Das Sigma-Protokoll - Robert Ludlum - E-Book

Das Sigma-Protokoll E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Eine fast vergessene, hochbrisante Geheimdienstakte ist der Auslöser für eine brutale Mordserie in Europa. Als der Investmentbanker Ben Hartmann in Zürich nur knapp einem Anschlag entgeht, folgt er gemeinsam mit der US-Agentin Anna Navarro den Spuren des Falles und sie geraten in den lebensgefährlichen Sog einer weltweiten Verschwörung.

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Seitenzahl: 979

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Robert Ludlum

Das Sigma-Protokoll

Roman

Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller

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Die Originalausgabe THE SIGMA PROTOCOL erschien bei St. Martin’s Press, New York

Ausgabe 07/2004

Copyright © 2001 by Myn Pyn LLC.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München

Copyright © dieser Ausgabe 2004 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Franzis print & media GmbH, München

ISBN 978-3-641-04156-4V005

www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Der Autor
 
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
 
Das Buch
Ben Hartmann macht gerade Ferien in der Schweiz und ist sehr überrascht, dort einen seiner ältesten Bekannten zu treffen. Noch überraschter ist Ben allerdings, als der versucht ihn umzubringen. Ben hat keine Wahl: In Notwehr tötet er den Mann, den er für einen Freund hielt.
Anna Navarro soll im Auftrag der US-Regierung eine Reihe von mysteriösen Todesfällen in Europa untersuchen. Die einzige Verbindung zwischen den Toten ist eine alte Geheimdienstakte mit dem Codenamen »Sigma«.
Der Autor
Robert Ludlums Romane wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und erreichten weltweit eine Auflage von über 200 Millionen Exemplaren. Im Heyne Verlag erschien zuletzt Das Bourne-Vermächtnis. Robert Ludlum starb im März 2001. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.

1. Kapitel

Zürich
 
»Darf ich Ihnen inzwischen etwas zu trinken bringen?«
Der Hotelpage war ein gedrungener junger Mann, auf dessen grüner Lodenuniform das Namensschild aus Messing glänzte.
»Nein, danke,« sagte Ben Hartman mit einem schwachen Lächeln.
»Vielleicht einen Tee? Oder einen Kaffee oder ein Glas Mineralwasser?« Der Page schaute zu ihm hoch. Er strahlte ihn mit den erwartungsvollen Augen eines Menschen an, dem nur noch wenige Minuten blieben, das Trinkgeld in die Höhe zu treiben. »Tut mir furchtbar Leid, dass der Wagen noch nicht da ist.«
»Kein Problem.«
Ben stand in der Lobby des Hotels St. Gotthard, eines eleganten Etablissements aus dem 19. Jahrhundert, dessen Spezialität die Betreuung des gut betuchten, internationalen Geschäftsmannes war. Und das, dachte Ben boshaft, bin ich ja wohl. Nachdem er ohnehin schon ausgecheckt hatte, spielte er flüchtig mit dem Gedanken, dem Pagen ein Trinkgeld dafür zu geben, dass er ihm nicht die Taschen hinterhertrug, dass er ihm nicht wie eine Klette am Bein hing, dass er sich nicht unaufhörlich dafür entschuldigte, dass der Wagen, der ihn zum Flugplatz bringen sollte, noch nicht da war. Überall auf der Welt bildeten sich Luxushotels auf dieses Herumscharwenzeln etwas ein. Ben war ziemlich oft auf Reisen und hatte das schon immer als höchst aufdringliches Ärgernis empfunden. Wie viel Zeit hatte er schon darauf verwendet, sich aus diesem Kokon zu befreien. Doch die Fesseln aus uralten, ritualisierten Privilegien waren dann doch stärker gewesen. Der Hotelpage hatte ihn durchschaut, na schön. Für ihn war er nur einer von vielen reichen, verwöhnten Amerikanern.
Ben Hartman war sechsunddreißig, fühlte sich aber heute wesentlich älter. Und das lag nicht nur am Jetlag – er war gestern aus New York gekommen und stand immer noch etwas neben sich. Es hing damit zusammen, wieder in der Schweiz zu sein. In glücklicheren Tagen hatte er viel Zeit hier verbracht: immer auf der Überholspur, ob auf Skiern oder im Wagen. Unter den gesetzestreuen Bürgern mit ihren versteinerten Gesichtern hatte er sich gefühlt wie ein wilder Freigeist. Er wünschte, dieses Feuer wieder entfachen zu können. Doch er konnte nicht. In der Schweiz war er nicht mehr gewesen, seit hier sein eineiiger Zwillingsbruder Peter – der engste Freund, den er je gehabt hatte – vor vier Jahren umgekommen war. Ben erkannte jetzt, dass es ein Fehler gewesen war, zurückzukommen. Er hatte zwar damit gerechnet, dass die Reise Erinnerungen aufwühlen würde, allerdings nicht solche. Seit er auf dem Flugplatz Kloten gelandet war, war er völlig durcheinander, wurde er hin- und hergerissen zwischen Zorn, Kummer und Einsamkeit.
Aber er hütete sich davor, seine Gefühle offen zu zeigen. Gestern Nachmittag hatte er ein paar kleinere geschäftliche Dinge erledigt, und heute Morgen hatte er sich zu einem zwanglosen Gespräch mit Rolf Grendelmeier von der Union Bank of Switzerland getroffen. Zwar ohne besonderen Grund, aber man musste seine Kunden bei Laune halten; Höflichkeitsbesuche gehörten zum Geschäft. Um ehrlich zu sein, sie waren das Geschäft. Manchmal verspürte er einen leichten Stich, wenn er daran dachte, wie leicht er in die Rolle des einzigen überlebenden Sohnes des legendären Max Hartman geschlüpft war. Er war der mutmaßliche Erbe des Familienvermögens und des Chefsessels von Hartman Capital Management, des von seinem Vater gegründeten milliardenschweren Unternehmens.
Inzwischen beherrschte Ben alle Tricks des internationalen Finanzgeschäfts. In seinen Schränken hingen Anzüge von Brioni und Kiton, er verfügte über das unbeschwerte Lächeln, den festen Händedruck und – das vor allem – den nüchternen, ruhigen und interessierten Blick, der zwar Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit und Scharfsinn signalisierte, aber häufig nur schreckliche Langeweile verbarg.
Aber er war nicht in erster Linie aus beruflichen Gründen in die Schweiz gekommen. Von Kloten würde ihn ein kleines Flugzeug zum Skifahren nach St. Moritz bringen, und zwar zu einem alten und äußerst wohlhabenden Kunden, zu dessen Frau und dessen angeblich wunderschöner Enkelin. Der Mann setzte ihm hartnäckig, wenn auch auf humorvolle Weise zu. Ben war sich darüber im Klaren, dass er verkuppelt werden sollte. Das war eines der Risiken für einen vorzeigbaren, gut situierten und kreditwürdigen Single aus Manhattan: Seine Kunden versuchten permanent, ihn mit ihren Töchtern, Nichten und Kusinen zu verbandeln. Höflich nein zu sagen war ziemlich schwierig. Aber gelegentlich war tatsächlich eine Frau dabei, in deren Gesellschaft er sich außerordentlich wohl fühlte. Man konnte nie wissen. Wie auch immer, Max wollte Enkel.
Max Hartman – Philanthrop, Kotzbrocken und Gründer von Hartman Capital Management. Der aus Nazideutschland geflohene Selfmademan mit den sprichwörtlichen zehn Dollar in der Tasche, der direkt nach dem Krieg eine Investmentgesellschaft gegründet und daraus mit eisernem Willen das heutige Multimilliardendollar-Unternehmen gemacht hatte. >Old Max< war inzwischen über achtzig und lebte in prunkvoller Einsamkeit in Bedford, New York. Noch immer führte er das Unternehmen und sorgte dafür, dass das auch niemand vergaß.
Es ist nie einfach, für seinen Vater zu arbeiten, aber richtig hart wird es erst, wenn man für Investmentbanking, Portefeuille-Strukturierung, Risikomanagement und ähnlich nervtötende Dinge nur herzlich wenig Interesse aufbringt.
Oder wenn man sich absolut nicht für Geld interessierte. Ben war natürlich klar, dass das ein Luxus war, dem vornehmlich die frönten, die zu viel Geld hatten. Wie die Hartmans mit ihren Treuhandvermögen und Privatschulen und dem gewaltigen Landsitz in Westchester County. Ganz zu schweigen von dem achttausend Hektar umfassenden Besitz am Greenbriar River und was die Familie sonst noch so hatte.
Bis Peters Flugzeug abstürzte, hatte Ben das tun können, was ihm wirklich Spaß machte: unterrichten. Und zwar Kinder, die ihre Mitmenschen schon abgeschrieben hatten. In einer knallharten Schule in Brooklyn – in einer Gegend, die man East New York nannte – hatte er Fünftklässler unterrichtet. Die meisten machten wirklich Ärger. Er hatte es zu tun mit Jugendgangs und abgestumpften Zehnjährigen, die besser bewaffnet waren als kolumbianische Drogenbarone. Aber sie brauchten einen Lehrer, der sich um sie kümmerte. Ben kümmerte sich. Und gelegentlich konnte er tatsächlich in des einen oder anderen Leben etwas bewirken.
Nach Peters Tod hatte man ihn fast gezwungen, in die Firma einzutreten. Seinen Freunden hatte er erzählt, dass er damit einem Wunsch seiner Mutter auf dem Sterbebett nachgekommen sei – was wohl auch stimmte. Krebs hin oder her, er hatte seiner Mutter ohnehin nie einen Wunsch abschlagen können. Nur zu gut erinnerte er sich noch an ihr abgespanntes Gesicht. Die Haut war von der letzten Chemotherapie aschfahl, die rötlichen Flecken unter den Augen sahen aus wie Blutergüsse. Da sie fast zwanzig Jahre jünger als sein Vater gewesen war, hatte sich der nie vorstellen können, dass sie als Erste sterben würde. »Arbeite, denn es kommt die Nacht«, hatte sie gesagt und ihn dabei tapfer angelächelt. Das war alles, den Rest brauchte sie gar nicht auszusprechen. Max Hartman hatte Dachau überlebt und dann erleben müssen, wie sein Sohn starb. Und nun starb auch seine Frau. Wie viel konnte ein noch so starker Mann ertragen?
»Hat er dich auch verloren?«, hatte sie geflüstert. Zu jener Zeit hatte er ein paar Straßen von der Schule entfernt gewohnt, im fünften Stock eines baufälligen Mietshauses ohne Aufzug. In den Gängen stank es nach Katzenpisse, und der Linoleumboden warf Blasen. Aus Prinzip lehnte er es ab, von seinen Eltern Geld anzunehmen.
»Verstehst du, worum ich dich bitte, Ben?«
»Die Kinder in der Schule«, hatte Ben mit einer Stimme gesagt, in der die Niederlage schon durchklang. »Die brauchen mich.«
»Er braucht dich«, hatte sie ganz leise geantwortet. Und damit war die Diskussion beendet.
Jetzt gab er den großen Privatkunden beim Lunch das Gefühl, bedeutend und umsorgt zu sein. Sie fühlten sich geschmeichelt durch die Tatsache, dass ihnen der Sohn des Firmengründers um den Bart ging. Nebenher und heimlich etwas ehrenamtliche Tätigkeit in einem Zentrum für »gefährdete Jugendliche«, die sich im Vergleich zu seinen Fünftklässlern wie Chorknaben ausnahmen. Und – wann immer es ging – Reisen, Ski fahren, Parasailing, Snowboarden, Bergsteigen. Und Frauen, wobei er peinlich darauf achtete, sich mit keiner näher einzulassen.
>Old Max< musste sich noch etwas gedulden.
Plötzlich hatte Ben das Gefühl, dass ihn die mit rosaroten Damaststoffen und schweren dunklen Wiener Möbeln ausstaffierte Lobby erdrückte. »Ich warte draußen auf den Wagen«, sagte er zu dem Pagen. Der Mann in der grünen Lodenuniform lächelte ihn affektiert an. »Natürlich, Sir, wie Sie wünschen.«
Ben trat in die grelle Mittagssonne und betrachtete blinzelnd die Fußgänger in der vornehmen Bahnhofstraße. Linden, teure Geschäfte, Cafés und reihenweise Finanzinstitute in herrschaftlichen Kalksteingebäuden säumten die Prachtavenue. Der Page hastete mit dem Gepäck hinter ihm her und wuselte so lange herum, bis Ben einen Fünfzig-Franken-Schein zückte und ihm mit einer Handbewegung bedeutete, dass er jetzt gehen könne.
»Herzlichsten Dank, Sir«, sagte der Page und mimte den Überraschten.
Einer der Portiers würde ihm schon Bescheid sagen, wenn der Wagen in der gepflasterten Einfahrt an der linken Seite des Hotels auftauchte. Ben hatte es nicht eilig. Nach Stunden in stickigen und überhitzten Räumen, in denen der Duft von Kaffee und – ganz leicht, aber unverkennbar – Zigarrenqualm in der Luft hing, genoss er die erfrischende Brise vom Zürichsee.
Ben lehnte seine nagelneuen Volant-Ti-Super-Skier neben seine Taschen an eine der korinthischen Säulen und beobachtete die Passanten in der belebten Fußgängerzone. Ein zwielichtig aussehender junger Geschäftsmann, der in sein Handy brüllte. Eine fette Frau in einem roten Parka, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Japanische Touristen, die aufgeregt aufeinander einschwatzten. Ein großer Mann mittleren Alters, der einen gedeckten Anzug trug und sich das ergrauende Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ein Bote in der unverwechselbaren orange-schwarzen Uniform der gehobenen Floristenkette Blümchengalerie – unter dem Arm einen Karton Lilien. Eine auffällige, teuer gekleidete junge Blondine mit einer Festina-Einkaufstasche, die vage in Bens Richtung schaute, dann mit kurz aufblitzendem Interesse noch mal genauer hinschaute, bevor sie die Augen abwendete. Hätten wir nur Raum genug und Zeit, dachte Ben. Er ließ den Blick wieder schweifen. Der Verkehrslärm aus der etwa einhundert Meter entfernten Löwenstraße drang gedämpft an sein Ohr. Das aufgeregte Jaulen eines Hundes war zu hören. Ein Mann um die fünfzig ging vorbei, dessen purpurroter Blazer für Zürich ein bisschen zu schrill war. Und dann sah Ben einen Mann, der ungefähr in seinem Alter war und gerade mit zielstrebigen Schritten an der Konditorei Koss vorbeiging. Er kam ihm irgendwie bekannt vor.
Sehr bekannt sogar.
Ben konnte es erst nicht glauben. Er musste zweimal hinschauen. War das etwa...? Tatsächlich, das war Jimmy Cavanaugh, sein alter Collegekumpel. Ein spöttisches Lächeln erschien auf Bens Gesicht.
Jimmy Cavanaugh, den er in seinem zweiten Jahr in Princeton kennen gelernt hatte. Jimmy, der eine sturmfreie Bude außerhalb des Campus bewohnte, der Filterlose rauchte, an denen jeder gewöhnliche Sterbliche erstickt wäre, und der buchstäblich jeden – inklusive den einschlägig bekannten Ben – unter den Tisch gesoffen hatte. Jimmy stammte aus dem Nordwesten des Staates New York, aus einem Ort namens Homer, der Stoff für jede Menge guter Geschichten lieferte. Eines Abends brachte Jimmy ihm nicht nur die Feinheiten des Kurz-Lang-Saufens – Tequila und Bier – bei, sondern erzählte ihm auch vom letzten Schrei aus Homer. Ben wäre vor Lachen fast erstickt, als er hörte, dass die Landjugend gerade auf »Kühe-Kippen« stand. Jimmy war schlaksig, schlau und liebte das Leben. Sein Repertoire an Scherzen war gewaltig, er war ein Schlitzohr und redete wie ein Wasserfall. Aber vor allem schien er einfach lebendiger zu sein als all die anderen Studenten, die Ben kannte: die Hosenscheißer, die über nichts anderes redeten als die Zulassungsprüfungen für die juristische oder wirtschaftswissenschaftliche Fakultät; die Romanistensnobs mit ihren Gewürznelkenzigaretten und schwarzen Schals; die trübsinnigen Schlaffis, die sich schon für Revoluzzer hielten, wenn sie sich die Haare grün färbten. Jimmy hatte mit all dem nichts zu tun. Ben beneidete ihn um seine lockere Art und freute sich darüber, ja fühlte sich geschmeichelt, dass Jimmy sein Freund war. Wie so viele andere verloren auch sie sich nach dem College aus den Augen. Jimmy nahm in Washington D. C. irgendeinen Job an der Georgetown School of Foreign Service an, während Ben in New York blieb. Keiner von beiden war der nostalgische Typ, sodass schließlich Entfernung und Zeit das Übrige taten. Dennoch, dachte Ben, war Jimmy Cavanaugh wahrscheinlich einer der wenigen Menschen, mit dem er sich jetzt gern unterhalten würde.
Er war inzwischen so nah, dass es keinen Zweifel mehr gab: Es war Jimmy Cavanaugh. Er trug einen teuren Anzug unter dem lohfarbenen Trenchcoat und rauchte eine Zigarette. Sein Körperbau hatte sich verändert: Um die Schultern war er jetzt breiter. Aber es war Cavanaugh.
»Wahnsinn«, sagte Ben laut. Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ihm seine neuen Skier einfielen, die er lieber nicht unbewacht stehen lassen wollte, Portier hin oder her. Er wuchtete sich die Skier über die Schulter und ging auf Jimmy Cavanaugh zu. Sein Haar war nicht mehr ganz so rot, die Stirn war etwas höher, und das früher sommersprossige Gesicht hatte ein paar Falten bekommen. Er trug einen Zweitausend-Dollar-Anzug von Armani. Was zum Teufel hatte er ausgerechnet in Zürich zu tun? Plötzlich trafen sich ihre Blicke.
Jimmys Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Er kam mit großen Schritten auf Ben zu. Eine Hand war ausgestreckt, die andere steckte in der Manteltasche.
»Hartman, du Ratte!«, rief Jimmy ihm aus ein paar Metern Entfernung zu. »Wie geht’s, alter Kumpel?«
»Ich kann’s einfach nicht glauben!«, schrie Ben. In diesem Augenblick sah er ein Metallrohr, das sich langsam aus Jimmys Manteltasche hob. Ein Schalldämpfer. Die Mündung war aufwärts gerichtet und zeigte aus Hüfthöhe direkt in seine Richtung.
Das musste irgendeiner von Jimmys abgedrehten Scherzen sein. Doch als Ben zum Spaß beide Arme in die Höhe riss und sich zur Seite wegduckte, um der imaginären Kugel auszuweichen, sah er, wie Jimmy Cavanaugh die rechte Hand ganz leicht bewegte – wie jemand, der den Abzug einer Pistole betätigt... Obwohl sich das Folgende binnen einer Sekunde abspielte, schien sich die Zeit zu verlangsamen und schließlich fast zum Stillstand zu kommen. Reflexartig riss Ben die Skier von der rechten Schulter, schwang sie nach vorn in Richtung Pistole, erwischte dabei aber mit voller Wucht Jimmys Nacken.
In der nächsten Sekunde – oder war es noch dieselbe? – hörte er den Knall und spürte, wie sich feine Splitter in seinen Nacken bohrten. Die sehr reale Kugel war einen Meter neben ihm in die Fensterscheibe eines Ladens eingeschlagen.
Das ist nur ein Traum!
Jimmy heulte vor Schmerz auf und stürzte zu Boden, wobei er mit einer Hand nach den Skiern griff. Mit einer Hand. Der linken. Ben hatte ein Gefühl im Hals, als hätte er Eis verschluckt. Wenn man stolpert und fällt, will man sich instinktiv irgendwo festhalten: Man sucht mit beiden Händen nach Halt, man lässt die Aktentasche fallen, den Kugelschreiber, die Zeitung. Es gab nur wenige Dinge, die man nicht fallen lassen, die man auch bei einem Sturz fest umklammern würde.
Die Pistole war echt.
Ben hörte das Klappern der Skier auf dem Gehweg, sah Blut auf Jimmys Backe, sah, wie er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Ben taumelte vorwärts und rannte dann, so schnell er konnte, die Bahnhofstraße hinunter.
Die Pistole war echt. Und Jimmy hatte damit auf ihn geschossen.
Kauflustige und Geschäftsleute auf dem Weg zum Mittagessen versperrten Ben den Weg. Er rannte mehrere Menschen um, die ihm wütend hinterherschrien. Er rannte im Zickzack durch die Menschenmenge und hoffte so, ein schlechtes Ziel abzugeben.
Was zum Teufel ging hier vor? Das war doch Wahnsinn, der pure Wahnsinn!
Dann beging er den Fehler, sich im Laufen umzudrehen. Er lief automatisch langsamer und wandte zudem sein Gesicht wie ein blinkender Leuchtturm seinem Ex-Freund zu, der ihn aus unerfindlichen Gründen töten wollte. Plötzlich zerplatzte nur einen halben Meter neben ihm die Stirn einer jungen Frau in einer roten Wolke.
Ben starrte die Frau an. Er keuchte.
Mein Gott! Das passierte nicht wirklich! Das war nicht die Realität! Das musste irgendein kranker Albtraum sein!
Als er an einem Bürogebäude vorbeilief, riss direkt neben ihm eine Kugel kleine Steinsplitter aus der Marmorfassade. Cavanaugh war wieder auf den Beinen und folgte ihm in etwa fünfzehn Metern Entfernung. Auch wenn Cavanaugh im Laufen schießen musste, so gab Ben dennoch ein beunruhigend gutes Ziel ab.
Er will mich töten. Nein, er wird mich töten.
Noch einmal täuschte Ben rechts an, schlug dann einen Linkshaken und erhöhte das Tempo. Er lief jetzt auf Hochtouren. Im Leichtathletikteam von Princeton war er auf die Achthundert-Meter-Strecke spezialisiert gewesen. Jetzt, fünfzehn Jahre später, hatte er nur dann eine Überlebenschance, wenn er irgendeine Kraftquelle in seinem Innern aktivieren konnte. Seine Schuhe waren nicht gerade ideal zum Laufen. Er brauchte eine Richtung, ein klares Ziel, einen Endpunkt: Das war immer der Schlüssel. Denk nach, verdammt! Und dann machte es klick: Er war etwa eine Straße entfernt vom größten unterirdischen Einkaufszentrum Europas, einem protzigen Konsumtempel namens ShopVille, der teilweise unter dem Hauptbahnhof lag. Vor seinem geistigen Auge sah er die Reihe von Rolltreppen, die am Bahnhofplatz in den Untergrund führten; der unterirdische Weg war immer schneller als der durch die Menschenmassen auf den Straßen. Im Gewirr der Passagen konnte er untertauchen. Nur ein Verrückter würde versuchen, ihm da unten zu folgen. Ben lief mit hochgezogenen Knien, mit langen, geschmeidigen Schritten. Er fühlte sich wie früher, wenn er einen von seinen heiß geliebten scharfen Zwischenspurts einlegte und nur noch den Wind in seinem Gesicht wahrnahm. Hatte er Cavanaugh abgehängt? Er hörte zwar dessen Schritte nicht mehr, wollte sich aber nicht auf Mutmaßungen verlassen. Zielstrebig und verbissen lief er weiter.
 
Die blonde Frau mit der Festina-Tasche klappte das winzige Handy zusammen und steckte es in eine Tasche ihres azurblauen Chanel-Kostüms. Verärgert presste sie die matt glänzenden Lippen aufeinander. Zuerst hatte alles wie am Schnürchen geklappt. In Sekundenschnelle hatte sie entschieden, dass die Beschreibung auf den Mann vor dem St. Gotthard genau passte. Er war eindeutig um die Mitte dreißig, hatte ein knochiges Gesicht mit einem kräftigen Kinn, lockiges braunes Haar mit einigen grauen Strähnen und braune Augen. Ein ansprechender, sogar ausgesprochen attraktiver Bursche; allerdings nicht so unverwechselbar, dass sie ihn hätte aus der Entfernung zweifelsfrei identifizieren können. Aber das spielte keine Rolle. Der Schütze, den sie ausgewählt hatten, konnte die Identifizierung vornehmen; dafür hatten sie gesorgt.
Inzwischen schien die Angelegenheit allerdings etwas außer Kontrolle geraten zu sein. Das Ziel war ein Amateur; er hatte kaum eine Chance, die Begegnung mit einem Profi zu überleben. Trotzdem: Bei Amateuren hatte sie immer ein ungutes Gefühl. Sie machten zwar Fehler, aber die waren – wie die Ausweichmanöver des Objekts gezeigt hatten – unberechenbar. Sein wirrer, noch andauernder Fluchtversuch würde das Unvermeidliche nur hinauszögern. Aber es beanspruchte Zeit – das Einzige, was sie nicht hatten. Sigma I würde nicht erfreut sein. Sie warf einen Blick auf ihre kleine juwelenbesetzte Armbanduhr, holte wieder das Handy heraus und tätigte einen weiteren Anruf.
 
Ben Hartmans ausgelaugte Muskeln schrien nach Sauerstoff. Keuchend stand er vor den Rolltreppen und musste im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung fällen. Über seinem Kopf hing ein blaues Schild mit der Aufschrift 1. UNTERGESCHOSS SHOPVILLE. Schaufensterbummler und Käufer mit Taschen verstopften die Rolltreppe nach unten – also auf die andere, die im Augenblick nur von wenigen benutzt wurde. Er rannte die Stufen gegen die Laufrichtung hinunter und stieß dabei ein Händchen haltendes Pärchen zur Seite, das ihm den Weg versperrte, registrierte die verwirrten Blicke, aus denen Verärgerung und Spott sprachen.
Jetzt rannte er über den schwarzen Bodenbelag durch die Haupthalle des unterirdischen Einkaufszentrums. Hatte er eben noch einen Funken Hoffnung verspürt, so wurde ihm bald klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Überall schrien und kreischten Menschen. Cavanaugh war ihm auf den Fersen geblieben und befand sich jetzt ebenfalls in dem abgeschlossenen Raum. In der Spiegelwand eines Juwelengeschäfts sah er gelbweiß aufblitzendes Mündungsfeuer. Im selben Augenblick riss die Kugel in einem Reisebuchladen die Wandverkleidung aus poliertem Mahagoni auf, sodass darunter die billige Spanplatte zum Vorschein kam. Es war ein Inferno. Ein alter Mann in einem ausgebeulten Anzug umklammerte seinen Hals und schwankte hin und her wie ein Bowlingkegel. Blut tropfte ihm aufs Hemd.
Ben sprang hinter einen Informationsstand. An der rechteckigen, etwa eins fünfzig breiten Konstruktion aus Beton und Glas war eine Tafel befestigt, auf der in eleganten schwarzen Lettern auf weißem Untergrund in drei Sprachen alle Geschäfte verzeichnet waren. Ein dumpfer Knall und zersplitterndes Glas sagten ihm, dass sein Versteck einen Treffer abbekommen hatte. Fast im selben Augenblick hörte er ein scharfes Knacken, ein Stück Beton brach ab und krachte nur wenige Zentimeter neben ihm auf den Boden.
Ein anderer Mann – groß, kräftig, Kamelhaarmantel, lässige graue Kappe – stolperte ein paar Schritte an Ben vorbei und brach dann tot zusammen. Er war in die Brust getroffen worden.
Cavanaughs Schritte waren in dem lärmenden Chaos nicht mehr zu hören, aber das Mündungsfeuer spiegelte sich in den Schaufensterscheiben, sodass Ben ungefähr die Position seines Gegners abschätzen konnte. Keine Minute mehr, dann hätte er Ben aufgestöbert. Er richtete sich hinter seiner Betoninsel auf und schaute sich hektisch nach einem anderen Fluchtpunkt um.
In der Zwischenzeit war das Geschrei lauter geworden. Die Menschen kreischten hysterisch oder kauerten mit den Armen über den Köpfen auf dem Boden.
Gut sechs Meter vor Ben befanden sich die Rolltreppen, die hinunter ins zweite Untergeschoss führten. Sechs Meter musste er schaffen, ohne sich eine Kugel einzufangen. Vielleicht verließ ihn jetzt das Glück. Schlimmer konnte es nicht mehr werden, dachte er. Als er jedoch die sich immer weiter ausbreitende Blutlache sah, die nur einen halben Meter von ihm entfernt unter dem Mann in dem Kamelhaarmantel hervorkroch, änderte er seine Meinung. Verdammt, streng dein Hirn an! Er gab sich keine Chance, es bis zur Rolltreppe zu schaffen. Es sei denn...
Er packte den Arm des toten Mannes und zog ihn zu sich heran. Es blieben ihm nur noch wenige Sekunden. Während er dem Toten den lohfarbenen Mantel herunterzerrte und die graue Kappe abnahm, spürte er die hasserfüllten Blicke der Menschen, die vor der Western-Union-Filiale kauerten. Er hatte jetzt keine Zeit für Gefühlsduseleien, zog sich den weiten Mantel über die Schultern und die Kappe tief ins Gesicht. Wenn er überleben wollte, musste er dem Drang widerstehen, wie ein Kugelblitz auf die Rolltreppe zuzuschießen. Er war oft genug zur Jagd gegangen, um zu wissen, dass ein Jäger mit einem nervösen Abzugfinger bei jeder ruckartigen Bewegung sofort abdrückte. Also erhob er sich langsam und schlurfte in gebückter Haltung los, schwankend wie ein Verletzter. Cavanaugh konnte ihn jetzt sehen. Der Bluff musste bis zur Rolltreppe funktionieren, zehn Sekunden vielleicht. So lange Cavanaugh ihn für einen verletzten Passanten hielt, würde er keine seiner Patronen verschwenden.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, jede Faser seines Körpers wollte nichts anderes als lossprinten. Noch nicht! Gebückt, mit zusammengezogenen Schultern, stolperte er weiter – mit kleinen Schritten, um keinen Verdacht zu erwecken. Noch fünf Sekunden. Vier Sekunden. Drei.
Der Mann mit dem blutverschmierten Kamelhaarmantel trat auf die erste Stufe der leeren Rolltreppe und glitt langsam aus dem Blickfeld.
Jetzt!
Die Untätigkeit war genauso anstrengend gewesen wie die körperlichen Strapazen. Jeder Nerv in Bens Körper zuckte. So raumgreifend wie möglich rannte er die Stufen hinunter.
Cavanaugh musste den Informationsstand inzwischen erreicht haben. Jeden Moment würde er die Rolltreppe hinunterstürzen. Es kam auf jede Sekunde an.
Ben rannte wieder los. Das zweite Untergeschoss war ein wahres Labyrinth. Es gab keinen geraden Weg zur anderen Seite des Bahnhofplatzes. Nur zahllose Gänge mit Verkaufsständen aus Holz und Glas, die Handys, Zigarren, Uhren und Poster anboten. Für den gemütlich herumbummelnden Kunden waren sie Inseln der Verlockung, für ihn Hindernisse.
Immerhin boten sie Sichtschutz. Sie verringerten die Gefahr, aus größerer Entfernung erschossen zu werden. Was Ben Zeit gab. Vielleicht genügend Zeit, um das zu finden, wonach er suchte: einen Schutzschild.
Er rannte an Läden vorbei: Foto Video Ganz, Restseller Buchhandlung, Präsente Stickler, Microspot. Eine Kinderboutique, in deren grün und weiß lackierten Schaufensterrahmen Efeuranken eingeschnitzt waren, voll gestopft mit flauschigen Plüschtieren. Das Chrom und Plastik einer Swisscom-Filiale. Alle priesen Waren und Dienstleistungen an, die Ben im Moment sehr wertlos erschienen. Dann sah er – rechts vor sich, neben einer Filiale der Credit Suisse/Volksbank – ein Koffergeschäft. Im Fenster stapelten sich weiche Lederkoffer – für ihn nutzlos. Was er brauchte, entdeckte er im Verkaufsraum: einen großen Aktenkoffer aus gebürstetem Stahl. Das würde reichen, auch wenn die Stahlverkleidung sicher mehr Schein als Sein war. Es musste reichen. Er lief in den Laden, riss den Koffer vom Bord und rannte wieder nach draußen, während der blasse und schwitzende Besitzer hysterisch in Schweizerdeutsch ins Telefon plapperte. Keiner kümmerte sich um Ben, keiner wollte mit dem Wahnsinn etwas zu tun haben.
Ben hatte seinen Schutzschild, aber er hatte auch wertvolle Zeit verloren. Als er den Laden verließ, sah er gerade noch das wunderschöne Spinnennetz, das sich über die Schaufensterscheibe ausbreitete, bevor sie zu einem Haufen Glassplitter zusammenfiel. Cavanaugh war ihm dicht auf den Fersen. So dicht, dass Ben sich nicht umzudrehen wagte, um nach ihm Ausschau zu halten. Stattdessen tauchte er in eine Menschentraube ein, die gerade aus dem Franscati kam, einem großen Laden, der an einem Ende des kreuzförmigen Einkaufszentrums lag. Mit dem Aktenkoffer vor der Brust wühlte er sich durch den Pulk, wobei er jemandem auf den Fuß trat, dadurch kurz aus dem Gleichgewicht geriet und ein paar wertvolle Sekunden verlor.
Ein Knall, nur Zentimeter von seinem Kopf entfernt: das Geräusch eines Geschosses, das auf Stahl trifft. Der Aktenkoffer zitterte, teils von der Wucht des Aufpralls, teils von seinen eigenen Muskelzuckungen. Als hätte man von innen mit einem kleinen Hammer eine Beule in den Koffer geschlagen, spürte Ben auf seiner Brust eine kleine Ausbuchtung. Die Vorderseite war von der Kugel durchschlagen worden, die Rückseite hatte ihr standgehalten. Der Schild hatte ihm das Leben gerettet, wenn auch nur hauchdünn.
Obwohl er seine Umgebung nur noch verschwommen wahrnahm, wusste er, dass er gerade in die vor Menschen wimmelnde Halle Landesmuseum lief. Er wusste auch, dass ihm der Tod immer noch auf den Fersen war.
Die Menschen rannten schreiend auseinander, duckten sich und kauerten sich auf den Boden, während der Horror, die Schüsse, das Blutvergießen immer näher kamen.
Ben stürzte sich in die Menge und wurde von ihr verschluckt. Kurz schien es so, als hätte das Schießen aufgehört. Er warf den Aktenkoffer auf den Boden. Er hatte seinen Zweck erfüllt, außerdem würde das glänzende Metall jetzt eine zu gute Zielscheibe abgeben.
War alles vorbei? War Cavanaugh die Munition ausgegangen? Oder lud er nur nach?
Ziellos drängelte sich Ben durch das Labyrinth der Passagen und suchte nach einem Ausgang. Vielleicht habe ich ihn abgehängt, dachte Ben. Trotzdem wagte er nicht, sich umzuschauen. Er hastete weiter.
In dem Gang, der zum Franscati führte, entdeckte er ein auf rustikal getrimmtes dunkles Holzschild, auf dem in goldenen Buchstaben Katzkeller-Bierhalle stand. Es hing über einem Gewölbebogen. Auf einem kleineren Schild stand Geschlossen.
Im Schutz der hektisch vorwärts drängenden Menschen ließ Ben sich bis zu dem Restaurant treiben und drückte sich dann durch den nachgemacht mittelalterlichen Torbogen in den riesigen leeren Saal. Von der Decke hingen an gusseisernen Ketten riesige Kronleuchter aus Holz. Hellebarden und Kupferstiche von Adeligen aus dem Mittelalter zierten die Wände. Die grob gezimmerten, massiven runden Tische vervollständigten das Bild, das sich der Architekt von einem Zeughaus aus dem 15. Jahrhundert gemacht hatte.
Ben duckte sich hinter die lange Bar, die sich rechts an der Wand befand. So sehr er sich dagegen wehrte, er konnte das laute Keuchen nicht unterdrücken. Seine Kleidung war bis auf die Haut durchgeschwitzt, das Herz raste, und in der Brust spürte er einen stechenden Schmerz.
Er klopfte leicht an die Verkleidung der Theke. Es klang hohl. Anscheinend furnierte Gipsplatten – nichts, was eine Kugel aufhalten würde. Er kroch die Theke entlang, dann um eine Ecke und gelangte in eine aus Stein gemauerte Nische, in der er sich aufrichten und verschnaufen konnte. Als er sich mit dem Rücken an einen Pfeiler lehnte, stieß er mit dem Kopf an eine schmiedeeiserne Laterne, die oben auf den Pfeiler montiert war. Er stöhnte auf, drehte sich um und untersuchte die Laterne. Man konnte die ganze Apparatur – den schweren schwarzen Eisenarm und die verschnörkelte Fassung samt Birne – aus der Halterung nehmen.
Knirschend löste sich der Arm. Er umfasste die Laterne mit beiden Händen und drückte sie gegen die Brust.
Und dann wartete er. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag. Warten konnte er. Er erinnerte sich noch gut an all die Thanksgivingfeiertage am Greenbriar. Max Hartman hatte darauf bestanden, dass seine Söhne Jagen lernten und dafür Hank McGee angeheuert, einen grauhaarigen Alten aus White Sulfur Springs. Was soll daran schon schwer sein?, hatte er damals gedacht. Er war ein As im Skeetschießen gewesen, und das Zusammenspiel seiner Hände und Augen war perfekt. Er hatte das McGee gegenüber anklingen lassen, worauf dieser ihn nur finster angeschaut hatte. Du glaubst also, dass es hauptsächlich ums Schießen geht? Ich sag dir was: das Warten, darum geht’s. Wobei er ihn zornig angefunkelt hatte. McGee hatte natürlich Recht gehabt: Das Warten war das Entscheidende und gleichzeitig das, wofür er vom Temperament her am wenigsten geeignet war.
Bei Hank McGee hatte er gelernt, auf die Beute zu warten.
Jetzt war er selbst die Beute.
Es sei denn, er könnte den Spieß irgendwie umdrehen.
Ein paar Sekunden später hörte Ben lauter werdende Schritte. Jimmy Cavanaugh betrat zögernd den Saal und schaute hastig nach links und rechts. Sein zerrissener Hemdkragen war schmutzig und mit Blutflecken besudelt. Links am Hals klaffte eine Wunde. Der Trenchcoat war dreckig. In dem roten Gesicht funkelten zu allem entschlossene Augen.
War das wirklich mal sein Freund gewesen? Was war in den letzten fünfzehn Jahren passiert? Was hatte ihn in einen Killer verwandelt?
Was war der Grund für das alles?
In der rechten Hand hielt Cavanaugh die blauschwarz schimmernde Pistole. Auf dem Lauf steckte der fünfundzwanzig Zentimeter lange Schalldämpfer. Ben erinnerte sich an seine Schießübungen vor zwanzig Jahren. Was Cavanaugh da in der Hand hielt, war eine Walther PPK Kaliber 32.
Ben hielt die Luft an. Er hatte Angst, sein Schnaufen könnte ihn verraten. Er zog sich in das Dunkel der Nische zurück und umklammerte fest die eiserne Laterne, während Cavanaugh den Saal inspizierte und langsam näher kam. Plötzlich riss Ben den Arm hoch und schleuderte Cavanaugh die eiserne Laterne mit voller Wucht an den Schädel.
Jimmy Cavanaughs gellender, schmerzerfüllter Schrei glich dem Heulen eines Tieres. Während seine Knie nachgaben, drückte er ab.
Ben spürte den Hitzestrahl, der an seinem Ohr vorbeischoss. Anstatt zurückzuweichen oder zu fliehen, stürzte Ben vorwärts, rammte seinen Körper in den seines Gegners und riss ihn zu Boden. Cavanaughs Schädel krachte auf den Steinboden.

2. Kapitel

Halifax, Nova Scotia, Kanada
 
Obwohl noch früh am Abend, war es schon dunkel. Ein eisiger Wind pfiff durch die steile, enge Gasse, die zum tosenden Atlantik hinunterführte. Nebel lag wie eine Decke über den grauen Straßen der kleinen Hafenstadt. Ein ekliger Nieselregen fiel, und die Luft schmeckte nach Salz.
Die Lampe tauchte die vergammelte Vorderveranda und die ausgetretenen Stufen des Hauses in ein milchig gelbes Licht. Die dunkle Gestalt, die unter der Lampe stand, trug eine Öljacke mit Kapuze. Immer wieder drückte sie auf den Klingelknopf neben der Haustür. Schließlich hörte man das Klicken der Sicherheitsriegel. Langsam öffnete sich die verwitterte Tür.
Die ärgerlichen Augen eines sehr alten Mannes lugten nach draußen. Über seinem zerknitterten weißen Pyjama trug er einen schmutzigen blassblauen Morgenmantel. Der Mund war eingefallen, die schlaffe Gesichtshaut bleich, und die grauen Augen blinzelten wässerig.
»Ja?«, sagte der Alte mit hoher, krächzender Stimme. »Was wollen Sie?« Er sprach mit dem bretonischem Akzent seiner akadisch-französischen Vorfahren, die an der Küste Nova Scotias als Fischer gelebt hatten.
»Sie müssen mir helfen«, sagte der Mann mit flehender Stimme. Aufgeregt trat er von einem Bein auf das andere. »Bitte, helfen Sie mir!«
Der Alte schaute ihn verwirrt an. Der Besucher war zwar groß gewachsen, schien aber noch ein halber Teenager zu sein. »Wovon reden Sie?«, fragte er. »Wer sind Sie?«
»Wir haben einen schrecklichen Unfall gehabt. Oh, mein Gott, ich glaube, mein Vater ist tot.«
Der alte Mann presste die schmalen Lippen zusammen. »Und was soll ich jetzt tun?«
Der Fremde streckte die Hand nach dem Griff der Sturmtür aus, ließ sie aber gleich wieder sinken. »Ich muss telefonieren. Wir brauchen einen Krankenwagen. Meine Schwester... sie ist schwer verletzt. Mein Vater ist gefahren. Der Wagen... Totalschaden. Oh, mein Gott...« Er konnte nicht weitersprechen und ähnelte jetzt mehr einem Kind als einem Halbwüchsigen. »O Gott, ich glaube, mein Vater ist tot.«
Der Blick des Alten wurde jetzt weicher. Langsam öffnete er die Sturmtür, um den Fremden hereinzulassen. »Also gut«, sagte er. »Kommen Sie rein.«
»Danke«, sagte der Bursche und trat durch die Tür. »Es dauert nicht lange. Nochmals vielen Dank.«
Der Alte drehte sich um, ging in das schäbige Wohnzimmer und knipste das Licht an. Als er sich wieder zu dem Burschen umdrehte, kam dieser auf ihn zu und umfasste mit beiden Händen die rechte Hand des Alten, als wollte er ihm auf diese etwas unbeholfene Art danken. Vom Ärmel der gelben Öljacke tropfte Wasser auf den Morgenmantel. Dann machte der Bursche eine ruckartige Bewegung. Die Hand des Alten zuckte zurück, dann sackte er auf dem Boden zusammen.
Ein paar Sekunden schaute der Bursche auf den zusammengekrümmten Körper hinunter. Dann löste er die kleine Vorrichtung, an der die Spritze mit der winzigen versenkbaren Injektionsnadel befestigt war, von seinem Handgelenk und steckte sie in die Innentasche seiner Öljacke.
Er schaute sich im Raum um und schaltete den altertümlichen Fernseher ein. Es lief ein alter Schwarzweißfilm. Sofort machte er sich mit der Routine eines erfahrenen Mannes an die Arbeit.
Er ging zurück zu dem Körper, zog ihn zu einem speckigen orangefarbenen Sessel und hob ihn hinein. Die Arme legte er auf die Lehnen und drehte den Kopf in Richtung Bildschirm. Es sah aus, als sei der Alte vor dem Fernseher eingeschlafen.
Dann zog er eine Kleenex-Rolle aus seiner Öljacke, wischte das Wasser auf, das auf den breiten Kiefernbohlen kleine Pfützen gebildet hatte, und ging zu der immer noch offenen Tür. Er schaute kurz hinaus, trat auf die Veranda und schloss die Tür hinter sich.
 
 
Die österreichischen Alpen
 
Der silberfarbene Mercedes S430 schlängelte sich die steile Bergstraße hinauf und hielt vor dem Kliniktor. Der Wachmann kam aus seinem Häuschen, sah, wer im Wagen saß, und sagte unterwürfig: »Willkommen, Herr Direktor.« Er verlangte keinen Ausweis. Der Klinikchef legte Wert darauf, nicht unnötig aufgehalten zu werden. Der Wagen fuhr die kreisförmige Auffahrt hinauf. Das gepflegte Gras und die gestutzten Kiefern auf der leicht ansteigenden Rasenfläche kontrastierten mit den unregelmäßigen Flecken Pulverschnee. In der Ferne erhoben sich die majestätischen weißen Felsspitzen und Flanken des Schneebergs. Der Wagen umkurvte eine kleine Gruppe hoher Eiben und näherte sich einem zweiten, von außen nicht sichtbaren Wachhäuschen. Der Wachmann, der schon über die Ankunft des Direktors informiert worden war, drückte gleichzeitig einen Knopf und legte einen Schalter um. Die Stahlschranke hob sich, und die eisernen Spikes quer über der Fahrbahn verschwanden im Teer.
Die lange, schmale Straße, die der Mercedes hinauffuhr, führte nur zu einem einzigen Ort: einer alten Uhrenfabrik, die in einem zweihundert Jahre alten Schloss untergebracht war. Mit einem verschlüsselten Funksignal wurde ein elektrisches Tor geöffnet, und der Wagen rollte auf seinen reservierten Parkplatz. Der Fahrer sprang heraus und öffnete die Wagentür. Der Direktor stieg aus und ging schnell in das Gebäude, wo ihm hinter einer kugelsicheren Scheibe ein dritter Wachmann lächelnd zunickte.
Er betrat den Fahrstuhl, der in dem altertümlichen Gebäude wie ein Anachronismus wirkte, schob die digital kodierte Ausweiskarte in den Schlitz und fuhr ins zweite, oberste Stockwerk. Durch drei Türen, die sich alle nur mit einer elektronischen Chipkarte öffnen ließen, gelangte er in den Konferenzraum. Die anderen hatten schon an dem langen polierten Mahagonitisch Platz genommen.
»Meine Herren, es ist so weit«, sagte er. »Nur noch wenige Tage trennen uns von dem immer wieder verschobenen Augenblick, in dem sich unser Traum erfüllt. Der lange Prozess der Reifung ist fast vorüber, und so darf ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Geduld nun belohnt wird. Und zwar in einem Ausmaß, das die kühnsten Erwartungen unserer Gründerväter übertrifft.«
Dankbar nahm er die Beifallsbekundungen der Anwesenden zur Kenntnis und fuhr dann fort. »Was die Sicherheitsfrage betrifft, so hat man mir versichert, dass nur noch sehr wenige angeli rebelli verblieben sind. Schon bald wird es auch diese nicht mehr geben. Allerdings gibt es da noch ein kleines Problem.«
 
 
Zürich
 
Ben versuchte aufzustehen, doch die Beine versagten ihm den Dienst, und er sackte wieder zusammen. Er schien wirklich am Ende zu sein, schwitzte und fror gleichzeitig. In seinen Ohren rauschte das Blut. Wie ein Eiszapfen bohrte sich die Angst in seinen Magen.
Was war überhaupt passiert?, fragte er sich. Warum zum Teufel hatte Jimmy Cavanaugh versucht, ihn zu töten? Was hatte dieser Wahnsinn zu bedeuten? War der Kerl durchgedreht? Hatte Bens plötzliches Auftauchen nach fünfzehn Jahren irgendetwas in seinem kranken Hirn ausgelöst, irgendeine verquere Erinnerung an die Oberfläche gespült, die ihn dazu getrieben hatte, ihn umbringen zu wollen?
Er schmeckte eine faulig metallische Flüssigkeit und berührte seine Lippen. Blut lief ihm aus der Nase. Das musste beim Kampf passiert sein. Er hatte eine blutige Nase abbekommen – und Jimmy Cavanaugh eine Kugel ins Hirn.
Der Lärm aus den Einkaufspassagen wurde leiser. Man hörte noch, wie gelegentlich jemand rief oder entsetzt aufschrie, aber das Chaos beruhigte sich. Ben stützte sich auf die Hände und versuchte aufzustehen. Ihm war schwindelig. Blut hatte er nicht viel verloren, da war er sich sicher. Er stand ganz einfach unter Schock.
Ben zwang sich dazu, Cavanaugh anzuschauen. Er hatte sich inzwischen so weit beruhigt, dass er wieder einigermaßen denken konnte.
Ein Mensch, den ich mit einundzwanzig zum letzten Mal gesehen habe, taucht in Zürich auf, dreht durch und versucht mich umzubringen. Und jetzt liegt er tot vor mir, in einem schäbigen, auf Mittelalter getrimmten Restaurant. Kein Schimmer, was das alles soll. Ich habe keinerlei Erklärung dafür. Vielleicht wird es nie eine geben.
Er achtete darauf, dass er der Blutlache um Cavanaughs Kopf nicht zu nahe kam, als er die Taschen durchsuchte, fand aber nichts, weder in der Jacke noch in der Hose oder im Trenchcoat. Keinen Ausweis, keine Kreditkarten. Seltsam. Cavanaugh schien vorher seine Taschen ausgeleert zu haben. Als hätte er sich auf die Tat vorbereitet.
Eine vorsätzliche Tat. Eine geplante.
Sein Blick fiel auf die blauschwarze, von Cavanaughs Fingern fest umschlossene Walther PPK. Er überlegte, ob er das Magazin überprüfen, ob er die Waffe einstecken und mitnehmen sollte. Was, wenn Cavanaugh nicht allein gewesen war?
Was, wenn da draußen noch andere lauerten?
Er zögerte. Schließlich befand er sich an einem Tatort. Das Beste war, nichts zu verändern. Wer weiß, welche juristischen Verwicklungen das noch nach sich zog.
Langsam rappelte er sich auf und ging zurück in das Einkaufszentrum. Die Haupthalle war bis auf ein paar Krankenwagenteams, die sich um die Verletzten kümmerten, fast ausgestorben. Einer wurde gerade auf einer Trage nach oben transportiert.
Ben musste einen Polizisten finden.
 
Die beiden Polizisten schauten ihn zweifelnd an. Einer war offensichtlich noch neu im Job, der andere schien in mittlerem Alter. Sie standen gleich bei der Lebensmittelabteilung an einem Bijoux-Suisse-Kiosk, auffällig in ihren marineblauen Pullovern mit roten Schulterklappen, auf denen Stadtpolizei Zürich eingestickt war. Beide trugen Walkie-Talkies und Pistolen am Gürtel.
»Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, sagte der jüngere Polizist, nachdem Ben ein paar Minuten geredet hatte. Der Ältere hielt den Mund und hörte zu.
»Herrgott noch mal«, sagte Ben erregt. »Man hat Menschen umgebracht, und da unten in dem Restaurant liegt ein Toter, der versucht hat...«
»Ihren Pass, bitte«, sagte der Jüngere mit fester Stimme. »Können Sie sich ausweisen?«
»Natürlich«, sagte Ben, zog seine Brieftasche aus der Jacke und nahm den Pass heraus.
Der Polizist begutachtete den Pass misstrauisch, reichte ihn an seinen älteren Kollegen weiter, der nur einen flüchtigen Blick darauf warf und ihn Ben zurückgab.
»Wo waren Sie, als das alles anfing?«, fragte der Jüngere.
»Ich habe vor dem Hotel St. Gotthard auf den Wagen gewartet, der mich zum Flughafen bringen sollte.«
Der Polizist machte einen Schritt nach vorn und stand jetzt unangenehm dicht vor ihm. Sein bislang neutraler Gesichtsausdruck strahlte jetzt offenes Misstrauen aus. »Sie wollten zum Flughafen?«
»Ich wollte nach St. Moritz.«
»Und plötzlich hat dieser Mann auf Sie geschossen?«
»Er ist ein alter Freund. Oder besser, er war ein alter Freund.«
Der Polizist hob eine Augenbraue.
»Ich hatte ihn fünfzehn Jahre nicht gesehen«, fuhr Ben fort. »Er hat mich erkannt und ist auf mich zugegangen... Erweckte den Anschein, als freute er sich, mich zu sehen. Und dann zog er plötzlich die Pistole aus der Tasche.«
»Hatten Sie einen Streit?«
»Wir haben kein einziges Wort gewechselt!«
Die Augen des jüngeren Polizisten verengten sich. »Waren Sie verabredet?«
»Nein, wir haben uns rein zufällig getroffen.«
»Und trotzdem hat er eine geladene Pistole bei sich.« Der Jüngere schaute seinen Kollegen an und wandte sich dann wieder an Ben. »Und Sie sagen, dass die Pistole einen Schalldämpfer hatte? Dann muss er gewusst haben, dass er Ihnen dort begegnen kann.«
Ben schüttelte verärgert den Kopf. »Ich hatte seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Er konnte unmöglich wissen, dass ich hier bin.«
»Aber Sie werden mir doch rechtgeben, dass Menschen nicht so einfach Pistolen mit Schalldämpfern spazieren tragen. Außer, wenn sie sie benutzen wollen.«
Ben zögerte. »Schätze, das stimmt wohl.«
Der ältere Polizist räusperte sich und ergriff zum ersten Mal das Wort. »Was für eine Pistole hatten Sie denn bei sich?«, fragte er.
»Was meinen Sie?«, fragte Ben entrüstet. Seine Stimme wurde lauter. »Ich hatte überhaupt keine Pistole dabei.«
»Entschuldigen Sie, aber jetzt bin ich ein wenig verwirrt. Sie sagen, dass Ihr Freund eine Pistole hatte und Sie keine. Warum ist dann er tot und nicht Sie?«
Gute Frage. Ben schüttelte nur den Kopf. Seine Gedanken kehrten zu dem Augenblick zurück, als Jimmy Cavanaugh vor dem Hotel die Pistole auf ihn gerichtet hatte. Der rationale Teil in ihm hatte das für einen Scherz gehalten. Ein anderer Teil aber offenbar nicht: Er hatte sofort und schnell reagiert. Warum? Er sah die Szene wieder vor sich. Jimmy kam auf ihn zu, mit federnden Schritten, mit einem breiten Grinsen... und mit kalt blickenden Augen. Die wachsamen Augen hatten nicht ganz zu seinem Grinsen gepasst. Ein kleiner, dissonanter Aspekt, der seinem Unterbewusstsein aufgefallen sein musste.
»Dann schauen wir uns die Leiche des Attentäters mal an«, sagte der ältere Polizist und legte eine Hand auf Bens Schulter. Eine Geste, die ganz und gar nicht freundlich gemeint war, sondern vielmehr zum Ausdruck brachte, dass Ben ab sofort kein freier Mann mehr war.
Ben führte die beiden Beamten quer durch das Einkaufszentrum, in dem es inzwischen von Polizisten und fotografierenden Reportern nur so wimmelte. Sie fuhren die Rolltreppe ins zweite Untergeschoss hinunter und betraten den Katzkeller. Ben ging voraus und zeigte auf die Nische.
»Und?«, sagte der Jüngere verärgert.
Sprachlos starrte Ben auf die Stelle, wo die Leiche gelegen hatte. Der Schock machte ihn ganz benommen. Da war nichts.
Keine Blutlache, keine Leiche, keine Pistole. Der Laternenarm saß wieder an seinem angestammten Platz, der Fußboden war sauber.
Es sah aus, als wäre nichts passiert.
»Mein Gott«, sagte Ben leise. War er verrückt geworden, hatte er den Kontakt zur Realität verloren? Er spürte den festen Boden unter den Füßen, er sah die Theke, die Tische.
Und wenn das nur einegigantische Inszenierung...? Nein. Irgendwie war er da in eine vertrackte, grauenhafte Geschichte hineingestolpert.
Die Polizisten schauten ihn mit wieder erwachtem Interesse an.
»Hören Sie«, sagte Ben, dessen krächzendes Flüstern kaum noch zu hören war. »Ich habe keine Erklärung dafür. Ich war hier, und er war auch hier.«
Der ältere Polizist sprach hastig in sein Walkie-Talkie, und kurz darauf tauchte ein weiterer Polizist auf, ein tumber Kerl mit einem gewaltigen Brustkasten. »Helfen Sie mir auf die Sprünge, vielleicht bring ich da ja was durcheinander. Sie laufen durch eine belebte Straße und dann durch das Einkaufszentrum hier, wo überall um sie herum auf Leute geschossen wird. Sie behaupten, dass ein Wahnsinniger hinter Ihnen her ist. Sie versprechen, dass Sie ihn uns zeigen, diesen Amerikaner. Aber da ist kein Wahnsinniger, da sind nur Sie. Ein seltsamer Amerikaner, der Märchen erzählt.«
»Was ich Ihnen erzählt habe, ist wahr, verdammt noch mal.«
»Sie sagen, dass ein Verrückter, den Sie von früher kennen, für das Blutbad verantwortlich ist«, warf der Jüngere der beiden mit ruhiger, harter Stimme ein. »Ich sehe hier nur einen Verrückten.«
Der ältere Polizist unterhielt sich auf Schweizerdeutsch mit seinem muskelbepackten Kollegen. »Sie haben doch im St. Gotthard gewohnt, oder?«, sagte er schließlich. »Schauen wir doch da mal vorbei.«
Ben und die drei Polizisten machten sich auf den Weg. Der Muskelmann ging hinter ihm, der Jüngere vor ihm, der Ältere an seiner Seite. Sie gingen durch das Einkaufszentrum, fuhren mit der Rolltreppe nach oben und gingen durch die Bahnhofstraße Richtung Hotel. Man hatte ihm zwar keine Handschellen angelegt, aber ihm war klar, dass das nur noch eine Formalität sein würde.
Vor dem Hotel wartete eine Polizistin, die sicher von seinen Begleitern hierher beordert worden war, und bewachte sein Gepäck. Das kurze braune Haar war fast wie bei einem Mann geschnitten, und ihr Gesichtsausdruck wirkte wie versteinert.
Hinter den Fensterscheiben der Lobby erkannte Ben den

3. Kapitel

Washington, D.C.
 
Eine junge, ernst dreinblickende Frau eilte zielstrebig durch den Hauptkorridor des vierten Stocks des Justizministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie hatte dunkelbraunes glänzendes Haar, karamellbraune Augen und eine spitze Nase. Auf den ersten Blick eignete ihr etwas Asiatisches oder Südamerikanisches an. Sie trug einen lohfarbenen Trenchcoat, hatte eine lederne Aktentasche unter dem Arm und sah aus wie eine Anwältin, Lobbyistin oder Karrierebeamtin.
Die Frau hieß Anna Navarro, war dreiunddreißig Jahre alt und arbeitete in einer kaum bekannten Abteilung des Justizministeriums, dem für Sonderermittlungen zuständigen Office of Special Investigations (OSI).
Als sie den stickigen Konferenzraum betrat, hatte die Besprechung schon begonnen. Arliss Dupree, der neben einer Staffelei mit einer weißen Schautafel stand, hörte mitten im Satz zu sprechen auf und drehte sich zu ihr um. Sie spürte die Blicke und dass sie leicht errötete – was zweifellos in Duprees Absicht gelegen hatte. Hastig nahm sie den erstbesten freien Stuhl. Ein Sonnenstrahl blendete sie.
»Da sind Sie ja. Wie schön, dass Sie noch hergefunden haben«, sagte Dupree. Sogar seine Sticheleien waren vorhersehbar. Anna war fest entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen, und nickte bloß. Er hatte ihr gesagt, dass die Besprechung um Viertel nach acht beginne. Offensichtlich war sie für acht angesetzt gewesen, und er würde sicher abstreiten, ihr jemals eine andere Zeit genannt zu haben. Die mickrige Bürokratenart, einem das Leben schwer zu machen. Außer ihnen beiden wusste keiner, warum sie zu spät gekommen war.
Bevor Dupree die Leitung des Office of Special Investigations übernommen hatte, waren Besprechungen nur selten angesetzt gewesen. Inzwischen gab es jede Woche eine-damit er seine Autorität demonstrieren konnte. Dupree war etwa Mitte vierzig, hatte die kleine, stämmige Figur eines Gewichthebers und trug einen seiner drei etwas knapp sitzenden hellgrauen Kaufhausanzüge, die er der Reihe nach durchwechselte. Obwohl Anna am anderen Ende des Raumes saß, roch sie sein billiges Rasierwasser. Sein rötliches Mondgesicht sah aus wie verklumpter Haferflockenbrei.
Früher war es ihr tatsächlich wichtig gewesen, was Männer wie Arliss Dupree über sie dachten, und sie hatte versucht, sie auf ihre Seite zu ziehen. Inzwischen war ihr das scheißegal. Sie hatte ihre Freunde, und Dupree gehörte nicht dazu. Von der anderen Tischseite warf ihr David Denneen, ein Mann mit kantigem Gesicht und rotblondem Haar, einen freundlichen Blick zu.
»Einigen von Ihnen ist vielleicht schon zu Ohren gekommen, dass die Internal Compliance um vorübergehende Abstellung unserer Kollegin gebeten hat.« Dupree schaute sie mit harten Augen an. »Angesichts der hier noch unerledigten Arbeit, Agent Navarro, würde ich es als wenig verantwortungsbewusst erachten, wenn Sie der Abordnung an eine andere Abteilung zustimmten. Oder haben Sie sich etwa selbst darum bemüht? Sie können uns das ruhig mitteilen.«
»Ich höre zum ersten Mal davon«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
»Ach? Nun ja, vielleicht war ich da mit meinen Schlüssen etwas voreilig«, sagte er mit etwas sanfterer Stimme.
»Gut möglich«, meinte sie trocken.
»Ich war der Annahme, dass man Sie für einen bestimmten Auftrag anfordert. Aber vielleicht sind Sie ja selbst der Auftrag.«
»Wie bitte?«
»Vielleicht sind Sie ja das Objekt der Untersuchung«, erklärte Dupree mit jetzt butterweicher Stimme. Es war offensichtlich, dass ihm der Gedanke gefiel. »Würde mich nicht überraschen. Sie sind ein ganz stilles Wasser, Agent Navarro.« Duprees Saufkumpane lachten.
Sie rutschte mit dem Stuhl etwas zur Seite, damit das Licht sie nicht mehr blendete.
Seit sie im Holiday Inn in Detroit Zimmer im selben Stock bewohnt hatten und sie seine alkoholseligen, unmissverständlichen Avancen abgelehnt hatte (höflich, ihrer Meinung nach), hatte er in die von ihr vorgetragenen Beurteilungen immer wieder kleine herablassende Bemerkungen eingestreut – wie Fliegenschisse: ... kann man im günstigsten Fall mit ihrem offensichtlich begrenzten Interesse entschuldigen... Fehleinschätzungen, die weniger auf Inkompetenz als auf Nachlässigkeit zurückzuführen sind...
Später hatte sie gehört, dass er sie gegenüber einem männlichen Kollegen als »latente Klagedrohung wegen sexueller Belästigung« bezeichnet hatte. Außerdem war ihr von ihm das vernichtendste Etikett angeklebt worden, das man sich in der Abteilung einhandeln konnte: Sie ist kein Teamspieler. Kein Teamspieler zu sein hieß, dass sie mit den Jungs, einschließlich Dupree, nicht um die Häuser zog, dass sie ihr Privatleben für sich behielt. Außerdem bepflasterte er ihre Berichte mit Notizen über Fehler, die sie gemacht hatte – kleinere verfahrenstechnische Versäumnisse, nichts Wichtiges. Einmal, bei der Jagd auf einen Rauschgiftfahnder, der sich von einem Drogenbaron hatte umdrehen lassen und dann in mehrere Mordfälle verwickelt war, hatte sie es versäumt, binnen der vorgeschriebenen sieben Tage das Formular FD-460 einzureichen.
Die besten Agenten machen Fehler. Sie war davon überzeugt, dass gerade den besten mehr kleinere Schnitzer unterliefen als dem Durchschnitt, weil sie sich nämlich mehr auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrierten als auf die Einhaltung jeder in den Lehrbüchern vorgeschriebenen Regel. Man konnte sklavisch jede lächerliche Regel befolgen und nie einen Fall knacken.
Sie spürte, dass er sie anschaute, hob den Kopf und hielt seinem Blick stand.
»Im Moment müssen wir uns mit außergewöhnlich vielen Fällen beschäftigen«, sagte Dupree. »Wenn einer seine Arbeit nicht erledigt, bedeutet das mehr Arbeit für die anderen. Wir haben einen höheren Finanzbeamten, der verdächtigt wird, ein paar ziemlich komplizierte Steuerhinterziehungen organisiert zu haben. Wir haben einen üblen FBI-Typen, der seinen Job dazu missbraucht, eine private Vendetta durchzuziehen. Und wir haben ein Arschloch vom Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms, das Waffen und Munition aus der Asservatenkammer verscheuert.« Das war eine typische Palette von Fällen, mit denen es das OSI gewöhnlich zu tun hatte: Fehlverhalten zu untersuchen, in die Mitglieder anderer Bundesbehörden verwickelt waren – in etwa die gleiche Arbeit, die die Abteilung Innere Angelegenheiten erledigte, nur auf Bundesebene.
»Vielleicht ist das alles ein bisschen zu viel für Sie«, sagte Dupree drohend. »Geht’s darum, Agent Navarro?«
Sie tat so, als machte sie sich eine Notiz, und sagte nichts. Ihr Gesicht glühte. Kontrolliert atmete sie langsam ein und aus und versuchte, ihre Wut zu bezähmen. Sie weigerte sich, den Köder zu schlucken. Schließlich sagte sie: »Wenn Ihnen die Anforderung ungelegen kommt, warum lehnen Sie sie dann nicht ab?« Annas Frage war keineswegs so unverfänglich, wie es der nüchterne Ton ihrer Stimme vermuten lassen konnte. Es lag nicht in Duprees Kompetenz, Anfragen der höchst verschwiegenen und einflussreichen Internal Compliance Unit (ICU) anzuzweifeln. Und jeder Hinweis auf die Grenzen seiner Kompetenz brachte ihn zur Raserei.
Duprees kleine Ohren röteten sich. »Ich erwarte zumindest, dass man mich konsultiert. Wenn die Schnüffler von der ICU so viel wüssten, wie sie immer vorgeben, dann müsste denen klar sein, dass Sie für diese Art von Arbeit nicht gerade die Idealbesetzung sind.«
Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu.
Anna liebte ihre Arbeit. Sie wusste, dass sie gut war. Lob hatte sie nicht nötig. Aber sie wollte auch keine Zeit und Energie damit verschwenden, sich mit aller Gewalt an ihren Job zu klammern. Wieder setzte sie ein neutrales Gesicht auf. Wobei sie spürte, wie ihr die Spannung auf den Magen schlug. »Ich bin sicher, dass Sie das haben durchblicken lassen.«
Ein paar Sekunden herrschte Stille. Anna konnte sehen, dass Dupree krampfhaft nach einer Antwort suchte. Dann drehte er sich um und wandte sich dem nächsten Tagesordnungspunkt auf seiner geliebten weißen Schautafel zu. »Sie werden uns fehlen«, sagte er.
Gleich nach der Besprechung kam David Denneen in ihr winziges Kabuff von Büro. »Die ICU will dich haben, weil du die Beste bist«, sagte er. »Das ist dir doch klar, oder?«
Anna schüttelte müde den Kopf. »Ich war überrascht, dass du an der Besprechung teilgenommen hast. Du bist doch jetzt bei der Einsatzüberwachung. Und nach allem, was man so hört, mit großem Erfolg.« Es hieß, dass er mit Riesenschritten auf einen Posten beim Generalstaatsanwalt zumarschierte.
»Das habe ich dir zu verdanken«, sagte Denneen. »Ich war als Vertreter meiner Abteilung da. Wir wechseln uns ab. Sollte mal ein Auge auf die Budgetzahlen werfen. Und auf dich.« Sanft drückte er ihre Hand. Anna sah in seinen Augen, dass er sich über etwas Sorgen machte.
»War schön, dich zu sehen«, sagte Anna. »Grüß mir Ramón.«
»Mache ich«, sagte er. »Du solltest mal wieder auf eine Paella zu uns kommen.«
»Aber du hast doch noch was anderes auf dem Herzen, oder?« Denneen schaute sie weiter an. »Hör zu, Anna. Ich weiß nicht, worum es bei dieser Abstellung geht, ich weiß nur, es ist kein Job wie jeder andere. Es stimmt, was die Leute hier sagen. Für uns Sterbliche sind die Wege des Gespenstes unergründlich.« Ein alter Scherz, den er mit ernstem Gesicht zitierte. Gespenst war der interne Spitzname für Alan Bartlett, den langjährigen Direktor der Internal Compliance Unit. In den Siebzigern hatte ihn der stellvertretende Generalbundesanwalt während einer geheimen Anhörung vor dem Senatsunterausschuss für die Nachrichtendienste scherzhaft »das Gespenst im Getriebe« genannt – ein Ehrentitel, der ihm bis heute geblieben war. Bartlett war zwar kein Gespenst, aber eine nur schwer zu definierende legendäre Gestalt. Ein brillanter Kopf, den man nur selten zu Gesicht bekam. Er herrschte über exklusive, höchst geheime Informationen. Mit seiner eigenen zurückgezogenen Lebensweise war er das Sinnbild seiner im Verborgenen operierenden Abteilung.
Anna zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hab ihn nie getroffen. Und ich kenne auch keinen, der jemals mit ihm gesprochen hat. Unwissenheit produziert Gerüchte, Dave. Keiner weiß das besser als du.«
»Dann hör auf den Rat eines Unwissenden, der sich Sorgen um dich macht«, sagte er. »Ich weiß nicht, worum es bei dieser ICU-Sache geht. Aber sei vorsichtig. Okay?«
»Was meinst du mit >vorsichtig<?«
Denneen schüttelte besorgt den Kopf. »Das ist eine andere Welt bei denen«, sagte er.
 
Später am selben Morgen marschierte Anna in die gewaltige Marmorlobby eines Bürogebäudes in der M Street. Sie hatte einen Termin bei der Internal Compliance Unit. Worin die konkrete Arbeit der Abteilung bestand, war selbst innerhalb der Behörde unklar. Bestimmte Senatoren wiesen gelegentlich darauf hin, dass das operative Tätigkeitsfeld gefährlich unpräzise definiert sei. Das ist eine andere Welt bei denen. Es schien ganz so, als hätte Denneen Recht.
Die ICU befand sich im neunten Stock eines modernen Bürogebäudekomplexes und war von den anderen Behörden Washingtons so isoliert, dass allein dieser Umstand zwangsläufig die Neugier Außenstehender auf sich zog. Anna versuchte, nicht zu offensichtlich den sprudelnden Springbrunnen und die Böden und Wände aus grünem Marmor anzustarren. Sie dachte: Was ist das für eine Regierungsbehörde, die sich eine derartige Ausstattung leisten darf? Kopfschüttelnd betrat sie den Lift. Sogar der war mit Marmor herausgeputzt.
Mit ihr im Lift stand ein etwas zu attraktiver Mann, der ungefähr in ihrem Alter war und einen etwas zu teuren Anzug trug. Ihr Tipp: Anwalt – wie fast jeder in der Stadt.
Im Spiegel sah sie, dass er sie mit diesem speziellen Blick begutachtete. Wenn sie ihn anschaute, würde er lächeln, einen guten Morgen wünschen und eine banale Liftunterhaltung anfangen. Obwohl er zweifellos harmlos war und wahrscheinlich nur etwas flirten wollte, war Anna leicht verärgert. Genauso wenig konnte sie es ausstehen, wenn ein Mann fragte, warum eine wunderschöne Frau wie sie als Ermittlungsbeamtin für die Regierung arbeitete. Als ob ihr Beruf für graue Mäuse reserviert sei.
Normalerweise spielte sie die Ahnungslose. Diesmal jedoch warf sie dem Mann einen finsteren Blick zu, worauf er schnell den Kopf abwandte.
Was immer die ICU von ihr wollte, der Zeitpunkt war denkbar ungünstig; da hatte Dupree Recht. Vielleicht sind Sie ja selbst der Auftrag, hatte er gesagt. Anna hatte zwar versucht, das mit einem Schulterzucken abzutun, aber absurderweise machte ihr die Bemerkung dennoch zu schaffen. Was zum Teufel hatte er damit gemeint? Sicher saß Arliss Dupree jetzt bester Laune in seinem Büro und zerriss sich mit seinen Saufkumpanen das Maul über sie.