten Hand. Dabei kneift er die Augen zusammen, als müsse er sich konzentrieren.

»Jemand ist hinter mir her«, sagt Eck jetzt.

Groth horcht auf.

Eck steht so nah am Fenster, dass das Licht aus Groths Büro auf seinen Oberkörper fällt. Groths Blick folgt Ecks Hand, mit der er die Zigarette zum Aschenbecher führt, er betrachtet die blonden Härchen auf Ecks Unterarm und fragt sich, wie viel von dem Teint Sonnenbräune ist und wie viel Schmutz.

»Wer ist hinter Ihnen her?«, fragt Groth.

»Jemand, den ich von früher kenne.«

»Und was will derjenige von Ihnen?«

Eck zuckt mit den Schultern.

»Mein Leben.«

»Ihr Leben?« Die Rückfrage gerät Groth ein wenig zu laut.

»Sie glauben mir nicht.«

Groth bemüht sich, ein ernstes Gesicht zu machen. Er hat es im Lauf seiner Dienstjahre mehrfach mit Verfolgungswahn zu tun gehabt und weiß, dass er seine Worte vorsichtig setzen muss.

»Ich glaube, dass es viele Gründe gibt, warum man sich verfolgt fühlt. Die meisten sind harmlos. Haben Sie denn Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr?«

Eck scheint zu überlegen.

»Man hat mir ein Boot geklaut.«

Groth sieht ihn ratlos an.

»Ein Boot?«

»Tretboot.«

»Sie besitzen ein Tretboot?« Was für eine seltsame Geschichte, die ihm da aufgetischt wird, denkt Groth.

Eck hält seine Zigarette wie einen Nagel beim Einschlagen zwischen Daumen und Zeigefinger und nimmt einen tiefen Zug. Eine Antwort auf seine Frage erhält Groth nicht.

»Jemand könnte das Boot genommen und einfach woanders abgestellt haben«, schlägt Groth vor.

»Vertäut, heißt das.«

Groth lächelt und lässt das so stehen. Er sieht zu, wie Eck seine Zigarette ausdrückt.

»Ohne etwas Konkretes kann ich nichts für Sie tun«, sagt Groth und hofft, dass Eck sich damit zufriedengibt.

Tatsächlich bückt sich der junge Mann jetzt. Er fischt nach dem Riemen seines Rucksacks und macht sich bereit, ihn über die Schulter zu streifen.

»Vielleicht komme ich Anfang nächster Woche mal vorbei«, sagt Eck. »Mit Beweisen.«

»Sicher«, sagt Groth. »Das geht.«

»Gut. Abgemacht.«

Dann wendet sich Eck zur Hofeinfahrt. Groth beobachtet ihn, seine Schritte, wie vorsichtig er sie setzt, kontrolliert, als messe er im Gehen den Weg ab. Gut, denkt Groth. Den bin ich erst mal los. Aber etwas sagt ihm, dass der Mann genau weiß, was er tut. Das war heute nur ein Test. Ob Groth bestanden hat, wird sich nächste Woche zeigen.

»Was wollte der denn?«

Groth erschrickt über die Stimme direkt hinter ihm. Es ist Gerstacker, ein Kollege in Groths Alter, der so eine Art hat, sich anzuschleichen. Hat die Jacke an und seine Aktentasche in der Hand.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Groth. »Faselte was von einem Boot. Und dass er verfolgt wird.«

»Einem Boot«, wiederholt Gerstacker.

»Tretboot«, erwidert Groth.

»Nicht die Jahreszeit für Bootsfahrten«, sagt Gerstacker. »Vielleicht hat der ’ne Schraube locker.« Eine Antwort wartet Gerstacker nicht ab. »Na dann, Feierabend.« Er tippt sich mit zwei Fingern an die Stirn und geht.

Das Geräusch seiner Absätze ist noch eine Weile zu hören, zuerst auf dem Gang, dann im Hof, wo neben der Treppe sein Fahrrad parkt.

Gerstacker trägt Schuhe mit Hacken, um sich einige Zentimeter größer zu machen, was Groth, wenn er ehrlich ist, affig findet. Am ersten Arbeitstag, Groth war keine Viertelstunde im neuen Büro, da kam Gerstacker mit seinen komischen Stiefeletten rein, ebenfalls, ohne zu klopfen, und spazierte alles ab, Schreibtisch, Schrank, Fenster. Er ließ sogar den Finger über das Fensterbrett gleiten zum Staubtest. Schließlich stellte er sich ans Fenster, Hände hinter dem Rücken verschränkt, als überwache er den Hof.

»Hamburg also«, sagte Gerstacker.

Groth wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte.

»Frisch eingetroffen«, bestätigte er.

»Aus Hamburg«, sagte Gerstacker noch mal.

»Korrekt.«

»Wenn es ums Handwerkliche geht, dann ist das hier bei uns noch so richtig alte Schule. Kein Netz, kein doppelter Boden. Solides Handwerk. Wer davon nichts hält, sollte vielleicht lieber wieder dahin zurückgehen, wo er hergekommen ist.«

»Gut zu wissen«, sagte Groth.

»Keine Ursache«, entgegnete Gerstacker.

Letzte Woche hat Gerda Küttel Groth anvertraut, dass Gerstacker wohl auf der Abschussliste stehe. Das habe sie aus verlässlicher Quelle gehört. Als Groth das Wort wiederholte, »Abschussliste«, da flüsterte sie: »Sie wissen schon, Herr Groth, die Stasi-Liste. Wenn Herr Gerstacker weiterbeschäftigt werden will, wird er sich ordentlich anstrengen müssen, wenn Sie mich fragen.«

Auch Bekendorf hatte Groth gegenüber gleich zu Beginn einige Andeutungen gemacht, die er nicht recht einzuordnen wusste. Dass Gerstacker wohl zu den Kollegen gehöre, die sich schwertun mit dem Umbruch. Dass man ihm ein wenig auf die Sprünge helfen müsse. Irgendwann verstand Groth, dass mit dem Wort »helfen« er selbst gemeint war. Bekendorf wollte, dass er mit Gerstacker zusammenarbeitete.

»Der ist nicht einfach zu nehmen«, hatte Bekendorf gesagt. »Aber Sie kriegen das hin, da habe ich keine Zweifel.«

Groth hingegen ist sich nach den ersten zwei Wochen nicht so sicher. Seine Gespräche mit Gerstacker kann er an einer Hand abzählen. Die Sätze, die dabei fielen, auch.

Als Groth das Auto anlässt, um nach Hause zu fahren, flammt ihm Opernmusik entgegen. O mio babbino caro. Er drückt panisch auf den erstbesten Knopf, dann auf den zweiten, bis die Musik verstummt. Das Lenkrad ist trotz Lederbespannung eiskalt. Groth spürt den Schlägen seines Herzens nach, bevor er losfährt. Ein freies Wochenende liegt vor ihm. Er biegt von der Pontanus- auf die Stargarder Straße und weiter auf den Ring. Kaum hat er die Stadtmauer passiert, merkt Groth, dass er nicht weiß, was er mit sich anfangen soll. Eine Ampel springt knapp vor ihm auf Rot. Groth bremst und kommt gerade noch zum Stehen. Eine Gruppe Jugendlicher mit Bierflaschen in der Hand überquert die Straße Richtung Innenstadt. Sie müssen einen Bogen um Groths Passat machen, dabei streifen ihre offenen Jacken sein Auto. Er ist an Hamburg gewöhnt, an Gegröle und Starkmacherei, und staunt noch über die Stille, als wie aus dem Nichts eine Faust auftaucht und mit Wucht auf seiner Kühlerhaube niedergeht. Im nächsten Moment hupt es hinter ihm. Die Ampel ist grün geworden. Groth schaltet und tritt ein wenig zu heftig aufs Gas.

Die Fahrt nach Hause nimmt er kaum wahr, bis er im Innenhof seiner neuen Wohnung angekommen ist. Die Nachbarin aus dem Parterre links erscheint augenblicklich in ihrem Fenster.

Groth hat den Gesprächsfaden, den sie regelmäßig auswirft, noch nie aufgenommen. Er nickt ihr zu, murmelt allenfalls einen Gruß. Sie gibt nicht auf, was er beinahe bewundert. Noch dazu scheint ihr Repertoire an rhetorischen Fragen unerschöpflich. Erst heute früh hat sie ihn abgefangen.

»Auch schon wieder Freitag.« Entsprechend hat sie seinen Einzug vor zwei Wochen kommentiert: »Hat sich ja mächtig was angesammelt, wa?« Da stand sie vor einem Stapel seiner Umzugskisten im Hof und hielt ein Objekt in der Hand, das sie zu inspizieren schien und das Groth bei genauerem Hinsehen als seine Knoblauchpresse identifizierte.

Groth würde sich nicht wundern, wenn die Frau vor der Wende das Hausbuch geführt hat.

Er beobachtet sie durch den Rückspiegel, sieht, wie sich die Auspuffgase im Bremslicht rot verfärben und dann zerfasern. Der Weg ins Haus führt unweigerlich an ihr vorbei. Er könnte in eine Kneipe gehen. Es gibt eine gleich hier um die Ecke, die Apotheke heißt und verräuchert genug zu sein scheint, um ihm ein wenig Anonymität zu verschaffen. Aber was soll er da? Allein in der Kneipe, das ist nicht Groths Talent. In Hamburg war er schon nicht gut darin, warum also sollte das hier anders sein. Nein. Groth parkt ein und steigt aus dem Auto. Er wird ein Stück laufen, sich unter die Leute mischen. Er hat Zeit. In der Wohnung wartet niemand auf ihn.

Außerdem hat er die Stimme seiner Tochter im Ohr: »Du musst mal raus, Papa. Leute kennenlernen. Sonst wird das nichts.«

Saskia war nie in Wechtershagen, nicht ein einziges Mal, aber sie hätte sofort verstanden, warum er hierher zurückmusste.

Groth taucht in die Tordurchfahrt ein wie vor Kurzem noch dieser seltsame Eck. Er überquert die Straße und spaziert Richtung Stargarder Tor.

Plötzlich klingt ihm der Satz nach, den Eck so unvermittelt aussprach. Jemand ist hinter mir her. Gilt das nicht für uns alle?, denkt Groth. Wer wird denn nicht von etwas verfolgt, und wenn es nur die eigenen Fehler sind. Gleichzeitig fragt er sich, ob er diesen ungepflegten Mann ernst genug genommen hat. Vielleicht sollte er sich die Geschichte in der kommenden Woche noch einmal gründlich anhören. Die »Beweise« abwarten, die Eck angekündigt hat. Wenn es überhaupt welche gibt. Denn wahrscheinlich hatte Gerstacker recht, bei dem Mann sitzt eine Schraube locker. Alkoholinduzierte Psychose, die Diagnose kennt Groth zur Genüge aus den Akten. Andererseits wirkte der Mann bis auf die fehlenden Schuhe vernünftig, um nicht zu sagen: gebildet. Beim Gehen ahmt Groth Ecks Schritte nach, setzt die Füße auf, als wäre er barfuß. Durch die Schuhsohlen fühlt er die Wölbung des Kopfsteinpflasters.

Wie nah und zugleich fremd ihm hier alles ist. Die Luft schmeckt nach Heizung, die Tore sind gotisch, das Kino heißt Lichtburg. Wenige Wochen vor dem Umzug hatte sich tatsächlich ein Gefühl freudiger Erregung in ihm breitgemacht. Es hielt so lange an, dass Groth sein Hab und Gut in Kartons verpacken konnte. Dazu Saskias Sachen aus dem Studentenwohnheim, die nach ihrer Beerdigung übrig geblieben waren.

Doch einige Tage vor seinem Wegzug verwandelte sich die freudige Erregung in Überforderung. Plötzlich war er sich sicher, einen großen Fehler zu begehen. Bewegte er sich denn vorwärts? Oder etwa zurück? Was wollte er überhaupt in seiner alten Heimat? Doch da war es schon zu spät. Sein Hamburger Leben steckte in Kartons. Am nächsten Tag verabschiedete er sich von den Kollegen. Ging noch einmal auf den Friedhof, um nach dem Rechten zu sehen. Betankte sein Auto. Sprach seiner Ex-Frau eine Nachricht auf den Anrufbeantworter. Sie war mit ihrem neuen Mann auf Sylt in einer Zweitwohnung, von der Groth weder Adresse noch Telefonnummer besaß. Kurz vor dem Auszug fielen ihm Saskias Kübelpflanzen ein. Er hatte sie verschenken wollen, aber da sie ihn zwangen, ab und zu in Saskias stilles Zimmer zu gehen, konnte er sich nicht trennen. Also entschied er, sie vorerst bei den Nachbarn in Pflege zu geben. Seine Waschmaschine im Keller vermachte er in letzter Minute der Studentin aus dem vierten Stock, weil er vergessen hatte, dass er auch noch dieses zwanzig Jahre alte Ungetüm besaß. Das Durcheinander war bestimmt von dem Gefühl, wieder und wieder auf Start vorzurücken, ohne je voranzukommen. Groth hatte Angst bekommen. Angst vor der eigenen Courage. Wenn er nicht wüsste, dass Saskia es so gewollt hätte, wäre er jetzt nicht hier.

Inzwischen befindet er sich in einer schwachbeleuchteten Straße in der Nähe des Neuen Tores. Zu seiner Rechten glänzt herbstnass die Wechtershagener Stadtmauer, darin, eingelassen wie Noppen, einige Wiekhäuser, deren Verputz sich hell von den Fachwerkbalken abhebt. Es ist kalt. Am liebsten würde er jetzt gleich zurück in die Wohnung gehen, besonders nach dieser Woche, aber ihm fehlt die Entschlusskraft, einfach auf dem Absatz kehrtzumachen. Also geht er weiter, kommt an einem neueröffneten Reisebüro vorbei, einem Schlüsseldienst, hält sich, ohne nachzudenken, links und gelangt plötzlich an einen so altvertrauten Ort, dass ihm für einen Atemzug jedes Zeitgefühl abhandenkommt. Er steht vor dem Wechtershagener Schauspielhaus.

Das Gebäude gleicht einer Scheune. Fachwerk im Schachbrettmuster, dazwischen rostfarbener Putz. Ein Baugerüst bedeckt die Breitseite. Groth betritt mit einigen Menschen, die ihm zielgerichtet erscheinen, das erleuchtete Foyer. Er bleibt in der Mitte des offenen Raums stehen und sieht sich um. In einer Vitrine ist eine Uwe-Johnson-Gedenkmedaille ausgestellt. Eine Erstausgabe von Christa Wolfs Kindheitsmuster. An Stellwänden hängen Plakate vergangener Vorstellungen. Eugen Onegin. Frau Holle. Die Blechtrommel. Peter und der Wolf als Puppenspiel. Schwarz-Weiß-Fotos von geschminkten Schauspielern mit ausdrucksstarker Mimik. Natürlich sucht er die Bilder nach Gesichtern ab, die er von früher kennt, denn in seiner Jugend ist Groth leidenschaftlich gern in dieses Theater gegangen. An einem Plakat bleibt sein Blick hängen. Ein Hungerkünstler – Schauspiel nach der Erzählung von Franz Kafka. Der Darsteller auf dem Plakat erinnert Groth so sehr an den jungen Mann von heute, dass er unter den Angaben zum Stück nach dem Namen Eck sucht, aber der Schauspieler heißt Körner, er hat sich geirrt.

Es wird immer voller im Foyer. Groth lässt sich von dem Menschenstrom voranschieben, er saugt einen tiefhängenden Heimatgeruch ein, den er vermisst hat, ohne es zu wissen. Dass er ihn ausgerechnet hier wiederfindet, rührt ihn fast zu Tränen.

»Wie viele?«

Groth stößt an einen Holztisch und erschrickt, wie auf frischer Tat ertappt. Eine Frau blickt ihm entgegen und sagt etwas, das Groth nicht versteht.

»Wie viele Karten?«, wiederholt die Frau.

Die Theaterbesucher drängen sich an ihm vorbei. Er ist der Korken, der den Durchfluss verstopft.

Groth beginnt zu schwitzen.

»Keine. Ich kann heute Abend nicht.«

»Sind Sie Abonnent?«

»Nein«, sagt Groth. »Im Gegenteil, ich bin neu hier.«

»Ach. Neu in Wechtershagen?«

Er ist jetzt wirklich bereit zu gehen.

»Welches Stück möchten Sie denn sehen?«

Gar keins, will Groth sagen.

Aber er hat wieder Saskias Stimme im Ohr. »Komm schon, Papa. Sei nett.« Ihr entging schon früher nichts, das war immer so gewesen. Er denkt an das kleine Mädchen, das selbst im hintersten Zimmer der Hamburger Parterrewohnung ausmachen konnte, wenn er vorne in der Küche Eier für Kuchenteig aufschlug.

Also sagt er, was ihm zuerst in den Sinn kommt: »Ein Hungerkünstler.«

»Aha. Da hätten wir noch Karten für die Premiere im Dezember.«

»Warum nicht.«

»Zwei Karten?«

»Eine.«

Die Frau mustert ihn kurz.

»Hier«, sagt sie und blättert durch ein Kartenpaket, das mit Gummi mehrfach zusammengeschnürt ist. »Nehmen Sie mal lieber zwei, für alle Fälle. Kostet ja nicht die Welt.« Sie schiebt Groth einen Zettel zu, darauf steht »Wir bauen um!« und das Wort »Spende«. Dann senkt sie die Stimme. »Das sind sehr gute Plätze. Dritte Reihe, Mitte. Dritte, Mitte. Reimt sich.«

Den Rest der Karten glättet sie zu einem ordentlichen Stapel und legt sie zurück in ihre Geldkassette.

»Im Dezember«, sagt Groth.

»Ja«, sagt die Frau, »genau. Da haben Sie sogar noch genug Zeit, die Erzählung vorab zu lesen.«

Groth fühlt sich so entwaffnet, dass er zugibt, ein Exemplar von Kafkas Gesammelten Erzählungen zu besitzen.

»Na, umso besser«, sagt die Frau. »Dann können Sie ja noch heute loslegen.«

Groth atmet auf, als er wieder im Freien steht. Er stopft die Karten in die Jackentasche. Der Geruch von Grillwurst steigt ihm in die Nase, also überquert er die Stargarder Straße zum Würstchenstand und holt sich eine. Er isst sie im Gehen, spaziert weiter zum Karl-Marx-Denkmal auf dem Marktplatz. Marx steht im offenen Mantel auf einem Podest und doziert in die Dunkelheit. Groth sieht sich selbst im fensterlosen Seminarraum der Polizeischule, über sich eine Deckenverkleidung, die an das Innere eines Eierkartons erinnert. Während er die Grundlagen der kriminalpolizeilichen Vernehmung darlegt, sitzt Gerstacker mit finsterer Miene in der ersten Reihe, hat ein Bein übergeschlagen und wippt immerfort mit seiner Stiefelette.

Im Hausflur angekommen, lässt Groth die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Das Geräusch hallt von den Wänden wider, dann wird es still bis auf das Surren des Lichtschalters auf dem Hof. Bald verstummt auch der, und Groth steht im Dunkeln. Er hat Glück, die Frau im Parterre links hat ihn nicht gehört. Aus einer der Wohnungen vernimmt Groth den Schlussgong der Tagesschau.

Er war jetzt also im Schauspielhaus, hat sich unter die Leute gemischt und gegen seinen Willen Theaterkarten gekauft.

»Na siehste, Papa«, hört er Saskia sagen. »Geht doch.«

2

Ihr fällt auf, dass die Schwäne nicht wie üblich am Bootsanleger entlangdümpeln. Regine steht vor der Ausflugsgaststätte Erholung und raucht. Eberhard, ihr Chef, schaut ihr im Moment besonders auf die Finger. Ja, sie war unaufmerksam heute Morgen. Hat zwei Bestellungen vergessen. Einmal Bauernfrühstück, einmal Rührei. Und sich entschuldigt.

»Montagmorgen«, hat sie gesagt und gelächelt.

»Montags geht meistens was schief«, hat der Gast gesagt.

Nur bei mir nicht, denkt Regine. Ihr sieht das gar nicht ähnlich.

Sie legt den Kopf in den Nacken und blinzelt in den Regen. Ein Nieselregen ohne Ambitionen. Sie hat sich trotzdem auf ihr Fahrrad geschwungen heute Morgen, denn sie hatte beim Aufwachen ein ungutes Gefühl und wollte früh los. Außerdem können die Fahrradtage zu dieser Jahreszeit schnell enden. Für sie bedeutet das Bus, und die Busse fahren nur zur vollen Stunde hier raus. Regine braucht ihren Schlaf. Meistens kommt sie am Morgen auf den letzten Drücker. Wenn sie ihr Fahrrad unter das Wellblechdach schiebt, hört sie es aus der Küche schon klappern. Um halb sieben fängt sie in der Erholung an.

Eberhard, der neue Pächter, stammt aus Demmin und will aus der Erholung ein Tagungshotel machen. Langfristig. Er hat sich noch nicht mal gewundert, als Regine vor sechs Monaten plötzlich aus Berlin auftauchte und sich um die Stelle bewarb, die seit Wochen vergeblich im Vier-Tore-Kurier ausgeschrieben war: Servierkraft in der Gastronomie. Wo denn sonst, hatte Regine gedacht, als sie die Anzeige las. Sie überlegte nicht lange. Schickte drei Zeilen Bewerbungsschreiben, einen halbseitigen Lebenslauf und eine Referenz vom Personalchef des Kempinski. Zwei Wochen später hatte sie die Stelle. Es gefiel ihr, dass Eberhard keine Fragen stellte.

Jetzt, im Herbst, haben sie fast nur noch Tagungsgäste. Heute eine Gruppe vom Treptower Fleischereimaschinenwerk. Ihr Fachbetrieb für industrielle Würfelschneider, Scheibenschneider, Streifenschneider. Der Tagungsleiter, ein Mittdreißiger, sieht aus, als wäre Anzugtragen eine Strafe.

Regine sucht das Ufer mit den Augen ab. Fehlanzeige. Der See liegt da wie ein Postkartenmotiv; Badestelle, Steg, Schilf, Bootsanleger, alles wie immer, nur die Schwäne sind wie wegradiert. Es erinnert sie an ein Rätsel aus der Fernsehzeitung: zwei Bilder, die identisch aussehen. Doch in das untere hat sich ein Fehler eingeschlichen. Finde den Unterschied! Sie tritt ihre Kippe in einem dunkelgefärbten Stück Erde zwischen zwei Grasbüscheln aus und lässt sie dort liegen.

Drinnen sitzen die letzten Tagungsteilnehmer beim Frühstück, also füllt Regine das Buffet auf, wobei Eberhard sie genau beäugt, damit sie ja nicht zu viele Butterstücke in die Eisschale gibt oder Zuckerpäckchen ins Glas. Regine versucht, ihre Hände ruhig zu halten. Eberhard ist auf seine Weise ganz schlau. Hat begriffen, dass Regine gerne nachfüllt, zum Beispiel die Butterwolken auf Eis, weil die oben schwimmen und nie ihre Form verlieren. Eberhard weiß auch, dass Regine zu oft das Drehkarussell mit den Ansichtskarten auffüllt. Manchmal steht sie gedankenverloren da, dreht hin und her und sucht zwischen den Motiven das eine, das sie noch nicht an Janina geschickt hat. Die mit Tieren drauf hat sie längst alle verbraucht. Kraniche über dem herbstlichen See. Entenküken im Schilf. Heute findet sie ganz hinten im Kükenstapel eine Karte mit allen Haltepunkten des Ausflugsdampfers und steckt sie ein.

Sie kann nichts direkt an Janina schicken. Die Post läuft über Frau Hehl vom Jugendamt. So ist das vorgeschrieben bei offener Adoption. Sie weiß nicht genau, wo Janina wohnt, aber dass sie Tiere mag, daran besteht für Regine kein Zweifel. Ist ja schließlich ihre Tochter.

Regine will gerade frische Bohnen in den Trichter des Kaffeeautomaten kippen, als sie eine Veränderung bemerkt, eine Aufhellung, als hätte jemand im Raum das Deckenlicht eingeschaltet. Aber die Lampen brennen schon. Durch die große Scheibe sieht sie zwei Autos lautlos an der Erholung vorbeirollen und weiter Richtung Uferweg. Die Wagen haben Blaulichter, die tonlos rotieren und Helligkeit in den diesigen Morgen streuen. Sie sind also da, denkt Regine, und im selben Moment verrutscht ihr die Kaffeetüte. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen.

Sie weiß ja, warum die Streifenwagen hier sind. Sie versteht bloß nicht, warum sie trotzdem derartig darüber erschrickt.

Regine braucht einen Moment, um sich zu sammeln. Sie geht im Kopf alles der Reihe nach durch. Das Pfund Kaffeebohnen ist in der Schütte. Jemand hat ihn entdeckt. Schütte schließen. Und die Polizei verständigt. Kontrollieren, dass der Deckel fest sitzt. Natürlich kommen mehrere Einsatzwagen, das ist immer so, wenn es einen Toten gibt. Ihr eigener Vater war bei der Polizei. Sie weiß, wie so was abläuft. Mahlwerk einschalten. Alles Routine.

Als stünde die Zeit nur für sie still, gehen alle anderen im Raum ihren Beschäftigungen nach. Eberhard schichtet Bierkisten, Svetlanas Arme greifen in der Durchreiche nach Tellern, gelb von Spiegeleiresten, die Tagungsgäste holen sich Kaffee und Gebäck, um in den Konferenzraum zu verschwinden.

»Ich geh mal eben nach hinten«, ruft Regine, nachdem das Mahlwerk verstummt ist. »Hinten« bedeutet Toilette.

Die Tür zum Konferenzraum ist zu. Ihr bleibt auf jeden Fall eine Stunde bis zur ersten Vortragspause. Eberhard steht jetzt am Tresen und unterhält sich mit einem Typ, der Schlakse heißt und neuerdings Stammgast ist.

»Jo«, ruft Eberhard zurück.

Schlakse dreht sich auf dem Barhocker um und starrt Regine genüsslich an, wie man Freiwild anstarrt. Sie kann seinen Blick noch im Rücken fühlen, als sie die Klappe im Tresen anhebt und über eine klebrige Gummimatte nach hinten zur Damentoilette geht. Als sich die Tür hinter ihr schließt, dreht sie den Wasserhahn auf und schaut in den Spiegel. Sie sieht gehetzt aus. Als sei die russische Mafia hinter ihr her. Bei dem Gedanken muss sie fast auflachen. Sie lässt kaltes Wasser in ihre Hände laufen und taucht ihr Gesicht hinein. Besser.

Eberhard fragte sie damals im Einstellungsgespräch, wo sie vorher gearbeitet habe, und Regine antwortete: »Im Kempinski.«

»Dem Hotel?«, fragte Eberhard.

Regine sagte nichts, sondern warf einen vielsagenden Blick auf ihr Bewerbungsschreiben, das vor Eberhard auf dem Tisch lag, während sie gleichzeitig das Kinn leicht anhob. Da stand alles drin. Eberhard war garantiert beeindruckt gewesen. Er wollte es nur nicht zugeben. Zum Glück gehörte er nicht zu der Sorte Chef, die zwischen den Zeilen lasen. Man konnte merken, dass Regines Leben nicht immer Überholspur geradeaus gelaufen war. Aber wer mit siebzehn schwanger wird und das Abi verpasst, kriegt nun mal nicht den roten Teppich ausgerollt, schon gar nicht in Berlin.

Angefangen hat sie in der Bierstube Zur Linde bei Herrn Ludewig, den seine Stammgäste Ludi nannten. In Prenzlauer Berg war Ludi eine Institution, weil er schon alles gesehen hatte, Krieg, alte Nazis, neue Nazis, Sozis, Kommunisten, Penner und Privilegierte. Nordhäuser Doppelkorn hat er ihnen allen serviert, allen bis knapp über den Eichstrich, wie er betonte, aber den Nazis und den Bonzen niemals kommentarlos.

»Die ham ihr Fett weggekriegt bei mir. Wer hier rinne kommt, muss die Uniform zu Hause lassen. Das ist Pflicht.«

Ludi hatte solchen Bluthochdruck, dass er manchmal auf einen Stuhl sank und sich den Kopf hielt.

»Mir platzt mal wieder der Schädel«, sagte er dann.

Regine, damals kaum neunzehn, reichte ihm in solchen Momenten einen kalten Lappen, den legte er sich erst auf den Nacken, dann auf die Stirn.

»Bist ’ne Perle«, sagte Ludi zu ihr. »So, und nu geht’s wieder.«

Ludi konnte ihr nicht viel zahlen, aber er schrieb ihr ein glühendes Zeugnis, das Regine zu einer Stelle in der neurenovierten Bar des Kempinski Hotels verhalf. Sie musste sich ganz in Schwarz kleiden, enge Hose, enge schwarze Bluse, und bekam ein gefrästes Ansteckschild mit ihrem Namen drauf. Damals war sie noch verheiratet und nannte dem Personalchef des Kempinski ihren neuen Nachnamen. Regine tat es mit Inbrunst, so froh war sie, den Mädchennamen abgelegt zu haben. Allein deswegen hatte sich ihre elfmonatige Ehe schon gelohnt.

Hundertvierzig Ostmark hatte es gekostet, ihre Ehe zu beenden, siebzig für sie und siebzig für Maik, aber Maik war blank, und so zahlte Regine für ihn mit. Eine Investition in die Zukunft.

Und nun kam eine vom Kempinski zu Eberhard in die Erholung und bewarb sich um eine Stelle, die viel schlechter bezahlt war und noch dazu morgens um halb sieben begann. Eberhard schien beschlossen zu haben, sich nicht zu wundern. Er übersah geflissentlich Regines Perlenqualität, kommandierte sie und Svetlana herum, wie er es sich wahrscheinlich zu Hause von seinem Vater abgeguckt hatte. Regine war es egal.

Hier erkannte sie niemand. Niemand interessierte sich sonderlich für sie. Was hätte sie auch vorhaben sollen in dieser Einöde.

Wenn sie gefragt wird, was sie bloß hierher verschlagen hat, von Svetlana zum Beispiel, die eine neugierige Ader hat, dann sagt sie, dass sie die Wohnung ihrer Oma auflöse. Deshalb sei sie hier. Es ist noch nicht mal gelogen.

Es ist Svetlana, die ihnen die Nachricht überbringt, dass draußen alles voller Polizei sei.

»Polizei?«, wiederholt Eberhard.

Eberhard und Schlakse schauen sich an.

Eberhard klappt den Tresen auf und macht sich, gefolgt von Schlakse, auf den Weg nach draußen. Svetlana geht mit und gestikuliert ihnen die Einzelheiten dessen, was sie herausgefunden hat. Wohin die Polizeiautos gefahren sind, wo genau die Polizisten jetzt suchen. Regine kann durchs Fenster sehen, wie Svetlana zum Bootssteg zeigt, einmal, noch mal. Schlakse stemmt die Hände in die Seiten. Eberhard kratzt sich am Kopf.

In diesem Moment rollt auf dem schmalen Fußweg ein weiteres Auto an ihnen vorbei, eines ohne Blaulicht, darin ein Mann, der stur geradeaus schaut und die Ansammlung vor der Erholung nicht beachtet.

Regine steht jetzt allein im Speiseraum. Sie fühlt sich wie gelähmt. Eberhard, Schlakse und Svetlana sind bis runter zum See gegangen, aber weiter trauen sie sich nicht und treten das Gras platt.

Als hinter ihr eine Stimme fragt: »Wo sind denn alle?«, schrickt Regine so zusammen, dass sie einen kurzen Laut ausstößt.

Hinter ihr steht der Tagungsleiter. Er sieht genauso erschrocken aus wie sie. Die Anzughose ist ihm im Lauf der letzten Stunde so weit von der Taille gerutscht, dass sich der Hosenstoff unter dem Schuhabsatz ballt.

»Draußen ist ein Polizeieinsatz«, sagt Regine. »Die anderen sind mal gucken gegangen.«

»Ach«, sagt der Tagungsleiter. Er schaut aus dem Fenster, beugt sich ein wenig nach rechts, um besser zu sehen.

»Hättet ihr vielleicht noch ein Verlängerungskabel für uns?«, fragt er, ohne den Blick vom Fenster zu lösen.

Regine überlegt, wo sie eines gesehen hat.

»Ich geh mal nachschauen«, sagt sie.

Als sie zurückkommt, steht der Tagungsleiter draußen bei den anderen. Seine Seminargruppe ist aus dem Konferenzraum gekommen, und Regine hat plötzlich alle Hände voll zu tun. Sie schenkt Kaffee nach, Tee, und holt mehr Gebäck. Es sind trockene Dosenkekse, aber das scheint keinen zu stören. So verstreicht eine Viertelstunde, bis Eberhard endlich wieder auftaucht, im Schlepptau den Tagungsleiter. Sie berichten brühwarm, was sie in Erfahrung gebracht haben, dass es nämlich einen Toten gegeben habe, unten am Ufer.

»Gruselig«, sagt jemand.

»Wahrscheinlich Unfall«, sagt Eberhard. Das komme hier am See schon mal vor.

Ach wirklich, denkt Regine. Sie löst den Metalldeckel von der nächsten Keksdose und stellt sie neben die Reste des Frühstücksbuffets.

Irgendwann geht auch Regine nach draußen. Svetlana steht noch immer unten am Uferweg und gafft. Regine schlendert zu ihr hin. Sie sollte das nicht tun. Sie weiß, dass sie einfach im Gasthaus bleiben sollte, ihre Arbeit machen, fertig. Aber da steht sie schon auf dem Uferweg, lässt ihren Blick den Reifenspuren folgen, die die Streifenwagen ins Gras geplättet haben. Vom See her erwischt sie ein so kräftiger Windstoß, dass sie ihre Strickjacke fest zuzieht. Sie hält ihr Gesicht in den Wind, bis ihre Augen tränen und alles um sie herum konturlos wird. Aus den Stimmen, die jetzt an ihr Ohr dringen, filtert sie fremd klingende Worte heraus. Tatort. Markierung. Suizid. Das Wort, das sie fürchtet, ist nicht dabei.

Da liegt eine Rolle Absperrband auf dem Weg, das lose Ende flattert im Wind, ein Mann, der aus der Ferne wie Peter Maffay aussieht, hat eine Kamera vor dem Auge und beugt sich von oben über etwas, das im Gras liegt.

Der Mann mit der Kamera knipst. Seine Schuhe knirschen über Rollsplitt. Es klingt, als würden kleine Knochen unter seinen Sohlen zerknacken. Irgendwann dreht er sich zu Regine um, zückt die Kamera, lässt sie sinken, als wolle er sich vergewissern, dass sie mitspielt, dann stellt er scharf und fotografiert sie.

3

Als Groth am Montagmorgen auf dem Revier eintrifft, steht Gerda Küttels Schreibmaschine abgedeckt da. In der Kaffeedose findet Groth den Messlöffel auf blankem Boden. Er hat in kurzen Etappen geschlafen und das Umspringen der Leuchtziffern zu fast jeder Stunde auf dem Wecker verfolgt. Drei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr. Um sechs hat er aufgegeben. Auf diese Weise konnte er die Wohnung eine halbe Stunde früher verlassen als üblich. Er war sich sicher, dass er zu dieser Stunde der Frau im Parterre links nicht in die Arme laufen würde. Aber sie befand sich bereits auf ihrem Posten und lüftete die Bettdecke zum Hof hin aus.

»Guten Morgen, Herr Groth. Auch schon wieder Montag.«

Würde ihn jemand fragen, warum er nicht schlafen kann, dann wäre die Antwort, dass ihn die neue Umgebung nicht zur Ruhe kommen lässt. Außerdem schmerzt sein Rücken, seit er beim Umzug die Bücherkisten mit den Erstausgaben hinauf in den dritten Stock geschleppt hat, weil er sie dem Umzugsunternehmen nicht anvertrauen wollte. Das ist genau zwei Wochen her. In seinem Alter kann er sich Eigenheiten wie diese nicht mehr leisten.

Als Gerda Küttel erscheint, bringt sie einen Schwung Herbstkälte mit herein.

»Ich bin noch mal schnell zum neuen Tchibo«, sagt sie. »Bohnenkaffee war aus.«

Groth verfolgt das Ritual ihrer Ankunft, sieht ihr zu, wie sie die Handgriffe abspult, die Tasche unter dem Schreibtisch platziert, das Halstuch entknotet, den Mantel auszieht, auf den Bügel an der Garderobe hängt, dann das Tuch in den Ärmel stopft, das aufgrund seines glatten Polyestergemischs jedoch einfach durchrutscht und lautlos auf dem Boden landet. Gerda Küttel ist neu hier, genau wie er. Groth selbst hat sie unter drei Bewerberinnen ausgesucht, weil sie ihm im Vorstellungsgespräch auf den Kopf zusagte, dass er für seine neuen Visitenkarten zu viel bezahlt habe. Er hat sich die Karten aus einem Impuls heraus selbst besorgt, nachdem Bekendorf ihm zu verstehen gab, die Beschaffung über den Dienstweg könne dauern.

Die Visitenkarten haben ihn zweiundvierzig Mark gekostet – nach Gerda Küttels Meinung ein Vermögen.

»Die haben Sie über den Tisch gezogen, Herr Groth.«

Auf den Visitenkarten steht: Arno Groth, Kriminalhauptkommissar, darunter seine Durchwahl. Dabei hat er es belassen. Mehr muss man nicht wissen.

»Wo sind denn alle?«, fragt Groth, während Gerda sich bückt, das Tuch aufhebt und um den Haken des Bügels schlingt.

»Ja, haben Sie es denn noch nicht gehört, Herr Groth? Die sind ausgerückt. Heute Morgen wurde in aller Frühe unten am Bootsanleger eine Leiche gefunden. Im Wasser.«

»Im Wasser«, wiederholt Groth.

»Genau. Da ist einer ertrunken. Ist das nicht tragisch?«

Groth antwortet nicht.

»Der Bunterode hat mir das gerade erzählt. Ging mit meiner Tochter auf die Schule. Jetzt ist er bei uns. Polizeimeisteranwärter. Sieht richtig adrett aus in der Uniform, das kann ich Ihnen sagen. Ich treffe den Bunterode manchmal zufällig beim neuen Tchibo.«

Gerda zeigt auf die Packung vakuumverpackten Kaffee auf dem Schreibtisch.

Man hat ihn nicht informiert. Man hat ihn keineswegs vergessen, o nein, man hat ihn nicht informiert. Das ist ein großer Unterschied. Riesig.

Gerstacker war das, wer sonst.

Groth fühlt sich, als wäre ihm soeben der Bus vor der Nase weggefahren.

Er kann sich ausmalen, dass Gerstacker ein besonderes Vergnügen daran hat, den neuen Kollegen zu übergehen. Wahrscheinlich spaziert er gerade in seinen Stiefeletten über den Bootssteg und kommandiert alle herum.

Einer spontanen Eingebung folgend greift Groth nach den Autoschlüsseln und seiner Jacke, die er über die Stuhllehne drapiert hat. Gerda sprach vom Bootsanleger. Er weiß, wo das ist. Natürlich weiß er das, er kennt jeden Pfahl der Anlegestelle seit seiner Kindheit. Sollen sie ruhig große Augen machen, wenn der neue Aufbauhelfer Ost dort ungefragt auftaucht.

Krähen stieben kreischend auf, als Groth querfeldein über eine Rasenfläche auf den Wechtsee zumarschiert. Er hat sein Auto an der Zufahrtsstraße abgestellt, sobald er die Einsatzwagen sah. Auf der Höhe des Bootsstegs bleibt Groth stehen. Gelbes Absperrband markiert den Tatort, die losen Enden flattern im Wind. Groth nimmt flüchtig einige braune Glasscherben wahr, die auf dem Boden herumliegen.

Hinter ihm prasseln die Krähen mit lautem Flügelschlag ins zerwühlte Gras zurück. Ihr Krächzen geht in ein Klappern über wie von Kastagnetten.

Groth entdeckt eine Gruppe am Strand, aus der Gerstacker heraussticht, neben ihm Krüger vom Dauerdienst und Schaller, ein jüngerer Kollege der Kriminalpolizei. Groth beobachtet, wie sie gestikulieren. Mit ausgestreckten Armen werden Achsen in die Luft gemalt, der Fundort in Sektoren eingeteilt, als gingen sie Spielzüge durch.

Groth duckt sich unter dem Absperrband hindurch und geht zum Ufer. Zwei Kollegen der Kriminaltechnik sind bei der Arbeit, sie nicken ihm müde zu, als er sich nähert. An der Wasserkante haben sie einige Höcker Schilf breitgetreten und ihre Koffer auf dem braunen Teppich aus verschmiertem Gras abgestellt.

Unmittelbar davor liegt der Tote bäuchlings im Flachwasser. Groth kann einen Hemdsärmel ausmachen, dann, etwas tiefer im Schlick, die Beine.

Dass der Tote barfuß ist, nimmt Groth noch als Zufall hin. Bis er die Hose sieht. Der Stoff hat die Farbe des Schlicks angenommen. Trotzdem identifiziert Groth sofort breitgerippten Cord.

Er fühlt ein leichtes Brennen in der Brust, das ihn kurz irritiert, bevor es vergeht. Groth macht einen Schritt nach vorne, um besser zu sehen. Sein rechter Fuß gerät dabei bis zum Knöchel ins Wasser. Die Eiseskälte trifft ihn ungebremst. Groth hält die Luft an. Er sieht jetzt den Kopf des Toten, nicht das Gesicht, das von ihm abgewandt liegt, aber den Hinterkopf. Einen Haarschopf, der mal blond war und jetzt von der Nässe nachgedunkelt ist. Vielleicht auch von Blut, das ist schwer auszumachen. Der Mann, der da liegt, ist Eck.

Ich kenne kaum jemanden in dieser Stadt, denkt er. Aber den ersten Toten, mit dem wir es zu tun haben, ausgerechnet den kenne ich.

»Ah, Groth.«

Bekendorf ist eingetroffen und kommt auf ihn zu, gefolgt von Gerstacker und einem sportlich wirkenden Mann mit Arzttasche. Groth bleibt stehen, als sie an ihm vorbei zum Wasser gehen. Er versucht, über die Rücken hinwegzuschauen, um den Toten genauer zu sehen. Bekendorf bittet die beiden Kriminaltechniker um einen Bericht, und Groth hört nur halb hin, während er die Handgriffe des Mediziners verfolgt, der sich vor den Toten gekniet hat und dessen Kopf vorsichtig bewegt.

Unterdessen haben sich die beiden Techniker zu Bekendorf gesellt. »Der Mann wurde angeschwemmt. Es gibt nur eine Fußspur, genauer gesagt den Teil einer Fußspur, aber bisher ist unklar, ob der Abdruck von dem Angler stammt, der ihn heute Morgen entdeckt hat.«

»Kann man sagen, von wo er angeschwemmt wurde?«, fragt Bekendorf.

»Der Strömung nach wahrscheinlich von dort.« Einer der Techniker deutet auf die hölzernen Dalben am seeseitigen Ende des Bootsstegs. »Von dort hat man ihn auch zuerst gesichtet.«

»Fragt sich nur, ob er am Steg schon tot war«, hört Groth Gerstacker sagen.

»Er hat eine Risswunde am Kopf«, erklärt jetzt der Arzt. Er ist aufgestanden und reibt sich die Hände an einem Stofftaschentuch sauber. »Über dem rechten Ohr, knapp oberhalb der Hutkrempenlinie. Sieht man von hier aus schlecht. Mögliche Schädelfraktur.«

»Und wie lange liegt er schon hier?«

»Sicher seit Stunden.«

Groth betrachtet den Körper des Mannes, den er kennt. Ab und zu stößt eine Welle gegen den Toten, nimmt den Körper und drängt ihn sanft gegen das Ufer. Dabei hebt und senkt sich ein Bein in stetem Rhythmus, als sei da noch ein Rest Leben am Werk. Eine umgestülpte Hosentasche wölbt sich aus dem Wasser wie ein Ballon.

»Ich kenne den Mann«, sagt Groth jetzt.

Alle Blicke richten sich auf ihn.

»Er war letzte Woche bei mir auf der Wache. Eck. Der Mann heißt Eck.«

»Eck?«, wiederholt Bekendorf.

»Ihm wurde ein Boot gestohlen«, sagt Groth.

Die Worte klingen naiv, hilflos.

Alle betrachten den Leichnam ohne Boot.

»Sind Sie sicher, dass das derselbe Mann ist?«, fragt Gerstacker.

Groth nickt. »Ziemlich sicher.«