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Ein Sommer am Rand der Stadt. Lilou, jung, sinnlich, voller Neugier, zieht mit ihrer Familie in das Nachbarhaus von Jérôme – 45, verheiratet, leer. Zwischen beiden entspinnt sich ein leises Spiel aus Blicken, Versuchung und Verlangen, das die Ordnung ihrer Leben auflöst. Lilou testet ihre Wirkung, Jérôme gerät an den Rand seiner Selbstbeherrschung. In der flirrenden Hitze des Sommers werden Sehnsüchte, Macht und Ohnmacht zu einer stillen, gefährlichen Choreografie.
„Das Sommermädchen“ ist eine psychologisch dichte Novelle über das Erwachen, das Unerfüllte und den Moment, in dem aus Spiel tödlicher Ernst werden könnte – sinnlich, klar, literarisch und voller Nachhall.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Jérôme – Lichtspalt
Lilou – Hitze auf der Haut
Jérôme – Erster Blick
Lilou – Sonnenbalkon
Jérôme – Flirren
Lilou – Zischen & Zitronen
Jérôme – Nachtsplitter
Lilou – Nachbarschaft
Jérôme – Fluchtpunkte
Lilou – Morgendunst
Jérôme – Anspannung
Lilou – Dachlinie
Jérôme – Donnerstage
Lilou – Sommersog
Jérôme – Obsession
Lilou – Wagnis
Jérôme – Geschenk
Lilou – Heimliches Licht
Jérôme – Das Geschenk
Lilou – Neubeginn
Ich weiß nicht mehr, wann es begonnen hat. Vielleicht war es kein einzelner Moment, sondern eine schleichende Verformung – wie Holz, das sich unter jahrelanger Last biegt, ohne dass man es merkt. Mein Leben hatte sich in einen Rahmen verwandelt, dessen Inhalt ich kaum noch erkannte. Arbeit. Ehe. Ein Haus in einer Siedlung, wie man sie überall findet. Alles schien zu passen – aber nichts mehr zu mir.
Mein Arbeitsplatz liegt im ersten Stock unseres Reihenmittelhauses. Zwei Fenster, eines davon bodentief, mit Blick in den Garten. Ich sitze hier jeden Tag. Der Schreibtisch steht in einer Ecke, die ich mir nüchtern eingerichtet habe: Lampe, Bildschirm, Laptop. Daneben der Türrahmen zum Schlafzimmer. Anne schläft dort. Wir schlafen dort. Es ist der Raum, in dem nichts mehr geschieht.
Die Kinder sind lange aus dem Haus. Der Alltag läuft wie ein geöltes System: Mails, Meetings, Deadlines. Alles ohne Reibung. Alles ohne Sinn. Ich arbeite von hier, weil es effizient ist. Weil niemand mehr nachfragt. Weil ich nichts anderes will – oder weil ich nichts mehr will.
Ich weiß, dass ich müde bin. Nicht körperlich. Tiefer. Eine Müdigkeit, die nicht mit Schlaf vergeht. Die aus Blicken besteht, die nichts mehr sehen. Aus Gesprächen, die nur noch Funktion sind. Ich lächle, wenn ich muss. Ich bin höflich. Ich erledige, was zu tun ist.
Der Garten hinter unserem Haus ist rechteckig, ordentlich. Ein Zitronenbaum im Topf, den Anne gekauft hat. Daneben der Zaun, und dann – der Garten der Nachbarn. Auch rechteckig. Auch ordentlich. Und doch hat sich dort etwas verschoben.
Ich habe gesehen, wie der Umzugswagen kam. Wie die Männer Kisten trugen. Und dann – wie sie ausstieg. Die Tochter der neuen Nachbarn. Lilou.
Ich wusste sofort, dass sie anders war. Nicht wegen ihres Aussehens. Nicht wegen ihres Körpers. Sondern wegen der Art, wie sie sich bewegte, als wüsste sie um das Licht, das sie traf. Als wüsste sie, dass sie gesehen wird. Und als wäre genau das der Sinn.
Ich schämte mich nicht, dass ich hinsah. Es war kein Moment der Entscheidung. Ich sah einfach. Und je länger ich sah, desto weniger war ich in der Lage, wegzusehen. Es war, als hätte jemand einen Spalt geöffnet, durch den Licht fiel. Nicht warm. Nicht freundlich. Sondern hell. Schonungslos, wie die Sommersonne.
Ich bin fünfundvierzig Jahre alt. Mein Name ist Jérôme. Ich habe eine Frau, zwei erwachsene Kinder, ein Haus mit Balkon. Und ich bin nicht bereit für das, was kommt.
Aber ich werde es nicht aufhalten können.
Der Sommer hat begonnen.
Ich wollte hier nicht herziehen. Ganz sicher nicht. Aber dann in ein Reihenmittelhaus am Stadtrand, in eine Siedlung, die aussieht, als würde sie sich selbst archivieren? Wie eine Welt ohne Zufall. Alles weiß-anthrazit. Alles gleich. Alles fertig.
„Ja, ich schwör’s dir, Marie – es sieht hier aus wie im Ikea-Katalog auf Antidepressiva.“
Ich lachte leise ins Handy. Lehnte mich gegen die offene Heckklappe des Autos, meine Hüfte ein bisschen zu locker, mein Kleid ein bisschen zu kurz. Die Sonne brannte. Hinter mir schleppten Männer in Speditionsshirts Kisten, Papa diskutierte am Handy mit irgendwem wegen der Wasseruhr, meine Mutter kommandierte meine kleinen Brüder durchs Haus wie kleine Hunde. Ich hörte sie, blendete sie alle aus.
„Keine Ahnung, irgendwo bei München. Voll Vorstadt. Reihenhäuser, überall Kinderfahrräder, Gartenzwerge, Mütter in Leinenkleidern. Und alle glotzen. Als wär unser Umzug ihr einziges Sommerprogramm.“
Ich drehte mich etwas zur Seite, so dass mein Kleid spannte. Kein BH drunter. Natürlich nicht. Nicht aus Rebellion – wegen der Sommerhitze. Mein Körper war mir näher als den anderen. Mir war egal was andere sahen. Und ich wusste, dass ich gesehen wurde. Irgendwo da oben war ein Fenster. Vielleicht zwei. Vielleicht mehr. Es war kein direkter Blick, eher ein Gefühl. Wie warmer Wind im Nacken.
„Nee, WLAN gibt’s auch noch nicht. Voll das digitale Mittelalter. Ich fühl mich wie ausgewandert.“
Ich sprach beiläufig. Aber meine Bewegungen waren nicht beiläufig. Ich schob das Handy zwischen Schulter und Wange, band meine Haare zu einem Zopf, zog die Träger meines Kleides von den Schultern. Es hielt trotzdem, ohne dass es rutschte. Kleine Gesten, große Wirkung. Ich kannte das Spiel. Ich war das Spiel.
Ich warf einen Blick nach oben. Für einen Moment glaubte ich, einen Schatten hinter einem der Fenster zu sehen. Nur ein Flirren. Vielleicht eine Bewegung. Vielleicht nichts. Aber mein Bauch sagte: doch. Da war jemand. Einer, der nicht zufällig hinsah.
Ich beendete das Gespräch, steckte das Handy weg. Ging wieder rein. Im Haus: Kisten, Stimmen, Durcheinander. Ich zog ein dutzend Schachteln auf, fand schließlich meinen Bikini, mein großes Handtuch, Sonnenmilch. Ließ die Kisten offen stehen, trat barfuß in unseren Garten.
Der Garten war rechteckig, flach, zu perfekt. Wie ein Bildschirmschoner. Überall verstreut: ein Klappstuhl, ein Sonnenschirm, Gartengedöns aus dem Transporter. Ich suchte mir den sonnigsten Fleck. Breitete mein Handtuch aus wie eine Fahne. Wie bei einer Mondlandung. Und dann legte ich mich darauf – lang, sichtbar, ausdrucksvoll. Der Körper als Zeichen. Der Trotz als Haltung.
Drinnen tobte der Umzug. Stimmen, Schritte, irgendetwas krachte. Ich lag da. Haut in der Sonne, Bauch leicht gespannt, Beine ausgestreckt. Mein Bikini – klein, schwarz, fast unschuldig. Nur auf Entfernung.
Ich schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Bewegte mein Becken leicht – nicht, weil ich musste, sondern weil ich spüren wollte, wie ich dalag. Wie sich der Stoff spannte. Wie mein Körper war. Jetzt. Hier. Für mich. Und den Beobachter.
Ich wusste, dass ich gesehen wurde. Vielleicht nicht direkt. Von drinnen. Von oben. Von irgendwem, der nicht wegsah. Vielleicht redete er sich ein, es sei Zufall. Vielleicht hatte er Schuldgefühle. Umso besser.
Ich wollte das. Diesen Moment. Diesen Blick, der nicht durfte. Dieses Ringen in jemand anderem, dass ich spürte, ohne es zu sehen. Ich wollte wissen, wie weit ich gehen kann. Wie nah ich ihm komme. Wie weit ich ihn bringe.
Mein Name ist Lilou. Ich war sechzehn, kein Kind mehr. Nicht mehr. Nicht für mich. Nicht für ihn.
Ich war etwas anderes. Und der Sommer hatte gerade erst begonnen.
Ich sollte arbeiten. Es war elf Uhr drei. Mein Kalender zeigte ein Meeting an, irgendein Reporting mit drei Kollegen, deren Stimmen sich längst in einem Nebel aus Gleichgültigkeit auflösten. Ich klickte mich stumm hinein, schaltete die Kamera nicht ein, hörte zu, hörte nicht zu. Das Fenster stand offen.
Die Luft war flirrend warm. Nicht heiß, noch nicht, aber versprechend. Die Art von Wärme, die sich anbahnt wie ein Gedanke, der später zur Tat wird.
Ich ging mit meinem Headset auf unseren Balkon, sah hinüber zu den neuen Nachbarn. Nicht direkt. Nur so – aus Neugierde. Ich hatte mir das selbst eingeredet. Dass ich nur vom Balkon schaute, weil der Blick ins Grüne gut tat. Weil das Licht auf den Blättern lag, wie man es sonst nur aus Kindheitserinnerungen kennt. Weil ich das Zwitschern der Amsel hören wollte.
Aber ich sah sie.
Lilou.
Sie stand barfuß auf dem Rasen des Nachbargartens. Ein großes schwarzes Handtuch über der Schulter, das Haar locker nach hinten gebunden. Sie trug einen Bikini, schmal geschnitten, beinahe unschuldig. Nein – er wollte unschuldig wirken. Er war es nicht.
Ich hielt den Atem an, obwohl es lächerlich war. Ich stand hier oben, zwei Meter über ihr. Und doch hatte ich das Gefühl, etwas unrechtes zu tun.
Sie ging langsam über das Gras. Kein Zögern in der Bewegung. Kein Blick zurück zum Haus. Sie suchte den sonnigsten Fleck. Und fand ihn. Dann breitete sie das Handtuch aus – mit einer Geste, die beiläufig war und doch theatralisch. Wie jemand, der ein Land betritt, das ihm nicht gehört, und eine Fahne hineinrammt, es in Besitz nimmt.
Ich spürte, wie mein Mund trocken wurde.
Sie legte sich hin. Lang ausgestreckt. Das Gesicht zur Sonne, der Körper schmal, fast kindlich – und doch etwas anderes. Etwas, das sich meiner Sprache entzog.
Ich wollte wegsehen. Wirklich. Ich versuchte es. Aber meine Augen gehorchten mir nicht. Stattdessen verlor ich mich in Details: der Winkel ihrer Knie. Die Wölbung ihres Bauchs, wenn sie ausatmete. Der dunkle Stoff, der sich über ihrem Körper spannte, wenn sie sich regte. Die glänzende Haut unter dem Sonnenöl.
Ich fragte mich, ob sie wusste, dass ich hier stand. Dass ich sie sah. Und zugleich war es mir längst klar.
Sie wusste es.
Ich hatte dieses Wissen in der Art erkannt, wie sie das Handtuch gelegt hatte. In der Geste ihres Arms, als sie das Haar aus dem Gesicht strich. In der fast zu ruhigen Bewegung ihres Beckens. Das war kein Sonnenbad. Das war eine Botschaft.
Und ich war der Empfänger.
Ich schloss kurz die Augen. Hörte im Kopfhörer jemanden von „Quarterly Results“ sprechen. Irgendein KPI-Delta, das niemand fühlte. Ich war weit entfernt. Weg. Rutschte in eine andere Wirklichkeit, die direkt vor mir lag.
Ich dachte an Anne. An unsere letzte Berührung. Ich wusste nicht mehr, wann sie war. Vielleicht ein flüchtiger Kuss beim Vorbeigehen. Vielleicht ein Griff an die Schulter, aus Gewohnheit. Nicht aus Nähe.
Ich dachte an unsere Kinder. Wie sie früher im Garten gespielt hatten. Wie ich ihnen beim Toben zugesehen hatte, während ich am Schreibtisch saß. Damals war der Blick aus dem Fenster eine Ablenkung gewesen. Heute war er ein Riss.
Ich öffnete die Augen. Sie lag noch immer da. Hatte die Position kaum verändert. Und doch war alles anders.
Die Ehe mit Anne war keine Katastrophe. Nicht einmal ein Drama. Es war schlimmer – sie war funktional. Eine Art Übereinkunft, in der Nähe nur noch eine Formalie war. Wir lebten nebeneinander wie zwei Linien, die sich nie kreuzen, aber denselben Weg gehen. Es gab keine Wut, keine Eifersucht, keine Affären. Nur Müdigkeit. Stille. Und Routinen, die sich wie Schutzschichten zwischen uns gelegt hatten.
Anne war klug. Bodenständig. Präzise. Sie arbeitete wieder seit ein paar Jahren, donnerstags in einer Kanzlei, kam abends nach Hause, kochte Essen, als wäre über all die Jahre nichts geschehen. Und vielleicht war es das auch nicht. Nichts geschehen. Seit Jahren.
Ich erinnerte mich nicht mehr an ihre Berührungen. Nur an ihre Stimme, wenn sie mich daran erinnerte, dass wir noch Müll rausbringen mussten, oder dass der Brief vom Finanzamt gekommen war.
Und doch schliefen wir im selben Bett. Rücken an Rücken. Wie zwei Inseln im selben Ozean.
Ich wandte den Blick wieder in den Nachbarsgarten.
Lilou bewegte sich kaum. Nur ein Hauch, eine Verlagerung des Gewichts, die das Licht auf ihrer Haut anders reflektierte. Sie schien völlig bei sich zu sein – und zugleich vollkommen ausgestellt.
Ich fragte mich, was sie dachte. Ob sie wusste, dass sie beobachtet wurde, was sie in ihrem Bobachter beweirkte. Oder ob sie einfach nur da lag, aus Trotz, aus Überdruss, aus Lust am Sommer.
Ich konnte es nicht sagen. Aber ich fühlte, dass es etwas mit mir machte. Etwas, das ich lange nicht mehr gespürt hatte.
Ich ging zurück in mein Arbeitszimmer, setzte mich auf meinen Stuhl, lehnte mich zurück, schloss die Augen. Doch das Bild blieb. Ihre Umrisse, ihr Schatten auf dem Rasen, der leichte Glanz auf ihrer Haut.