Das Schweigen in mir - Layla AlAmmar - E-Book

Das Schweigen in mir E-Book

Layla AlAmmar

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Beschreibung

Eine junge Frau blickt aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die kleinen Dramen, die sich in ihrer Nachbarschaft abspielen, und beobachtet alles: Streitereien, Sex, glückliche und unglückliche Familien. Nur ihr eigenes Leben fühlt sich an, als hätte jemand die Stopptaste gedrückt. Nachdem der Bürgerkrieg in ihrer syrischen Heimat ausbrach, flüchtete die junge Journalistin nach Europa. Seit ihrer Ankunft in England fühlt sie sich isoliert und mit antimuslimischen Vorurteilen konfrontiert. Gezeichnet von den Kriegstraumata verstummt sie. Statt zu sprechen, beginnt sie zu schreiben - über den Arabischen Frühling, den syrischen Bürgerkrieg, die Flucht nach Europa und die Einsamkeit im Exilland. Ihre Beiträge werden in einem Online-Magazin veröffentlicht, unter dem Pseudonym "Die Stimmlose". Nach und nach findet sie die Kraft, ihre Wohnung zu verlassen und die Nachbarschaft zu erkunden. Sie entdeckt den Tante-Emma-Laden um die Ecke, eine nahegelegene Moschee, einen Buchladen, einen Waschsalon und findet langsam Anschluss. Als ein Fest der Moschee von Rassisten überfallen wird, muss sie sich entscheiden: Bleibt sie stumme Beobachterin oder zeigt sie Haltung? Das Schweigen in mir fängt das fragmentierte Leben einer Geflüchteten in all seinen Farben ein und führt dabei deutlich vor Augen, wie wichtig es ist, sich für Verständigung und ein Miteinander einzusetzen. Das gleichnamige Hörbuch erscheint bei GOYALiT. Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. - Literaturen der Welt.

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Seitenzahl: 384

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Layla AlAmmar

Das Schweigen in mir

Roman

Das Buch

Eine junge Frau blickt aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die kleinen Dramen, die sich in ihrer Nachbarschaft abspielen, und beobachtet alles: Streitereien, Sex, glückliche und unglückliche Familien. Nur ihr eigenes Leben fühlt sich an, als hätte jemand die Stopp-Taste gedrückt. Nachdem der Bürgerkrieg in ihrer syrischen Heimat ausbrach, ist die Journalistin nach Europa geflüchtet. Seit ihrer Ankunft in England fühlt sie sich isoliert und mit antimuslimischen Vorurteilen konfrontiert. Gezeichnet von den Kriegstraumata verstummt sie. Dafür beginnt sie zu schreiben – über den Arabischen Frühling, den syrischen Bürgerkrieg, die Fluchterfahrung und die Einsamkeit im Exilland. Als ein Fest der nahe gelegenen Moschee von Rassisten überfallen wird, muss sie sich entscheiden: Bleibt sie stumme Beobachterin oder zeigt sie Haltung?

Mit brillanter, poetischer Sprache erforscht Layla AlAmmar die Bedeutung von Heimat und kultureller Identität.

 

Die Autorin

Layla AlAmmar wuchs zweisprachig als Kind einer US-amerikanischen Mutter und eines kuwaitischen Vaters in Kuwait auf. Sie studierte Kreatives Schreiben an der Universität Edinburgh. Sie hat u.a. in The Evening Standard und im Aesthetica Magazine veröffentlicht, bei dessen Creative Writing Award sie 2014 Finalistin war. Im Jahr 2018 war sie beim Small Wonder Short Story Festival tätig. Derzeit lebt Layla AlAmmar in Großbritannien, wo sie über arabische Frauenliteratur promoviert. Das Schweigen in mir ist ihr zweiter Roman.

 

Die Übersetzerin

Yasemin Dinçer studierte Literaturübersetzung in Düsseldorf. Sie hat unter anderem Werke von Oyinkan Braithwaite, Leila Mottley, Paula McLain und Shirley Hazzard aus dem Englischen übertragen und war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin.

Das Schicksal zerschlägt uns, als wären wir aus Glas, und unsere Scherben werden nie wieder zusammengefügt.

ABU’L-’ALA AL-MA’ARRI

 

Wenn die Seele eines Menschen in diesem Land geboren wird, dann werden Netze nach ihr ausgeworfen, um sie daran zu hindern, zu entfliegen. Du erzählst mir was von Nationalität, Sprache, Religion. Ich werde versuchen, an diesen Netzen vorbeizufliegen.

JAMES JOYCE

 

Als hätte die Welt aufgehört zu rufen, als wären wir aufgetaucht aus dem Strudel ihrer Forderungen, in einer wilden Mischung aus Feigheit und Mut, um anderen zu sagen: »Ich wünschte, es gäbe dich nicht.«

KHALED MATTAWA

1Mann-ohne-Licht

East Tower, dritter Stock, Wohnung zwei schaltet so gut wie nie das Licht an, insbesondere im Sommer, wenn die Sonne lange am Himmel steht und das Tageslicht ein träger Trödler ist und kaum Platz macht für die Nacht, ehe es schon wieder zurückkehrt. Er wechselt seine Kleidung, trinkt seine Softdrinks und Ciders und lässt Käse auf Toast schmelzen, ohne das Licht anzuschalten. Er schaut in den Regen, schaut Fernsehen, brütet über großen und kleinen Notizblöcken, masturbiert unter marineblauen und grauen Laken. Er telefoniert, räumt seine Chips und Instantnudeln in den Schrank, macht den Abwasch – alles im diffusen Licht der Sommerabende.

Er redet nicht mit mir, hat es noch nicht einmal versucht. Nicht, wenn wir uns in dem Waschraum die Straße hinunter begegnen, der von allen in der Wohnsiedlung genutzt wird, nicht in dem Laden an der Ecke oder in dem Café, wo er sich Eiskaffee und unverschämt teure Salate holt und mir beim Anblick der hausgemachten Eiscreme das Wasser im Mund zusammenläuft, ohne dass ich je welche kaufe. Vom Fenster aus schenkt er mir ein halbes Lächeln und ein Nicken, wenn er sich morgens ohne Oberteil oder schamlos ganz nackt wachkratzt. Aber er redet nicht, schaut nicht einmal richtig hin. Mir gefällt es, dass er nie mit mir redet. So ist es sicherer.

Er wuselt stundenlang in seiner Wohnung herum und entledigt sich dabei einer Energie, die auf mich manisch wirkt. Sein Zimmer ist nicht unordentlich, sieht jedoch bewohnt aus, mit Kleidern, Schuhen und Handtüchern, die überall verstreut liegen, und einem Bett, das kaum je gemacht ist. Ich selbst mache mein Bett auch nie, also verurteile ich ihn dafür nicht. Er räumt häufig um, nimmt eine Tasche aus einem Schrank und stellt sie in einen anderen, verrückt Möbel in sich überschneidenden Mustern, schiebt Schuhkartons aus einem Zimmer in das andere, als befände er sich stets im Prozess des Ein- oder Ausziehens. Unruhig, als würde er die Gestaltung seiner Welt nie ganz richtig hinbekommen. Er reiht Gegenstände neben der Tür auf, nur um sie ein paar Tage später zurück ins Schlafzimmer zu bringen.

Unter seinem Bett steht eine Kiste. Sie ist groß und braun, und er zieht sie einmal am Tag hervor. Er setzt sich auf den Fußboden und zerrt sie in seine Richtung, klappt den Deckel auf und wühlt eine Weile darin herum. Er holt Sachen heraus und legt sie wieder hinein, dann schiebt er die Kiste zurück an ihren Platz. Ich weiß nicht, was in der Kiste ist. Gelegentlich vertreibe ich mir die Zeit mit Raten. Ich sehe immer nur seinen schmalen Rücken und seine knochigen Schultern, also stelle ich mir manchmal vor, in der Kiste befände sich Make-up, mit dem er sich heimlich schminkt. Ich stelle mir dicken schwarzen Kajal um seine Augen vor, dazu schimmernden Lidschatten und rubinrote Lippen und Wangen, und wie er sich in einem kleinen Handspiegel bewundert, den ich nicht sehen kann. Manchmal denke ich, vielleicht stecken Erinnerungen an vergangene Beziehungen darin – abgerissene Kino- und Konzertkarten, zurückgelassene Parfumflakons, aus denen er sich die Innenseiten seiner Handgelenke besprüht, um den ganzen Tag nach ihr zu riechen, oder womöglich ein T-Shirt oder eine Unterhose, an der er in der Stille eines späten Abends schnuppert. Manchmal denke ich, es könnte ein geliebtes Haustier sein, ausgestopft und verborgen in der Kiste, um es niemals gehen lassen zu müssen. Ich mag dieses Ratespiel, aber die Wahrheit ist: ich weiß es einfach nicht.

Ich habe auch eine Kiste. In meinem Kopf. Darin steckt alles, was zu viel ist, keinen Sinn ergibt. Bilder und Geräusche und Gerüche und Texturen versauern in Kisten, vollgestopft und verborgen, gestapelt in einem Raum meines Geistes. Sie füllen die Ecken aus, wachsen höher und höher, Kiste um Kiste, bis zur Decke. Von Zeit zu Zeit wölbt sich und wogt der Raum wie ein Bauch in den Wehen. Scharfe Kanten stechen in mein Bewusstsein. Dort ist es kaum jemals ruhig.

Im Wohnzimmer steht eine alte ramponierte Truhe, die ihm als Sofatisch dient. Darauf rollt er seine Joints, zieht dafür grüne Flusen aus einer Plastiktüte, denen er Tabak aus einem großen Umschlag untermischt. Die Mixtur legt er in einer ordentlichen Linie auf die Falte des Papiers, rollt und rollt, bis er den Rand zum Versiegeln ableckt und das Ende zusammendrückt. Er raucht auf dem Balkon. Er lässt die Beine durch die kalten Stäbe aus Stahl und Eisen baumeln, beobachtet den Himmel oder die Sterne oder auch die Leute in meinem Hochhaus und raucht. Die Joints spült er mit kräftigen Schlucken Bier hinunter, und danach raucht er eine Reihe normaler Zigaretten, und manchmal liege ich nachts im Bett und sehe drüben nichts als das Aufflammen eines Feuerzeugs oder eine orange Spitze, die in der Dunkelheit brennt, und dann fühle ich mich nicht mehr so einsam.

Wenn er eine Frau zu Besuch hat, schaltet er das Licht an. Frauen werden nervös, wenn man sie zu lange im Dunkeln lässt. Wenn er eine von ihnen zu Hause empfängt, ist die Wohnung erleuchtet wie an Weihnachten – helle Deckenlampen, weiches Licht auf Beistelltischen, jene kleinen künstlichen Kerzen, die bei Restaurants und Cafés so beliebt sind, weil man damit ein, zwei Pfund mehr für die Pasta oder den gemischten Salat in Rechnung stellen kann.

Ich male mir aus, wie er seine Frauen in jene Art von Restaurants ausführt, Läden mit flackerndem Licht und Hauswein, der so gut ist, dass sie ihn nicht für knauserig hält, wenn er ihn bestellt, die Namen tragen wie Piccola Cucina und Cucina Vittoria, sodass er sie beeindrucken kann, wenn er ihr erklärt, Cucina heiße auf Italienisch »Küche« und dies bedeute, das Lokal sei rustikal.

2Der Dad

South Tower A, zweiter Stock, Wohnung drei. Der Dad vergisst ständig seine Karte, als würde er sich nach einer Zeit zurücksehnen, als Türen noch mit echten Schlüsseln geöffnet wurden, und könnte sich nicht an diese neue Realität gewöhnen, in der er sich nun wiederfindet. Ich habe eine andere Haustür – mein Gebäude ist älter und nicht renoviert, anders als die neuen, die überall in der Gegend aus dem Boden schießen –, dennoch kann ich ihn, zumindest was diese eine Sache angeht, gut verstehen. Er ruft dann nach den Kindern, meistens am Telefon, aber wenn es Freitagabend und er betrunken ist, auch einfach mit lauter Stimme. »Matt! Chloe!!«, schreit er, probiert einen Namen nach dem anderen, bis eins seiner Kinder die Balkontür aufschiebt. Anscheinend funktioniert ihr Türsummer nicht, da er die Kinder jedes Mal auffordert, ihm die Karte hinunterzuwerfen. Meistens übernimmt es der Junge namens Matt. Jener schlaksige blonde Kerl, der seinem Vater kein bisschen ähnlich sieht, beugt sich dann vor und schleudert seinen Arm einmal, zweimal und dann noch einmal nach vorn, ehe er loslässt.

Die Karte flattert und segelt nach unten. Manchmal landet sie direkt vor den Füßen des Dads, worauf dieser den Daumen reckt, ehe er sich bückt, um sie aufzuheben. Manchmal schwirrt sie um seinen Kopf, und er schnappt nach ihr wie ein Kind auf der Jagd nach Schmetterlingen. Manchmal landet sie in den dichten Hecken, die den Hof umsäumen, und er stößt eine Reihe von Flüchen aus, während er versucht, sie herauszufischen.

Wenn er dort unten schimpft, sodass seine Scheißes und Fucks in die Luft aufsteigen, sitzt Mann-ohne-Licht gelegentlich rauchend auf seinem Balkon, und dann verdreht er vor mir die Augen, ehe er entweder hineingeht und die Tür hinter sich zuzieht oder seinen Plattenspieler lauter stellt, um es zu übertönen. Der Dad flucht lange. Auch nachdem er es nach oben in die Wohnung geschafft hat, dringt seine Stimme aus ihrem Fenster herüber in meins, wenn er herumschreit über dieses beschissene Wohnhaus, und dass er die Karte nicht in seine Brieftasche zu seiner Bankkarte und seinem Ausweis stecken wolle, denn dort gehört ein Schlüssel nicht hin, Helen, und wieso musstest du auch unbedingt diese beschissene kleinkarierte Wohnung haben?

Die Mum der Kids ist im Gegensatz zu ihm leise und winzig. Ich glaube nicht, jemals ihre Stimme gehört zu haben. Vielleicht ist sie wie ich. Sie ist eine mausartige Frau, klein und unscheinbar, mit dünnem braunem Haar und großen blauen Zeichentrick-Augen. Beim Gehen hält sie den Blick gesenkt und die Schultern leicht nach vorn gebeugt, als wäre sie eingefroren in der Bewegung, sich selbst zu umarmen. Sie huscht überallhin – rasche Schritte zum Eckladen oder über die Straße, rastlos von einem Bein auf das andere tretend, wenn sie vor den Aufzügen oder an Fußgängerüberwegen wartet, als käme sie zu spät zu einer Verabredung, oder als würde jemand sie beobachten.

Manchmal sind auf ihr Handabdrücke zu sehen, lila Stellen von Fingern um ihren Arm oder ein Daumenabdruck an ihrem Schlüsselbein, und wenn sie mich beim Hinschauen erwischt, zieht sie den Kragen ihres Pullovers enger oder versteckt die Hände in den Ärmeln, und ich gebe vor, nichts zu sehen, und versuche, mir einzureden, das sei okay von mir.

Er, der Dad, hasst es, dass ich sie aus dem Fenster beobachte. Begegnen unsere Blicke sich, wenn er am Fenster steht oder auf dem Sofa sitzt oder Hemden von dem Wäscheständer in ihrem Wohnzimmer nimmt, schüttelt er den Kopf und macht eine Art von »Was?«-Geste: stoppliges Kinn, das trotzig nach vorn zuckt. Als würde ihm die ganze verdammte Wohnsiedlung gehören. In ihrem Gebäude befindet sich eine Ferienwohnung, Wohnung zwei im dritten Stock. Sie ist kaum je vermietet, und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass der Besitzer sie nicht mehr anbietet, oder weil es eine Bruchbude ist. Von meinem Fenster aus sehe ich lose Kabel aus der Decke baumeln und Flecken auf dem blassblauen Sessel sowie vor dem Fenster aufgereihte schmuddelige Schnapsflaschen, die schimmern, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel auf sie fällt. Vor ein paar Monaten hat allerdings ein amerikanisches Paar dort gewohnt, vollbepackt mit Wanderrucksäcken, Reisetaschen und einem großen Koffer, auf dessen Anhänger KTM stand. Sie hatten etwas vor die Tür gestellt, um sie offen zu halten, während sie ihre Sachen hineintrugen, und der Dad, dem so der Weg ins Gebäude versperrt war, sah zu, wie sie an ihrem Kram schoben und zerrten. Er stand einfach nur da und blickte grimmig aus seinem hässlichen Gesicht mit der leuchtend roten Nase. Er hielt weder die Tür auf, noch bot er seine Hilfe an oder begrüßte sie. Er stand einfach nur da, die Hände an den Hüften, grummelte und schaute böse, bis sie ihm Platz machten.

Er ist so ein Typ, der jemandes noch feuchte Kleidung aus dem Trockner nimmt und sie auf den Fußboden wirft, weil er seine eigene Wäsche für wichtiger hält.

3Das alte Ehepaar

West Tower, vierter Stock, Wohnung vier. Meine Nachbarn sind ein altes Ehepaar, dessen Nachnamen ich mir nicht gemerkt habe. Ich glaube, dass er osteuropäisch ist, vielleicht jüdisch. Er, Tom, sieht aus, als wäre er einst kräftig gewesen, aber nun neigt er zu einer Seite, wenn er den Flur hinunterschlurft. Er ist stets sorgfältig gekleidet, trägt frische weiße oder beigefarbene Button-Down-Hemden und schwere Blazer zu gebügelten Hosen und glänzend braunen Schuhen. Bei ihm habe ich das Gefühl, dass sein makelloses Äußeres, die Tatsache, dass er immer so sauber ist, eine Art Abwehrmechanismus darstellt, ein Schutz vor Menschen, die ihm vorhalten könnten, er würde nicht hierhergehören und solle dahin zurückgehen, wo er herkomme. Er erinnert mich an einen Obdachlosen, der sich, nachdem er irgendwie das Kleingeld für den Bus zusammenbekommen hat, tadellos verhält, um nicht hinausgeworfen zu werden. Auf Toms großer Nase befindet sich ein dunkler Fleck, der nicht verschwindet, und der Mittelfinger seiner rechten Hand geht nur bis zum zweiten Knöchel.

Er war in einem Krieg, allerdings bin ich mir nicht sicher, in welchem. Das macht ihn nicht unbedingt zu etwas Besonderem, man zeige auf einen beliebigen Mann seines Alters, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dieser in einem Krieg gewesen ist. Es sind die Jüngeren, bei denen man es nie genau sagen kann – der Typ im Laden, der mit einer etwas zu steifen Körperhaltung die Brotauswahl begutachtet; die junge Mutter, deren Blick beim Warten auf den Bus pausenlos die Straße scannt; das kleine Mädchen, das zu schnell erschrickt, oder der Junge mit dem leeren Gesichtsausdruck.

Meine Nachbarn lassen ihre Fenster die meiste Zeit geöffnet – was für alte Menschen seltsam ist, sogar im Sommer. Zu Hause befand sich meine Großmutter in einem Dauerzustand des Beinahe-Erfrierens. Selbst an glühend heißen Julitagen hüllte sie sich in dicke Schals und wollene Strickjacken. Im Januar saß sie praktisch in dem Heizkessel, in dem wir Tee und Milch erhitzten. Baba brüllte sie dann an, sie solle aus dem Weg gehen, als wäre sie sein sechstes Kind anstelle seiner Mutter, und schüttelte den Kopf und murmelte etwas über die Sturheit der Alten, wenn sie sich weigerte.

Tom ist ruhig, aber sie schreit viel, ob gegenüber Menschen am Telefon, ihm oder dem Fernseher. Sie mag Quizshows, und ich höre sie dann rufen: »Hexenstunde«, oder: »Das ist South of the Border, Yutzi!« Der Fernseher läuft pausenlos, die Lautstärke hochgedreht. Ich schätze, er füllt den Raum aus, den früher einmal Gespräche einnahmen. Ich höre sie kaum miteinander reden, hauptsächlich erklingt bloß Werbung für Lebensversicherungen oder Putzmittel.

Tagein, tagaus bleibt ihr Leben unverändert, genau wie meines. Die Geräusche von Tee und Toast am Morgen, die Begrüßung des Fernsehers, auf dem die Nachrichten eingeschaltet werden, Gemurre von Tom über das Wetter – oder zumindest nehme ich an, dass alte Männer darüber murren. Gegen Mittag fragt sie, ob sie einkaufen gehen sollen, tatsächlich verlassen die beiden das Haus jedoch nie vor zwei Uhr oder so. Danach Stunden um Stunden voller Quizshows. Das Abendessen besteht aus dem Klappern von Untersetzern und Töpfen, das meine Nerven dermaßen strapaziert, dass ich Kopfhörer aufsetzen muss, um dagegen anzukämpfen. An besonders schlimmen Abenden stecke ich mir Ohrstöpsel in die Ohren und werfe mich schwitzend und zitternd unter der Bettdecke hin und her, oder ich verlasse meine Wohnung und gehe hinunter in den Hof, um mich in die kühle Abendluft zu setzen. Irgendwann ist die Nacht dann vorbei, und alles fängt wieder von vorne an.

Sie ist zerbrechlich – Ruth, seine Frau. Wie ein Vogel, mit Armen wie Zweige und einem flackernden Blick, dem nichts entgeht. Ich mag sie nicht. Sie scheint ständig alles zu beurteilen. Im Aufzug nimmt sie mich von oben bis unten in Augenschein, als würde sie nach Abweichungen suchen, nach etwas, das anders ist als am Tag zuvor. Dieser prüfende Blick macht mich nervös. Ich weiß nicht, wonach sie Ausschau hält, oder auf welche Weise ich ihr unzulänglich erscheine. Sie murmelt Tom etwas darüber zu – wenn ich neben den beiden an den Briefkästen stehe oder im Gang bei Hasan’s an ihnen vorbeilaufe, während sie sich über ihre schmerzenden Gelenke beklagen, über das Wetter oder darüber, dass sie vom gemähten Gras des Rasens Ausschlag bekommen. Sie sagt Dinge wie: »Da ist die Seltsame«, und er antwortet mit: »Warum ist sie seltsam?«, und sie sagt: »Na ja, selbst eine wie sie sollte Freundinnen haben.«

Die Sache ist die, wenn man nicht sprechen kann, gehen die Leute davon aus, dass man auch nicht hören kann.

 

Ich habe furchtbare Allergien, was ich jedoch erst feststellte, nachdem ich fortgegangen war. Irgendetwas an der eigenen Heimat kann einen gegen solche Dinge immun machen. Beim Wechsel der Jahreszeiten beginnen die Augen nicht zu tränen, die Nase verrät einen nicht, wenn der Wind dreht und die Pollenbelastung zunimmt, die Haut reagiert nicht auf das Kratzen des Staubs im Sommer oder die erstickende Versiegelung durch die Luftfeuchtigkeit.

Erst als ich durch Ungarn wanderte oder neben Bahngleisen in Griechenland kampierte, begann mein Körper, sich selbst anzugreifen. Es fühlte sich an, als würden Ameisen an meinen Augen picken, in meine Kehle und meine Nase hinaufkriechen. Meine Nasenlöcher verschlossen sich zum Schutz, als gäbe es tatsächlich Insekten, die versuchten, sich in meinen Kopf zu graben und an meinem Geist zu knabbern. Es gab dort ja auch genug Insekten, Würmer und Ameisen und Spinnen und Käfer und fliegendes Zeug, das um meine Ohren summte, und in meinen Träumen kamen sie wirklich herein, überall. Aber indem sie sich vor diesen vermeintlichen Eindringlingen schützten, erklärten meine Nasenlöcher auch dem Sauerstoff den Krieg, sodass Atmen zu einer Anstrengung wurde und meine Brust sich aus Protest verspannte. Mein Kopf tat dauerhaft weh, und bei allem, was meine Nase sich hereinzulassen weigerte, kannte sie keine Grenze, wenn es um das ging, was sie hinauszulassen bereit war. Ein T-Shirt musste als überdimensionales Taschentuch herhalten. Ich versuchte, es sauber zu halten, aber meine Mittel waren knapp, und ich brachte es lediglich fertig, es alle paar Tage in den schmutzigen Fluss zu tauchen und es mir dann zum Trocknen um den Kopf zu wickeln – fest, wie meine Großmutter es immer getan hatte, wenn ihr der Kopf wehtat.

Meine Allergien blieben bestehen, während wir ein Land nach dem anderen durchliefen, bis wir nach Frankreich kamen, wo ich sechsundzwanzig Tage und Nächte lang meine Augen so stark kratzte, bis sie tatsächlich bluteten. Mein Zustand war so schlimm, dass ich an Tag vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, während kleine Krabben über den Strand von Dünkirchen huschten, kurz darüber nachdachte, umzukehren. Könnte ich in England überleben, wenn mein Körper Krieg gegen sich selbst führte? Würden meine Nase, meine Augen und mein Hals sich schließlich an die neuen Lebensbedingungen gewöhnen, die ich vorzufinden hoffte? Wie anders konnte das Klima dort sein, jenseits der aufgewühlten, schäumenden See?

Ich würde niemals zurückgehen, aber ich begann mich zu fragen, ob es irgendeinen Ort auf der Welt gab, an den ich gehörte.

Diese Stadt, hier in der Mitte dieses Landes, hat aus meiner Geschichte eine Lüge gemacht. Es ist, als wäre ich hier geboren, so vollständig hat mein Immunsystem die Luft und das Grün, die Blüten und die Bienen akzeptiert. Jene Monate der juckenden Stellen, an die ich nicht herankam, des Nasenblutens und der undurchdringlichen Nasenlöcher erscheinen nun wie ein geringfügiges Ärgernis, und jene Nacht in Dünkirchen ist in die Schlupfwinkel meiner Erinnerungen versunken, gemeinsam mit all den anderen Abenden, an denen wahnsinnige Gedanken meinen Kopf ausfüllten.

4Der Entsafter

East Tower, vierter Stock, Wohnung drei, direkt gegenüber von mir. Der Mann dort ist eine Honigwabe, blass mit gelbem Haar und gelben Augenbrauen. Bei bestimmten Lichtverhältnissen könnte er, dem Schnitt seines Gesichts nach zu schließen, allerdings auch Spanier oder Italiener sein: Adlernase, hohe Wangenknochen. Menschen sehen sich ähnlicher, als manche uns glauben machen.

Er ist ein Gesundheitsfanatiker. Ständig dabei, irgendetwas zu entsaften – blutige rote Bete, spritzige, leuchtende Zitronen und riesige Grapefruits, lange, dicke Karotten und Gurken. Manchmal steckt er auch eine Birne oder einen Apfel dazu, aber nicht oft. Und massenhaft Grünkohl und Spinat, ganze Berge davon. Es ist ein Wunder, dass er noch nicht grün schwitzt. Ich nenne ihn den Entsafter. Kein besonders einfallsreicher Name, aber ich bin auch kein einfallsreicher Mensch. Abgesehen von dem Saft, sein tägliches Frühstück, grillt er zum Abendessen – dicke Hühnerbrustfilets, auf denen er zuerst ewig herumklopft, oder fette Garnelen, die er viel zu lange vorbereitet. Mindestens drei Mal pro Woche isst er Lachs, wofür er sorgfältig dicke Streifen Alufolie um den Fisch mit den Zitronenscheiben und dem Dill wickelt.

Seine Wohnung ist spärlich eingerichtet: ein kleines Sofa, hart und wenig einladend; ein kompakter, quadratischer Sofatisch; ein schmaler weißer Schreibtisch in der Ecke. Komfort scheint ihm Unbehagen zu bereiten. Mein Wohnzimmer befindet sich gegenüber seinem Schlafzimmer. Er schläft auf einer fest aussehenden Matratze, allerdings springt er nicht jeden Abend darauf, so wie ich noch immer auf meine, also lässt sich nicht genau sagen, wie hart sie ist. In seinem Zimmer liegen keine Kleidungsstücke herum, keine Bücher sind willkürlich in einer Ecke gestapelt, keine Schuhe (oder Kartons) halb unter sein Bett geschoben. Überall herrschen Ordnung und Präzision. Von einer bestimmten Stelle am Fenster in meinem Zimmer aus kann ich direkt in sein Badezimmer blicken. Es ist nur ein einziges Mal passiert, kurz nach seinem Einzug. Perfektes Timing, dass ich genau in dem Augenblick dort stand, als er sich unter der Dusche nach einem Stück Seife umdrehte, bevor das Wasser die Chance hatte, alles mit Dampf zu verdecken, und ich ihn ganz sehen konnte.

Er ist extrem gut bestückt.

Der Entsafter kauft in dem schicken Bioladen die Straße hinauf ein. Er rümpft die Nase, wenn er an Hasan’s vorbeiläuft – dem Eckladen, den wir anderen mindestens einmal am Tag aufsuchen. Eigentlich heißt der Laden Maqbool. Das bedeutet in meiner Sprache »akzeptabel«, was mir eine recht defätistische Haltung auszudrücken scheint, weshalb ich ihn in meinem Kopf beim Namen seines Besitzers nenne.

Es ist ein Vollfettladen, in dem Flaschen voller dicker, klebriger Öle und Dosen mit purem Ghee stehen, zuckersüße abgepackte Baklava und dicke, mit Nüssen gefüllte Datteln. Die Gänge quellen über vor importierten Chips und Päckchen mit Suppenpulver, Kondensmilch und Tee mit Beschriftung auf Türkisch, Arabisch oder Urdu. Die Kühlschränke auf der einen Seite des Ladens sind bestückt mit Saft- und Vollmilchflaschen, cremigem Schmierkäse, wie wir ihn zu Hause hatten, und schwitzenden, einzeln verpackten Scheiben amerikanischen Käses. Bei Hasan gibt es keine frischen Backwaren – lediglich riesige Naan-Brote, hauchdünne Saj-Fladen und schwere, zuckrige Laibe sowie Blätterteigkreationen, die in sich zusammenfallen, sobald man sie berührt, allesamt eingewickelt in Plastik.

Hasan ist ein kleiner Mann, der aussieht, als wäre er einst groß gewesen. Alles an ihm glänzt, von seiner dicken Nase über seine hohe Stirn bis zu dem schwarzen Haar, das in öligen Strähnen über seinen Scheitel gelegt ist. Mrs. Alte-Dame-von-Nebenan Ruth sagt, alle Pakis seien so. Eines Tages hörte ich, wie sie es Tom erklärte, während sie die Gläser mit dem eingelegten Gemüse begutachteten. »Die können nichts dagegen tun, Liebling«, sagte sie als Antwort auf sein Grummeln. »Er könnte sich drei- oder viermal am Tag waschen und wäre noch genauso fettig. So sind die nun mal gemacht«, fügte sie hinzu. Ihr Ehemann schien nicht überzeugt, und wann immer Hasan sie an der Kasse bedient, umklammert Tom sein Taschentuch und zieht daran, als müsste er gegen den Drang ankämpfen, über die Theke zu greifen und dem Mann das Gesicht abzuwischen.

 

Das Leben des Entsafters ist straff organisiert. Er steht um fünf Uhr auf und macht seine Übungen an den Trainingsgeräten im Wohnzimmer. Dann der Saft – manchmal blutrot, manchmal tiefgrün, oftmals braun. Die große Sporttasche über die Schulter und aus der Tür um sechs. Erst zwölf Stunden später kehrt er wieder zurück, dann gibt es gedämpften Lachs zum Abendessen. Ich sehe ihn nie Alkohol trinken, nicht einmal Wein oder ein Bier zum Abendessen. Ich sehe ihn auch nie rauchen wie Mann-ohne-Licht.

Er hat nicht viele Laster. Auch wenn ich ihn für bisexuell halte, falls man das als Laster bezeichnen kann. Er hat Frauen, viele Frauen. Er fickt sie überall in der Wohnung – auf dem harten, wenig einladenden Sofa, auf den hellen Hartholzfußböden, stehend an der Wand oder dem Trainingsgerät. Ich habe in Ekstase nach hinten geworfene Köpfe gesehen, Münder zur Decke geöffnet. Ich habe sie über den Esstisch gebeugt gesehen, wo sie ihr Unwohlsein nicht verbergen müssen. Ich habe verschwommene Körper unter der Dusche gesehen, die Arme ausstrecken und sich festhalten.

Aber gelegentlich, nicht oft, hat er einen Mann zu Besuch. Nie zweimal derselbe Mann, allerdings sind sie alle genauso fit wie er. Sollten sie je über Nacht bleiben, würden sie wahrscheinlich liebend gern sein Saftfrühstück teilen. Aber sie bleiben nie. Ich sehe nicht, was mit den Männern geschieht. Der Entsafter zieht die Jalousien herunter. Einmal blickte er mich dabei direkt an, ein Grinsen auf seinem faszinierenden Gesicht, während er sie mit einem Ruck zuzog.

Ich kann mir nur ausmalen, dass er sich bei dieser Art von Geschlechtsverkehr unten befindet. Wie gesagt, er ist extrem gut bestückt.

5Trügerische Erinnerungen

Dies sind nicht die Art von Beobachtungen, an denen meine Redakteurin interessiert ist. Nun, noch ist sie nicht meine Redakteurin, Josie von jenem Nachrichtenmagazin mit dem großen Namen, aber sie sagt, sie könnte es werden, wenn alles gut läuft. Ich habe ihr einen »Probetext«, wie es in der Branche anscheinend heißt, über die Stadt aus den Augen einer neu angekommenen Immigrantin geschickt. In ihren E-Mails versichert sie mir, solche Artikel seien stets aktuell, und die Leute seien angesichts der Weltlage ganz heiß darauf, sie zu lesen, und könne ich noch dieses und jenes ändern, ehe sie ihn veröffentlicht? Sie hat mir für das, was sie meine »Insiderberichte« nennt, eine ziemlich bescheidene Bezahlung versprochen, und ich nehme an, es muss sich um eine Art gesellschaftliches Engagement oder Initiative zur sozialen Unternehmensverantwortung der Zeitschrift handeln. Aber ich sage zu, denn mit Unterstützungsleistungen kommt man nicht besonders weit, und die Arbeitsmöglichkeiten sind rar, wenn man nicht sprechen kann (oder will, wie Dr. Thompson betonte). Josie interessiert sich für meine Sicht auf Themen wie »Assimilation«, ein Wort und ein Konzept, von dem ich nicht wusste, dass man es außerhalb von Amerika benutzt und erwartet. Sie fragt mich, ob ich den Hijab trage – als ob das irgendetwas bedeuten würde –, ob meine ganze Familie es hinausgeschafft habe und wie schlimm die Kämpfe seien. Es fühlt sich an wie ein Test, als würden die Antworten auf solche Fragen meine Glaubwürdigkeit stärken, als könnten sie bestätigen, dass ich bin, was ich bin, und keine linke liberale Populistin in einer Verkleidung. Solche Anfragen beantworte ich nicht, oder nur selektiv, so wie ich auch genau auswähle, welche Beobachtungen in die Texte einfließen, die ich ihr schicke, und welche nicht.

In gewisser Hinsicht geht es um Privatsphäre. Wenn man von einem Ort kommt, an dem die Wände Ohren haben und man sein Leben mit Verstecken und Vortäuschen verbringt, die Regeln von Spielen zu lernen versucht, bei denen man nie gewinnen wird, und nach Ritzen sucht, aus denen man entfliehen kann, dann behält man bestimmte Informationen instinktiv für sich.

Es geht dabei um Selbstschutz, der grundlegendste aller menschlichen Instinkte.

Alle hier verlangen nach einer Geschichte: Ärztinnen, die Prellungen und Kratzer und nicht heilen wollende Geschwüre begutachten; Polizisten, die Papiere sehen wollen, einen Beweis dafür, dass man eine Berechtigung hat, hier zu sein; Fremde auf der Straße, die glauben, etwas aus der Heimat in einem zu erkennen. Sie alle verlangen nach Geschichten – wie ist man hierhergekommen? Wie lange hat es gedauert? Wie leicht war es, die Papiere zu bekommen? Kennt man jemanden beim Amt, mit dem sie für einen Cousin oder eine Tante sprechen können? Sie wollen von den Schwierigkeiten hören, von den Kämpfen und von den Menschen, die auf dem Weg gestorben sind. Josie will alles wissen. Sie spricht es nicht direkt aus, aber ich weiß, dass sie denkt: je härter, desto besser. Sie wünscht sich ein hübsches kleines Paket aus Erinnerungen, die sie für ihre Leserinnen und Leser in Fortsetzungen veröffentlichen kann. Noch besser wären Erinnerungen in Verbindung mit jenen Beobachtungen, die sie so sehr mag.

Ich weiß nicht, wie ich ihr erklären soll, dass ich von Erinnerungen umzingelt bin, eingesperrt von Wiedererlebtem. Ich fühle mich von Erinnerungen verfolgt und von dem, was mein Geist vor mir zu verbergen beschließt.

In ihrer letzten E-Mail zitierte Josie de Maupassant: »Unsere Erinnerung ist eine vollkommenere Welt als das Universum: Sie gibt jenen, die nicht länger existieren, das Leben zurück.« Sie kann nicht gewusst haben, was dieser Satz für mich bedeuten würde oder wie ich ihn aufnähme oder vielleicht sogar, wie sorgfältig man seine Worte wählen sollte, wenn man eine Schriftstellerin anschreibt, aber ich bezweifle, dass de Maupassant, als er zu dieser prägnanten Einsicht gelangte, an eine Welt wie jene dachte, die ich hinter mir gelassen habe. Wenn, hätte er wohl kaum Anspruch auf Vollkommenheit erhoben, weder in Bezug auf die Welt, noch auf die Erinnerungen, die diese angeblich bewahrten.

Das menschliche Bedürfnis nach Geschichten an sich steht der Erinnerung im Weg. Wie in unseren Träumen geben wir uns nicht zufrieden mit Bildern oder Szenen oder Bruchstücken von Sinnesreizen – der Hauch von Melonentau, den wir riechen, oder das Blut, das uns aus Augen und Ohren und Mündern strömt wie Flusswasser, das über glatten Stein rinnt, oder das fahle Pferd mit der Mähne wie eine schmierige Wolke, die über einen blauen Himmel streift. Wir versuchen, Narrative zu konstruieren – was geschah, bevor das Blut floss? Was passierte, nachdem ich das Pferd gesehen hatte? Was hat es zu bedeuten? Wir versuchen, diese Elemente innerhalb einer sinnvollen Struktur zu platzieren, waten zurück durch Fragmente, wollen alles zu einem zusammenhängenden Muster zusammenflicken – ein Anfang, eine Mitte und ein Ende. Etwas, woran man sich festhalten kann, das uns versichert, alles sei in Ordnung in unserem Kopf, und die Monster und Ghule und Dschinns, die uns in der Nacht heimsuchen, SINDNICHTREAL.

Meine Träume sind unwirtliche Wälder, dunkel und unheimlich in ihrer Hässlichkeit: Hände greifen nach meinen Knöcheln und versuchen, mich in die Erde hinunterzuziehen, wo der Staub mich mit einer anderen Form von Stille erfüllen kann; Unsichtbares regnet auf mich herab, klebrig und metallisch auf der Zunge; es ist entweder sehr heiß oder sehr kalt, nichts dazwischen. In meinen Träumen spreche ich ebenfalls nicht, aber ich schreie. Viel. Schweiß- und pissegetränkt wache ich auf und fasse mir an die Brust, als würde dort etwas haften, das seine Haken in meine Rippen gestoßen hat. Es verschwindet nie, kriecht einfach nur unter mein Bett und wartet auf die nächste Nacht.

Aber ich sprach von Erinnerungen, nicht von Träumen, auch wenn es davon mehr als genug gibt und Letztere die fiese Angewohnheit haben, Erstere zu trüben.

Erinnerungen sind trügerisch, weshalb man nie ganz sicher sein kann, dass etwas so geschehen ist, wie es einem im Gedächtnis geblieben ist. Ich habe einmal ein Buch über das Vergessen gelesen, in dem stand, die meisten Menschen könnten ihre erste Erinnerung in ihr drittes oder viertes Lebensjahr zurückdatieren (Dostojewski glaubt, man könne sich an Ereignisse erinnern, die man mit zwei erlebt hat), aber ich weiß nicht, wie das möglich sein soll. Ich meine, man kann behaupten, man erinnere sich an etwas von damals, aber kann man sich absolut sicher sein, dass es die eigene Erinnerung ist und nicht eine, die man aus gehörten Geschichten übernommen hat? Ich kenne viele Geschichten aus meiner Kindheit, etwa, wie mein ältester Bruder Firas von zu Hause weglief, als er sechzehn und ich acht Jahre alt war (der Instinkt davonzulaufen ist in meiner Familie wohl besonders stark ausgeprägt). Ich glaube, ich erinnere mich noch an Mamas Tränen und Babas Wut und Scham, aber die Geschichte wurde so viele Male flüsternd von Verwandten und Nachbarinnen und sogar von Fremden in den Cafés bei der Zitadelle nacherzählt, dass ich mir nicht sicher sein kann. Manche Erinnerungen entspringen der Wiederholung bestimmter Handlungen: Eid-Rituale, das Schlachten von Schafen und das Horten lächerlicher Geldsummen, die wir für ein Vermögen hielten; das Fastenbrechen und die Nachbarinnen, die immer die pikantesten Eintöpfe vorbeibrachten; die Stunden in den öffentlichen Bädern.

Ich glaube, das ist meine erste richtige Erinnerung, auch wenn selbst sie keine echte erste, sondern eine Verschmelzung von mehreren Erinnerungen ist, so wie ich mir auch nur schwer vorstellen kann, dass Noahs Sintflut sich so abgespielt hat, wie sie erzählt wird, und die Geschichte nicht einfach ein Zusammenfluss aus zahllosen kleineren Fluten ist, die sich zu einem überwältigenden Mythos vereinigt haben, der uns etwas über Hochmut und Gehorsam lehren soll.

Mama nahm mich und meine Geschwister ein-, zweimal im Monat mit ins Hammam, wo sie uns alle auf einer Bank aufreihte und einschärfte, uns nicht zu bewegen. Sie teilte Sandwiches aus – um weißen Streichkäse gerollte und mit Honig beträufelte Pitabrote –, um uns zu beschäftigen, und rief uns dann einen nach der anderen herbei. Sie schrubbte uns mit einem rauen, groben Stück Seife ab, bis unsere Haut rot war und aufzuspringen drohte, und wenn wir protestierten, zischte sie uns zu, wir seien noch nicht sauber genug. Sie hielt uns zwischen ihren Knien fest (Mama hatte die stärksten Knie auf der Welt) und rieb unsere Köpfe mit ihren eingeseiften Händen ein, bis wir schwach wurden und uns nicht mehr wehrten. Erst dann erklärte sie uns für fertig, schickte uns mit einem Handtuch hinaus und rief die Nächste herbei. Das geschah alle paar Wochen, also glaube ich nicht, das erste Mal herauspicken zu können, als sie mich mitnahm.

Wie viel habe ich vergessen, einfach weil es so oft passiert ist? Wenn man oft genug ins Bad geht, wird einem nicht jeder einzelne Besuch im Gedächtnis bleiben. Wenn man alle paar Monate mit seinen Geschwistern davonläuft, wird man sich nicht an alle Schläge und Kniffe erinnern, die man dafür kassiert hat. Wenn jeden Tag Bomben fallen, wird man sich nicht an jede von ihnen erinnern, und wen sie getötet hat.

Mir scheint, zur Idee der Erinnerung an sich gehört untrennbar auch der Akt des Vergessens.

6Nachts faltet mein Geist sich zusammen wie Origami

Es ist ein heißer Tag. Sengend. Zu heiß für die Jahreszeit, zu heiß für diesen Teil des Landes, aber das liegt nicht in unseren Händen.

Wir sind im Park. Dem großen Park mit seinem hügeligen Gelände und seinen dicken Bäumen, der sich im Süden der Stadt hinunterschlängelt wie der Stab Moses’, kurz bevor er sich in eine Schlange verwandelt. Das frische Gras pikst unter unseren Füßen. Darüber breitet sich eine leere, weiße Fläche aus, auf die man ungehindert jede Klage, die man jemals vorzubringen hatte, kritzeln könnte. Am Himmel ist nichts zu sehen, dennoch schaue ich immer wieder nach.

Der Geruch von Rauch strömt mir in die Nase, und gleich darauf identifiziere ich ihn als Kebab und Gemüse und mit Knoblauch eingeriebene Kartoffelwürfel und womöglich ein ganzer, mit Gewürzen gefüllter Fisch. Ich kann den Grill nicht sehen, aber ich kann ihn riechen, und das Wasser läuft mir heftig im Mund zusammen. Meine ganze Familie riecht es, und wir bewegen uns darauf zu wie ein Wolfsrudel, das Blut gerochen hat: Firas, der Jäger, der zwischen den Bäumen hin und her flitzt; Mama, die Nase nach vorn geschoben, Baby Lama an ihre milchigen Brüste gedrückt; Nada rennt mit ihren Kindern, aber sie ist genauso alt wie sie, drei Fünfjährige mit hellbraunem Haar und weißen Beinen, die durch das Gras springen; Baba ist hoch oben auf einem Baum, hockt allerdings auf einem Ast, der nicht aussieht, als sollte er ihn tragen können, und umfasst seinen Schädel mit Fingern, die so scharf sind wie Klauen. Er weigert sich, uns anzuschauen. Ahmed kann ich nicht sehen.

Firas sagt, am Fluss werde gegrillt, und zeigt den Hügel hinunter, wo sich ein schmales Band Wasser durch den Boden schlängelt. Die anderen wechseln die Richtung wie ein Fischschwarm, der ein Raubtier wittert, und alle Köpfe wenden sich gleichzeitig dem rauschenden Wasser zu. Der Fluss sollte nicht so laut sein, aber es fällt niemandem von ihnen auf. Oder falls es ihnen auffällt, kümmert es sie nicht.

Khalid ist dort, unter einem Dach aus Baumkronen, eine blendend weiße Kufiya um den Kopf gewickelt. Sie ist sauberer als irgendeine, die ich ihn je habe tragen sehen, hart und glänzend wie ein Helm. Stark genug, um alles abzuwehren, was vom Himmel fällt. Ich trete einen Schritt nach vorn, auch wenn er so gar nicht einladend wirkt. Verschränkte Arme, versteinerter Blick, seine Lippen bewegen sich in derselben alten Rezitation von Darwisch, die er mir schon Hunderte Male vorgetragen hat, sodass ich, obwohl er nichts sagt, die Worte so klar höre, wie wenn er sie an einsamen Abenden in Damaskus ins Telefon murmelte.

Ein Gedicht über Identität, von dem er sagte, es sei allen Araberinnen und Arabern ins Herz geschrieben – ob sie wie er Wurzeln in Palästina hätten oder nicht. Diese Wurzeln gingen zurück bis vor die Erfindung der Zeit, vor das Erblühen der Zeitalter. Die Verse konnte ich sehen, blutrot, als ritzte Khalid sie in die Wände meines Geistes oder presste sie in die Kammern meines Herzens.

Ich schubse meine Familie zurück, versperre ihnen den Weg. Ich will sie nicht unten am Fluss haben. Da gibt es nichts, rufe ich, nur schmutziges Wasser. Rotes, schlammiges Wasser. Nein, widerspricht Firas, es gibt Essen, so viel Fleisch, saftig und ganz umsonst. Ich zerre an Mamas Arm, lockere dabei ihren Griff um Baby Lama, sodass sie vor Schreck aufkreischt und Mamas lose Brust im Wind flattert wie das Ende eines Schals. Ich schlinge meine Arme um Firas’ Oberkörper, aber er ist stärker als ich und schleift uns beide den Hügel hinunter. Ich drehe mich um und versuche wegzurennen, sie dem zu überlassen, was auch immer am Ufer auf sie wartet, aber sie wollen mich nicht gehen lassen. Sie halten mich fest – Firas an meinem rechten Arm, Mama an den Haaren, während Nada und ihre Kinder sich an meine Beine klammern. Selbst Baby Lama grapscht nach meiner Schulter.

Khalids Stimme in meinem Kopf wird lauter, voller Schmerz und Enttäuschung. Für ihn war ich nie mutig genug. Er rezitiert Befehle, Ermahnungen und eine Warnung nach der anderen. Über Würde, über das Land. Namen und Titel. Er spricht von ständigem Hunger, davon, das Fleisch der Machthaber zu essen.

Schreiend rutsche ich den Schlamm und das mulchige Gras hinunter, und Baba heult auf seinem Hochsitz im Baum wie eine von untröstlichem Leid ergriffene alte Frau. Ich will den Fluss nicht sehen. Alles, nur nicht den Fluss. Sie lassen mich nicht los, drängen und ziehen und schubsen. Sie schieben mich, bis die Schwerkraft siegt und mich den Hang hinunterzwingt. Schmutzige Finger, verkrustet von getrocknetem Blut, reißen meine Lider auseinander, wenn ich die Augen zusammenkneife.

Aber der Fluss ist blau und ruhig, plätschert über braune und weiße Steine wie ein Schlaflied aus längst vergangenen Zeiten. Vögel zwitschern in den Bäumen, hüpfen von Ast zu Ast, frei und in Frieden. Das Wasser sieht kalt aus, und meine Geschwister rennen hinein, spritzen und treten und lachen. Sie legen sich auf harte Steine, die sich in ihre Wirbelsäulen bohren müssen, und werfen den Kopf zurück, um in langen, tiefen Schlucken zu trinken. Mama sitzt am Ufer des Flusses, das Baby saugt sich wieder an einer Brustwarze fest, und sie lächelt auf sie hinab, tröpfelt Wasser auf Lamas Stirn, wie ein Priester bei einer Taufe. Ich drehe mich um, aber Khalid ist verschwunden, und ich spüre die Trauer wieder in mir aufsteigen.

Nichts brennt. Der Geruch von Fleisch und Rauch hängt schwer in der Luft, aber nichts brennt, und ich bin die Einzige, die noch hungrig ist.

7Wenn der Regen kommt

… Die Vorstellung von »wir« gegen »die« ist in jeder Religion fest verankert. Wenn du nicht glaubst, was ich glaube, lass deine Vorhaut dran, um es zu beweisen, oder trink diesen Wein in dem Glauben, er sei das Blut des Herrn, oder wende dein Gesicht von Jerusalem ab, wenn du betest. Der Buddha sagte, der Islam selbst sagt, es gebe nur eine Wahrheit, nur eine Botschaft, die wieder und wieder hinabgesandt wird. Nur die eine Botschaft, eine Wahrheit, einen Brunnen, aus dem alle trinken. Aber irgendwie wird die Botschaft verdreht, korrumpiert und verfälscht durch unsere eigenen unbeholfenen Versuche, sie menschlich zu machen, Systeme zu erschaffen aus dem Unaussprechlichen.

Die Sprachlose, The New Press, 10. Mai 2017

In Hasans Schaufenster hängt eine Reklame für Koran-CDs. Kostenlose Koran-CDs, Übersetzungen ins Mandarin, Urdu, Malaiische und in eine Vielzahl von anderen Sprachen. Die Anzeige ist in ganz kleiner Schrift gedruckt, so winzig, dass man die Nase beinahe gegen die Scheibe pressen muss, um sie entziffern zu können. Darunter steht ein längerer Haftungsausschluss, der besagt, man wolle nicht bekehren, sondern das Wort Allahs allen zugänglich machen, die es hören möchten, und so klein, wie die Schrift ist, denke ich, dass es ja ganz offensichtlich kein Versuch sein kann, irgendjemanden für den Glauben zu gewinnen. Auch wenn mir gleichzeitig der Gedanke kommt, dass einige Menschen finden könnten, Hasans Anwesenheit in dieser ruhigen englischen Stadt sei an sich schon ein Akt des Bekehrenwollens.

Irgendetwas an der Reklame stört mich. Vielleicht ist es die Vermessenheit, mit der sie annimmt, es gäbe Menschen, die nach dieser Übersetzung verlangen und nicht auf anderem Weg an sie herankommen, die darauf gewartet haben, sie von Hasan angeboten zu bekommen, wie den speziellen Sirup, den er vor dem Ramadan importiert, oder die Päckchen mit Zuckerwürfeln, die er hinten im Laden aufbewahrt und nach denen man ihn fragen muss. Als könnten sie solche Übersetzungen nicht im Internet finden oder den Imam ihrer Gemeinde darum bitten. Es fühlt sich an, als würde Hasan hier seine Kompetenzen als Lebensmittelhändler überschreiten, seine Fühler in eine Richtung ausstrecken, in der er nichts zu suchen hat. Er verkauft noch nicht einmal Gebetsteppiche. Diese unverhohlene Zurschaustellung seiner Religionszugehörigkeit ist mir unangenehm. Ist es zu viel verlangt, dass mein Laden um die Ecke frei davon sein soll?

Ich habe Josie ein paar meiner Gedanken über Religion mitgeteilt, für gewöhnlich als PS am Ende meiner E-Mails oder als Kommentare an den Rändern der Texte, die ich ihr schicke. Bislang hat sie einen von ihnen veröffentlicht. Ich wollte nicht meinen richtigen Namen verwenden – ich habe ihr meinen richtigen Namen noch nicht einmal gesagt –, daher steht unter dem Artikel folgende Kurzbiografie: »Die Sprachlose ist eine junge Immigrantin, die derzeit Politikwissenschaft studiert.« Es ist ein Online-Studium, aber das braucht Josie nicht zu wissen. Sie meint, der Artikel habe viel Zuspruch erhalten, allerdings sind auf der Website keine Kommentare dazu aufgetaucht, also weiß ich nicht, von wem sie redet. Sie ermuntert mich, mehr zu schreiben, furchtlos zu sein – eine Aufforderung, über die ich nur verächtlich schnauben kann. Sie hat mich gebeten, meine Gedanken über Religion näher auszuführen, ganze Artikel umzuschreiben, damit sie diesen Blickwinkel einnehmen: Hat der Krieg dich dazu gebracht, Religion zu hassen? Haben all der Tod und die Zerstörung und der Schmerz dazu geführt, dass du dich von Gott abgewandt hast? Ist dein Verhältnis zu allen Religionen angespannt, oder nur zum Islam?

Zumindest ringen wir nicht mit dem Problem des Schmerzes. Unser Gott ist ein alttestamentarischer, der Konflikte nicht scheut, der nicht davor zurückschreckt, Strafen auszuteilen, der keine Angst davor hat, der Schöpfung zu zeigen, wie zutiefst ungerecht das Leben sein kann und dass die eigene einzelne erbärmliche Existenz im großen Ganzen KEINEROLLESPIELT. Das soll nicht heißen, wir würden uns nicht auch mit der Hoffnung trösten, Gott interessiere sich für das Leid jeder und jedes Einzelnen von uns, aber es besteht eine Hiob-mäßige Akzeptanz irdischer Nöte, eine Akzeptanz, die auf der Gewissheit beruht, dass nach dem Tod alle Rechnungen beglichen werden, und wie sehr man hier auch geschuftet oder gelitten haben oder welches Unrecht einem zugefügt worden sein mag, all das werde aufgehoben im Paradies.

Ich teile jene Gewissheit einer kosmischen Gerechtigkeit nicht. Meiner Ansicht nach wird die Hybris einer Atheistin nur übertroffen von der eines leidenschaftlichen Gläubigen.

Die Glocke über der Ladentür läutet, und Mann-ohne-Licht tritt mit einer gertenschlanken Blondine ein. Sie ist so groß, würde sie die Arme heben, könnte sie wahrscheinlich den Mond umschlingen. Er schiebt sie voran mit einer Hand an ihrem unteren Rücken, wo T-Shirt und Leggings nicht zusammenfinden. Sie blickt sich um, zieht die Nase kraus und presst die schmalen Lippen so fest zusammen, als würde sie durch einen Fischmarkt spazieren. Er führt sie herum und zeigt auf irgendetwas, während sie mürrisch schaut.

Hasan ignoriert die beiden. Er ignoriert die meisten seiner Kundinnen und Kunden. Das mag ich an ihm.

Es ist gar nicht so schwer herauszufinden, was Menschen wollen. Im Prinzip wollen wir alle dasselbe: Freiheit, Glück, Sicherheit. Ich möchte schreiben, was ich schreiben möchte, ohne Angst vor einem Klopfen an der Tür und einem Verhörzimmer. Ich möchte lieben, wen ich lieben möchte, ohne Angst vor dem Tod oder einer Vergewaltigung als Strafe. Ich möchte anziehen, was ich anziehen möchte, ohne Sorge, Männer könnten meinen Rock oder die Knöpfe an meiner Bluse als Einladung ansehen. Das war’s. Die Freiheit zu leben, wie wir leben wollen.

In meiner Heimat sitzen die religiösen Unterschiede so tief und reichen so weit zurück, dass niemand sich mehr die Mühe macht, darüber zu reden. Die Leute denken, bei dem Krieg ginge es um Religionsfreiheit, um schwarze Flaggen und die Opposition zu einer säkularen Regierung, aber das stimmt nicht. Die Medien haben diese Vorstellung aufgegriffen, haben Erklärkästen hinzugefügt, um den Zuschauerinnen und Zuschauern den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten, Kurden und Arabern