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Ein dramatischer Roman über vier Schwestern und ein großes Familiengeheimnis Vor über zwanzig Jahren waren Jenni, Mona, Sonja und Kaja das letzte Mal gemeinsam auf Langeoog. Jetzt kehren sie als erwachsene Frauen zur Beerdigung ihrer Mutter zurück auf die Insel. Zuverlässig wie das Rauschen des Meeres und der Geruch von Salz, sind alle Erinnerungen an ihre Sommer auf der Insel wieder da: Zwischen ausgelassene Strandtage, Mutproben und erste Küsse mischen sich die heftigen Auseinandersetzungen ihrer Eltern und die Frage nach Schuld und Sühne. Denn die Schwestern eint ein dunkles Geheimnis, das sie hat verstummen lassen, das keiner von ihnen Ruhe lässt, bis heute nicht …
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Seitenzahl: 538
Stine Volkmann
Roman
Vor über zwanzig Jahren waren Jenni, Mona, Sonja und Kaja das letzte Mal gemeinsam auf Langeoog. Jetzt kehren sie als erwachsene Frauen zur Beerdigung ihrer Mutter zurück auf die Insel. Zuverlässig wie das Rauschen des Meeres und der Geruch von Salz, sind alle Erinnerungen an ihre Sommer auf der Insel wieder da: Zwischen ausgelassene Strandtage, Mutproben und erste Küsse mischen sich die heftigen Auseinandersetzungen ihrer Eltern und die Frage nach Schuld und Sühne. Denn die Schwestern eint ein dunkles Geheimnis, das sie hat verstummen lassen, das keiner von ihnen Ruhe lässt, bis heute nicht …
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Stine Volkmann wurde 1991 in Detmold geboren – wie die vier Schwestern in ihrem Buch. Genau wie sie verbrachte Stine Volkmann die Sommer ihrer Kindheit auf Langeoog, wohin sie es auch heute als Wahlbremerin nicht weit hat. Stine Volkmann studiert Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim, sie arbeitet als Journalistin und Drehbuchautorin.
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Widmung
Prolog
2018
1998
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Epilog
Nachwort
Danke!
Für Opa,
mein erster Roman sollte immer dir gehören.
Danke, Mama,
dass du deine Langeoog-Liebe zu unserer gemacht hast.
Die Augen versuchen seit einer Weile sich zu öffnen. Immer wieder driften die Gedanken in Richtung Schlaf, in das schöne schwarze Nichts, in dem es kein Streben gibt. Und dann blitzt wieder der Gedanke auf, wie der Funke eines Streichholzes, das sich noch nicht entzünden will, und sagt: Wach auf.
Dann herrscht wieder Finsternis. Man entweicht in den Schlaf, bis erneut ein Ratschen am Papier hörbar ist. Zwei Funken: Wach auf. Wach auf.
Finsternis.
Da ist die Präsenz der Person, die das Streichholz hält, es wieder an der Schachtel entlangratscht und es unentbrannt auf den Betonboden fallen lässt.
Die Momente zwischen den Funken sind die schönsten, sind reiner, tiefer Schlaf. Man will dableiben, es gibt dort nichts zu erinnern, nichts zu ersehnen.
Erneut ein Ratschen, die Funken fliegen, das Streichholz entflammt. Man schlägt die Augen auf.
Dunkelheit. Nur ein künstliches blaues Licht wird von jemandem durch den leeren Raum getragen. Hörbar raschelt das Laub und kleine Steinchen kratzen unter den Schritten auf Beton. Die Person sieht einen bei ihrem Streifzug nicht an, der Blick ist abgewandt.
Der Körper will sich bewegen, hat aber selbst vergessen, wie man den Finger krümmt – alles ist Kälte.
Der Wind rauscht ganz leise durch die Blätter – so einschläfernd. Man sollte zurückkehren zu dem schwarzen Nichts. Wie schön es da war. Wie kältelos.
Die Augenlider flackern wie die Streichholzflamme, die langsam an Höhe verliert. Gleich ist sie aus. Da dreht sich die Gestalt zur Seite. Und als hätte das Feuer neuen Sauerstoff bekommen, wird das Bewusstsein wieder hell. Die Schritte entfernen sich, man wird hier liegen gelassen.
»Warte.« Nicht mehr als ein Flüstern. Der Finger tastet, in der Hoffnung, etwas zu finden, das man werfen kann, denn das Sprechen tut weh. Aber die Hand, so eingefroren, fühlt nicht, ob auf dem Beton etwas liegt oder nicht. Egal, dann schläft man eben, doch irgendetwas in einem übernimmt die Kontrolle, und man hört sich selbst beim Rufen zu. »Hilfe.« Es ist kaum zu verstehen. Wie ironisch, den, der einen hierhergebracht hat, um Hilfe zu bitten.
Noch einmal tief Luft holen, und der Brustkorb hebt sich: »Hil…« Da kommt die Gestalt um die Ecke, starrt auf einen hinab. Der Ausdruck lässt sich nicht deuten.
Das Streichholz erlischt.
Jenni sieht auf das Wasser. Ruhig liegt es vor ihr. Kein Windhauch weht über die Oberfläche – sie ist spiegelglatt, keine Bewegung, kein Leben. Es zieht Jenni immer ans Wasser, wenn ihre Gedanken so wirr sind, dass sie sich selbst nicht hören kann. Und dann bringt der Anblick des Blaus – oder, wie jetzt in der Dunkelheit, des tiefen Schwarzes – zwar keine Ordnung, aber die lauten Gedankenfetzen verschwinden gänzlich. Jenni hört sich ohne Stimme. Es ist ein reines Wahrnehmen ihrer selbst ohne Bewertung. Sie fühlt ihre Seele als etwas unendlich Tiefes in der Farbe von Tintenblau. Und als etwas Kaltes; die Art von Kälte, die einen nicht frieren lässt, aber Klarheit bringt und Akzeptanz; diese Schwermut ist nur ein Moment, der vergehen wird. Hier am See, wo die Laternen wie kleine gelbe Monde auf der Oberfläche prangen, da ist es, als flüstere das Wasser ihr ein Versprechen zu: Ich werde dich weiterhin tragen.
Langsam kehren die Geräusche der Straße wieder in ihr Bewusstsein zurück: ein fernes, gleichmäßiges Rauschen.
Jenni verlässt den Weißensee, tritt unter dem Blätterdach hervor und findet sich auf den grauen Straßen Berlins wieder. Seit fünfzehn Jahren lebt sie hier, und noch immer hat die Stadt sich ihr nicht erschlossen. Sie ist das, was einem Zuhause am nächsten kommt, ohne wirklich ein Zuhause zu sein. Als hätte Jenni gesagt: Ich mache hier kurz Rast – und als sie wieder aufwachte, hatte sich in der Zwischenzeit ein Leben angehäuft: Arbeit, Kollegen, Freunde, eine Wohnung und ein Mann, der ein Kind in die Beziehung mitbrachte und dann überlegte man, sich einen Hund zu holen, weil das Kind doch schon so groß war, und wer wusste schon, ob man als Paar in der Stille funktionieren würde.
Jenni bereut Berlin nicht. Sie besitzt keine unstillbaren Sehnsüchte, kein Verlangen oder den einen großen Lebenstraum. Sie funktioniert innerhalb des Systems – gut und zufrieden.
Meist kommt die Schwermut ohne Grund, legt sich kurz nieder, und dann legt sich Jenni mit ihr schlafen, bis sie wieder verschwunden ist. Nur in den hartnäckigen Fällen braucht sie das Wasser, und für die gibt es meistens einen Grund. Dieser vibriert nun abermals in Jennis Jackentasche. Auch ohne aufs Display ihres Smartphones zu sehen, weiß sie, wer geschrieben hat. Ihre Finger tasten das Handy ab, als könnte sie nur dadurch die Nachricht entziffern. Ihr Daumen streicht über den Ring an ihrem Finger, bewegt ihn im Kreis, bekommt den Stein zu fassen und dreht ihn mit Schwung weiter. Es ist kein Verlobungsring, auch kein Ehering. David hat ihr vergeblich einige Anträge gemacht, denn Jenni glaubt nicht an Unterschriften auf Papier, und so ist der Ring ein Kompromiss: ein Symbol ihrer Verbundenheit und Treue, ohne vor dem Staat ein Gelöbnis abzulegen. Sie liebt David, weil er ihr Raum gibt. Er lässt sie durch die Nacht stromern, versucht weder, sie aufzuhalten, noch, sie zu erreichen, und wenn sie zurückkehrt, wird er keine Fragen stellen.
Jenni holt das Handy hervor.
Sonja: Kommst du jetzt am Wochenende? Wäre gut, wenn …
Mehr zeigt die Vorschau der Benachrichtigung nicht an. Vermutlich folgen Vorwürfe, Unterstellungen oder emotionale Erpressungsversuche. Sonja kann nichts schreiben, was Jenni überzeugen wird, und je mehr Druck sie macht, desto größer wird ihr Widerstand. Jenni steckt das Handy zurück in die Tasche und setzt ihren Weg fort.
Im Laufen bewegen sich die Reflexionen der Lichter auf den Straßenbahngleisen mit, die um diese Uhrzeit nur noch sporadisch befahren werden. Sie lässt sich durch die Nacht treiben, passiert triste Häuserblocks, die unzählige Wohnungen beherbergen – unterschiedliche Leben finden hinter den gleichförmigen Fassaden statt. Hinter manchen Fenstern brennt noch Licht; an allen Rahmen hat sich der Feinstaub der Stadt abgesetzt. Die Luft ist grau und schwer. Es gibt zu wenig Grünes, das sie reinigt, nichts Blaues, das sie mit Salz verfeinert.
Auf Langeoog ist die Luft eine andere, und es gibt wenige Herbsttage in Berlin, an denen Jenni über eine regennasse Wiese geht und der Wind genauso riecht wie auf Langeoog – nach Dünengras, Moos und weichem Regen. Sie sieht vor sich, wie sich das Dünengras zur Seite neigt und sanft erzittert, hört den Sand über den Strand fegen. Wenn diese Erinnerung an Langeoog in ihr hochkommt, dann ist es stets Herbst. Der Geruch des Sommers ist ein ganz anderer, einer der ihr noch nie in Berlin oder einem anderen Ort begegnet ist. Sie vermisst ihn nicht. Zwanzig Jahre ist es her, seit sie das letzte Mal auf der Insel war.
Sie hatte gute Gründe, nicht mehr hinzufahren, und wie zur Untermauerung ihrer Gedanken sieht sie über den Bauzaun am Bürgersteig auf das eingefallene Dach der ehemaligen Kinderklinik. Es ist nur Beton und Holz – und doch fühlt Jenni die unheimliche Ausstrahlung der Ruine, in ihrem Zustand zwischen Verfall und Überdauern. Ein Zeitzeuge, der einfach nicht totzukriegen ist und durch seine bloße Existenz an Vergangenes gemahnt.
Das Licht von Taschenlampen flackert im Untergeschoss auf, und schrille Rufe von jungen Stimmen schallen in die Nacht hinaus. Abenteuer und Verbote ziehen Teenager an wie das Meer die Matrosen. So wie sie selbst damals auf Langeoog durch eine andere Ruine gegeistert ist, und obwohl sie inzwischen erwachsen ist und das ehemalige Internat der Insel endgültig vom Feuer vernichtet wurde, hat das Versprechen, nie wieder einen Fuß auf die Insel zu setzen, weiterhin Bestand.
Jenni steckt die Hände in die Manteltaschen. Aber ihr Schwur allein hält sie nicht davon ab, Sonja zu antworten. Sie sucht nach einem Weg, um David nicht mitnehmen zu müssen, sollte sie doch fahren. Er darf nicht mit der Insel in Kontakt kommen, sonst wird Jennis Vergangenheit auch an ihm haften bleiben.
Als sie die rote Haustür erreicht hat, weiß sie noch immer nicht, was sie Sonja antworten wird. Sie betritt das Treppenhaus mit der wuchtigen Holztreppe, die sich emporschlängelt, vorbei an grauen Wohnungstüren mit dicken Schlössern, die eher an Gefängniszellen erinnern. Jenni geht in den dritten Stock, lauscht dem Nachhall ihrer Schritte, dann steht sie vor der eigenen grauen Zellentür und schließt auf.
Wärme schlägt ihr entgegen und gelbes Licht, das vom Wohnzimmer in den Flur fällt. Sie hört Gemurmel, dann ein zartes ehrliches Lachen. Sie streift die Stiefel von den Füßen, hängt den Mantel auf und geht in die Küche, ohne das Licht einzuschalten. David hat ihr den geöffneten Rotwein und ein Glas bereitgestellt. Sie trinkt im Dunklen, lauscht seiner Stimme.
Der Rotwein erinnert sie an ihre Mutter, die hat ihn auch so trocken getrunken, dass er im Hals kratzt. Jenni lässt den Wein lange auf der Zunge liegen, schmeckt jedes Aroma heraus: dunkle Früchte, Walnuss, Waldboden, Rosmarin. In den letzten Jahren hat ihre Mutter keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Wenn der Krebs den Körper zerfrisst, will man nicht weiter nachhelfen. Ganz anders war da ihr Vater gewesen. Der hatte keinen Krebs und ließ sich vom Alkohol zerstören.
Jenni füllt das halb volle Glas auf und geht auf Wollsocken ins Wohnzimmer.
»Ja, sie kommt gerade rein«, spricht David in das Handy und schenkt Jenni ein Lächeln. »Dann mach nicht mehr so lange. Hab dich lieb.« Ein paar Küsse, dann legt er auf und breitet die Arme aus. Jenni setzt sich nicht auf seinen Schoß – manchmal brennt die Nähe auf ihrer Haut. Aber sie lehnt sich so weit mit dem Oberkörper herüber, dass er sie umarmen kann und ihren Rücken streichelt. »Wie geht es dir?«
»Ich weiß es nicht.« So ehrlich ist sie in den letzten drei Wochen nicht zu ihm gewesen. »Was macht Edith?«, fragt Jenni, um das Gespräch, das unweigerlich folgen wird, noch für ein paar Minuten hinauszuzögern.
»Sie war im Kino mit ihrer Mutter. Wir brauchen immer noch ein Geburtstagsgeschenk für sie, aber dieses Kind hat einfach keine Wünsche.« Er lacht, und sie kann hören, wie stolz er auf die Genügsamkeit seiner Tochter ist. »Was hast du zu deinem vierzehnten Geburtstag bekommen?«
Jenni richtet sich auf und sieht zur Decke. »Zu welchem Geburtstag ich was bekommen habe, weiß ich gar nicht mehr. Aber die Highlights waren ein Super Nintendo …« Sie schlägt sich mit der Hand aufs Bein. »Das Traumtelefon! Das habe ich geliebt! Das kennst du nicht? Im Grunde ist es wie Cluedo, du musst herausfinden, wer dein Traumtyp ist, und dabei gibt dir ein pinkes Telefon Hinweise. Mo war in den einen ganz verknallt, sie hat sich manchmal die Spielkarte aufs Kissen gelegt.« Jenni lacht bei der Erinnerung, die so klar ist, aber verstummt, als sie Davids überraschten Blick spürt. Sie hat ihm zu wenig gute Geschichten von ihren Schwestern erzählt. »Na ja, damit kannst du heute kein Mädchen mehr beeindrucken.« Sie spürt Davids Hand im Nacken, entzieht sich ihr, indem sie sich nach vorne zu ihrem Glas Wein lehnt. Vorsichtshalber bleibt sie auf der Kante hocken.
»Wir können ihr doch einen Ausflug schenken, wenn sie nichts Materielles will. Zu einem Geburtstag ist meine Mutter mit mir nach Hamburg gefahren, weil die Queen Mary dort anlegte. Es war ganz früh am Morgen und richtig kalt, aber wir standen eine Ewigkeit vor dem riesigen Schiff und haben die Leute beobachtet. Dann waren wir noch auf einem U-Boot und im Maritimen Museum. Schiffe liegen … lagen nicht in ihrem Interesse, aber sie hat alles mit Begeisterung über sich ergehen lassen.« Jenni lacht sanft auf. »Wenn dir mal jemand einen Tag geschenkt hat, vergisst du das nie.« In ihren Augenwinkeln sammeln sich Tränen, die sie wegblinzelt.
David bleibt auf Abstand, Jennis Tränen wollen nie von anderen getrocknet werden. Doch seine Stimme ist sanft und gibt den Trost, vor dem sie sich nicht verschließen kann. »Sie hat lange gekämpft.« Nach einer Pause. »Hat Sonja endlich gesagt, wann die Beerdigung ist?«
Sie holt tief Luft. »Am Samstag.«
»Der in drei Tagen? Jenni, da ist das Anwaltsbankett!«
Jenni versucht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ihr war nicht bewusst, dass es bereits einen Ausweg für ihr Problem gibt. In den letzten Wochen fiel es ihr schwer, richtig anwesend zu sein, dennoch hätte sie Davids größten Auftrag, seitdem er das Cateringunternehmen gegründet hat, nicht vergessen dürfen.
»Ich verstehe einfach nicht, warum ich das jetzt erst erfahre.«
»Sonja hat es mir gerade erst gesagt.« Die Lüge geht ihr leicht über die Lippen.
»Das macht die doch mit Absicht! Ich kann das unmöglich absagen, wir sind schon unterbesetzt und …«
»Das musst du auch nicht. Ich fahre alleine.«
David setzt sich auf und greift nach Jennis Hand. Er will protestieren, aber ihm scheinen keine Argumente einzufallen.
»Ich kann dich doch nicht auf der Beerdigung alleine lassen, schon gar nicht mit deinen Schwestern.«
Jenni streichelt über die raue Haut seiner Fingerknöchel.
»Mit denen komme ich zurecht.«
Sonja steht, die saubere Bettwäsche hinter den gefalteten Händen, in dem Zimmer, das sie sich früher in den Ferien mit Kaja geteilt hat. Es kommt ihr so klein vor: zwei Betten in L-Form aufgestellt, so dass sich die Fußenden berühren, ein Tisch samt Stuhl, ein Schrank, ein dicker blauer Teppich mit abstrakten Mustern darauf füllen den Raum komplett aus. Früher wirkte er so groß. Manchmal haben sie zu viert darin geschlafen, weil sie Kassetten zum Einschlafen hörten und es im Ferienhaus nur einen Rekorder gab. Dann lag immer eine Große mit einer Kleinen im Bett: Mo und Kaja, Jenni und Sonja. Es war warm und eng. Der Atem der einen streifte den Hals der anderen. Sie diskutierten über die richtige Lautstärke, und Sonja musste immerzu den Arm hinausstrecken und den Regler einen Millimeter nach rechts oder links schieben, bis wieder eine zu meckern begann. Oft übertönten die Gespräche die Hörspielstimmen, und doch verloren sie nie die Orientierung in der Geschichte. Das überschaubare Repertoire aus Wendy, TKKG und den Fünf Freunden kannten alle auswendig. Die Enge des Zimmers, die eng aneinandergedrängten Körper, die Hitze unter den Decken bedeuteten Geborgenheit. Jetzt aber wirkt der Raum so beengt, dass sich Sonja nicht einmal vorstellen kann, wie sie hier zu viert gelegen haben.
Sie lässt die Wäsche aufs Kopfkissen fallen und räumt die Umzugskartons von Kajas Bett. Seit drei Monaten ist sie schon auf der Insel, und noch immer hat sie nicht alles verstaut, was nur zeigt, wie viel Überfluss sie besitzt. Sie schüttet die Inhalte aus halb ausgepackten Kartons zusammen und stapelt sie auf ihr altes Bett, die leeren faltet sie und stellt sie in der Küche ab. Dann bezieht sie Kajas Bett mit der alten Bettwäsche von früher: Leuchttürme und Seehunde auf blauem Hintergrund. Kaum etwas hat sie verändert. Noch nicht. Das Haus ist eine Aufgabe, die so groß ist, dass Sonja keinen Anfang findet. Es sieht ihr nicht ähnlich, Sachen aufzuschieben, aber es sieht ihr auch nicht ähnlich, in das Haus zu ziehen.
Sie ist einer inneren Eingebung gefolgt, wie sie es immer tut. Nach dem Abitur war sie damals aus ihrer Heimatstadt Detmold nach Würzburg gezogen, hat nach dem Studium der Sozialen Arbeit in Freiburg, Ulm und Rosenheim gelebt. Die letzten fünf Jahre hat es sie nach München verschlagen, wo sie im Jugendamt gearbeitet hat, um Kindern zu helfen, die ihren Familien ausgeliefert waren. Doch viel zu oft hatte sie miterleben müssen, wie die Bürokratie Hürden aufbaute und Prozesse bis zum Stillstand lähmte. Das Scheitern machte nicht wett, was sie an positiver Veränderung erreichte. Sie hatte sich in der Vorstellung verrannt, eine Retterin zu sein, und musste schließlich einsehen, dass es nicht die Rolle ihres Lebens war. Auch in München blieben die Rastlosigkeit und das Unvermögen, feste Freundschaften zu schließen. Der Drang nach Veränderung, danach, sich selbst neu zu definieren, war so übermächtig, dass ihr Langeoog wie ein radikaler, aber guter Neuanfang erschien.
Vielleicht lag es auch am Zustand ihrer Mutter, der sich zusehends verschlimmerte, und dem Wunsch, sich ihr nah zu fühlen. Diese hatte schon als Kind ihr Herz an die Insel verloren und alle Urlaube bis zu jenem tragischen Sommer stets mit den Töchtern auf Langeoog verbracht. Und obwohl das Ferienhaus nach der Scheidung ihrem Mann und nach dessen Tod dann Sonja gehörte, hatte sie sich während des jahrelangen Leerstands weiter darum gekümmert. Sie hatte es immer wieder an Zeitarbeiter untervermietet, die nie lange genug blieben, um etwas zu verändern, und gleichzeitig die Gemäuer vorm Verfall bewahrten. Die Augen ihrer Mutter hatten geleuchtet, als Sonja ihr bei ihrem letzten Besuch in Detmold von ihrem neuen Leben auf der Insel erzählte. Dass die Familie Neumann zwanzig Jahre lang keinen Urlaub dort gemacht hatte, hatte ihre Mutter wohl schwerer getroffen, als sie hatte zugeben wollen.
Vielleicht ging es Sonja aber auch weniger um ihre Mutter, sondern darum, der Vergangenheit ihren Schrecken zu nehmen – darum, sich zu beweisen, dass ein Monster, das man als Kind gesehen hat, sich aus der Perspektive des Erwachsenen nur als Schatten eines Baumes entpuppt.
Sie streicht die Bettdecke glatt. Bis auf ihr damaliges Kinderbett sind jetzt alle bezogen, obwohl sie nicht einmal weiß, ob alle Schwestern kommen werden. Jenni entzieht sich, wie so oft, jeglicher Verantwortung und lässt die anderen im Unklaren.
Ihr Handy klingelt, und im ersten Moment denkt sie, dass Jenni sich doch noch meldet, doch dann fällt ihr ein, dass sie niemals anrufen würde.
Düne 13 leuchtet auf dem Display auf, der Name der Bar, in der sie arbeitet.
»Moin.«
»Sonja, kannst du einspringen? Till ist umgeknickt, und hier ist die Hölle los!«, schreit ihr Chef in den Hörer. Obwohl das Telefon im Hinterzimmer steht, kann sie die dröhnende Musik hören. Zum Glück laufen die Backstreet Boys schon, dann bleibt ihr das Lied nach ihrer Ankunft erspart. Nie hätte Sonja geglaubt, dass das Jahrzehnt des schlechten Geschmacks ein Comeback feiern würde.
»Klar. Ich komme sofort.«
»Danke.«
Prüfend wirft Sonja einen letzten Blick auf das Zimmer. Kaum vorstellbar, dass Kaja hier schlafen wird in ihrem ehemaligen Bett mit der ehemaligen Bettwäsche. Sie schaltet das Licht aus, geht durch die schmale Küche ins Wohn- und Esszimmer und dann die Treppe hinauf. Jeder Schritt hallt auf den alten Stufen, und die Metallstreben des Geländers geben blecherne Laute von sich. Oben, wo der Kunstdruck von Picasso hängt, macht der Flur eine Biegung, und es gehen drei Türen ab. Am Kopfende befindet sich Jennis und Mos Zimmer. In einigen Monaten soll hier Sonjas Lesezimmer entstehen, mit Büchern bis unter die Decke. Noch stehen hier die beiden bezogenen, klobigen Holzbetten. Auch der alte Röhrenfernseher, der nur mit Videorekorder zu gebrauchen ist, verstaubt noch vor dem Fenster. Sonja hat es zum Lüften geöffnet und schließt es nun. Der schmale Garten auf der Rückseite des Hauses liegt meist im Schatten der umliegenden Häuser. Ihr Vater hat dort einen Schuppen errichtet. Beim Anblick der klobigen Tür hört sie im Kopf die Melodie der quietschenden Scharniere wie Gespensterschreie.
Sie wendet sich ab und geht ins rechte Zimmer. Im großen Doppelbett haben ihre Eltern geschlafen. Dieser Raum ist der einzige, bei dem sie bereits Veränderungen vorgenommen hat. Die beigen Vorhänge wurden durch lichtblaue ersetzt, die maritimen Bilder durch urbane Schwarz-Weiß-Fotografien ausgetauscht, welche sich um ein imposantes Porträt von Maya Angelou gruppieren.
Sonja zieht sich ein schwarzes Poloshirt und eine schwarze Hose an, auf der man Getränkeflecken kaum sieht. Vor dem Spiegel im gegenüberliegenden Bad kämmt sie sich das lange rote Haar nach hinten. Es ist dünn und hängt glatt nach unten, deshalb trägt sie es am liebsten in einem Zopf oder Dutt. Sie zieht sich das Haar weit nach oben zu einem hohen Pferdeschwanz und platziert ihn leicht seitlich. Sie scheint immer fehl am Platz. Im Jugendamt war sie so akkurat gekleidet, dass die Menschen, die ihre Hilfe brauchten, sich von ihr angegriffen fühlten. Als hielte sie sich für etwas Besseres in ihren eng anliegenden Blusen und den spitzen Pumps. Es war ihr Stil, der nicht zum Beruf passte, und jetzt, da sie mit dreiunddreißig als Barkeeperin anfing, versucht sie, lässiger zu wirken, doch die strengen Züge in ihrem schlanken Gesicht – mit den schmalen Lippen und eng zusammenstehenden Augen – bleiben.
Sonja zieht ihre dicke Jacke an und fährt mit dem Rad zehn Minuten bis zur Düne. Es ist so voll, dass die Leute draußen an den Biertischen sitzen müssen oder rauchend im Kreis stehen. Hinter dem schmalen Eingang schiebt sie sich durch die Menschenmasse, um hinter den Tresen zu gelangen. Auf der kleinen Tanzfläche aus Metallplatten, die zur Hälfte von einem deckenhohen Spiegel eingerahmt ist, kreisen die bunten Lichtstrahlen über der zappelnden Masse.
»Sonja, tausend Dank!«, schreit ihr Chef hinter dem Zapfhahn.
Vom Alter der Gäste ist alles vertreten, und alles trinkt und schreit und tanzt. Sie begrüßt ihre Kollegen, die von einer Bestellung zur nächsten hetzen, bevor auch Sonja einsteigt.
Im Sommer quillt die Insel über, danach ebbt der Touristenstrom langsam ab. Beim Allerheiligenschwimmen bäumt sich die Gästewelle ein letztes Mal auf, bevor sie im November gänzlich abflaut.
»Was kann ich dir bringen?« Sonja wendet sich zu der Frau, die ihre Brüste auf die Theke legt und mit einem Zwanzigeuroschein wedelt. Eine nach der anderen arbeitet sie die Bestellungen ab, von gelallten über gebrüllten zu geflüsterten, bei denen man die Getränke von den Lippen ablesen muss, bis hin zu den pantomimischen. Von Paaren, Freunden und Angestellten auf Langeoog, die ihr Gehalt in der Düne versaufen – selten verirrt sich jemand alleine hierher. Vielleicht fällt ihr deshalb der Mann an der Bar auf: Mitte dreißig, mit kastanienbraunem Haar, groß gewachsen und unter dem Pearl-Jam-T-Shirt spannt sich sein Bizeps. Ihr Blick geht immer wieder zu ihm und dem Bier in seiner Hand, das sich langsam leert. Sie wartet auf ihre Chance, ihn zu bedienen. Er ist genau ihr Typ. Die, die alleine hier sind, arbeiten in der Regel nicht auf Langeoog, also läuft man nicht Gefahr, dass es kompliziert wird. Manchmal treffen sich ihre Blicke, und Sonja lächelt schüchtern und senkt ihren. Es passiert nicht oft, dass ein Mann diese Wirkung auf sie hat. Normalerweise hält sie das Zepter in der Hand.
Zwei Frauen wenden sich ihm zu, die eine wirft ihr Haar über die Schulter und hängt sich schwankend an seinen Arm. Sie ist deutlich älter als er, aber ihr tiefer Ausschnitt, den sie ihm entgegenreckt, verrät, dass sie noch auf Abenteuersuche ist. Er lächelt höflich, spricht ganz nah an ihrem Ohr. Die Freundin steht nutzlos daneben. Doch sein Blick bleibt distanziert, er erwidert auch keine Berührungen, und bald schon geben sie auf. Als sich die Frauen abwenden, sieht er wieder zu Sonja herüber und lächelt sanft, wobei sich feine Grübchen bilden. Sie wartet darauf, dass er sein Glas leert und sie ihn bedienen kann.
»Sonja!« Vor ihr steht Patze, breit grinsend, das braune dünne Haar klebt verschwitzt an ihrer Stirn. »Machst du mir zwei Gin Tonic?«
»Heute scheint die ganze Insel hier zu sein«, schreit Sonja und bereitet die Getränke zu.
»Noch einmal die Fetzen fliegen lassen, bevor der Totenschlaf kommt«, lacht Patze. Sie sieht älter aus als vierzig, hat sich charakterlich aber kaum weiterentwickelt: überdreht und nervtötend, genau wie früher. So wie die Neumanns kam auch Patze immer in den Ferien mit ihrer Mutter nach Langeoog und war in dieser Zeit mit Sonjas ältester Schwester eng befreundet. Sonja hatte nie verstanden, was die beiden verband. Immerhin waren sie so unterschiedlich, und die sonst so willensstarke Jenni schien sich Patze unterzuordnen, als sei sie bloß ihre Marionette. Hin und wieder begegnet Sonja Patze auf der Insel, die inzwischen das halbe Jahr hier verbringt. Auch wenn sie manchmal gemeinsam über den Strand spazieren, wissen beide, dass es keine Freundschaft zwischen ihnen gibt, weder damals noch heute.
Sonja gibt ihr die Longdrinks und zwei Friesengeist. »Geht aufs Haus.«
Patze schiebt einen Zwanzigeuroschein rüber. »Stimmt so.«
Sonja steckt grinsend das Geld ein und wirft wieder einen flüchtigen Blick auf den schönen Fremden, der sie auffällig mustert. Durch seine Aufmerksamkeit fühlt sie sich selbstbewusst und schön.
»Den Schnaps trinkst du mit mir!«, schreit Patze über den Tresen.
Sonja lässt sich nicht zweimal bitten, stößt mit ihr an und kippt den klaren, scharfen Schnaps in einem Zug herunter. Er hat keinen Geschmack, brennt nur lange nach.
Musikalisch lassen sie die deutschen Dauerbrenner hinter sich, und nachdem Culcha Candela und Cro ihre »hamma Kids« besungen haben, beginnt die Schlagerplatte. In den letzten beiden Monaten ist die Musik zu einem ständigen Hintergrundgeräusch geworden, das sich täglich wiederholt.
Sonja verpasst ihre Chance, dem schönen Mann ein Bier zu bringen, ihr Chef hat ihn schon bedient.
»Samstag ist doch die Beerdigung!« Patze setzt eine mitfühlende Miene auf und schiebt die Lippe zum Schmollmund. Es kostet Sonja alle Kraft, die Augen nicht zu verdrehen. »Deine Schwestern kommen doch?«
Sonja zuckt die Schultern.
»Wie geht es Jenni?«
»Wie immer.« Sonja weiß nicht, wie oft sie noch ausweichende Antworten geben soll, bis Patze endlich versteht, dass sie nicht darüber reden will und offensichtlich nicht allzu viele Antworten hat.
»Ruf sie doch einfach mal an«, gibt Sonja zurück.
»Ach du wieder«, winkt Patze ab. »Brauchst du denn noch Hilfe?«
Sonja schüttelt den Kopf. Ihr ist bewusst, dass das Angebot nur kommt, weil klar ist, dass sie es nicht in Anspruch nehmen wird.
»Hey, ist dir aufgefallen, dass dich der süße Typ da mit Blicken verschlingt?« Patze schielt zu dem Fremden hinüber, und Sonja nickt, kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Wo ist dein Mann?«, fragt Sonja.
Patze winkt lasch in Richtung Tanzfläche. »Ich hoffe, ich kann mich mit Jenni treffen. Sagst du ihr Bescheid? Hey!« Sie richtet sich gerade auf. »Ist dir eigentlich klar, dass wir dann wieder alle zusammen wären? Das erste Mal seit – wie lange ist es her? Sechzehn Jahre?«
»Zwanzig.«
»Nein!« Patze sieht sie ungläubig an, aber Sonjas fester Blick zeigt Gewissheit. »Wahnsinn, wie die Zeit vergeht.«
Kaja berührte die gebräunte Haut ihrer Mutter, als sie über den Verlobungsring strich. Er funkelte im Sonnenlicht und blendete in Kajas Augen. Ein kleines Sandkorn hatte sich in der Fassung verfangen. Kaja bohrte ihren Fingernagel zwischen Metall und Stein.
»Lass das, Schatz.«
»Aber da ist Sand drin.«
»Das macht nichts.«
Sie saß auf dem Schoß ihrer Mutter im Strandkorb. Zu ihren Füßen lag Sonja im Sand, das lange Haar zu einem Zopf geflochten, und war in ein riesengroßes Buch mit rotem Einband und teils vergilbten Seiten vertieft. Noch war Kaja sechs Jahre alt, aber sobald auch sie dreizehn wurde, durfte sie endlich die Geschichte lesen, die Jenni und Mo schon lange verschlungen hatten. Der Roman handelte von einem Clown, der in der Kanalisation lebte und Kinder fraß; deshalb durfte Sonja ihr nicht daraus vorlesen, aber manchmal tat sie es heimlich, wenn sie abends im Bett lagen. Kaja gruselte sich nur leicht, es war ja bloß eine Geschichte und nichts, was wirklich passiert war – wie der Spuk des Klabautermanns.
»Papa kommt gleich mit dem Essen. Hol schon mal deine Schwestern.« Kaja hüpfte vom Schoß ihrer Mutter und sprang über Sonja, die ein Bein in die Höhe hob. Kaja blieb daran hängen und landete mit dem Gesicht voran im Sand.
»Das ist gemein!« Kaja rieb sich die Körner von Stirn und Wange, darauf bedacht, keines in die Augen zu bekommen. Sonja hatte sich auf den Rücken gedreht und hielt sich lachend den Bauch.
»Sei nett zu deiner Schwester.«
»Das sah so witzig aus!«
Kaja stiegen Tränen in die Augen.
Sonja kroch auf sie zu und wuschelte ihr durchs Haar. »War doch nur Spaß. Musst auch mal über dich selber lachen.«
Kaja nahm eine Handvoll Sand und warf ihn Sonja ins Gesicht. Sie sprang auf und rannte zum Meer, während sie Sonja fluchen und ihre Mutter schimpfen hörte. Im Pudersand fiel es ihr schwer zu laufen, die pelzige Luft drang in ihre Lungen. Erst als der Sand fester wurde, kam ihr die kühle Meeresbrise entgegen und trocknete die Schweißperlen auf ihrer Stirn.
Vor ihr standen Jenni und Mo bis zur Hüfte im Wasser und warfen sich einen Ball zu. Kaja bewunderte ihre großen und schlanken Körper, Jennis Becken war etwas breiter und ihre Brüste größer. Die dunkelblonden Haare waren hinten kürzer geschnitten und reichten vorne bis zum Hals. Im Frühling war sie achtzehn geworden. Mo war drei Jahre jünger, einen Kopf kleiner und drahtiger. Sie hechtete dem Ball entgegen, das schulterlange silberblonde Haar, das dem ihrer Mutter ähnelte, schimmerte in der Sonne. Der Ball berührte ihre Fingerkuppen und rollte darüber hinweg, und Mo tauchte der Länge nach im Wasser unter.
»Essen!«, schrie Kaja, doch die beiden reagierten nicht. Das Wasser kroch auf Kaja zu, umspülte ihre Füße. Der blaue Himmel mit den Wolkenfetzen spiegelte sich makellos auf den glatten Ausläufern, färbte die graugrüne Nordsee südseeblau – die Illusion wurde nur durch die Gischtflocken getrübt. Das Salzwasser lief zurück, zerrte an Kajas Füßen und nahm den Sand unter ihr mit, als würde es seine Untertanen zusammentrommeln und in Tritons Palast rufen. Sie sank leicht im Boden ein.
»Jenni! Mo!«
Der Wind trug ihre Stimme und die Jubelrufe ihrer Schwestern zu den Strandkörben.
Sie ging zwei Schritte weiter. Die Wellen waren höchstens für Babys groß. Sie konnte ja schwimmen, musste im Meer aber noch die verhassten Schwimmflügel tragen. Kaja watete ins Wasser, immerhin hatte sie einen Auftrag zu erfüllen, da durfte man Regeln brechen. Sie rief nicht noch mal nach ihren Schwestern.
Vor ihr glitzerte das Sonnenlicht wie Diamanten auf der Oberfläche. Sie sprang auf sie zu, das Wasser stob auseinander, und die Juwelen funkelten schwankend um sie herum. Keines ließ sich fangen. Kaja stand jetzt bis zur Brust im Wasser. Die Vorfreude, etwas Verbotenes zu tun, ließ ihr Herz höherschlagen. Sie legte sich auf die Oberfläche, konzentrierte sich auf die Arm- und Beinzüge und glitt wie ein Frosch hindurch.
Jenni wandte den Kopf in ihre Richtung. »Was machst du hier?«
»Gibt Essen«, keuchte Kaja.
»Du darfst doch ohne Flügel nur in den Priel.«
»Ihr habt mich aber nicht rufen gehört!«
Jenni griff ihrer Schwester unter die Arme und hob sie im Wasser hoch und runter, wie auf einem Karussellpferd.
»Zeig mal, ob du auch ohne Flügel fliegen kannst. Eins.« Kaja begann zu quieken. »Zwei.« Ihr Herz schlug schneller. »Drei!« Sie flog durch die Luft, schrie vor Aufregung, durchbrach mit dem Rücken voran die Oberfläche – das kühle Wasser umspielte ihren Kopf. Sie fühlte den Boden nicht, wusste nicht, in welche Richtung sie schwimmen musste – dann fanden ihre Füße den Sand, sie stieß sich ab und kam heraufgeschossen.
Jenni und Mo nahmen je eine Hand von ihr und zogen sie bis ans Ufer.
»Sagt Mama nicht, dass ich im Wasser war!«, rief sie.
»Und wie willst du erklären, dass du nass bist?«, fragte Mo.
»Vielleicht trocknest du noch, wenn du ganz schnell rennst.«
Kaja sah skeptisch zu Jenni.
»Das ist wie ein Föhn«, erklärte ihre Schwester.
Das leuchtete ein. Mit ausgebreiteten Armen lief Kaja zum Strandkorb, wo Sonja noch immer auf dem Handtuch lag und las.
Ihre Mutter lehnte sich nach vorne und sah über den Rand hinweg. »Kaja! Du warst im Wasser.« Mit einer Umarmung wurde sie in ein Handtuch gewickelt, es roch nach Salz und Liebe.
»Jenni und Mo haben aufgepasst.«
Inzwischen waren die beiden fast am Strandkorb angelangt. Mos weiße Haut unterschied sich kaum vom Sand. Kaja sah auf ihre Hand, der olivfarbene Teint hob sich deutlich vom gelben Handtuch ab.
»Mama, ich muss noch mal eingecremt werden.«
»Du wurdest schon zweimal eingecremt.«
»Aber jetzt war ich im Wasser.«
»Das macht nichts. Zu viel ist auch nicht gut.«
Kaja wand sich aus der Umarmung und ließ sich auf den Boden plumpsen. Mit dem Handtuch bedeckte sie möglichst viel ihres Körpers, über die Beine schob sie eine dicke Sandschicht.
»Du bekommst keinen Sonnenbrand, Kaja.«
Trotzig schob sie die Unterlippe vor. Ihre Mutter verstand gar nichts!
»Papa kommt!« Sonja sprang auf.
Lachend versuchte ihr Vater, die Pommes nicht fallen zu lassen, als Sonja ihre Arme um seine Hüften schlang. »Vorsicht, Sonni.«
Sonja grapschte die erste Schachtel aus seinen Händen, Mo und Jenni ließen sich auch nicht bitten.
Ihr Vater beugte sich zu Kaja und hielt ihr eine Schachtel hin. »Passt auf die Möwen auf, Kinder. Die klauen euch das Essen aus den Händen.«
Kaja sah sich um und entdeckte drei Möwen, die auf den Strandkörben hockten und mit entschlossenem Blick patrouillierten. Die eine reckte ruckartig den Kopf zur Seite, verharrte, zuckte in eine andere Richtung, blieb starr – die perlenförmigen Augen taxierten ein altes Ehepaar, das über den Holzsteg flanierte und an einem Eis schleckte. Das Tier flatterte mit den Flügeln, erhob sich schwerfällig in die Luft und segelte im Sturzflug über die Köpfe hinweg. Die Frau schrie und blickte auf die halbe Waffel in ihrer Hand.
»Gibt es denn im Meer keine Fische?«, fragte Kaja und überlegte, ob sie ihr Essen mit den Tieren teilen sollte.
»Doch, aber Möwen sind faule, dicke Biester.« In diesem Fall entschied sie, die Pommes für sich zu behalten, und aß, so schnell sie konnte, denn neben den Vögeln boten auch ihre Schwestern eine hungrige Gefahr. Sobald sie aufgegessen hatten, würden sie sich über Kajas Portion hermachen, allem Zetern zum Trotz.
Sonja setzte sich mit ihrer Familie an den großen Tisch auf der Restaurantterrasse. Am Abend war sie stets ausgebucht, doch jetzt, am frühen Nachmittag, gab es weniger Kundschaft. Ihre Mutter zog einen Stuhl hervor und setzte sich Sonja gegenüber. »Ich verstehe nicht, warum ihr immer hier hinwollt.«
»Nur hier gibt es den Elefantenbecher!«, rief Kaja.
»Aber wir können doch auch zu einer richtigen Eisdiele gehen, das hier ist doch mehr ein Restaurant.«
»Mama, du hast gesagt, wir dürfen entscheiden!« Sonja stampfte mit dem Fuß auf.
»Ja, ja schon gut.«
»Ich verstehe nicht, warum du nie hier hinwillst«, sagte Jenni und schnappte Mo die Eiskarte vor der Nase weg.
»Ah, die große Familie!« Der großgewachsene Kellner mit den buschigen Augenbrauen bediente die Neumanns, seit Sonja denken konnte. Mit seinem osteuropäischen Dialekt und dem breiten Grinsen war er ihr von Anfang an sympathisch gewesen.
Er zeigte mit dem gezückten Kugelschreiber auf Kaja: »Elefantenbecher, nur mit Schokoeis.« Dann weiter auf Sonja: »Elefantenbecher, zweimal Stracciatella, einmal Schoko.« Und dann deutete er auf Mo und Jenni: »Zwei Elefantenbecher, wie sie in der Karte stehen.«
»Für mich nicht«, sagte Jenni und klappte die Karte zu. »Ich nehme den Amarettobecher.«
»Keinen Elefantenbecher?!« Sonja war entsetzt. Ihre Schwestern wurden älter, und manche Gewohnheiten veränderten sich, aber sie hatte immer geglaubt, sie würden ihn noch von der Kinderkarte bestellen, wenn sie achtzig waren.
Der Kellner zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Dann schließe ich mich mal meiner Tochter an«, sagte ihr Vater und zwinkerte Jenni zu.
»Und für die schöne Dame?«
Ihre Mutter sah kurz von der Karte auf und senkte den Blick dann wieder. »Einen Kaffee.«
»Oh, Mama!«, schimpfte Mo. »Jetzt iss man tüchtig.«
Sonja kicherte. Wie oft hatte sie diesen Satz von ihrer Mutter gehört.
»Den Schwedenbecher.« Sie reichte ihm die Karte, ohne sein Lächeln zu erwidern.
»Jetzt weiß ich, warum Mama nie hier hinwill«, rief Jenni, als der Kellner ins Restaurant gegangen war. »Der flirtet immer so peinlich mit dir.«
»Der redet doch mit allen so, um sein Trinkgeld zu erhöhen«, gab sie lächelnd zurück.
»Heike ist eben eine schöne Frau«, sagte ihr Vater und gab ihr einen Kuss.
Eklig. Sonja wandte den Blick ab und sah eine ältere Dame mit riesiger Sonnenbrille und geblümtem Kleid, unter dem ihre speckigen Oberarme hervorblitzten. Sie saß vor einem geöffneten Groschenroman und schien die Familie darüber hinweg regelrecht anzustarren. Zumindest falls die Augen hinter den Gläsern geradeaus blickten.
»Gibt es noch mal einen Bastelkurs in der Spöölstuv?«, fragte Kaja.
»Da müssen wir vorbeifahren und aufs Programm gucken«, antwortete ihre Mutter.
»Ich komme aber nicht wieder mit«, sagte Sonja. »Das sind immer so Babykurse.«
»Gar nicht.« Kaja schob die Unterlippe vor. Diesen Sommer wollte Sonja unbedingt mehr mit Mo und Jenni unternehmen. Abends um die Häuser ziehen, Straßenlaternen austreten, durch Gärten schleichen, im Dunkeln schwimmen gehen. Sie hatte sich so vieles ausgemalt, was die Großen taten, wenn ihre Eltern nicht dabei waren.
Der Kellner kam zurück und stellte vor jeden einen überquellenden Eisbecher auf den Tisch. »So, lasst es euch schmecken.«
Er wandte sich an den anderen Tisch zu der alten Frau. Während er mit ihr sprach, berührte er ihren Rücken – manche Menschen kannten einfach keine Grenzen.
Sonja nahm den Löffel, pflückte die Gummibären von der Sahne und schob sie unter die Eiskugeln, um sie einzufrieren. Kaja und Mo taten es ihr gleich. Sie linste zu Jenni, die an einem Amarettini-Keks knusperte und verstohlen zu ihren Schwestern sah. Bestimmt bereute sie ihre Wahl.
»Mama, wann essen wir heute Abend? Wir wollten später noch in die Stadt«, sagte Jenni.
»Mit wem?«
»Patze.«
»Ihr alle vier?«
»Nein?! Mo und ich.«
»Was ist mit mir?«, fragte Sonja.
»Das ist nur was für Große.«
»Ich bin nur zweieinhalb Jahr jünger als Mo«, protestierte Sonja.
»Wir können doch auch was Schönes zusammen unternehmen.«
»Aber, Mama, ich will mit denen mit. Ich bin ja kein Kleinkind mehr.«
»Ich auch nicht«, protestierte Kaja.
»Ich sag euch was: Nach dem Abendbrot nehmt ihr Kaja und Sonja mit, bis acht, wir holen sie ab, und ihr könnt noch bis zehn raus.«
»Bis elf!«
»Meinetwegen auch bis elf.«
Jenni fuhr neben Mo auf der Barkhausenstraße ins Dorf – vorbei an dem Steinsockel des Fahnenmasts, auf dem eine schreiende Schulklasse hockte wie Möwen auf der Sandbank. Vor ihnen radelte Kaja, Sonja bildete die Spitze.
Kling-kling-klingeling.
»Aus dem Weg!« Sonja spreizte die Beine weit vom Fahrrad ab. Eine Oma am Rollator schrie ihnen »Fußgängerzone!« hinterher und reckte dabei die Faust in die Höhe.
Jenni machte eine entschuldigende Handbewegung, stieg aber nicht ab. »Deshalb wollte ich sie nicht mitnehmen«, sagte sie zu Mo.
»Wartet auf mich!« Kaja trat so fest in die Pedale, dass das kleine Fahrrad hin und her schwankte.
»Gleich fällst du!«, rief Mo.
»Waaas?« Kaja drehte sich um, dabei hielt sie den Lenker zu weit nach rechts.
»Pass auf!«
Sie schaute nach vorne, der Bordstein war direkt vor ihr. Kaja drehte den Lenker mit einem Ruck herum, das Schleudern verstärkte sich. Die Reifen schrammten an der Bordsteinkante entlang und rissen das Fahrrad unter Kajas Körper weg. Sie flog seitlich in die mannshohe Heckenrose, deren Äste unter ihrem Gewicht brechend nachgaben. Das Fahrrad rutschte noch einen halben Meter weiter, bevor es scheppernd zum Halten kam.
Jenni sprang vom Rad, drückte es Mo in die Hand und schaute ins Gebüsch.
In Zeitlupe richtete Kaja ihren Fahrradhelm, und als sie auf ihre zerkratzten Hände sah, füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Besorgt drängte Sonja sich vor die Hecke. »Alles in Ordnung? Geht es dir gut?« In ihrer Stimme war deutlich ein Schmunzeln zu hören.
»Neeein«, jaulte Kaja und ließ sich von Jenni aus den Heckenrosen ziehen.
»Sind doch nur ein paar kleine Kratzer.« Tröstend pustete Jenni den Schmerz auf Kajas zerschrammten Händen und dem Gesicht weg, dann konnte sie ihr Lachen nicht mehr unterdrücken. »Das sah so witzig aus.«
»Das tat weh!«, heulte Kaja.
»Du bist gefahren wie der Teufel. Nicht schlecht.« Sonja gab ihr einen Klaps auf die Schulter.
»Gefahren wie der Teufel und gelandet wie ein besoffener Bär«, rief Mo.
Jetzt musste auch Kaja lachen. »Ich bin nicht besoffen.«
»Nein, aber ein Bär bist du schon.« Jenni holte Kajas Rad. Alle Kinder hatten auf dem rosafarbenen Drahtesel, der von Rost und Kratzern überzogen war, fahren gelernt.
Kaja verzog das Gesicht, als ihre Hände den Lenker umschlossen. »Kann ich doch nach Hause fahren?«
»Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Fahr einfach nicht so schnell.«
»Ich wollte nur zeigen, dass ich das auch schon kann.«
»Los, du alte Heulsuse«, rief Sonja und reckte die Faust in den Himmel. »Der Stamm der Neumann-Indianer wagt sich nun vor in den Menschenrummel, den sie ›den Ort‹ nennen.«
Grinsend zog Kaja den Schnott hoch.
»Die furchtlose Bärentochter Kaja steigt nach einem gefährlichen Sturz wieder auf ihr Ross und reitet in die Meute hinein.« Sonja senkte die Hand und trat in die Pedale.
»Häuptlingstochter Sonja, auch bekannt als Schleichender Panther, führt den Trupp an.«
»Wohl besser bekannt als Quasselstrippe.«
»Da ist auch schon Jenni, Zorniger Adler. Gefolgt von Mo, Listiger Luchs. Zusammen schlagen wir die Bösen in die Flucht. Aiyaiyai!«
»Ich hoffe, das Gequatsche hört bald auf. Ich will mich nicht vor meinen Freunden blamieren«, sagte Jenni.
»Was für Freunde?«, rief Sonja über die Schulter.
»Du kannst gleich Kaja nehmen und abzischen, wenn du noch mal so frech bist.«
»Ich habe doch gar nichts gesagt«, jammerte Kaja.
»Guck lieber, wo du hinfährst.«
Der Ort war nach diesem sonnenreichen Tag noch voller als sonst. In einer Stunde würden die Ladenbesitzer ihre Kleider, Postkartenständer und Sommerrabattschilder hinter die Eingänge schieben und die Touristen in die Supermärkte und Restaurants strömen. Ein Elektrokarren schunkelte surrend vorbei, das Geräusch wurde von den klirrenden Getränkekisten auf der offenen Ladefläche begleitet.
»Der Panther hat das Ziel gesichtet«, rief Sonja und deutete auf ein Mädchen, das sich die Nase am Schaufenster des Bernsteinstübchens platt drückte.
»Das kannste dir doch eh nicht leisten«, rief Jenni und bremste scharf vor den Treppen des Geschäfts.
Patze zuckte zusammen. »Mann, hast du mich erschreckt!« Sie lief auf ihre Freundin zu.
Vor zwölf Jahren hatten sich Jenni und Patze auf Langeoog kennengelernt, und seitdem hatte es keinen Sommer gegeben, in dem sie sich nicht gesehen hatten. Jenni fragte sich, ob der spärliche Kontakt der Grund dafür war, dass diese Freundschaft ihre beständigste war.
Obwohl Patze nur achtzig Kilometer entfernt in Osnabrück wohnte, trafen sie sich nie auf dem Festland, telefonierten auch nicht miteinander, schickten sich nur gelegentlich Briefe, wenn es etwas Dringendes zu berichten gab. In der Schule wären sie wohl kaum miteinander befreundet gewesen, so unterschiedlich waren sie. Patze genoss es, von einer Schar aus Bekanntschaften umringt zu sein. Sie brauchte Bewunderung und Anerkennung, dabei wirkte ihre Freundlichkeit meist aufgesetzt, zu bemüht. Andererseits schätzte Jenni ihre Loyalität und dass Patze es verstand, aus dem langweiligsten Vorfall ein denkwürdiges Ereignis zu erschaffen.
Die gemeinsame Liebe zu Langeoog hatte ihre Freundschaft vor Jahren zu einer Vertrautheit gefestigt, die auf der Insel stets wiederkehrte; unabhängig davon, wie viel Zeit vergangen war oder wie sehr sie sich verändert hatten. Jeder Sommer begann dort, wo der letzte aufgehört hatte.
»Also, Mädels, was machen wir?«, fragte Mo, als sie ihre Räder abgestellt hatten.
»Ihr glaubt es nicht!« Patzes Stimme war hell, und die Worte sprudelten so schnell aus ihr heraus, als versuchten sie, einander zu überholen. Sie klatschte in die Hände. Ihre langen aschblonden Haare, die sie mit einem grünen Zopfgummi links und einem pinken rechts weit nach oben gebunden hatte, schwangen hin und her. Das Gesicht wurde durch zwei dünne Haarsträhnen eingerahmt und in die Länge gezogen. »Ich habe total den süßen Typen kennengelernt.«
»Erzähl!«, forderte Jenni sie begeistert auf.
»Aus dem Schullandheim. Er kommt heute mit Freunden zum Wasserturm.« Patze holte einen lila Lipgloss aus ihrer Hosentasche und zog die bereits glänzenden Lippen nach. »Und er bringt Bier mit.«
»Was ist mit der Düne 13?«, fragte Jenni.
»Keine Chance. Wir haben gestern versucht reinzukommen, die kontrollieren die Ausweise. Wer hat schon Lust auf eine Apfelschorle?«
»Ich«, rief Kaja.
Sonja verpasste ihr mit dem Ellenbogen einen Stoß in die Rippen.
»Ich habe sie bis acht am Hals, dann holt Mama sie ab.«
Patze nickte und hakte sich bei Jenni unter, als sie die Straße hinunterliefen. »Die Jungs wollten uns um halb acht am Wasserturm treffen. Ich könnte schon mal vorgehen, und ihr kommt nach.«
»Ein geduldiger Mann würde auch eine halbe Stunde warten«, sagte Mo, die dicht hinter ihnen ging.
»Oh mein Gott, Mo, ich will den ja nicht heiraten.«
»Wir haben ja noch Zeit.« Jennis Augen funkelten. »Wie wäre es mit einer Mutprobe? Schnick-Schnack-Schnuck darum, wer anfängt?«
Kaja sah die blauen Buchstaben, die hoch über dem Eingang an der Backsteinfassade prangten: Wat Besünners. Trotz der Hitze kroch ein kalter Schauer über ihre Wirbelsäule und legte sich wie eine eisige Hand um ihren Nacken. Die braune Flügeltür mit dem goldenen Griff stand offen. Von drinnen drangen die Geräusche der Touristen hinaus, die sich durch die engen Gänge schoben. Das Höhlenartige des Ladens passte nicht zu den bunten Schaufeln, Eimern und Keschern, die draußen im Sonnenlicht Spalier standen. Neben der Tür gab es auf jeder Seite ein quadratisches Schaufenster. Von oben bis unten zugestellt, sperrten sie das Sonnenlicht aus. Weißes Ostfriesengeschirr mit blauem Muster reihte sich an Teekannen, Bilder, Dekorationen aus Seilen und Muscheln, daneben stapelten sich Puzzles, Spielzeug, Barbie- und Babyborn-Kartons, dessen Motive von der Sonne ausgebleicht waren und sich nur noch erahnen ließen.
Sie wusste, dass links neben Büchern und Schreibwaren auch Steiff-Tiere zur Schau gestellt waren, aber sie sah nicht dorthin, denn Kaja befürchtete, von deren toten Augen angestarrt zu werden. Manchen von ihnen hing eine Zunge zwischen verbogenen Zähnen aus dem Maul. Spinnweben hatten sich zum Teil um das Fell gelegt, als wollten sie die Tiere im Zaum halten.
Der Laden hätte ein Kinderparadies sein sollen, doch Kaja hielt sich darin nur mit Unbehagen auf und wich ihrer Familie nie von der Seite. Dabei war es so verlockend. Die bunten Farben und Strukturen riefen förmlich dazu auf, berührt zu werden: Welche Puppe hatte das weichste Haar? Waren die Stacheln des Igels wirklich spitz? Wie glibberig war das Schleimmonster? Kaja wollte die Dinge erforschen, doch sie behielt ihre Hände bei sich, seitdem Jenni letztes Jahr von der Verkäuferin angeschrien worden war, als sie ein Modellflugzeug in den Händen hielt: »Leg das sofort wieder hin! Hier wird nichts angefasst!«
Seitdem ging auch Jenni nur noch widerwillig in den Laden. Wenn selbst Kajas älteste Schwester sich nicht traute, wie sollte sie es erst schaffen, dort ganz alleine eine Mutprobe zu bestehen? Andererseits war es ihre Chance zu zeigen, dass sie es verdient hatte, mit den Großen zu spielen.
»Du gehst rein, drehst eine ganze Runde durch den Laden und fasst dabei alles an.«
»Dann musst du zur Kasse gehen und fragen, warum hier alles so teuer ist.«
Kaja schluckte.
»Nein, nein, sie soll fragen, warum ihre Katze so dämlich faucht, wenn man nachts gegen die Tür klopft.«
Kaja blieb fast das Herz stehen.
»Nein, das ist zu gemein.«
»Es heißt ja auch Mutprobe.«
»Selbst du würdest dich das nicht trauen.«
»Klar würde ich, wenn ich müsste.«
Die Stimmen vermengten sich zu einem Gewirr, das vom Rauschen in Kajas Kopf übertönt wurde. Ihre Beine bewegten sich so ferngesteuert wie die Autos im Schaufenster. Sie trat durch die Tür in die Höhle des Feuer speienden Drachen. Nur ein Gedanke trieb sie an: Wenn sie diese Aufgabe bestand, würde keiner mehr sagen: Kaja ist zu klein dafür, Kaja nervt, oder Kaja kann das nicht. Der Geruch von kaltem Zigarettenrauch und zentimeterdickem Staub drang in ihre Nase. Sofort fühlte sie sich erschlagen von der Fülle an Waren. In den Regalen waren bis zur Decke braune Kartons gestapelt, deren handgeschriebene Zettel den Inhalt verrieten. Die oberen Schachteln verbargen sich teils hinter Taschen und Strandtüchern, die an einer Schnur hingen, die einmal ums Innere des Ladens gespannt war.
Neben Schrauben, Nägeln, Farbe und Werkzeug reihten sich die pastellfarbenen Tuben der Kosmetikartikel ein. In der Mitte des schmalen Ladens war ein Tisch aufgebaut, auf dem sich verschiedenes Spielzeug angesammelt hatte und TKKG-Kassetten im Drehständer verstaubten. Die gruseligen Steiff-Tiere stapelten sich vor vergilbten Schreibheften und edlen Füllern. Die Atmosphäre erinnerte Kaja an den Dachboden ihrer Oma, auf den sie zwar die Neugier trieb, aber dessen unbekannte Kisten sie nie ganz ohne Furcht durchstöbern konnte. Sie konzentrierte sich auf die Ladentheke, die einmal quer durch den Raum verlief und hinter der Sammlerstücke und Zerbrechliches in deckenhohen Regalen lagerten. Auf der Theke lag ein Sammelsurium aus Druckerpapier, Kalendern und aufgestellten Kinderbüchern, hinter denen die Verkäufer hindurchspähten; für die Kundschaft standen sie halb im Verborgenen, doch ihnen selbst schien nichts zu entgehen.
Der Mann und die Frau sahen einander alles andere als ähnlich, der Mann war klein mit rosigen Wangen und trug eine Nickelbrille. Haare waren nur noch an den Seiten des Kopfes vorhanden. Die Frau hingegen war groß und hager, hatte kurzes dunkelblondes Haar, welches am Ansatz ergraute. Sie behielt mit starren Möwenaugen ihr Revier im Blick, bereit, jederzeit Alarm zu schlagen. Der Mann wirkte verbissen, aber etwas nachgiebiger. Gerade kassierte er ein Memoryspiel ab und beugte sich weit über den Tresen, um dem Jungen das Wechselgeld zu geben, ohne die Bücher umzustoßen.
»Wir haben nur das, was da liegt!«, antwortete die Verkäuferin einem jungen Mann, der sein Baby vor dem Bauch trug. Kaja zuckte zusammen. Schweiß breitete sich auf ihren Handflächen aus. Sie versuchte, tief einzuatmen, doch der Ladengeruch machte es nur noch schlimmer. Schon jetzt stieg ihr die Röte ins Gesicht, als sie auf den Tresen zuschritt. Sie versuchte, nicht an ihre Schwestern zu denken, die sicherlich aufgereiht in der Tür standen und kichernd hineinspähten.
Die Worte ihrer Mutter schossen ihr in den Kopf: »Erwachsen sein ist nicht schön. Da musst du Dinge machen, die du nicht machen willst.« Vielleicht wurde Kaja heute erwachsen, zumindest ein ganzes Stück.
Nur noch wenige Meter trennten sie von dem Mann. Sie sah zu ihm hoch. Er war das kleinere Übel, ihm würde sie es sagen, das mit dem Geld oder der Katze oder beides. Ja, beides! Sie war so weit gekommen, da konnte sie gleich alles sagen. Ihr T-Shirt klebte an Rücken und Brust. Sie presste die Lippen aufeinander. Jetzt! Der Mann drehte sich um, verschwand hinter dem Tresen in einer Tür. Womöglich gab es dort ein Verlies.
Kaja schluckte, jetzt musste sie zu der Frau. Ihre Blicke taxierten unaufhörlich den Laden, sprangen von Kunde zu Kunde, jetzt hatten sie Kaja erreicht.
»Willst du was kaufen?«, fauchte die Frau mit hängenden Mundwinkeln.
»Warum ist Ihre Katze so teuer und alles faucht, wenn man gegen die Tür klopft?!«, stieß Kaja hervor. Ihre Wangen brannten wie Feuer, und ihr Körper war zu einem einzigen starren Brett geworden; aber sie hatte es gesagt und wie sie es gesagt hatte! Hinter dem Tresen beugte sich die Frau wie ein Drache hervor, der seinen Schatz vor einem Eindringling schützen wollte. Das war Kajas Moment, der Überraschungsschlag war ihr gelungen, jetzt konnte sie auch sagen, was ihr auf der Zunge lag. »Und überhaupt sind Sie ganz schön gemein zu Kindern, dann sollten Sie kein Spielzeug verkaufen!«
Sie hörte die Frau lautstark nach Luft schnappen. »Was fällt dir ein?«, donnerte ihre Stimme durch den Laden, brachte Puppen und Kuscheltiere zum Zittern.
Kaja rannte los, ohne zu gucken, ob der Drache bereits Feuer spie oder die wild gewordenen Steiff-Tiere sie verfolgten. Sie quetschte sich an langen Beinen vorbei und sprang aus der Tür auf die Straße.
Ihre Schwestern und Patze hatten Tränen in den Augen vor Lachen.
»Weg hier!«, prustete Mo. Sie liefen die Straße hinunter zum Rathaus, wobei Kaja leicht zurückfiel. War da das Fauchen zu hören? Die Hitze von Feuer zu spüren? Sie bogen beim Rathaus ein und setzten sich grölend auf die Mauer.
»Das war nicht ganz die Aufgabe«, sagte Patze, und Kaja rutschte das Herz in die Hose.
»Lass sie in Ruhe, das war noch viel besser. Meinen Respekt!« Jenni nahm Kaja in den Schwitzkasten und rieb ihr mit der Faust über den Kopf, bis sie quiekte.
»Du hast ganz schön was drauf.« Mo klopfte ihr auf die Schulter.
Kajas Herz schwoll vor Stolz an, bald würde es aus ihrer Brust quellen. Diesen Moment würde sie nie vergessen.
»Wer ist als Nächstes dran?«, fragte Sonja.
»Wie spät ist es denn?« Patzes Blick hing an Sonjas Armbanduhr, die Figuren Flik und Flak deuteten auf die Ziffern.
»Gleich halb acht.«
»Ich gehe schon mal vor zum Wasserturm, ihr beiden kommt in einer halben Stunde nach?« Patze grinste. »Ich sage nur Johnny Depp.«
Jenni klatschte in die Hände. »Bitte sag jetzt 21 Jump Street und nicht Gilbert Grape!«
Patze nickte vielsagend und zog erneut den Lipgloss nach.
»Kurt Cobain wäre mir lieber«, murrte Mo.
»Du bist ja auch ein Grufti.«
»Wisst ihr, wer süß ist? Nick Carter!«
»Oh, Sonja, mehr Klischee geht wohl nicht.«
»Was denn?«
Kaja wusste, dass sie über Leute redeten, die in Zeitschriften standen – endlich ein Thema, zu dem sie auch etwas sagen konnte: »Ich mag Bummi Bär.«
Stille. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Dann brach wieder Gelächter aus, doch es klang anders als zuvor.
Irgendetwas hatte sie falsch gemacht. Sie betrachtete ihre aufgeschürften Handflächen. Ihr großer Triumph und die ganze Anstrengung, die sie unternommen hatte, um ihren Schwestern zu gefallen, waren wieder in Vergessenheit geraten.
Mo und Jenni liefen auf die Buchhandlung Krebs zu. Das letzte Geschäft im Ort präsentierte im seitlichen Schaufenster die Kinderbücher – überwiegend Piraten- und Seegeschichten. Dieses Fenster hatte über viele Jahre eine anziehende Wirkung auf Mo ausgeübt, jetzt warf sie im Vorbeigehen nur einen flüchtigen Blick auf die Werke und zog Jenni zur Frontseite des Ladens.
»Nur mal kurz gucken«, sagte Mo.
Auch ohne hinzusehen, wusste sie, dass Jenni die Augen verdrehte. »Wir sind schon spät dran.«
»Das dauert nur eine Minute.« Aufmerksam spähte Mo durch die gläserne Tür. Auf dem Boden waren fächerförmig Taschenbücher und gebundene Ausgaben ausgebreitet, als wären sie selbst zu Fliesen geworden. Jeden Abend ruhten sie vor der Tür. Ihr Blick wanderte über die Titel, über die Bilder, die versuchten, die Stimmung eines ganzen Romans einzufangen.
Jenni ging zurück auf den Weg. »Komm, oder ich gehe ohne dich.«
Mo seufzte und folgte ihr. Die Straße stieg für Inselverhältnisse steil an, links auf der Düne thronte der weiße Wasserturm. Erhaben schaute das achteckige Wahrzeichen Langeoogs auf sein Reich hinab. Über der grünen Tür prangte das blaue Wappen: aufgeschäumte Wellen, darüber flogen Möwen, und zwei rote Segel bäumten sich im Sturm auf. Das Wappen sah so lebendig aus, dass Mo förmlich hörte, wie die Gischt die Rufe der Segler erstickte.
Die Schwestern liefen die rund vierzigstufige Treppe hinauf zum Wasserturm. Die eine Seite bot einen Ausblick aufs Dorf. Auf orangenen, braunen und roten Dächern wuchsen Moosansammlungen wie grüner Schnee, der noch nicht ganz geschmolzen war. Dazwischen spähten die runden Kronen der Bäume hervor, der Rest verborgen hinter Giebel und First. Die Schwestern gingen rechts um den Turm herum. Wieder hielt Mo inne, bewunderte wie jedes Mal den Anblick. Die Dünenlandschaft erstreckte sich in Wellen bis zum Horizont, dahinter war nur ein schmaler Streifen Nordsee sichtbar und darüber der Himmel. Mit weißen Wattefetzen beklebt, wirkte er so nah, als könne Mo die Wolken herunterzupfen.
Jenni zog sie weiter um den Turm herum. Auf einer Bank saßen zwei alte Damen, die mit geschlossenen Augen ihre Gesichter in die Abendsonne reckten. Hinter der nächsten Kurve saß Patze auf der Bank neben einem dunkelhaarigen Jungen, der eine Lederjacke trug. Beide schauten amüsiert auf die Dünen.
»Was gibt’s denn zu sehen?«, fragte Jenni.
Patze blickte kurz auf und winkte die beiden näher zu sich heran. »Die haben wohl eine tote Möwe entdeckt.«
Mo ging näher an den Draht heran, der die Plattform umzäunte. Dahinter hockten zwei Jungen in den Dünen, die mit Stöcken auf den leblosen Körper einstachen.
»Ich habe mein Messer dabei, wollen wir sie aufschneiden?«, fragte der sommersprossige Junge aufgeregt. Seine dunkelblonden Haare hatte er mit viel Gel zu kleinen Stacheln gestylt. Er war doppelt so breit wie sein schwarzhaariger Kumpel, auf dessen Oberlippe sich bereits ein leichter Flaum abzeichnete. Mo schätzte, dass die Jungs jünger waren als sie, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt. In Sachen Kleidung schienen sie sich einig zu sein: Beide trugen zu große T-Shirts, die um ihre Baggy Pants schlabberten.
»Schon mal was von Totenruhe gehört?«, fragte Mo angriffslustig.
Der Blonde drehte sich um. »Was willst du denn?«
Mo zog an ihrer Tattookette und ließ sie zurück an ihren Hals schnellen. Diesen Kindern war sie keine Antwort schuldig. Sie drehte sich auf dem Absatz um, ging zurück zur Bank und setzte sich den dreien gegenüber auf die warmen Pflastersteine. Hoffentlich gab es wirklich Bier, ansonsten konnte sie auch zurückgehen und am Neumann’schen Spieleabend teilnehmen – der war weniger albern.
»Das ist Alex«, sagte Patze und berührte den braunhaarigen Jungen am Arm.
Alex nickte ihr zu. »Die Spacken da drüben sind mein Cousin Julian und sein Kumpel Hakan.« Er griff in seine Jackentasche und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. »Wollt ihr?«
Mo verschränkte die Arme vor der Brust. Wann würde es endlich uncool werden zu stinken? Schon bei dem Gedanken an Rauch im Mund wurde ihr schlecht.
»Ich nehme eine.« Jenni schüttelte sich ungeschickt ein paar Zigaretten in die Hand. Sie nahm eine und stopfte den Rest zurück in die Schachtel.
Alex nahm die Packung zurück, klopfte mit dem Finger gegen den Boden, und eine einzelne Kippe sprang hervor. Er steckte sie lässig zwischen die Lippen und zog das Feuerzeug heraus.
»Habt ihr was zu trinken, oder könnt ihr nur quarzen?«, fragte Mo.
Alex holte unter der Bank eine Flasche Orangensaft hervor. »Russen-Mische«, nuschelte er mit der Zigarette im Mund.
Neugierig schraubte Mo den Deckel ab, ein künstlicher Orangengeruch stieg ihr in die Nase. Sie setzte die Flasche an. Der Saft kratzte in ihrer Kehle, aber es war nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. Eigentlich schmeckte es ganz lecker.
»Nicht so hastig, du bist erst fünfzehn«, sagte Jenni. »Seit wann trinkst du überhaupt Hart-Alk?«
»Seitdem du rauchst.« War ja klar, dass Jenni jetzt wieder ihr Alter raushängen lassen musste; nur um vor den anderen cooler dazustehen.
»Hast du Feuer?« Jenni streckte die Hand aus.
»Komm her, ich zünd sie dir an«, forderte Alex sie auf.
»Sie ist wohl in der Lage, ein Feuerzeug zu bedienen«, motzte Mo, bevor Jenni antworten konnte.
»Meine kannst du anzünden.« Mit einem süffisanten Lächeln beugte Patze sich zu Alex herüber – wie sie sich anbiederte!
Als er am Rad des Feuerzeugs drehte, sah er ihr in die Augen. Die Flamme hüpfte auf und brachte knisternd den Tabak zum Glühen. Dann warf Alex Jenni das Feuerzeug in den Schoß.
Hinter sich hörte Mo Stimmen und verdrehte die Augen, als die beiden Jungs über den Draht stiegen und auf sie zueilten.
»Die Möwe hat schon voll gerochen.«
»Hakan hat sie sogar angefasst.«
Provozierend streckte Hakan den Zeigefinger aus und strich damit Julian über die sommersprossige Wange.
»Bah, das ist voll eklig.«
»Eklig? Du hast ihr mit dem Stock das Auge ausgestochen.«
Julian zuckte die Schultern. »Wollte halt mal wissen, wie das von innen aussieht.«
»Und war ihr Hirn größer als deins?« Mo setzte die Flasche wieder an. Sie bemerkte, dass Alex sie grinsend musterte, und musste sich eingestehen, dass seine Augen eine anziehende Wirkung besaßen, selbst wenn sie seine draufgängerische Art nicht ausstehen konnte. Die braune Iris hatte einen Bernsteinschimmer, und wenn er lachte, wurden die Augen zu schmalen Schlitzen, die von seinen dichten Wimpern betont wurden. Seine markante Nase passte zu den scharfkantigen Kinn- und Wangenknochen. Sein dichtes Haar stand vom Meersalz in alle Richtungen ab. Mit der Lederjacke (die definitiv zu warm für den Abend war) und den zerrissenen Jeans hatte er in der Tat Ähnlichkeit mit Johnny Depp. Nur gab er sich zu viel Mühe, heruntergerockt auszusehen, mit Sicherheit spielte er höchstens Blockflöte – wenn überhaupt.
»Woher kommt ihr?«, fragte er.
»Detmold«, antwortete Mo.