Das Seelenhaus - Hannah Kent - E-Book + Hörbuch

Das Seelenhaus Hörbuch

Hannah Kent

0,0

Beschreibung

"Sie sagen, ich soll sterben. Sie sagen, ich hätte Männern den Atem gestohlen und jetzt müssten sie mir den meinen stehlen." Island 1828. Agnes ist eine selbstbewusste und verschlossene Frau. Sie wird als hart ­arbeitende Magd respektiert, was sie denkt und fühlt, behält sie für sich. Als sie des Mordes an zwei Männern angeklagt wird, ist sie allein. Die Zeit bis zur Hinrichtung soll sie auf dem Hof eines Beamten verbringen. Die Familie ist außer sich, eine Mörderin beherbergen zu müssen – bis Agnes Stück um Stück die Geschichte ihres Lebens preisgibt. Die Tat war grausam: zwei Männer erschlagen, erstochen und verbrannt. Die angeblichen Täter, neben Agnes Magnúsdóttir ein junges Paar, werden zum Tode verurteilt. Vor allem an Agnes will der zuständige Landrat ein Exempel statuieren. Scheinbar ungerührt nimmt Agnes das Urteil hin, ebenso wie die Ablehnung der Familie. Erleichtert, dem Kerker entkommen zu sein, kann sie bei der Arbeit manchmal ihr Schicksal vergessen. Vieles hier ist ihr vertraut: die schroffe Landschaft, die ärmliche Torfbehausung, der harsche Ton der Hausherrin. Ihr ganzes Leben war davon bestimmt – bis sie einen Mann kennenlernte und sich nach langer Zeit erlaubte, sich ihre Sehnsucht nach Liebe und Zugehörig­keit einzugestehen. Der Schmerz über seinen Tod, der ihr nun angelastet wird, überlagert alles, auch die Angst vor dem eigenen Tod. Schließlich vertraut sich Agnes einem jungen Vikar an, der sie auf den Weg der Reue und Buße führen soll. Während der langen Gespräche, die die ganze Familie mithört, ist es vor allem Margrét, die Hausherrin, die ahnt, dass die offizielle Wahrheit über Agnes vielleicht falsch sein könnte.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:7 Std. 47 min

Sprecher:Vera Teltz

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hannah Kent

Das Seelenhaus

Roman

Aus dem australischen Englisch von Leonie von Reppert–Bismarck und Thomas Rütten

Knaur e-books

Über dieses Buch

Nordisland 1828. Die Tat war grausam: zwei Männer, erschlagen, erstochen und verbrannt. Angeklagt und zum Tode verurteilt wird Agnes Magnúsdóttir, eine Magd von Mitte 30. Die letzten Monate vor ihrer Hinrichtung soll sie auf der Farm eines Beamten und seiner Familie verbringen. Entsetzt darüber, eine verurteilte Mörderin in ihrer Mitte zu haben, meidet die Familie jeglichen Kontakt. Der junge Dekan Toti wird beauftragt, die Mörderin »zum Pfad der Wahrheit und der Buße« zu führen, doch der unerfahrene junge Mann hat Schwierigkeiten mit seiner Rolle als geistiger Beistand. Je weiter die Gespräche fortschreiten, desto faszinierter ist er von der verschlossenen und selbstbewussten Agnes, die ihm nach und nach ihr Leben anvertraut. Als der Winter naht und die Gemeinschaft in der schroffen Landschaft zusammenrücken muss, enthüllt sich Agnes’ Geschichte vollständig, und die Familie muss feststellen, dass das, was sie für wahr hielt, vielleicht nicht stimmt.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologErstes Kapitel20ster März 182830ster Mai 1829Pfarrvikar Thorvardur Jónsson stand [...]Zweites KapitelSie haben mich aus [...]Drittes KapitelIn meinem Lagerraum auf [...]Viertes KapitelTóti hatte den Kornsáhof [...]Fünftes KapitelWie ist es, sie [...]Sechstes KapitelDies ist die Geschichte, [...]Siebtes Kapitel5ter September 1829Schön, dass Sie kommen [...]Achtes KapitelDer Herbst kam über [...]Neuntes KapitelWaren Sie schon mal [...]Zehntes KapitelUm Atem ringend, wachte [...]Elftes KapitelAls Margrét erwachte, hörte [...]Zwölftes KapitelNatan war nicht zu [...]Dreizehntes KapitelAn die Dienstmänner der [...]Donnerstag, 7ter Januar 1830The Icelandic Burial HymnAm sechsten Tag des [...]EpilogAnmerkung der AutorinDanksagungAnmerkung zur isländischen NamensgebungAnmerkung zur isländischen AusspracheLeseprobe »Wo drei Flüsse sich kreuzen«
[home]

Für meine Eltern

[home]

»Am grausamsten war ich zu denen,

die ich am meisten liebte.«

 

Laxdæla Saga

[home]

Prolog

Sie sagen, ich soll sterben. Sie sagen, ich hätte Männern den Atem gestohlen und jetzt müssten sie mir den meinen stehlen. Ich stelle mir vor, wir seien flammende Kerzen, wachshell, und wir flackerten in der Dunkelheit bei heulendem Wind. Und in der Stille des Raumes höre ich Schritte, schrecklich nahende Schritte; sie kommen, mich auszulöschen und mein Leben fortzublasen, in einem grauen Kranz aus Rauch. Ich werde vergehen, in der Luft der Nacht. Sie werden uns alle ausblasen, einen nach dem anderen, bis es nur noch ihr eigenes Licht ist, in dem sie sich sehen. Wo werde ich dann sein?

Manchmal ist mir, als könnte ich ihn sehen, den Hof, wie er brennt in der Nacht. Manchmal kann ich den Biss des Winters in meinen Lungen fühlen, und mir ist, als könnte ich die Flammen im Ozean gespiegelt sehen, das Wasser so seltsam, so lichtdurchwirkt. Es gab einen Moment in jener Nacht, da schaute ich zurück. Ich schaute zurück, um das Feuer zu sehen, und wenn ich an meiner Haut lecke, kann ich noch immer das Salz schmecken. Den Rauch.

Es war nicht immer so kalt.

Ich höre Schritte.

[home]

Erstes Kapitel

Öffentliche Bekanntmachung

 

Versteigerung: Am 24sten März 1828 wird in Illugastadir das gesamte Eigentum aus der Hinterlassenschaft des Bauern Natan Ketilsson versteigert. Versteigert werden: eine Kuh, einige Pferde, eine beträchtliche Anzahl von Schafen, Heu, Möbel, ein Sattel, Zaumzeug und zahlreiche Teller und Schüsseln. Die genannten Objekte stehen bei Abgabe eines angemessenen Angebots zum Verkauf. Den Zuschlag erhält der Höchstbietende. Sollte die Versteigerung aufgrund widriger Wetterverhältnisse nicht stattfinden können, wird sie, so es die Witterung erlaubt, auf den darauffolgenden Tag verlegt.

 

Der Landrat

Björn Blöndal

[home]

20ster März 1828

 

An den hochverehrten Pfarrer Jóhann Tómasson,

 

vielen Dank für Ihren ehrenwerten Brief vom 14ten dieses Monats, in dem Sie den Wunsch äußern, in Kenntnis gesetzt zu werden, wie wir bei der Beisetzung von Pétur Jónsson vom Geitaskardhof verfahren sind, von dem es heißt, er sei in der Nacht zwischen dem 13ten und 14ten dieses Monats zusammen mit Natan Ketilsson ermordet und verbrannt worden. Wie dem verehrten Herrn Pfarrer bekannt sein wird, gab es Zweifel, ob seine Gebeine in geweihter Erde begraben werden dürfen. Auf seinen Prozess wegen Raubes, Diebstahls und Hehlerei vor dem Obersten Gerichtshof sollten seine Verurteilung und Bestrafung folgen. Wir haben jedoch noch keinen Bescheid aus Dänemark erhalten. Der Richter des hiesigen Landgerichts hatte Pétur am 5ten Februar letzten Jahres für schuldig befunden und ihn zu vier Jahren schwerer Zwangsarbeit im Raspelhaus in Kopenhagen verurteilt, doch war er zur Zeit seiner Ermordung ein »freier Mann«. Gemäß Ihrer Anfrage möchte ich Sie hiermit in Kenntnis setzen, dass wir ihn gemeinsam mit Natan nach christlichem Ritus bestattet haben, da er noch nicht als Abtrünniger vom Pfade Christi galt. Seine Majestät der König hat jene Abtrünnigen in seinem Brief vom 30sten Dezember 1740 sorgfältig benannt und so festgelegt, wem eine Bestattung nach christlichem Ritus zu versagen ist.

 

Der Landrat

Björn Blöndal

[home]

30ster Mai 1829

 

Pfarrer T. Jónsson,

Breidabólstadur, Vesturhóp

An den Pfarrvikar Thorvardur Jónsson,

 

ich hoffe, dieses Schreiben findet Sie wohlauf und in gedeihlichem Bestreben, das Werk unseres Herrn in Vesturhóp zu verrichten.

Zunächst möchte ich Ihnen, obgleich erst nachträglich, meinen aufrichtigen Glückwunsch zu Ihren erfolgreich abgeschlossenen Studien im Süden Islands übermitteln. Von Ihren Pfarrkindern höre ich, Sie seien ein überaus gewissenhafter junger Mann, und ich kann Ihre Entscheidung, sich wieder dem Norden zuzuwenden und Ihre Vikarspflichten unter der Aufsicht Ihres Vaters anzutreten, nur gutheißen. Es ist mir persönlich eine große Freude zu wissen, dass es noch rechtschaffene Männer gibt, die ihre Pflicht gegenüber Gott und der Welt zu erfüllen bereit sind.

Des Weiteren schreibe ich Ihnen in meiner Eigenschaft als Landrat, um mich Ihrer Dienste zu versichern. Wie Ihnen zweifelsohne bekannt, hat sich kürzlich der Schatten des Verbrechens über unsere Gemeinde gelegt. Die Mordfälle von Illugastadir, die letztes Jahr verübt wurden, stehen in ihrer Abscheulichkeit für das ganze Ausmaß der Verderbtheit und Gottlosigkeit in diesem Landkreis. Als Landrat von Húnavatn kann ich diesen gesellschaftlichen Sittenverfall indes nicht dulden und beabsichtige daher, die Mörder von Illugastadir hinrichten zu lassen, sobald der Oberste Gerichtshof in Kopenhagen, wie allgemein erwartet, der Vollstreckung des Urteils stattgibt. Es ist dieser Fall, der mir Anlass zu meiner Bitte gibt, Herr Pfarrvikar Thorvardur.

Wie Sie erinnern werden, habe ich vor zehn Monaten die Umstände der Mordfälle in einem Kreisschreiben an alle Vertreter der Geistlichkeit geschildert und nachdrücklich empfohlen, entsprechende Strafpredigten zu halten. Erlauben Sie mir, den Vorfall abermals darzulegen, dieses Mal mit einer ausführlicheren Darstellung des Verbrechens.

Letztes Jahr, in der Nacht vom 13ten auf den 14ten März, verübten drei Menschen ein barbarisches und verabscheuungswürdiges Verbrechen an zwei Männern, die Ihnen bekannt sein dürften: Natan Ketilsson und Pétur Jónsson. Pétur und Natan wurden in der abgebrannten Ruine von Natans Hof, Illugastadir, gefunden, und bei einer eingehenden Untersuchung ihrer Leichen wurden willentlich zugefügte Wunden entdeckt. Dieser Entdeckung folgte eine Untersuchung, die letztlich zu einer Gerichtsverhandlung führte. Am 2ten Juli letzten Jahres wurden drei Personen – ein Mann und zwei Frauen – des Mordes angeklagt, vom Amtsgericht, mit mir als Vorsitzendem, für schuldig befunden und zum Tode durch Enthauptung verurteilt. »Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, der soll des Todes sterben.« Die Todesurteile wurden am 27sten Oktober letzten Jahres vom Landgericht, das in Reykjavík tagt, bestätigt. Zurzeit liegt das Verfahren dem Obersten Gerichtshof in Kopenhagen vor, der sich aller Voraussicht nach meinem ursprünglichen Urteil anschließen wird. Der Name des Verurteilten lautet Fridrik Sigurdsson, Sohn des Bauern von Katadalur. Bei den Frauen handelt es sich um zwei Hofmägde, Sigrídur Gudmundsdóttir und Agnes Magnúsdóttir.

Die Verurteilten befinden sich augenblicklich hier im Norden in Haft, wo sie bis zu ihrer Hinrichtung auch weiterhin verweilen sollen. Fridrik Sigurdsson ist von Pfarrer Jóhann Tómasson ins Kloster von Thingeyrar gebracht worden, und Sigrídur Gudmundsdóttir befindet sich auf dem Midhóphof in Haft. Agnes Magnúsdóttir sollte bis zu ihrer Hinrichtung auf dem Stóra-Borg-Hof in Verwahrung bleiben, doch aus Gründen, die zu enthüllen mir nicht freisteht, wird sie nächsten Monat auf den Kornsáhof ins Tal von Vatnsdalur verlegt. Sie ist mit ihrem geistlichen Beistand unzufrieden und hat von einem der wenigen ihr verbliebenen Rechte Gebrauch gemacht und um einen anderen Priester gebeten. Sie ersucht Sie, Pfarrvikar Thorvardur.

Es ist mit einigem Zweifel, dass ich Ihnen diese Bitte antrage. Ich bin mir darüber im Klaren, dass Ihre Aufgaben bisher auf die geistliche Erziehung der jüngsten Pfarrkinder beschränkt waren, was zweifellos verdienstvoll ist, jedoch von geringer öffentlicher Bedeutung. Womöglich möchten Sie selbst eingestehen, dass Sie zu arm an Erfahrung sind, um sich zuzutrauen, dieses verurteilte Frauenzimmer zum Herrn und Seiner grenzenlosen Barmherzigkeit zu bekehren, in welchem Fall ich keine Einwände gegen Ihre Abgeneigtheit erhöbe. Es ist eine Bürde, die ich selbst erfahrenen Geistlichen nur zögernd auferlegte.

Sollten Sie jedoch die Verantwortung auf sich nehmen, Agnes Magnúsdóttir auf ihre Begegnung mit dem Herrn vorzubereiten, so sind Sie gehalten, dem Kornsáhof, soweit es die Witterung erlaubt, regelmäßig Besuche abzustatten. Dort gilt es, Gottes Wort zu spenden, Reue zu wecken und ein Anerkenntnis Seiner Gerechtigkeit zu bewirken. Ich ersuche Sie, sich Ihr Urteil nicht durch Schmeichelei trüben zu lassen noch durch Sippschaft, sollte dergleichen zwischen Ihnen und der Verurteilten bestehen. Sollten Sie, werter Herr Pfarrer, sich keinen Rat wissen, holen Sie den meinen ein.

Ich erwarte Ihren Bescheid. Bitte übergeben Sie ihn meinem Boten.

 

Der Landrat

Björn Blöndal

[home]

Pfarrvikar Thorvardur Jónsson stand im kleinen Bauernhaus neben der Kirche von Breidabólstadur und war damit beschäftigt, die Bodenplatte des Kamins mit neuen Steinen auszubessern, als er von der Türschwelle her das Räuspern seines Vaters hörte.

»Draußen steht ein Bote aus Hvammur. Er will zu dir, Tóti.«

»Zu mir?« Er war so überrascht, dass ihm einer der Steine aus den Händen glitt. Er schlug dumpf auf dem gestampften Erdboden auf und verfehlte seinen Fuß nur knapp. Pfarrer Jón holte scharf Luft, duckte sich beim Eintreten unter dem Türsturz hindurch und schob Tóti sanft zur Seite.

»Ja, zu dir. Und er wartet.«

Der Bote, ein Knecht in fadenscheinigem Mantel, sah Tóti abwägend an, ehe er ihn ansprach: »Pfarrer Thorvardur Jónsson?«

»Ja, der bin ich. Ich grüße Sie. Wobei ich, genau genommen, noch Pfarrvikar bin.«

Der Bote zuckte die Achseln. »Ich habe einen Brief für Sie vom Landrat, dem ehrenwerten Björn Blöndal.« Er zog ein schmales Kuvert aus der Brusttasche seines Mantels und überreichte es Tóti. »Ich soll hier warten, bis Sie ihn gelesen haben.«

Der Brief, den der Bote am Leib getragen hatte, fühlte sich warm und etwas klamm an. Tóti brach das Siegel und stellte fest, dass der Brief erst an diesem Morgen aufgesetzt worden war. Er ließ sich auf dem Holzblock vor dem Hauseingang nieder und begann zu lesen.

Als er fertig war, schaute er auf und bemerkte den Blick des Boten. »Nun, was ist?«, mahnte dieser mit hochgezogenen Brauen.

»Wie bitte?«

»Wie lautet Ihre Antwort an den Landrat? Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Darf ich mich rasch mit meinem Vater besprechen?«

Der Bote seufzte. »Na gut, meinetwegen.«

Tóti fand seinen Vater im Badstofa, wo er gerade die Decken auf seinem Bett sorgfältig glatt strich.

»Ja?«

»Ein Brief vom Landrat.« Tóti gab seinem Vater das geöffnete Schreiben zum Lesen und wartete, unsicher, was er tun sollte.

Das Gesicht seines Vaters war undurchdringlich, als er ihm den Brief kommentarlos zurückreichte.

»Was antworte ich ihm?«, fragte Tóti schließlich.

»Das musst du selbst wissen.«

»Ich kenne sie nicht.«

»Ich weiß.«

»Sie gehört auch nicht zu unserer Pfarrei, oder?«

»Nein.«

»Warum fragt sie nach mir? Ich bin doch nur der Pfarrvikar.«

Sein Vater wandte sich wieder dem Bett zu. »Vielleicht solltest du sie das fragen.«

Der Bote saß auf dem Holzblock und säuberte seine Fingernägel mit einem Messer, als Tóti zurückkam. »Und? Was will der Herr Pfarrvikar dem verehrten Herrn Landrat ausrichten lassen?«

Noch ehe ihm seine Entscheidung bewusst war, antwortete Tóti: »Richten Sie Blöndal aus, dass ich mit Agnes Magnúsdóttir sprechen werde.«

Die Augen des Boten weiteten sich. »Um die geht es also?«

»Ich soll ihr geistlicher Beistand sein.«

Der Bote starrte ihn an und lachte dann unvermittelt laut auf. »Grundgütiger Himmel«, murmelte er. »Da soll die Maus die Katze zähmen.«

Und damit schwang er sich auf sein Pferd und verschwand hinter den sanften Hügeln, während Tóti noch an demselben Fleck stand und den Brief von sich hielt, als drohte er in Flammen aufzugehen.

 

 

 

Steina Jónsdóttir schichtete gerade getrockneten Dung hinter dem Torfhof ihrer Familie um, als sie das Klappern von Pferdehufen hörte. Sie richtete sich auf, klopfte sich flüchtig den Dreck von den Röcken und spähte um die Ecke ihrer Behausung, um einen besseren Blick auf den Pfad zu haben, der sich durch das Tal schlängelte. Ein Mann in einem leuchtend roten Mantel kam in ihre Richtung geritten. Sie sah, wie er zum Gehöft abbog, und als sie mit jähem Schreck erkannte, dass sie ihn würde empfangen müssen, zog sie sich schnell wieder hinter das Haus zurück, spuckte in die Hände, um sie zu säubern, und wischte sich die Nase am Ärmel ab. Als sie den Hof betrat, wartete der Reiter bereits.

»Sei gegrüßt, junges Fräulein.« Der Mann schaute verwundert auf Steina und ihre schmutzigen Röcke herab. »Ich sehe, ich habe dich bei deiner Arbeit unterbrochen.« Steina starrte ihn an, während er aus dem Sattel glitt. Für einen so schweren Mann landete er sehr leichtfüßig. »Weißt du, wer ich bin?« Er suchte auf ihrem Gesicht den Ausdruck des Erkennens.

Steina schüttelte den Kopf.

»Ich bin euer Landrat, Björn Audunsson Blöndal.« Er nickte ihr kurz zu und rückte seinen Mantel zurecht, der, wie Steina bemerkte, mit silbernen Knöpfen besetzt war.

»Sie kommen aus Hvammur«, murmelte sie.

Blöndal lächelte nachsichtig. »Richtig. Ich bin der Vorgesetzte deines Vaters. Ich bin gekommen, um ihn zu sprechen.«

»Er ist nicht zu Hause.«

Blöndal runzelte die Stirn. »Und deine Mutter?«

»Sie besuchen Verwandte weiter südlich im Tal.«

»Ich verstehe.« Er musterte die junge Frau durchdringend, die sich unter seinem Blick wand und immer wieder nervös zu den Feldern sah. Vereinzelte Sommersprossen auf Nase und Stirn verunzierten ihren ansonsten blassen Teint. Sie hatte braune, weit auseinanderstehende Augen und eine große Lücke zwischen den vorderen Schneidezähnen. Sie schien etwas unbedarft, fand Blöndal. Er bemerkte den Dreck unter ihren Fingernägeln.

»Sie müssen ein anderes Mal wiederkommen«, schlug Steina schließlich vor.

Blöndals Miene gefror. »Ob du wohl die Güte hättest, mich ins Haus zu bitten?«

»Ach so. Ja. Wenn Sie möchten. Sie können Ihr Pferd dort anbinden.« Steina biss sich auf die Lippen, während Blöndal sein Pferd an einem Pfosten anband. Dann wandte sie sich um und rannte förmlich ins Haus. Blöndal folgte ihr und musste sich ducken, um das Torfhaus durch die niedrige Tür betreten zu können. »Erwartest du deinen Vater noch heute zurück?«

»Nein«, war die knappe Antwort.

»Das kommt entschieden ungelegen«, beschwerte sich Blöndal und stolperte durch den dunklen Flur, der zum Badstofa führte. Seit seiner Ernennung zum Landrat war er korpulenter geworden und hatte sich an die großzügigen Räumlichkeiten seines Wohnhauses in Hvammur gewöhnt, das aus importiertem Holz gebaut war und ihm und seiner Familie von Amts wegen zustand. Die bescheidenen Torfhäuser der Landarbeiter und Bauern, in denen im Sommer der Staub in Wolken in der Luft hing und seine Atemwege reizte, waren ihm mit der Zeit zuwider geworden.

»Herr Amtsrat …«

»Landrat.«

»Verzeihen Sie. Herr Landrat. Mamma und Pabbi, ich meine, Margrét und Jón kommen morgen wieder. Oder am Tag darauf. Das kommt aufs Wetter an.« Steina zeigte auf das andere Ende des schmalen Badstofas, wo sich hinter einem grauen Wollvorhang eine winzige gute Stube befand. »Nehmen Sie doch dort Platz«, sagte sie. »Ich gehe und hole meine Schwester.«

Lauga Jónsdóttir, Steinas jüngere Schwester, jätete das Unkraut auf dem kärglichen Gemüsebeet, das ein wenig abseits vom Gehöft lag. Sie war über ihre Arbeit gebeugt und hatte die Ankunft des Landrats nicht mitbekommen. Doch sie hörte die Rufe ihrer Schwester von weitem, lange bevor sie sie sehen konnte.

»Lauga! Wo bist du? Lauga!«

Lauga richtete sich auf und wischte ihre schmutzigen Hände an der Schürze ab. Sie erwiderte das Rufen ihrer Schwester nicht, sondern wartete geduldig, bis Steina, die über ihre Röcke stolpernd angerannt kam, sie entdeckte.

»Ich suche dich schon überall«, keuchte Steina.

»Was um Himmels willen ist denn los mit dir?«

»Der Amtsrat ist hier!«

»Wer?«

»Blöndal!«

Lauga starrte ihre Schwester an. »Du meinst den Herrn Landrat, Björn Blöndal? Und putz dir die Nase, Steina, dir läuft der Schnodder.«

»Er sitzt in der guten Stube.«

»Wo?«

»Du weißt schon, hinter dem Vorhang.«

»Und du hast ihn da einfach alleine sitzen lassen?« Laugas Augen weiteten sich.

Steina verzog das Gesicht. »Bitte komm und red du mit ihm.«

Lauga warf Steina einen düsteren Blick zu, band sich dann die Schürze ab und ließ sie neben dem Liebstöckel zu Boden fallen. »Ich weiß manchmal wirklich nicht, was in deinem Kopf vorgeht, Steina«, schimpfte sie, während sie schnellen Schrittes zum Gehöft zurückliefen. »Wie kannst du nur einen Mann wie Blöndal allein in unserem Badstofa sitzen lassen?«

»In der guten Stube.«

»Wo ist da der Unterschied? Und wahrscheinlich hast du ihm auch nur die Molke des Gesindes angeboten.«

Steina wandte sich mit entsetztem Gesicht ihrer Schwester zu. »Ich hab ihm gar nichts angeboten.«

»Oh, Steina! Er wird uns für ungehobelte Bauern halten.«

Steina sah ihrer Schwester nach, die sich eilig einen Weg durch das Gras bahnte. »Wir sind nun mal Bauern«, murmelte sie.

 

Lauga wusch sich kurz Gesicht und Hände und schnappte sich eine frische Schürze von Kristín, der Hausmagd, die sich beim Klang einer fremden Stimme in der Küche versteckt hatte. Den Landrat fand sie am Tisch in der guten Stube über ein Blatt Papier gebeugt. Während sie sich noch für die ungehörige Art ihrer Schwester entschuldigte, bot sie ihm einen Teller mit kaltem, gehacktem Hammelfleisch an, was er gerne annahm, wenn auch mit pikierter Miene. Sie hielt sich schweigend im Hintergrund, während er aß, und beobachtete, wie sich seine vollen Lippen um das Fleisch stülpten. Vielleicht wartete eine Beförderung auf ihren Pabbi, eine bessere Position als die eines Dienstmannes. Vielleicht würde er bald Uniform tragen und im Sold des dänischen Königshauses stehen. Das bedeutete Aussicht auf neue Kleider. Ein neues Haus. Mehr Gesinde.

Blöndal fuhr mit dem Messer kratzend über den Teller.

»Möchten Sie etwas Skyr mit Sahne, Herr Landrat?«, fragte sie, während sie den leeren Teller abräumte.

Blöndal wollte schon abwehrend die Hände zur Brust heben, hielt dann jedoch inne. »Nun gut, warum nicht. Danke.«

Lauga errötete und zog sich zurück, um die Dickmilchspeise zu holen.

»Und gegen Kaffee hätte ich auch nichts einzuwenden«, rief Blöndal ihr hinterher, als sie gerade hinter dem Vorhang verschwinden wollte.

»Was will er?«, fragte Steina, die in der Küche vorm Feuer kauerte. »Außer deinen stampfenden Schritten im Flur habe ich nichts hören können.«

Lauga drückte ihr unwirsch den schmutzigen Teller in die Hand. »Er hat noch nicht gesagt, was er hier will. Erst einmal Skyr und Kaffee.«

Steina wechselte einen Blick mit Kristín, die die Augen verdrehte. »Wir haben keinen Kaffee«, sagte Steina leise.

»Natürlich haben wir welchen. Noch letzte Woche habe ich ihn in der Speisekammer gesehen.«

Steina erwiderte stockend: »Ich … ich hab ihn getrunken.«

»Steina! Der Kaffee ist nicht für uns gedacht! Er ist für besondere Anlässe!«

»Was für Anlässe? Der Amtsrat kommt sonst nie zu Besuch!«

»Der Herr Landrat, Steina!«

»Die Knechte kommen ja bald aus Reykjavík zurück. Dann haben wir bestimmt wieder welchen.«

»Ja, wunderbar. Dann, wann, irgendwann. Und jetzt? Was machen wir jetzt?« Aufgebracht stieß Lauga Kristín in Richtung Speisekammer. »Hol Skyr und Sahne! Beeil dich.«

»Ich wollte wissen, wie er schmeckt«, erklärte Steina.

»Das ist jetzt ganz gleich. Bring ihm stattdessen etwas frische Milch. Bring alles zusammen rein, wenn’s fertig angerichtet ist. Nein, warte. Lass Kristín das machen. Du siehst aus, als hättest du dich mit den Pferden im Dreck gewälzt.« Mit einem vernichtenden Blick auf die Dungspuren an Steinas Kleidung verschwand Lauga im Flur, um zur guten Stube zurückzukehren.

Blöndal erwartete sie. »Liebes Fräulein, sicher fragst du dich nach dem Grund meines Besuches.«

»Nennen Sie mich Sigurlaug. Oder Lauga, wenn Sie möchten.«

»Ganz recht, Sigurlaug.«

»Geht es um etwas Geschäftliches mit meinem Vater? Er ist …«

»Im Süden, ja, ich bin im Bilde. Deine Schwester ließ es mich wissen und … Ah, da ist sie ja.«

Lauga wandte sich um und sah, wie sich Steina am Vorhang vorbeischob, die Dickmilchspeise, Sahne und Beeren in der einen ungewaschenen Hand, die Milch in der anderen. Sie warf ihrer Schwester einen ungehaltenen Blick zu, als diese den Saum des Vorhangs versehentlich durch den Skyr schleifen ließ. Glücklicherweise schien der Landrat es nicht bemerkt zu haben.

»Bitte schön, der Herr«, flüsterte Steina. Sie setzte die Schale und den Becher vor ihm auf den Tisch und machte unbeholfen einen Knicks. »Dass es Ihnen wohl bekomme.«

»Danke«, erwiderte Blöndal. Er schnüffelte prüfend am Skyr und sah dann zu den beiden Schwestern auf. Mit einem dünnen Lächeln fragte er: »Wer ist die Ältere?«

Lauga stieß Steina auffordernd in die Seite, aber sie blieb stumm, unfähig, ihren Blick vom leuchtend roten Mantel des Mannes zu wenden.

»Ich bin die Jüngere, Exzellenz«, antwortete Lauga schließlich und lächelte so, dass ihre Grübchen zu sehen waren. »Ich bin um ein Jahr jünger. Steinvör wird nächsten Monat einundzwanzig.«

»Ich werde von allen Steina genannt.«

»Ihr seid beide sehr hübsch«, sagte Blöndal.

»Ich danke Ihnen.« Wieder stieß Lauga Steina in die Seite.

»Danke«, murmelte Steina.

»Ihr habt beide das blonde Haar eures Vaters, und du hast die blauen Augen deiner Mutter geerbt«, sagte er mit einem Nicken zu Lauga. Er schob die unangetastete Schüssel mit Skyr von sich und nahm sich die Milch. Er roch daran und setzte sie wieder ab.

»Bitte, bedienen Sie sich, Herr Landrat«, sagte Lauga und deutete auf die Schüssel.

»Danke, aber ich fühle mich plötzlich gesättigt.« Blöndal griff in seine Manteltasche. »Ich hätte es vorgezogen, diese Angelegenheit mit dem Hausherrn zu besprechen, doch da Dienstmann Jón abwesend ist und dies keinen Aufschub duldet, muss ich wohl mit seinen Töchtern vorliebnehmen.« Er nahm den Bogen Papier vom Tisch und entfaltete ihn, damit sie ihn lesen konnten.

»Darf ich davon ausgehen, dass ihr von den Ereignissen in Illugastadir im letzten Jahr Kenntnis habt?«, fragte er.

Steina zuckte zusammen. »Sie sprechen von den Mordfällen?«

Lauga nickte, ihre blauen Augen groß und unvermittelt ernst: »Das Gerichtsverfahren fand in Ihrem Haus statt.«

Blöndal neigte den Kopf. »Richtig. Der Mord an Natan Ketilsson, dem Kräuterkundigen, und an Pétur Jónsson. Da sich dieses außerordentlich tragische und schmerzliche Unglück im Landkreis Húnavatn zugetragen hat, oblag es mir, mit dem Landgerichtsrat und dem Landgericht in Reykjavík zu einer Übereinkunft hinsichtlich der Beschuldigten zu kommen.«

Lauga nahm das Dokument in die Hand und ging damit ans Fenster, um es lesen zu können. »Dann ist die Sache also erledigt.«

»Ganz im Gegenteil. Die drei Beschuldigten sind letzten Oktober von einem hiesigen Gericht des Mordes und der Brandstiftung für schuldig befunden worden. Der Fall liegt jetzt beim Obersten Gerichtshof in Kopenhagen, in Dänemark. Seine Majestät, der König …«, und hier machte Blöndal eine dramatische Kunstpause, »… der König höchstpersönlich, muss sich ein Bild von den Verbrechen machen und mein Urteil bestätigen. Wie ihr nachlesen könnt, sind alle drei zum Tode verurteilt. Es ist ein Triumph der Gerechtigkeit, wie ihr mir sicher zustimmen werdet.«

Lauga nickte gedankenverloren und immer noch lesend. »Sie werden nicht nach Dänemark geschickt?«

Blöndal lächelte. »Nein.«

Lauga blickte ihn verwirrt an. »Aber, Herr Landrat, wo sollen sie denn dann …« Ihre Stimme verlor sich.

Blöndal erhob sich, um sich zu ihr ans Fenster zu gesellen, wobei er Steina vollkommen ignorierte. Er spähte durch die getrocknete Schafsblase, die über den Fensterrahmen gespannt war und als Glasscheibe diente, und bemerkte eine kleine Vene, die sich über die trübe Oberfläche schlängelte. Er erschauderte. Sein eigenes Heim hatte Glasfenster.

»Sie sollen hier hingerichtet werden«, sagte er schließlich. »In Island. Im Norden von Island, um genau zu sein. Ich und der Landgerichtsrat, der den Vorsitz in Reykjavík hatte, haben beschlossen, dass dies …«, seine Worte abwägend, zögerte er, »… wirtschaftlicher wäre.«

»Tatsächlich?«

Blöndal runzelte die Stirn, als er sah, dass Steina ihn misstrauisch beäugte. Sie beugte sich vor und nahm Lauga den Bogen Papier aus der Hand.

»Ja. Wobei ich nicht verhehlen will, dass diese Hinrichtung auch eine Gelegenheit ist, unserer Gemeinschaft die Konsequenzen eines solch abscheulichen Verbrechens vor Augen zu führen. Die Angelegenheit will sorgfältig bedacht werden. Wie du sicher weißt, kluge Sigurlaug, werden solche Schwerverbrecher sonst außer Landes gebracht, damit sie dort, wo es Gefängnisse und dergleichen gibt, ihre Strafe verbüßen können. Da jedoch entschieden wurde, dass das Urteil in Island vollstreckt werden soll, in demselben Landkreis, in dem sie ihr Verbrechen verübt haben, benötigen wir eine Art Verwahrungsort, bis man sich auf einen geeigneten Ort und die Stunde der Hinrichtung geeinigt hat. Wie ihr wisst, gibt es in Húnavatn keine Fabriken oder Gasthäuser, in denen wir die Gefangenen unterbringen könnten.« Blöndal wandte sich ab und ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder. »Deshalb habe ich beschlossen, dass sie auf einem Gehöft in Haft kommen, im Haus aufrechter Christenmenschen, die sie durch ihr gutes Beispiel zur Reue bewegen können und denen die Arbeitskraft dieser Gefangenen während der Zeit ihres Aufenthalts zugutekäme.«

Blöndal lehnte sich über den Tisch zu Steina hinüber, die ihn anstarrte, die Hand vor den Mund geschlagen, während sie mit der anderen den Bogen Papier zerknüllte. »Ich meine Isländer, die ihre Aufgaben als Dienstmänner erfüllen wollen, indem sie ihnen Unterkunft gewähren.«

Lauga schaute den Landrat verwirrt an. »Können sie nicht irgendwo in Reykjavík verwahrt werden?«, flüsterte sie.

»Nein. Das ist mit Kosten verbunden.« Er fegte mit der Hand durch die Luft.

Steinas Augen verengten sich. »Sie wollen sie hier unterbringen? Bei uns? Weil das Gericht in Reykjavík die Kosten für den Transport außer Landes scheut?«

»Steina«, warnte Lauga.

»Eure Familie erhält eine Entschädigung«, sagte Blöndal stirnrunzelnd.

»Und wie soll das gehen? Sollen wir sie an unsere Bettpfosten ketten?«

Blöndal richtete sich langsam zu seiner ganzen Größe auf. »Mir bleibt keine Wahl«, sagte er mit plötzlich gefährlich ruhiger Stimme. »Das Amt eures Vaters bringt Verantwortung mit sich. Ich bin sicher, er würde meine Entscheidung nicht hinterfragen wollen. Kornsá fehlt es an Arbeitskräften, und dann ist da noch die Sache mit den Finanzen eurer Familie.« Er näherte sich Steina und blickte im dämmrigen Licht auf ihr verschmiertes Gesicht hinunter. »Zumal ich nicht beabsichtige, dir, Steinvör, und deiner Familie alle drei Verurteilten zur Verwahrung zu geben. Es handelt sich lediglich um die Frau.« Er legte seine schwere Hand auf Steinas Schulter, ohne ihr Zurückschrecken zu beachten. »Und du wirst doch keine Angst vor deinem eigenen Geschlecht haben, oder?«

Nachdem Blöndal fort war, ging Steina in die Stube zurück, um die unangetastete Schüssel mit Skyr abzuräumen. Die Sahne war am Rand geronnen. Steina zitterte vor Ohnmacht und Wut, drückte die Schüssel, so fest sie konnte, gegen den Tisch und biss sich auf die Unterlippe. Sie wünschte, die Schale würde zerbrechen. Lautlos schrie sie ihren Zorn heraus, bis sich die Wogen ihrer Wut gelegt hatten. Dann kehrte sie in die Küche zurück.

 

 

 

Es gibt Momente, da frage ich mich, ob ich nicht schon tot bin. Das ist kein Leben, dieses Verharren in vollkommener Dunkelheit, in völligem Schweigen, in einem Raum, der so heruntergekommen und schmutzig ist, dass ich den Geruch von frischer Luft nicht mehr erinnere. Der Nachttopf ist randvoll mit meiner Notdurft und droht überzulaufen, wenn er nicht bald abgeholt und geleert wird.

Wann war zuletzt jemand hier? Mir scheint, als sei alles nur noch eine einzige lange Nacht.

Im Winter hatte ich es besser. Im Winter waren die Leute des Stóra-Borg-Hofs genauso gefangen wie ich; sie haben mit mir das Badstofa geteilt, während Schneestürme den Hof umtosten. Für die wachen Stunden gab es Lampen, und später, als das Öl ausgegangen war, wurde die Dunkelheit mit Kerzen gebannt. Dann kam der Frühling, und sie sperrten mich in den Lagerraum. Sie ließen mich ohne Licht zurück und ohne jede Möglichkeit, die Zeit zu messen oder den Tag von der Nacht zu unterscheiden. Ich lebe in Gesellschaft meiner Fesseln, des Lehmbodens, eines zerlegten, vergessenen Webstuhls und einer zerbrochenen Spindel.

Vielleicht haben wir schon Sommer. Ich kann die Schritte des Gesindes auf dem Flur hören, das Knarren der Tür, wenn sie ein und aus gehen. Manchmal höre ich das schrille, durchdringende Gelächter der Mägde, wenn sie sich draußen unterhalten, und ich weiß, das Wetter ist freundlicher geworden, der Wind hat seinen Biss verloren. Dann schließe ich die Augen und male mir aus, wie das Tal an langen Sommertagen aussieht, wenn die Sonne die Erde bis auf die Knochen erwärmt, die Schwäne sich am See versammeln und die Wolken davonziehen und den Blick auf die Weite des Himmels freigeben, strahlend blau, so strahlend blau, man könnte weinen.

 

 

 

Drei Tage nachdem Björn Blöndal die Töchter des Kornsáhofs aufgesucht hatte, machten sich der Dienstmann von Vatnsdalur, Jón Jónsson, mit seiner Frau Margrét auf den Weg nach Hause.

Jón war ein leicht gebeugter, drahtiger Mann von fünfundfünfzig Wintern, mit schneeweißem Haar und großen Ohren, die ihn etwas einfältig wirken ließen. Er führte das Pferd am Zügel und lief mit gewohnter Leichtigkeit trittsicher über den unebenen Boden.

Seine Frau, die auf der schwarzen Stute saß, war erschöpft von der Reise, was sie jedoch nie zugegeben hätte. Sie saß mit leicht vorgestrecktem Kinn, das von einem langen, zittrigen Hals gestützt wurde. Während sie an den Gehöften im Vatnsdalurtal vorüberzogen, glitt ihr schwerlidriger Blick von Hof zu Hof und kam davon nur ab, wenn einer ihrer Hustenanfälle sie überwältigte. Wenn diese nachließen, lehnte sie sich über das Pferd und spuckte aus, wischte sich den Mund an einem Zipfel ihres Schals ab und murmelte ein kurzes Gebet. Gelegentlich wandte sich dann ihr Mann halb zu ihr, in der Sorge, sie könne vom Pferd fallen, doch ansonsten unterbrach nichts ihre Reise.

Margrét war soeben von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt worden. Sie spuckte ins Gras und presste die Handflächen gegen ihre Brust, bis sie wieder zu Atem kam. Als sie sprach, klang ihre Stimme heiser.

»Schau mal, Jón. Die Leute vom Áshof haben noch eine Kuh gekauft.«

»Hm?« Ihr Mann war in Gedanken versunken.

»Ich sagte«, wiederholte Margrét und räusperte sich, »dass die Leute von Áshof noch eine Kuh bekommen haben.«

»Tatsächlich?«

»Dass du das nicht selbst gemerkt hast, wundert mich.«

»Tja.«

Margrét blinzelte gegen das staubige Licht und konnte in der Ferne unscharf die Umrisse des Kornsáhofs ausmachen. »Bald haben wir’s geschafft.«

Ihr Mann brummte seine Zustimmung.

»Aber nachdenklich macht es einen schon, nicht wahr, Jón? Wir könnten auch noch eine Kuh gebrauchen.«

»Wir könnten eine ganze Menge Dinge gebrauchen.«

»Aber eine Kuh wäre wirklich gut. Denk an die extra Butter. Dann könnten wir uns noch einen Ernteknecht leisten.«

»Alles zu seiner Zeit, Margrét, Liebes.«

»Bis dahin bin ich tot.«

Ihre Worte klangen bitterer, als sie beabsichtigt hatte. Jón reagierte nicht darauf, murmelte seinem Pferd lediglich eine Ermunterung zu, um es anzutreiben, und Margrét sah unwillig auf seinen Hinterkopf und wünschte, er würde sich zu ihr umdrehen. Als er einfach stur weiterstiefelte, holte sie tief Luft und spähte in Richtung Kornsáhof.

Es war später Nachmittag, und das Licht über den Heuwiesen schwand allmählich, vertrieben durch die tief hängenden Wolken, die von Osten heranzogen. Die letzten schneebedeckten Stellen auf dem Bergkamm wirkten trüb und grau und dann wieder strahlend weiß, wann immer die Wolken aufrissen. Sommervögel flitzten über die Äcker, auf Jagd nach umherschwirrenden Insekten, und das meckernde Blöken der Schafe, die von ihren jungen Hirten talabwärts nach Hause getrieben wurden, hallte durch das Tal herüber.

 

Auf dem Kornsáhof traten Lauga und Steina vor die Tür, um sich auf den Weg zum Gebirgsbach zu machen und Wasser zu holen. Lauga, von der Sonne geblendet, fuhr sich über die Augen; Steina schwenkte den Eimer gedankenverloren im Takt ihrer Schritte hin und her. Sie sprachen kein Wort miteinander.

Die beiden Schwestern hatten die letzten Tage schweigend verbracht und nur ein Wort gewechselt, wenn sie um einen Spaten bitten oder nachfragen mussten, welches Fass mit gepökeltem Kabeljau zuerst geöffnet werden sollte. Das Schweigen nach ihrem Streit, den der Besuch des Landrats ausgelöst hatte, war spannungsgeladen und zornig. Beide fühlten sich erschöpft von der Anstrengung, die es kostete, nur das Nötigste miteinander zu reden. Lauga war verärgert über das aufsässige und unschickliche Verhalten ihrer älteren Schwester. Die Frage, wie ihre Eltern auf Blöndals Besuch reagieren würden, quälte sie unablässig. Ob Steinas kratzbürstige Reaktion auf Blöndals Mitteilung ihrem Ansehen geschadet hatte? Björn Blöndal war ein mächtiger Mann, der Widerspruch von einem jungen Naseweis ganz sicher nicht schätzte. Wusste Steina denn nicht, wie sehr ihre Familie auf Blöndals Gunst angewiesen war? Und dass sie nur ihre Pflicht täten?

Steina gab sich indes große Mühe, nicht an die Mörderin und ihr Verbrechen zu denken. Allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit, und wenn sie sich ins Gedächtnis rief, wie kaltblütig der Landrat ihnen diese Schwerverbrecherin aufgezwungen hatte, schwoll ihr der Hals vor Wut. Lauga hatte nicht das Recht, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte. Und woher sollte sie wissen, welche feinen Sitten und Manieren für fette Männer in roten Jacken galten? Nein. Es war entschieden besser, über diese Angelegenheit erst gar nicht nachzudenken.

Steina ließ ihre Schulter unter dem Gewicht des Eimers hängen und gähnte ausgiebig. Lauga, die neben ihr ging, musste daraufhin ebenfalls gähnen, und für einen kurzen Moment wechselten sie einen Blick stiller Anteilnahme. Doch schon im nächsten Augenblick wurde Steina von ihrer Schwester getadelt, weil sie beim Gähnen nicht die Hand vor den Mund gehalten hatte. Steinas Miene verdüsterte sich wieder, und sie hielt den Blick zu Boden gesenkt.

Die zarten Strahlen des nachmittäglichen Lichts schienen warm auf ihre Gesichter, als sie sich dem Bach näherten. Es ging kein Wind, und das Tal lag so still, dass beide Frauen ihren Schritt verlangsamten, bis sie mit der Ruhe im Einklang waren. Sie hatten fast den felsigen Vorsprung vor dem Bach erreicht, als Lauga, die sich umgedreht hatte, um ihren Rock aus einem Dornengestrüpp zu befreien, in der Ferne ein Pferd bemerkte.

»Oh!«, entfuhr es ihr.

Steina wandte sich ihr zu. »Was ist los?«

Lauga deutete mit dem Kopf in Richtung Pferd. »Da kommen Mamma und Pabbi«, sagte sie atemlos. »Sie sind zurück.« Sie blinzelte gegen das dunstige Sonnenlicht. »Ja, das sind sie«, meinte sie wie zu sich selbst. In plötzlicher Aufregung drückte Lauga ihrer Schwester den zweiten Eimer in die Hand und bedeutete ihr, weiter zum Bach zu laufen. »Füll beide Eimer, ja? Du kommst doch damit zurecht, oder? Es ist besser, wenn ich … Ich muss zurück. Um Feuer zu machen.« Sie gab Steina einen Schubs, unsanfter als gewollt, und machte auf dem Absatz kehrt.

Die Dornen am Wegesrand hakten sich immer wieder an Laugas Strümpfen fest, als sie im Gefühl großer Erleichterung zurück zum Kornsáhof eilte. Jetzt war Pabbi da und würde sich um die Sache mit dem Landrat und Agnes Magnúsdóttir kümmern.

Kaum angekommen, riss sie die Haustür auf, lief durch den Flur und bog links in die Küche. In Abwesenheit ihrer Herrin hatte Kristín den Nachmittag freigenommen und war ihre Familie besuchen gegangen, doch in der Feuerstelle fand Lauga noch etwas Glut vor. Sie warf so eilig Torf darauf, dass sie die kleinen aufzüngelnden Flammen in ihrer Hast fast erstickt hätte. Wie würde ihr Vater auf die Botschaft des Landrats reagieren? Wie lange sollte die Gefangene auf dem Kornsáhof in Haft bleiben? Sie hatte noch nicht einmal den Brief des Landrats vorzuweisen, da Steina ihn im Streit ins Feuer geworfen hatte.

Trotzdem würde ihr Vater die Sache in die Hand nehmen, sowie er Bescheid wusste, überlegte Lauga, während sie einen Topf übers Feuer hängte.

Mit dem Blasebalg fachte sie das Feuer vorsichtig an und hastete dann durch den Flur zur Haustür zurück, um hinauszusehen. Wieder musste sie eine Welle der Angst niederkämpfen. Was würde er nur tun? Sie zog den Kopf zurück und ging in die Speisekammer, um die Zutaten für eine Suppe zusammenzusuchen. Viel Gerste hatten sie nicht mehr. Schon lange warteten sie auf die Rückkehr der Knechte, die in den Süden gereist waren, um neue Vorräte zu beschaffen.

Lauga eilte in den Lagerraum, um ein wenig Hammelfleisch für die Suppe zu holen, und wäre beinahe über die erhöhte Schwelle gestolpert. Um diese Jahreszeit noch das geräucherte Lamm anzuschneiden, hatte wenig Zweck, doch von der Blutwurst waren noch ein oder zwei Scheiben übrig, die zwar sehr sauer, aber noch essbar waren.

Am besten setzen wir uns gemeinsam zum Essen ins Badstofa, und dann sag ich es ihnen, beschloss Lauga. In dem Moment hörte sie schwere Hufschläge auf dem Lehmboden im Hof.

»Komið pið sæl!« Während sie sich den Staub von den Händen klatschte und ihr Haar ordentlich unter die Haube schob, trat Lauga aus dem Torfhaus. »Wie schön, dass ihr heil zurück seid.«

Ihr Vater brachte das Pferd zum Stehen und schaute sie unter seinem Reithut lächelnd an. Er hob die bloße Hand zum Gruß und trat einen Schritt vor, um ihr einen schnellen, formellen Kuss zu geben.

»Meine kleine Lauga. Wie ist es euch ergangen?« Er wandte sich wieder der Stute zu, um sie von einigen kleinen Paketen zu befreien, die auf ihrem Rücken befestigt waren.

»Sei gegrüßt, Mamma.«

Margrét sah warmherzig auf Lauga herab, wobei sich ihre Lippen kaum bewegten. »Grüß dich, Sigurlaug«, sagte sie.

»Du siehst wohl aus.«

»Ich lebe noch«, erwiderte sie.

»Bist du müde?«

Margrét beachtete die Frage nicht und glitt schwerfällig zu Boden. Lauga umarmte ihre Mutter schüchtern und strich der Stute dann über die Nüstern, die unter ihrer Hand warm und feucht bebten.

»Wo ist deine Schwester?«

Lauga spähte zum Felsvorsprung beim Bach, konnte ihre Schwester aber nicht entdecken. »Sie holt Wasser fürs Abendbrot.«

Margrét zog die Augenbrauen hoch. »Ich hätte gedacht, sie ist hier, um uns zu begrüßen.«

Lauga wandte sich wieder an ihren Vater, der gerade die kleinen Pakete abstellte. Sie holte tief Luft. »Pabbi, ich muss dir später etwas sagen.«

Er löste die steifen Sattelgurte. »Wie viele?«

»Wie bitte?«

»Wie viele Tiere haben wir verloren?«

»Ach so. Nein. Nichts dergleichen«, erwiderte Lauga. »Gott sei gedankt.« Sie trat dicht an ihren Vater heran. »Vielleicht sollte ich dich unter vier Augen sprechen«, flüsterte sie.

Ihre Mutter hatte sie gehört. »Was immer du zu sagen hast, Lauga, sag es ruhig uns beiden.«

»Ich möchte dich nicht aufregen, Mamma.«

»Ich rege mich immerzu auf«, erwiderte Margrét mit einem plötzlichen Lächeln. »Das kommt davon, wenn man Kinder und Gesinde hat, auf die es zu achten gilt.« Damit hob sie einige Sachen vom Boden, bat ihren Mann aufzupassen, nichts in die Pfützen zu stellen, und ging ins Haus, gefolgt von Lauga.

 

Jón hatte gerade das Badstofa betreten und sich neben seiner Frau niedergelassen, als Lauga die Suppe auftrug.

»Ich dachte, eine warme Mahlzeit würde euch guttun«, sagte sie.

Jón schaute zu Lauga auf, die mit dem Tablett vor ihm stand. »Kann ich erst noch die Kleider wechseln?«

Lauga zögerte, setzte dann das Tablett auf dem Bett neben ihrer Mutter ab, kniete sich vor ihren Vater und begann, ihm die Schnürsenkel zu lösen. »Ich muss euch beiden etwas sagen.«

»Wo ist Kristín?«, fragte ihre Mutter scharf, während ihr Mann sich auf die Ellbogen zurücklehnte und sich von seiner Tochter einen nassen Strumpf ausziehen ließ.

»Steina hat ihr den halben Tag freigegeben«, antwortete Lauga.

»Und wo bleibt Steina denn?«

»Ach, ich weiß nicht.« Unter den prüfenden Blicken ihrer Eltern spürte Lauga, wie sich ihr Magen angstvoll zusammenkrampfte. »Pabbi, als du weg warst, hat uns der Herr Landrat aufgesucht«, flüsterte sie.

Jón richtete sich leicht auf und blickte auf seine Tochter hinunter. »Der Herr Landrat?«, wiederholte er.

Margrét ballte die Hände. »Was wollte er?«, fragte sie.

»Er hatte einen Brief für dich, Pabbi.«

Margrét starrte Lauga an. »Warum hat er ihn nicht per Boten geschickt? Bist du sicher, dass es Blöndal war?«

»Mamma, bitte.«

Jón blieb still. »Wo ist der Brief?«, fragte er schließlich.

Lauga zog ihm auch den anderen Schuh ruckelnd aus und ließ ihn zu Boden fallen. Getrockneter Schlamm bröckelte vom Leder ab.

»Steina hat ihn verbrannt.«

»Um Himmels willen! Warum das denn?«

»Mamma! Das ist jetzt nicht wichtig. Ich weiß, was drin stand. Pabbi, sie wollen, dass wir …«

»Pabbi!« Steinas Stimme erscholl von jenseits des Flurs. »Du rätst nie, wen wir in unserem Haus in Haft halten sollen!«

»In Haft?« Fragend wandte sich Margrét ihrer älteren Tochter zu, die gerade hereinplatzte. »Ach, Steina, du bist ja klatschnass!«

Steina schaute auf ihre triefende Schürze hinunter und zuckte mit den Achseln. »Ich habe die Eimer fallen gelassen und musste zurück und sie neu auffüllen. Pabbi, Blöndal will uns zwingen, Agnes Magnúsdóttir in Gewahrsam zu nehmen!«

»Agnes Magnúsdóttir?« Margrét sah entsetzt zu Lauga hinüber.

»Genau die. Die Mörderin, Mamma!«, rief Steina. Sie band sich die nasse Schürze ab und schleuderte sie achtlos auf das Bett neben sich. »Die, die Natan Ketilsson ermordet hat!«

»Steina! Ich wollte Pabbi gerade erklären …«

»Und Pétur Jónsson, Mamma.«

»Steina!«

»Ach, Lauga, nur weil du’s ihnen sagen wolltest.«

»Du sollst nicht allen immer ins Wort fallen …«

»Kinder!« Jón stand auf, die Arme ausgebreitet. »Es reicht. Lauga, erzähl mir die ganze Geschichte von vorn. Was genau ist passiert?«

Lauga zögerte kurz, berichtete dann ihren Eltern ausführlich vom Besuch des Landrats, wobei ihr Gesicht heiß wurde, als sie wiedergab, was ihr vom Inhalt des Briefes noch in Erinnerung war.

Noch ehe sie geendet hatte, war Jón schon wieder in seine Jacke geschlüpft.

»Dazu sind wir doch bestimmt nicht verpflichtet!« Margrét zupfte am Ärmel ihres Mannes, doch der schüttelte ihre Hand ab und vermied es, ihr bestürztes Gesicht anzuschauen.

»Jón«, murmelte Margrét mit Blick auf ihre Töchter, die sie schweigend und mit im Schoß gefalteten Händen beobachteten.

Jón zog seine Stiefel an und warf die Schnüre um den Schaft. Das Leder quietschte, als er sie festzog.

»Es ist spät, Jón«, sagte Margrét. »Willst du jetzt noch nach Hvammur? Die schlafen doch bestimmt alle schon.«

»Dann wecke ich sie eben.« Er nahm seinen Reithut vom Nagel, fasste seine Frau an den Schultern und schob sie sanft zur Seite. Er nickte seinen Töchtern zum Abschied zu und ging mit langen Schritten zur Tür hinaus.

»Was sollen wir nur tun, Mamma?«, fragte Lauga mit dünner Stimme.

Margrét schloss die Augen und atmete tief durch.

 

Einige Stunden später kam Jón nach Kornsá zurück. Kristín, die bei ihrer Heimkehr von Margrét mit scharfem Tadel empfangen worden war, schmollte und warf Steina vorwurfsvolle Blicke zu. Margrét hatte ihr Strickzeug in den Schoß sinken lassen und überlegte gerade, ob sie Frieden zwischen ihren Töchtern stiften sollte, als sie hörte, wie sich die Haustür knarrend öffnete und sich der schwere Schritt ihres Mannes näherte.

Er trat ein und suchte sofort den Blick seiner Frau. Sie biss die Zähne zusammen.

»Und?« Margrét schob ihren Mann zu seinem Bett.

Jón nestelte an den Schnüren seiner Stiefel.

»Bitte, Pabbi«, sagte Lauga und kniete sich vor ihn. »Was hat Blöndal gesagt?« Sie verlor fast das Gleichgewicht, als sie ihm mit einem Ruck die Stiefel auszog. »Bleibt er dabei, dass sie zu uns kommen soll?«

Jón nickte. »Es ist so, wie Lauga berichtet hat. Agnes Magnúsdóttir soll von ihrer Zelle auf dem Stóra-Borg-Hof zu uns gebracht werden.«

»Aber warum, Pabbi?«, fragte Lauga leise. »Was haben wir uns denn zuschulden kommen lassen?«

»Nichts haben wir uns zuschulden kommen lassen. Ich bin Dienstmann dieses Landkreises. Und sie kann nicht einfach zu irgendeiner Familie. Die Obrigkeit ist für sie zuständig, und ich bin Teil dieser Obrigkeit.«

»Auf Stóra-Borg gibt es genügend Obrigkeit.« Margréts Ton war schneidend.

»Sie soll aber verlegt werden. Es gab einen Zwischenfall.«

»Was ist passiert?«, fragte Lauga.

Jón blickte auf das anmutige Gesicht seines jüngsten Kindes hinunter. »Sicher nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssen«, meinte er schließlich.

Margrét lachte kurz auf. »Und das lassen wir uns einfach so gefallen? Ziehen wie ein Hund den Schwanz ein und geben klein bei?« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Diese Agnes ist eine Mörderin, Jón! Hier leben zwei Mädchen, Knechte. Und Kristín. Wir sind auch für sie verantwortlich!«

Jón sah seine Frau vielsagend an. »Blöndal will uns dafür entschädigen, Margrét. Ihre Verwahrung wird entlohnt.«

Margrét schwieg. Als sie wieder das Wort ergriff, klang sie müde. »Vielleicht sollten wir die Mädchen fortschicken.«

»Nein, Mamma! Ich will nicht fort«, rief Steina.

»Es wäre zu deiner eigenen Sicherheit.«

Jón räusperte sich. »Die Mädchen werden bei dir gewiss sicher genug sein, Margrét.« Er seufzte. »Da ist noch etwas. Björn Blöndal wünscht meine Anwesenheit auf Hvammur an ebenjenem Tag, an dem die Frau bei uns eintrifft.«

»Du willst, dass ich sie in Empfang nehme?« Auf Margréts Gesicht zeichnete sich Entsetzen ab.

»Pabbi, du kannst Mamma doch nicht allein mit ihr lassen!«, entfuhr es Lauga.

»Mamma wird nicht allein sein. Ihr seid doch alle bei ihr. Außerdem sind da noch einige Dienstmänner von Stóra-Borg. Und ein Pfarrer. Blöndal hat schon alles in die Wege geleitet.«

»Und was gibt es auf Hvammur so Wichtiges zu erledigen, dass es deine Gegenwart genau an dem Tag erfordert, an dem uns Blöndal eine Verbrecherin ins Haus schickt?«

»Margrét …«

»Nein, ich bestehe darauf, es zu wissen. Es ist nicht recht.«

»Wir beratschlagen, wer als Henker ernannt wird.«

»Henker!«

»Alle Dienstmänner werden zugegen sein, auch die vom Landkreis Vatnsnes, die den Trupp vom Stóra-Borg-Hof begleiten. Wir werden eine Nacht auf Hvammur übernachten und am nächsten Tag zurückreiten.«

»Und in der Zwischenzeit sitze ich hier allein mit der Frau, die Natan Ketilsson umgebracht hat.«

Jón schaute seine Frau ruhig an. »Deine Töchter sind bei dir.«

Margrét hob zu einer Erwiderung an, überlegte es sich jedoch anders. Stattdessen nahm sie ihr Strickzeug wieder auf und fing an, laut klappernd zu stricken.

Steina beobachtete ihre Eltern mit gesenktem Blick und griff nach der Holzschüssel mit dem Abendessen, obgleich ihr speiübel war. Sie schaute auf die Hammelfleischstückchen in der fettigen Suppe. Langsam griff sie nach ihrem Löffel, fischte ein Stück heraus und begann zu kauen. Sie widerstand der Versuchung, die Knorpelstücke auszuspucken; stattdessen zermalmte Steina sie mit den Zähnen und schluckte sie stillschweigend hinunter.

 

 

 

Seit sie beschlossen haben, dass ich fortmuss, legen mir die Männer vom Stóra-Borg-Hof abends manchmal wie einem Pferd Fußfesseln um, damit ich nicht fortlaufen kann. Ich scheine für sie mit jedem Tag mehr zum Tier zu geraten, zu einem dumpfen Stück Vieh, das es gilt, mit wahllos zusammengekratzten Resten zu füttern und vor dem gröbsten Wetter abzuschirmen. Sie halten mich in Dunkelheit, verweigern mir Licht und Luft, und wenn ich fortgebracht werde, fesseln sie mich und führen mich, wohin sie wollen.

Niemand spricht mit mir. Im Winter, drinnen im Badstofa, konnte ich ständig meinen Atem hören, und ich hatte Angst zu schlucken, weil ich befürchtete, jeder würde es mitbekommen. Die einzigen Geräusche, die dort einem Körper Gesellschaft leisteten, waren das Wispern der Bibelseiten und das der Menschen. Gelegentlich fiel mein Name, und ich wusste, dass es nicht aus Güte geschah. Selbst wenn das Gesetz sie zwingt, das Wort an mich zu richten, um mir den Inhalt eines Briefes oder einer Urteilsverkündung vorzulesen, blicken sie immer knapp an mir vorbei, als sprächen sie mit jemandem, der hinter meiner Schulter steht. Sie weigern sich, mir in die Augen zu sehen.

Du, Agnes Magnúsdóttir, bist der Beihilfe zum Mord für schuldig befunden. Du, Agnes Magnúsdóttir, bist der Brandstiftung und des vorsätzlichen Mordes für schuldig befunden. Du, Agnes Magnúsdóttir, bist zum Tode verurteilt. Du, Agnes. Agnes.

Sie wissen nichts von mir.

Und ich schweige. Ich will mich vor der Welt verschließen, ich will mein Herz verhärten und an den Dingen festhalten, die mir noch nicht genommen sind. Ich darf nicht zulassen, dass ich vergehe. In meinem Innersten werde ich an mir festhalten und dort all die Dinge bewahren, die ich gesehen und gehört und gefühlt habe. Die Gedichte, die ich verfasst habe, während ich schrubbte, kochte und die Sense schwang, bis meine Hände wund waren. Die Sagas, die ich auswendig lernte. Ich will alles versenken, was mir noch bleibt, und unter Wasser Zuflucht suchen. Ich werde in Luftblasen sprechen, wenn ich spreche. Und es wird ihnen nicht gelingen, meine Worte einzufangen. Sie werden nur die Hure sehen, die Verrückte, die Mörderin, das Weib, das Blut im Gras vergoss und lachte, den Mund voller Dreck. Sie werden »Agnes« sagen und die Spinne vor Augen haben, die Hexe, die sich im Netz ihrer eigenen Ränke verfing. Manche werden vielleicht auch das Lamm sehen, von Krähen umkreist, das nach seiner verlorenen Mutter blökt. Aber mich werden sie nicht sehen. Ich bin nicht da.

 

 

 

Pfarrvikar Thorvardur Jónsson seufzte, als er aus der Kirche in die kühle, feuchte Luft des Nachmittags trat. Ein Monat war vergangen, seit er Blöndal zugesagt hatte, die verurteilte Frau zu besuchen, und seitdem war kein Tag vergangen, an dem er nicht seine Entscheidung angezweifelt hatte. Jeden Morgen erwachte er bedrückt, wie nach einem Albtraum. Selbst bei seinem täglichen Gang zur kleinen Kirche von Breidabólstadur, wo er zu beten und eine Weile in der Stille zu sitzen pflegte, flatterte sein Magen nervös, und sein Körper zitterte, als sei er erschöpft vom Zwiespalt seiner Gedanken. Auch heute war es ihm nicht anders ergangen. Er hatte auf der harten Kirchenbank gesessen, auf seine Hände gestarrt und sich bei dem Wunsch ertappt, krank zu werden, so ernsthaft krank, dass er unmöglich nach Kornsá würde reiten können. Sein Unwille und seine Bereitschaft, die von Gott geschenkte Gesundheit aufs Spiel zu setzen, erschreckten ihn.

Es ist ohnehin zu spät, dachte er, während er durch den traurig verwahrlosten Garten des Kirchhofs schlenderte. Du hast vor Gott und den Menschen dein Wort gegeben, und da gibt es kein Zurück.

Früher einmal, vor dem Tod seiner Mutter, war der Kirchhof mit kleinen Blumen übersät gewesen, die im Sommer ihre lilafarbenen Blüten über die Gräber warfen. Seine Mutter hatte gesagt, die Toten sorgten dafür, dass die Blumenkelche den Kirchgängern nach dem Winter grüßend zunickten. Doch als sie starb, hatte sein Vater sämtliche wilden Blumen herausgerissen, und seitdem lagen die Gräber karg und stumm auf dem Kirchhof.

Die Tür zum Breidabólstadurhof stand offen. Als Tóti eintrat, wurde ihm von den warmen Küchendünsten und dem Geruch des schmelzenden Kerzentalgs im Flur fast übel.

Sein Vater stand über einen kochenden Kessel gebeugt und stocherte mit einem Messer darin herum.

»Ich sollte eigentlich jetzt wohl gehen, denke ich«, meinte Tóti.

Sein Vater schaute von dem siedenden Fisch auf und nickte.

»Man erwartet mich noch am frühen Abend, damit ich die Familie des Kornsáhofs schon einmal kennenlerne und dann auf jeden Fall dort bin, wenn die … na ja, also, die Verbrecherin ankommt.«

Sein Vater runzelte die Stirn. »Dann nur zu, mein Sohn.«

Tóti zögerte. »Meinst du, ich bin so weit?«

Pfarrer Jón seufzte und hob den Kessel vom Haken über den Kohlen. »Du kennst dein Herz am besten.«

»Ich war viel in der Kirche und habe gebetet. Ich frage mich, was wohl Mamma dazu gesagt hätte.«

Tótis Vater blinzelte und sah dann weg.

»Was denkst du denn, Vater?«

»Ein Mann muss zu seinem Wort stehen.«

»Aber ist es auch die richtige Entscheidung? Ich … ich möchte dir nicht missfallen.«

»Du solltest lieber versuchen, dem Herrn zu gefallen«, grummelte Pfarrer Jón und versuchte, den Fisch mit dem Messer aus dem heißen Wasser zu angeln.

»Wirst du für mich beten, Vater?«

Tóti wartete auf Antwort, doch vergebens. Vielleicht hält er sich für besser geeignet, Mörderinnen zu helfen, dachte Tóti. Vielleicht ist er auch neidisch, weil sie mich gewählt hat. Er beobachtete seinen Vater, der ein kleines Stück Fisch vom Messer ableckte. Mich hat sie gewählt, wiederholte er in Gedanken.

»Weck mich nicht, wenn du zurückkehrst«, rief Pfarrer Jón seinem Sohn hinterher, als dieser sich umdrehte und den Raum verließ.

Tóti sattelte sein Pferd und schwang sich in den Sattel. »Auf geht’s«, flüsterte er sich zu. Er drückte die Knie sanft in die Flanken des Pferdes und trieb es vorwärts. Als er noch einmal zum Hof zurückschaute, sah er, wie sich die dünne Rauchsäule aus dem Küchenschornstein im sanften Nieselregen des Nachmittags verlor.

Während er durch das hohe Gras des Tals ritt, in dem die Kirche lag, überlegte der junge Pfarrvikar, was er sagen sollte. Sollte er warm und herzlich sein oder streng und unnahbar wie Blöndal? Auf seinem Ritt probierte er verschiedene Stimmlagen und Begrüßungen aus. Vielleicht sollte er abwarten, bis er die Frau sah. Unvermittelt erfasste ihn ein Schauder der Erwartung. Sie war nur eine Magd, aber auch eine Mörderin. Sie hatte zwei Männer getötet. Sie wie Vieh geschlachtet. Lautlos formte er das Wort. Mörderin. Morðingi. Es zerging ihm wie Milch auf der Zunge.

Er ritt über die nördliche Halbinsel, am Horizont ein dünner Streifen des Ozeans, und allmählich lösten sich die Wolken auf, und das weiche, rötliche Licht der späten Junisonne überflutete den Pass. Wassertropfen glitzerten hell auf der Erde, und die Hügel schienen mal in rosafarbenes Licht getaucht, dann wieder, wenn über ihnen Wolken vorbeizogen, in langsam dahinziehende Schatten gehüllt. Kleine Insekten segelten durch die Luft, hell wie Staubpartikel, wenn sie durch das Sonnenlicht flogen, und der süße Duft von Gras, das beinahe reif zur Ernte war, erfüllte die kühle Luft des Tals. Die Angst, die sich so hartnäckig in seinem Magen festgesetzt hatte, verschwand, als er die Schönheit der Landschaft dankbar in sich aufnahm.

Wir alle sind Kinder Gottes, dachte er. Diese Frau ist meine Schwester in Jesus, und ich, als ihr geistlicher Bruder, muss sie nach Hause geleiten. Er lächelte und trieb sein Pferd zum Tölt an. »Ich werde sie retten«, flüsterte er.

[home]

Zweites Kapitel

3ter Mai 1828

Undirfell, Vatnsdalur

 

Die Verurteilte, Agnes Magnúsdóttir, wurde 1795 in Flaga, in der Gemeinde Undirfell, geboren. Sie wurde 1809 konfirmiert, und ihr wurden damals ein überaus klarer Verstand, ausgeprägte Bibelfestigkeit und tiefes Verständnis für den christlichen Glauben bescheinigt.

So steht es verzeichnet im Kirchenbuch von Undirfell.

 

P. Bjarnason

[home]

Sie haben mich aus dem Lagerraum geholt und in Eisen gelegt. Dieses Mal war ein Büttel dabei, ein junger Mann mit pockenvernarbter Haut und nervösem Grinsen. Er kommt vom Hvammurhof, ich erkenne sein Gesicht. Als sich seine Lippen öffnen, sehe ich, dass seine Zähne von Fäulnis befallen sind. Sein Atem ist ätzend, aber nicht schlimmer als mein eigener. Ich weiß, wie übel ich rieche. Ich bin dreckverkrustet, gehüllt in viele Schichten von Körpersäften: Blut, Schweiß, Fett. Ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal gebadet habe. Meine Haare fühlen sich an wie fettige Stränge; ich habe versucht, sie zu einem Zopf zu flechten, aber kein Zopfband bekommen. Auf den Büttel muss ich wie eine monströse Kreatur gewirkt haben. Vielleicht hat er deshalb gegrinst.

Er holte mich aus diesem furchtbaren Raum heraus, und andere Männer gesellten sich dazu, während er mich durch den dämmrigen Flur führte. Sie schwiegen, aber ich konnte sie hinter mir spüren; ich spürte ihre Blicke im Nacken wie kalt zupackende Hände. Dann, nach vielen Monaten Gefängnis, in denen mich nur mein ranziger Atem und der Gestank des Nachttopfs umgaben, wurde ich durch die Flure des Stóra-Borg-Hofs in den schlammigen Außenhof geführt. Und es regnete.

Wie kann ich schildern, wie es ist, wieder atmen zu können? Ich fühlte mich wie neugeboren. Ich taumelte ins Licht der Welt und sog die frische Meeresluft tief ein. Es war später Nachmittag: Der feuchte Atem des Tages berührte direkt mein Gesicht. Meine Seele blühte auf in jenem kurzen Augenblick, als sie mich durch die Tür hinausführten. Ich fiel zu Boden, meine Röcke im Schlamm, und ich wandte mein Gesicht himmelwärts wie im Gebet. Ich hätte vor Freude über das Licht weinen mögen.

Einer der Männer beugte sich zu mir und zog mich vom Boden hoch, als würde er eine Distel ausreißen, die an einer Stelle Wurzeln geschlagen hat, an der sie nichts verloren hat. Erst dann bemerkte ich die Menschenmenge, die sich versammelt hatte. Zuerst verstand ich nicht, warum diese Leute, Männer wie Frauen, bewegungslos dastanden und mich schweigend anstarrten. Schließlich begriff ich, dass sie gar nicht mich anstarrten. Ich, das waren zwei tote Männer. Ich, das war ein brennender Hof. Ich war ein Messer. Ich war Blut.

Ich wusste nicht, wie ich mich vor diesen Leuten verhalten sollte. Dann entdeckte ich Rósa, die mich aus einiger Entfernung beobachtete und dabei die Hand ihrer kleinen Tochter umklammert hielt. Es war tröstlich, in der Menge jemanden zu sehen, den ich kannte, und so lächelte ich unwillkürlich. Doch lächeln war falsch. Es entfesselte den Zorn der Masse. Die Gesichter der Mägde verzerrten sich, und die Stille wurde durch den plötzlichen, gellenden Schrei eines Kindes zerrissen: Fjandi! Teufelin! Er zerriss die Luft wie das hochschießende Wasser eines Geysirs. Das Lächeln erstarb auf meinen Lippen.

Mit der Beleidigung schien die Menge zu erwachen. Jemand lachte kreischend auf, und man beruhigte das Kind und ließ es von einer älteren Frau fortführen. Einer nach dem anderen verließen sie den Hof, kehrten an die Arbeit zurück oder verschwanden in den Häusern, bis ich allein mit meinen Wächtern im Nieselregen zurückblieb, in schweißstarren Strümpfen und mit brennendem Herzen unter meiner schmutzigen Haut. Als ich wieder aufsah, war Rósa verschwunden.

Jetzt reiten wir durch Islands Norden, über diese Insel, die in ihren Gewässern badet, in ihrem Ozean schmollt. Wir folgen unseren Schatten über die Berge.

Sie haben mich an den Sattel gebunden wie eine Leiche auf dem Weg zum Bestattungsort. In ihren Augen bin ich bereits tot, das Grab mein Schicksal. Man hat mir die Arme vor meinem Körper gefesselt. Während wir diese grauenhafte Parade reiten, scheuern die Handschellen an meiner Haut, bis sie wund und blutig ist. Ich schaue dabei zu. Schmerz gehört jetzt zu meinem Alltag. Einige meiner Wächter auf dem Stóra-Borg-Hof bedachten meinen Körper regelmäßig und selbstverständlich mit Gewalt; sie malten mir ihren Hass auf meine Haut: hier ein Bluterguss, dort noch einer; blaue Flecken, die wie Sternwolken unter der Haut sichtbar wurden, schwarzer und gelber Rauch, der unter der Membran gefangen ist. Wahrscheinlich hatten einige von ihnen Natan gekannt.

Doch jetzt schaffen sie mich gen Osten, und obwohl sie mich gefesselt haben wie ein Lamm, das zum Schlachter geführt wird, bin ich dankbar, dass ich in Täler zurückkehre, in denen die Felsen dem Gras weichen, selbst wenn ich dort sterben muss.

Während sich die Pferde durch das Gras mühen, frage ich mich, wann sie mich umbringen werden. Ich frage mich, wo sie mich bis zu diesem Tag aufbewahren wollen, eingekellert wie Butter oder geräuchertes Fleisch. Oder wie eine Leiche, die auf Tauwetter warten muss, ehe sie in die Erde versenkt werden kann wie ein Stein.

Ich weiß es nicht. Mir sagt man nichts. Mir legen sie stumm Eisenschellen um und führen mich fort. Und wie eine Kuh folge ich ihnen, ganz ohne auszukeilen, denn sonst droht das Messer. Auf mich warten der Strick und ein böses Ende. Ich lasse den Kopf hängen, gehe, wohin sie mich führen, und hoffe, dass das Ziel nicht mein Grab ist, zumindest noch nicht.

Die Fliegen sind eine Plage. Sie krabbeln mir übers Gesicht und in die Augen, und ich spüre das Kribbeln ihrer winzigen Beine und Flügel. Der Schweiß zieht sie an. Verscheuchen kann ich sie nicht, die Eisen sind zu schwer für mich. Sie sind für einen Mann gedacht, wenn sie meine Gelenke auch fest genug umschließen.

Doch mich tröstet die Bewegung, die Wärme des Pferdes, das Lebendige unter mir, und dass mir nicht mehr so schrecklich kalt ist. Ich war so lange halb erstarrt vor Kälte, dass es mir vorkommt, als habe sich der Winter permanent in meinen Gliedern eingenistet. Hasserfüllte Blicke und endlose Tage in dunklen Räumen genügen, um jeden bis ins Mark gefrieren zu lassen. Ja, draußen geht es mir deutlich besser. Und obgleich die Luft voller Fliegen ist, ist es mir lieber, irgendwohin zu ziehen, als in einem Raum langsam zu verrotten wie eine Leiche in ihrem Sarg.