Das Tabu - Nicole Schumacher - E-Book

Das Tabu E-Book

Nicole Schumacher

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Beschreibung

Für den 21-jährigen Journalistenpraktikanten Dominik Novak läuft alles rund: Er hat einen Klasse-Job bei einer Lokalzeitung, gute Kumpel und Erfolg bei Frauen. Sein unbeschwertes Leben wird schlagartig beendet, als er das Opfer eines unerkannten, sadistischen Psychopathen wird, der ihn während Stunden foltert und vergewaltigt. Schwer traumatisiert und aus Angst, als männliches Sexualopfer nicht ernst genommen zu werden, verdrängt Dominik die grauenvollen Geschehnisse. Als einige Zeit später die Leiche eines jungen Mannes auftaucht und Dominik als Reporter an den Tatort geschickt wird, erkennt er mit Entsetzen nicht nur die Handschrift seines Peinigers, sondern auch, dass dieser Verbrecher weitaus persönlichere Ziele verfolgt, als Dominik angenommen hatte ...

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Das Tabu

Die Handlung

Für den 21-jährigen Journalistenpraktikanten Dominik Novak läuft alles rund: Er hat einen Klasse-Job bei einer Lokalzeitung, gute Kumpel und Erfolg bei Frauen. Sein unbeschwertes Leben wird schlagartig beendet, als er das Opfer eines unerkannten, sadistischen Psychopathen wird, der ihn während Stunden foltert und vergewaltigt. Schwer traumatisiert und aus Angst, als männliches Sexualopfer nicht ernst genommen zu werden, verdrängt Dominik die grauenvollen Geschehnisse. Als einige Zeit später die Leiche eines jungen Mannes auftaucht und Dominik als Reporter an den Tatort geschickt wird, erkennt er mit Entsetzen nicht nur die Handschrift seines Peinigers, sondern auch, dass dieser Verbrecher weitaus persönlichere Ziele verfolgt, als Dominik angenommen hatte …

Die Autorin

Nicole Schumacher, 1973 in Zürich geboren, ist Familienmanagerin, Kaffeejunkie und Sushifan – liebt Waldspaziergänge, schwarzen Humor und Psychothriller.

Die im Zürcher Oberland wohnhafte gelernte Augenoptikerin geht mit großem Gespür für Feinheiten und einem Blick für Details durchs Leben.

Die Begeisterung für Spannungsromane mit psychologischem Tiefgang entwickelte sie als fleißiger Bücherwurm.

Ihr Erstlingswerk besticht durch attraktive Perspektivenwechsel, menschliche Abgründe und einem ungewohnten Opferprofil. Umrahmt wird dies von einer zünftigen Portion Lokalkolorit.

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Dieses Buch ist ein Roman.

Die Handlung sowie sämtliche Geschehnisse an fiktiven und real existierenden Orten sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Nicole Schumacher

Das Tabu

Psychothriller

10. März 2019

Copyright © Nicole Schumacher

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch auszugs-

weise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Titelbild und Umschlaggestaltung: Rolf Schumacher

Druck epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für meinen Vater

1

Freitag, 12. Oktober 2007 – Früher Morgen

Das RUMMS wurde lautstark übertönt von dem zeitgleichen KLIRR, als die Sporttasche wie ein Sandsack auf den maroden Holzboden klatschte.

Er rieb sich die Schulter, nachdem sich der Tragegurt trotz des Schaumstoffpolsters unangenehm in seine Schlüsselbeinregion gegraben hatte. Ein prüfender Blick in den abgedunkelten Raum, während er die Achseln kreiste, bestätigte ihm aufs Neue:

Es war einfach perfekt!

Vor ihm thronten vier Stützbalken aus massivem Eichenholz, welche wohl wurmstichig, aber keineswegs morsch waren. Senkrecht angeordnet bildeten sie die Eckpositionen einer schätzungsweise zwölf Quadratmeter großen Fläche –

der Bühne.

Zu seiner Rechten befand sich das rund fünfzig mal fünfzig Zentimeter kleine Fenster, bedeckt von dem Vorhang aus dunkelblauem Jutestoff. In der hinteren linken Ecke lag die im Boden eingelassene Falltüre, welche den Zugang zu einem mickrigen, aber durchaus zweckdienlichen Stauraum ermöglichte.

Wie gesagt – perfekt!

Er zog den Jutevorhang des Mini-Fensters zur Seite und ein schmaler Lichtkegel beleuchtete wie ein blasser Scheinwerfer exakt die Mitte seiner Bühne.

Der Inhalt fiel in sich zusammen, klirrte erneut und bauchte den stoffbezogenen Kunststoffboden aus, als er die schwarze Sporttasche anhob und unter die magere Lichtquelle wuchtete. Er ging in die Hocke und öffnete den Reißverschluss.

Alles dabei.

Neu und blank. Bläulich schimmernd, schwer, massiv und von höchster Qualität.

Kein Baumarktschrott.

Er hatte sie allesamt in einem renommierten Eisenwarengeschäft in einem Nachbarort gekauft und bar bezahlt, versteht sich. Die Quittung weggeworfen.

Er hob das schwere, dicke Stahlrohr hoch, betrachtete es eingehend und fuhr sanft mit dem Zeigefinger über die sauber abgespanten Enden. Keine scharfen Kanten, höchst professionell verarbeitet.

Zufrieden nickte er. Solche Details waren enorm wichtig, schließlich wollte er hier drin keine Sauerei.

Er überprüfte jedes Teil:

Mehrere Metallrohre aus Stahl und Aluminium in verschiedenen Längen, mit den unterschiedlichsten Durchmessern, einen stählernen Flachmeißel mit abgerundetem Handgriff, etliche Rohr- und Ringschlüssel sowie Kombinationswerkzeuge aus Ring- und Maulschlüsseln.

Fazit der akribischen Kontrolle: Einwandfrei und einsatzbereit.

Die anthrazitfarbene Brechstange, welche länger als sein Arm war, legte er zur Seite. Die würde er wieder mitnehmen, während seine anderen Requisiten hier blieben.

Seine Requisiten … Und dazu gehörten sie, seine besonderen Lieblinge:

Feierlich umfasste er den gestromten Hirschhorngriff und zog es aus der rindsledernen Scheide. Das wunderschöne Utensil, welches er als Zwölfjähriger von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte, kurz bevor dieser wegen des Leberkarzinoms das Zeitliche segnete.

SeinJagdmesser mit der zwölf Zentimeter langen, feststehenden Stahlklinge.

Er kniff die Augen zusammen und studierte deren Reflexion, während er das Messer langsam drehte. Dann schob er es behutsam zurück in das edle Etui.

Er kramte in der Tasche, bis er das mattschwarze, papierne Päckchen in der Hand hielt. – Dessen Inhalt: Die ebenholzfarbene, mit kunstvollen Stickereien verzierte Riemenpeitsche. Eine, die etwas taugt! Nicht so ein Streichelding.

Vor längerer Zeit hatte er sie entdeckt, hinter der abgedunkelten Scheibe eines gut versteckten, kleinen BDSM-Shops, irgendwo in dem Kiez um die Potsdamer Straße in Berlin. Das war Liebe auf den ersten Blick gewesen und er musste sie einfach haben.

Doch obschon sie sich nicht erst seit gestern in seinem Besitz befand, lag sie unbenutzt im Dornröschenschlaf, in dem schwarzen Seidenpapier, in welches sie die Transe in dem Laden damals eingewickelt hatte.

Bis heute …

Sorgsam entfaltete er das zarte Papier und berührte mit den Fingerspitzen das feinporige Leder … Samtig weich und schimmernd, mit handgestickten, weißen Ornamenten verziert. Die Schöne und das Biest – in einem Stück vereint.

Er nahm sie in die Hand und ließ sie einmal mit voller Wucht heruntersausen. Sie durchschnitt die staubige Luft mit einem lauten Knall.

Wunderschön! Herrlich!

Er schloss die Augen und ließ diesen Augenblick auf sich wirken.

Erregung, Vorfreude, Nervosität …

Es war ein bisschen so wie damals, an jenem sonnigen Nachmittag, als er sich bewusst geworden war, dass er nun seine Unschuld verlieren würde. Als sie zu zweit im Teenageralter aneinander rumgefummelt hatten, in seinem noch kindlich eingerichteten, verdunkelten Zimmer und es dann zur Sache ging.

Die Umsetzung seiner heutigen Fantasie in eine reelle Inszenierung hatte er hunderte, wenn nicht schon tausende Male durchgespielt – gedanklich. In der Realität war er diesbezüglich noch ein blutiger Anfänger.

Aber er war gut organisiert, hatte alles durchdacht, alles genauestens geplant.

Er öffnete die ächzende Falltüre, hob mit Schwung die schwere Tasche hoch, nachdem er alles wieder fein säuberlich darin verstaut hatte und trug sie hinunter, während sie im Takt seiner Schritte ein Liedchen, ein kling … klang … klong … angestimmt hatte.

Mit einem Lächeln trat er ins Freie, montierte das Vorhängeschloss an den rostigen Türriegel, drehte den Schlüssel und steckte ihn in seine Gesäßtasche.

Die Rollen waren verteilt, die Requisiten bereit, die Bühne frei.

Er würde zur rechten Zeit am rechten Ort sein …

Vorhang auf für die Show meines Lebens!

Vorhang auf, für mein wahres Ich …

2

»Wow, das ist sie! Die Story des Jahrhunderts!«

Dominik tippte begeistert in die Tastatur seines Computers und pustete eine Strähne seiner dunkelblonden Haare von dem linken Auge weg.

»Der Hammer! Diese Reportage hätte es echt verdient auf der Titelseite zu erscheinen!« Grinsend schielte er an dem Bildschirm auf die gegenüberliegende Seite seines Arbeitsplatzes vorbei. »Psst … Jens … Alter, hör mal.«

»Was?« Die gelangweilte Antwort kam einige Sekunden später, ohne dass sich etwas hinter dem Monitor vis-à-vis rührte.

»Willst du etwas über eine der interessantesten Persönlichkeiten von Altdorf erfahren, über die ich heute schreibe?« Dominik schien vor Stolz zu glühen.

»Nö.«

Dominik verzog das Gesicht, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und wippte auf dem Bürostuhl herum. Verschmitzt lächelnd blickte er zur Decke und fuhr mit einem Singsang fort: »Dann lass es halt sein … du Mumbfl. Passd scho!«

Das funktionierte immer …

Jens schob seinen Kopf neben den Bildschirm und sah Dominik mit einer gehobenen Augenbraue an. Filmreif fuhr er durch die schwarzen Strubbelhaare und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Rede gefälligst deutsch mit mir, du Eingeborener. Diese fränkischen Grunzlaute versteht ja kein normaler Mensch.«

»Wie du willst, du maulfauler Stinkstiefel – jetzt verstanden?«

Jens kniff die Augen zusammen, während er etwas in den Händen bearbeitete. »Ey Mann, du bist so was von tot!«

Er holte aus und schmiss einen zusammengeknüllten Papierball, der Dominik zwischen den Augen traf.

»Yeah!!«

»Aua, du Lackl! Warte du …« Blitzschnell hatte Dominik ebenfalls ein Wurfgeschoss zurechtgezimmert, welches er nun mit voller Wucht zurück schmetterte.

Jens zog rasch den Kopf hinter den Bildschirm, der Ball flog an ihm vorbei und pfefferte einen vollen Kaffeebecher von Simones Tisch. Sie hatte ihren Arbeitsplatz auf der anderen Seite des Großraumbüros und fuhr quietschend wie eine Maus von ihrem Stuhl hoch, als sich die heiße Brühe beinahe über ihre hellblaue Jeans ergoss.

»Was für ein Depp …?«, rief sie hinüber. Wohlwissend woher der Ball geflogen gekommen war.

»Uups … Entschuldige, Simone!« Dominik eilte los und schnappte sich die Kleenex-Schachtel von Hagens Schreibtisch, welcher ihm deswegen einen vernichtenden Blick zuwarf.

Er kniete sich nieder und begann, die braune Pfütze vor Simones Füßen aufzuwischen. Die dünnen Papiertücher knüllten sich murmelgroß zusammen, kaum dass sie mit der beachtlichen Menge Flüssigkeit in Kontakt getreten waren.

»Da hab ich was viel Besseres für dich, Kleiner.«

Dominik schielte nach oben und sah Jens vor sich, der sich lässig an Simones Schreibtisch anlehnte. Er hielt ihm einen Putzlappen entgegen, welchen er am äußersten Zipfel mit zwei Fingern festhielt. Elegant übergab er ihn Dominik, der ihn mit seinen grünen Augen anblitzte.

Mit einer schnellen Bewegung war er mit Wischen fertig und stellte den leeren Becher wieder auf den Tisch. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und pustete die Haarsträhne weg.

So sehr er sich auch reckte, reichte er Jens gerade mal bis über die Nasenspitze, obwohl dieser immer noch an der Tischplatte angelehnt war. Herausfordernd sahen sie sich in die Augen und begannen, stetig breiter zu grinsen.

»Alter, das gibt Saures«, flüsterte Dominik und presste Jens den Putzlappen mitten ins Gesicht.

»Igitt … du Ferkel!«

»Wagner, Novak!« Die Stimme von Eduard König hallte durch das Büro. »Haben Sie nichts zu tun?«

Augenblicklich standen beide stramm.

»Äh doch, natürlich«, antworteten sie gleichzeitig.

König schritt quer durch den sonnengefluteten Raum, an leeren und besetzten Arbeitsplätzen und mehreren Yucca-Palmen vorbei und musterte die beiden Kindsköpfe mit seinen eisblauen Augen.

König war ein stattlicher Mann Ende fünfzig und der Chefredaktor der Zeitung der Kurier,einem Regionalblatt der Stadt Altdorf bei Nürnberg.

Für das regionale Ressort der Zeitung arbeiteten zur Zeit zwölf Journalisten, darunter zwei Praktikanten – und die knöpfte sich König gerade vor.

Er blickte Jens über den Rand seiner Lesebrille durchdrigend in die Augen. »Herr Wagner, von Ihnen erwarte ich noch den Bericht über die Sanierung des Abwassersystems.«

Jens nickte rasch. »Er ist sozusagen fertig, Herr König.«

»Nun gut.« Er wandte sich an Dominik. »Und Sie Herr Novak? Wie weit sind Sie mit der Kaninchenreportage?«

»Ich arbeite am Layout, wird nicht mehr lange dauern.«

Dominik vernahm ein prustendes Geräusch von Jens und boxte ihn unauffällig, aber deftig, in den Oberschenkel.

»Na dann los, meine Herren.«

König ließ seinen Blick über alle Anwesenden im näheren Umkreis von Simones Arbeitsplatz schweifen, verließ dann gemäßigten Schrittes das Großraumbüro und verschwand in seinem privaten Büro neben dem Eingang.

»Ach, das Karnickel hast du vorher gemeint?!« Jens grinste.

Dominik verschränkte die Arme und reckte sein Kinn.

»Nicht einfach das Karnickel, sondern DAS Karnickel!«

Theatralisch hob er die Arme und deutete mit den Händen eine Wahnsinns-Schlagzeile an:

»Brutus gewinnt Altdorfer Kaninchen-Schönheitswettbewerb! So lautet der Titel!« Er hob den Finger. »Untertitel: Die grössten Ohren der Region gehören Brutus, einem Pfundskerl von einem Riesenschecken!«

»Ha, so ein Käse!« Jens lachte. »Da bin ich ja direkt froh, dass ich mich heute mit der Kanalisation herumärgern musste.«

»Hmm … bist du selber eigentlich auch dort unten gewesen?« Dominik neigte sich nach vorne und schnüffelte mit nachdenklicher Miene an Jens' Sweatshirt.

»Weg von mir, du Ekelzwerg.« Jens schubste Dominik zur Seite, verschränkte die Finger und ließ die Knöchel knacken. »Es gibt Leute, die noch zu arbeiten haben.«

Mit einem verächtlichen Blick wandte er sich ab und zwinkerte beim Weggehen der rotblonden Tina zu, welche Simone gegenüber saß und ihnen die ganze Zeit amüsiert zugehört hatte. Keck zwinkerte sie zurück.

»Ich komme gleich wieder«, sagte Dominik zu Simone, sprintete quer durch die Redaktion in die Kaffeeecke, um kurz darauf mit einem neuen, dampfenden Becher zurückzukehren.

Mit einem charmanten Lächeln in seinem jungenhaften Gesicht stellte er ihr den Becher hin. »Bitte sehr Madame! Verzeihen Sie meine Ungeschicklichkeit.« Er nahm ihre Hand und küsste sie.

»Danke mein Süßer!«, sagte sie scherzhaft und tätschelte ihm die Wange.

»Gern geschehen. Die da nehme ich dafür wieder mit, bevor es ein Donnerwetter gibt.« Er hob die Kleenex-Schachtel hoch und warf Simone einen vielsagenden Blick zu, den sie mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte.

»Allmächd! Tu das, bevor er dich lyncht.«

Dominik ging zu Hagen Wolfs Arbeitsplatz und stellte ihm die Schachtel wieder hin.

»Danke, dass du mir die ausgeliehen hast.«

Hagen blickte mürrisch von seiner Tastatur auf, schnappte ein Tüchlein und tupfte sich Schweißperlen von der Stirn. Danach nahm er seine Brille von der knolligen Nase und putzte die Gläser mit dem selben Tuch, wodurch sie noch schmieriger wurden, als sie es ohnehin schon gewesen waren. Er setzte die Brille wieder auf und betrachtete Dominik finster durch die trüben Linsen. »Kann mich nicht erinnern, dass du überhaupt gefragt hast.«

»Stimmt. Hab ich nicht. Danke trotzdem.« Dominik wandte sich um und verdrehte die Augen, als er Jens' amüsierten Blick registrierte.

»Der Typ ist schon oberschräg«, raunte er Jens zu, während er sich wieder setzte.

»Allerdings. Ist aber auch irgendwie ein armes Schwein, findest du nicht?«, flüsterte Jens und tippte gleichzeitig auf seiner Tastatur, damit ihr Getuschel nicht auffiel.

»Hm, schon … Er hatte sich seine Karriere als Journalist wohl etwas anders vorgestellt, hab ich gehört.«

Jens nickte. »Wollte hoch hinaus, ist aber nie vom Kurier weggekommen, weil er wohl etwas sehr talentfrei ist. Jetzt verdanken wir ihm unter anderem doch diese originelle wöchentliche Kolumne.«

Dominik musste sich ein Lachen verkneifen und bemerkte im Augenwinkel einen spitzen Seitenblick von Hagen. »Achtung: Feind hört mit.« Er zog die Schultern hoch und wandte sich seiner Arbeit zu.

Sie arbeiteten eine Zeit lang konzentriert und gewissenhaft, ohne sich ablenken zu lassen oder herumzualbern.

Dominik und Jens kannten sich seit rund einem halben Jahr, als sie zeitgleich ihre Praktikumstelle beim Kurier angetreten hatten.

Jens war dafür extra von Magdeburg nach Altdorf gezogen. Der Kurier hatte zuvor zwei interessante Stellen für Praktikanten ausgeschrieben, bei welchen selbständiges Recherchieren und Schreiben für den Lokalteil erwünscht war und da wollte er zugreifen.

Dominik war hier geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur war er für zwei Jahre nach Bochum gezogen, um an jener Universität das Grundstudium in Journalismus zu absolvieren.

Als er von den freien Praktikumstellen in seiner Heimatstadt erfahren hatte, war er Feuer und Flamme gewesen und entschloss sich, der Schulbank vorübergehend die kalte Schulter zu zeigen, sich etwas Praxis anzueignen und in seine Heimatstadt zurückzukehren.

»Na Jungs? So geht's eben, wenn man nur herumblödelt.«

Simone stand vor ihnen mit verschränkten Armen und lächelte weise. Sie war eine Frohnatur, mit einer pfiffigen weißblonden Kurzhaarfrisur. Sie war schon lange beim Kurier als Reporterin tätig und die gute Seele der Redaktion.

»Stimmt. Wir haben bereits Feierabend!«, sagte Tina forsch. Sie war soeben neben Simone erschienen und warf ihre wallende Haarpracht zurück.

Dominik bemerkte Jens' schmachtenden Blick und schmunzelte. »Wir sind auch gleich fertig«, sagte er.

»Wohin geht ihr nachher?«, fragte Tina und kringelte eine Locke um ihren Finger.

»Ins Black Island, kommt ihr mit?«, fragte Jens und strahlte.

Sie druckste herum. »Trefft ihr dort eure Clique?«

»Kumpels!«, fiel Jens ihr ins Wort.

»Kein verschworener Verein in dem Frauen unerwünscht sind, Tina.« Dominik zwinkerte ihr zu und nickte zu Jens hinüber.

»Ein andermal, ja?«, sagte sie.

»Okay.« Jens wirkte enttäuscht. »Und du Simone?«

»Ernsthaft jetzt? Ich könnte ja eure Mami sein!«

»Ach was!«, sagten Dominik und Jens unisono.

Simone lachte. »Wie alt seid ihr zwei schon wieder? Einundzwanzig?«

Sie nickten stolz.

Nachdenklich blickte sie schräg nach oben. »Okay, ich wäre eine Teenie-Mami gewesen, aber trotzdem!« Sie kicherte. »Danke fürs Angebot.«

Jens verschränkte beleidigt die Arme, aber sein Gesichtsausdruck verriet, dass er es nicht so ernst meinte. »Ihr habt noch Zeit bis im März, um mal so richtig mit uns abzufeiern, dann sind wir leider wieder weg.«

Dominik nickte mit vorgeschobener Unterlippe. »Stimmt! Ich mache mein Studium fertig und der hier …« Er sah fragend zu Jens, obwohl er genau wusste, wie dessen Pläne aussahen. Sie waren nämlich die dicksten Freunde, seit sie sich vor sechs Monaten kennengelernt hatten.

»Ich gehe nach Südengland, beginne mein Volontariat bei My Journey – dem Reisemagazin«, sagte Jens.

»Hoppla!« Simone nickte anerkennend.

Dominik hatte den Eindruck, einen Hauch von Enttäuschung in Tina aufblitzen gesehen zu haben. In diesem Moment vibrierte sein Handy in der Gesäßtasche und er hüpfte deswegen in die Höhe. Er blickte aufs Display und lächelte verklärt, nachdem er eine kurze Nachricht getippt hatte und das Handy wieder in der Hosentasche verschwinden ließ.

Simone grinste. »Ja, ja … du bist mir ein schöner Schlawiner.«

»Was?« Dominik strahlte wie ein Maikäfer.

»Schon gut, du Schlingel! – Also ihr Buben, genießt euer Wochenende und tut nicht allzu wild! Servus!« Sie wandte sich an Tina. »Kommst du auch gleich mit runter?«

Tina nickte rasch und zog sich die Jacke an. »Tschüss!«, rief sie beim Hinausgehen und blickte nochmals kurz zu Jens.

Dieser saß muffig da und wippte mit geschürzten Lippen auf seinem Bürostuhl. Dominik klopfte ihm auf die Schulter. »Hey Alter, hab Geduld. Sie steht auf dich, ganz klar!«

Jens wollte eben antworten, als das Handy erneut in Dominiks Hosentasche vibrierte und er es sofort hervorzog.

Jens stöhnte. »Schon wieder dein Date von heute Abend?«

»Nein, meine Schwester. Sie wünscht mir Glück für mein Rendezvous … Hat sie eigentlich gestern Abend schon.« Er schrieb zurück und verstaute das Handy wieder, derweil er etwas genervt wirkte.

»Geht sie dir auf den Wecker, dein Schwesterherz?«

Dominik setzte sich und blickte auf den Bildschirm, während er mit der Maus herumhantierte. »Nein, das nicht gerade. Anna ist wirklich die Beste. Aber sie bemuttert mich immer. Sie ist fünfzehn gewesen und ich erst fünf, als unsere Eltern gestorben sind. Daran wird's liegen.«

»Scharfsinnige Schlussfolgerung.« Jens schmunzelte.

»Logische Schlussfolgerung. Unsere Großmutter hat uns nach dem Unfall aufgezogen.« Dominik lachte. »Kannst' dir ja vorstellen, was für ein überbehütetes Kind ich gewesen bin. Umsorgt von einer herzensguten Oma und einer zehn Jahre älteren Schwester, brrrr …«

»Ja, ja, die großen Schwestern … Habe auch eine von der Sorte.« Jens rollte zurück zu seinem PC. »Deine ist wenigstens verheiratet, meine vergrault die Kerle reihenweise.«

»Ja, zum Glück hat sie Marius seit sieben Jahren. Sonst würde sie mich wahrscheinlich noch mehr betüdeln. Er ist mein Verbündeter, wenn sie es mal wieder übertreibt.«

»Die Polizei – dein Freund und Helfer, sozusagen?!«

»Yep! Genau!«

»Könnt ihr zwei mal die Fresse halten, verflucht nochmal?«

Hagen funkelte sie an. »Hört auf zu labern, ihr Waschweiber. Das macht mich noch ganz narrisch!«

Gelangweilt blickten beide zu ihm hinüber. »Reg dich ab Hagen, wir sind ja gleich weg«, sagte Dominik und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.

Hagen stand auf und schlurfte in ihre Richtung, ohne Dominik aus den Augen zu lassen.

Jens erhob sich langsam aus dem Stuhl und verschränkte die Arme.

Hagens Kopf fuhr herum. Abschätzig verzog er seinen Mund. »Spielst den Wachhund für den Pisser oder was?«

Er trat bis auf einen halben Meter vor Jens und reckte sich, um auf ihn hinunterblicken zu können. Obwohl Jens ziemlich groß war, überragte Hagen ihn um fast zehn Zentimeter. Jens kniff seine dunkelbraunen Augen zusammen und musterte Hagens unattraktive Visage.

Dominik hatte erst jetzt mitbekommen, dass die zwei im Begriff waren, sich ein Duell zu liefern. Er rollte mit dem Stuhl etwas zurück und raunzte: »Was ist dein Problem? Ist dir langweilig?«

Hagen wandte sich um und kam mit rotem Gesicht zwei Schritte näher.

»Uuuu … jetzt krieg ich aber Angst, Hagen.« Dominik legte den Kopf schief und lächelte frech.

»Ihr Scheißpraktikanten! Ist immer das Gleiche mit euch Saubande, alle Jahre wieder!« Er sah von Dominik zu Jens und wieder zurück.

Die zwei starrten ihn kühn an.

Hagen kehrte zurück an seinen Platz, während er sich halblaut einiger fränkischer Schimpfwörter bediente, die Jens nicht verstand und Dominik lediglich ein müdes Lächeln abringen konnten.

»Was hat er gesagt?«, flüsterte Jens.

»Nicht der Rede wert«, antwortete Dominik und pustete die Haarsträhne aus der Stirn. »Geben wir Gas, damit wir endlich abhauen können.«

3

»Feierabend!«, rief Jens eine Stunde später in das gähnend leere Büro, nachdem er und Dominik ihre Artikel fertig verfasst und von König hatten absegnen lassen. »Falls das irgend ein Schwein interessiert!«

»Hallo Echo!«, grölte Dominik, lachte und schubste Jens Richtung Ausgang. »Raus hier, Mann! Ich verdurste!«

Sie verließen die Redaktion, welche sich in einem modernen Geschäftsgebäude außerhalb der historischen Altstadt Altdorfs befand.

Die zahlreichen Fachwerkbauten und Sandsteingebäude der Altstadt umgaben ringförmig den gedehnten Marktplatz, welcher an seinem oberen und unteren Ende mit imposanten, passierbaren Wehrtürmen, einem Überbleibsel der einstigen Stadtmauer, abgeschlossen wurde.

Das Black Island, die Stammkneipe der beiden,lag am Rande der Altstadt und konnte bequem zu Fuß von der Redaktion aus erreicht werden.

Nach kurzer Zeit betraten sie das englische Pub, welches in dunklen Tönen gehalten und mit holzvertäferten Wänden und trüben Fensterscheiben ausstaffiert war. Einige Sofas und Sitzgruppen ergänzten die Einrichtung, die aus massiven, dunkelbraunen Holztischen und Stühlen bestand. An der Wand gegenüber der Eingangstür befand sich eine lange Theke aus dunklem Holz, deren Barhocker zur Zeit alle besetzt waren.

Laute Musik erklang, durchmischt mit Stimmengewirr, dem Klackern von Billardkugeln und der Jubelschreie drei junger Männer, welche sich beim Dartspielen vergnügten.

Dominik und Jens tauschten einen amüsierten Blick und bahnten sich den Weg durch die Menschenmenge zu der johlenden Gruppe bei der Dartscheibe.

»Hey Jungs, was geht?!«

Die Begrüßung mit ihren Kumpels – Till, Yannick und Claus – verlief in einer rituellen Weise, mit laut klatschendem Sportlerhandschlag, Schulterboxen und Handgriff in den Nacken reihum, als hätten sich die fünf schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.

Lukas, der die dreißig schon vor einigen Jahren passiert hatte, saß auf einem Barhocker und wartete die Zeremonie geduldig ab, bevor er Dominik und Jens zivilisiert die Hand schüttelte. Lukas war Dominiks Nachbar und wohnte ein Stockwerk unter ihm.

»Wer gewinnt?«, fragte Dominik.

Claus reckte sich. »Ich natürlich, was für eine Frage. Habe noch 31 Punkte!«

Hohen Hauptes ging er zur Linie vor der Scheibe und stellte sich in Position, mit einem Dartpfeil zwischen den Fingern. Dann warf er. Er traf erst die 20 und beim zweiten Wurf das Double-Feld der 4.

Er schielte über seine Schulter und sagte trocken: »Hör auf mir auf den Arsch zu glotzen, Lukas! Das lenkt mich von meinem Siegestreffer ab.«

»Kann mich gerade noch so beherrschen.« Lukas prostete ihm zu. Alle lachten. Claus grinste.

»So meine Herren … Seht zu und lernt!« Er konzentrierte sich, kniff seine blassblauen Augen zusammen, warf und traf die 3. »Yeah!« Er warf sich in Pose.

»Tu nicht so angeberisch«, murrte Yannick und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.

»Ehre, wem Ehre gebührt, Herr Metzgermeister. Wer reihenweise unschuldige Kälber abmurkst, dem fehlt womöglich ein gewisses Fingerspitzengefühl für die hohe Kunst des Darts.«

»Gleich murks ich dich ab.« Yannick verzog seinen Mund zu einem grotesk breiten Lächeln und krempelte dabei feierlich die Ärmel seines rotschwarzen Holzfällerhemdes über die haarigen Unterarme nach oben.

»Wage es ja nicht …!« Claus hob den Zeigefinger. Doch bevor er zu Ende reden konnte, hatte ihn Yannick mal so ganz nebenbei in den Schwitzkasten genommen, ließ ihn zappeln und erntete damit bei den anderen schallendes Gelächter.

Till und Jens schlugen laut klatschend die Hände in der Luft zusammen. Dominik stieg neben Lukas auf den Barhocker, hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief: »Aber nicht komplett abmurksen, Yannick! Wir brauchen ihn vielleicht noch!«

Till gluckste laut vor Vergnügen, während sein sommersprossiges Gesicht immense Schadenfreude verriet.

Yannick ließ unvermittelt los, Claus strauchelte zwei Schritte weiter und hüstelte ein leises »Neandertaler«. Dann zupfte er sein schneeweißes Hemd zurecht. Er war in Anzug und Krawatte, direkt nach seiner Arbeit auf der Bank, ins Pub gekommen.

Belustigt nahm Lukas den letzten Schluck seines Feierabend-Biers.

Lukas war Apotheker und führte die Filiale einer pharmazeutischen Kette in der Altstadt. Er wurde dem klischeehaften Bild eines verschrobenen Apothekers aber kaum gerecht, mit seinem attraktiven, gepflegten Erscheinungsbild, welches er unter anderem konsequenter Fitnesscenter- und Frisörbesuche zu verdanken hatte.

Nach einem kurzen Blick auf seinen Chronometer am Handgelenk rief er: »Noch ein Bier? Ich zahl noch eine Runde, bevor ich mich verabschiede.«

»Aber immer, danke Mann! Wir gehen da rüber.« Till deutete auf einen freien Tisch in der Ecke und Lukas nickte.

»Ich helfe dir tragen«, sagte Dominik und schlängelte sich zwischen den Leuten hindurch hinter Lukas her.

Lukas gab an der Theke die Bestellung auf, danach mussten sie warten.

»Das eben war mir etwas unangenehm«, sagte Lukas kaum hörbar in dem Lärmsumpf aus Musik, schwatzenden Stimmen und dem Klirren von Gläsern.

»Was denn?«

»Na, so ein Spruch, wie der von Claus eben.«

»Ach was, kennst ihn ja. Der lässt doch gar nichts aus.«

Lukas rieb sich das Kinn. »So meine ich das nicht. Dass man mich damit aufzieht, dass ich schwul bin, macht mir eigentlich nichts aus.«

»Wo liegt dann das Problem?«

Lukas musterte Dominik skeptisch, dann huschte ein unsicheres Lächeln über sein Gesicht. »Diese … ähm, peinliche Geschichte damals … Hast du ihnen mal davon erzählt? Nimmt Claus mich deswegen immer mal wieder hoch?«

Dominik sah ihn erst verdutzt an, dann begriff er und grinste. »Ach du meinst diese uralte Kamelle, nachdem ich über dir eingezogen bin?«

Lukas nickte.

Dominik lachte herzlich. »Nein Mann, da kann ich dich beruhigen. Nichts gegen dich, aber ich gehe nicht damit hausieren, dass ich von einem Kerl angebaggert worden bin, glaub mir.«

Lukas verzog das Gesicht. »Na also, angebaggert ist ja wohl etwas übertrieben!« Er schmunzelte. »Ich würde das eher als eine unverbindliche Einladung ohne Absichten betiteln.«

»Oho ja, genau!« Dominik beugte sich grinsend über den Tresen. »Und wir kriegen hier gleich sechs Kamillentees ausgeschenkt! – Du hast mich angebaggert mein Freund, volle Kanne!«

»Na schön. Im Rahmen einer geistigen Umnachtung!«

»Hey, zerstör nicht meine Illusion!«

Lukas lachte und Dominik hielt ihm die Hand entgegen. »Nein Mann, ernsthaft jetzt: Alles kein Problem! Topsecret und Kumpels bis in alle Ewigkeit! Passd scho!«

Lukas schlug ein, sichtlich erleichtert.

Die sechs Bier standen mittlerweile bereit. Sie balancierten mit jeweils drei der überschäumenden Gläser quer durch das Pub, stießen da und dort an eine Schulter, erreichten den Tisch in der Ecke aber doch noch heil und trocken.

Die vier anderen quittierten ihr Eintreffen mit dem flüssigen Nachschub mit einem fröhlichen Gejohle.

»Wie läuft das Geschäft, Lukas?«, fragte Jens, nachdem sie sich lautstark zugeprostet hatten.

»Gut! Die Schnupfen- und Grippesaison hat begonnen, da läuft der Laden wie verrückt.«

»Du berechnender Mistkerl!«

»Dacht ich's doch!« Till kniff die Augen zusammen. »Ich hab schon lange das Gefühl, dass du eigentlich so ein durchgeknallter Apotheker bist, der ein geheimes Labor im Keller führt und irgendwelche Superviren züchtet, um sie dann auf die Bevölkerung loszulassen.«

»Du hast es erfasst, Kumpel.« Lukas hob die Hand und Till schlug ein.

»Ha, seht ihr? Der sieht nur so harmlos aus! Voll der Irre! Am Tag der nette Dr. Jekyll und nachts der grauselige Mr. Hyde.« Till formte seine Hände zu Klauen, zog die Schultern hoch und gab solch abartige Grunzlaute von sich, dass ihn die zwei jungen hübschen Frauen am gegenüberliegenden Tisch mit angewidertem Gesicht musterten.

»Lass gut sein Alter, es reicht … danke schön.« Jens klopfte ihm sanft auf den Rücken.

Claus lehnte sich mit einem Seufzer zurück und wandte sich an Dominik. »Hey Novak?!« Er nickte seitwärts zu Till hinüber. »Ist der da eigentlich schon immer so gewesen?

Empört öffnete Till den Mund. Dominik betrachtete ihn dabei nachdenklich. »Hmm, jaaa … irgendwie schon …« Fröhlich schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Du hast dich tatsächlich kein bisschen verändert seit dem Kindergarten, Till!«

»Ich fass das jetzt mal als Kompliment auf.« Till fuhr sich vornehm durch die rostbraunen Haare.

»Nein, das ist kein Kompliment, sondern eine tragische Tatsache«, sagte Claus.

»Du bist schon recht so.« Yannick puffte Till liebevoll in den Oberarm. Till verzerrte das Gesicht und rieb sich die geprellte Stelle. »Danke Mann … du bist ein echter Freund!«

»Ja klar, unser Schlachter kann gut reden«, sagte Claus, »hat zuhause eine Freundin. Wir anderen kriegen hier keine ab, wenn wir so einen Schimpansen dabei haben. Habt ihr den Blick der Mädels gesehen vorhin? Dabei habe ich mit beiden zuvor heftigst geflirtet!«

Yannick drehte seinen Lockenkopf kurz zu den Frauen, dann wieder zu Claus. »Wann?«

»Die ganze Zeit über – Augenkontakt mein Lieber.«

Dominik, Jens und Till prusteten gleichzeitig los. Yannicks Mundwinkel schienen bis zu den Ohren zu reichen, während ihm ein tiefer, wobbelnder Ton entwich. Lukas, der die Arme hinter dem Kopf verschränkt hielt, lachte etwas dezenter mit.

»So ein Gschmarri!« Till klatschte sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. »Die würden dich nicht mal mit dem Hintern ansehen!«

»Wart es nur ab, ich mach mindestens eine von denen noch klar heute.«

»Dann würde ich mich aber sputen – sie gehen nämlich«, sagte Jens.

Claus war sprachlos, als er sah, wie sich die Mädchen ihre Jacken schnappten und das Pub verließen, ohne ihn eines Blickes gewürdigt zu haben.

»Heftigst geflirtet!!!«, äfften Dominik und Till Claus wie aus einem Munde nach, klatschten ab und lachten sich krank.

Claus nahm mit finsterer Miene einen großen Schluck Bier, musste sich dann aber selber ein Grinsen verkneifen.

»So, ich muss los«, sagte Lukas, trank sein Glas im Stehen aus und verabschiedete sich. »Servus Leute! Viel Spaß noch!«

Er schüttelte allen die Hand und verschwand in der Menschenmenge auf dem Weg zum Ausgang.

Yannick blickte von oben ungläubig in sein leeres Glas und Jens betrachtete seins gebannt in Schräghaltung.

»Ich bin dran.« Dominik stand auf und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Er wies Till mit einem Kopfnicken an, ihm zu helfen.

Als Dominik sich über den Tresen beugte, damit er bei der Bestellung nicht allzu laut rufen musste, wurde er sanft an der Schulter berührt. Er schaute sich um.

»Hallo Dominik.«

Eine junge Frau mit langem blondem Haar, welches ihr entzückendes Gesicht schmeichelnd umrahmte, lächelte ihn an.

»Oh, hallo«, er musste eine Sekunde überlegen, »Bianca … Wie geht's?«

»Gut … Ich bin mit ein paar Freundinnen hier. Und du?«

»Mit meinen Kumpels.« Er sah zu Till hinüber.

»Hallo!« Sie gab ihm kurz die Hand. Dann ignorierte sie Till und strahlte Dominik an. »Schön, dich wieder mal zu sehen.«

»Ja … gleichfalls!« Er strich seine Haarsträhne aus der Stirn. Einige peinlich stille Sekunden verstrichen. Till schaute fasziniert zwischen den beiden hin und her.

»Ja also, dann …«, sie zeigte in die entgegengesetzte Ecke, »dann gehe ich mal wieder zu meinen Mädels.«

Er nickte bloß, sie wartete noch etwas. Dann zuckte sie verlegen die Achseln. »Schönen Abend noch.«

»Wünsche ich dir auch«, sagte Dominik und nahm drei Biergläser entgegen, Till die anderen zwei.

»Verflucht, Alter … Wer war denn das?«

»Bianca.«

»Bianca.« Till imitierte seinen gleichgültigen Ton. »Erzähl schon!«

»Wir sind vor ein paar Wochen mal zusammen aus gewesen.«

»Was heißt das genau ?«

»Zusammen aus«, er grinste, »mit anschließendem kompletten Programm.«

»Du bist mit ihr in der Kiste gewesen?«

Dominik hob vielsagend eine Braue.

»Mit der? Dieser Miss Altdorf höchst persönlich?« Till stand der Mund offen. »Oh Mann, du mal wieder! Was finden die Frauen bloß an dir?«

Kopfschüttelnd dackelte er hinter Dominik her, dieser wandte sich kurz im Gehen um. »Ich bin halt ein Kavalier der alten Schule.«

»Du bist ein elender Hallodri!« Till rempelte Dominik an, als er die Gläser abstellen wollte. Das Bier schwappte über und übergoss die gesamte Vorderseite von Dominiks olivgrünem Sweatshirt.

»Oh Mann, du Dödel! Jetzt muss ich mich vorher noch umziehen gehen.«

»Was vorher?«, fragte Till, während er sich setzte.

»Bevor ich auf mein Date gehe.«

Till schlug mit der Faust auf den Tisch. »Der Typ macht mich fertig, das gibt's ja nicht!«

»Doch, doch – das gibt's«, seufzte Jens und verdrehte die Augen.

»Wer ist denn heute die Glückliche?«, fragte Claus gelangweilt.

»Meinst wohl Unglückliche«, raunzte Till.

Yannick schmunzelte.

Dominik lachte mit erhobenen Händen. »Was? So wild ist es jetzt auch wieder nicht!«

»Doch!!!« Die Antwort fiel wie ein Schuss und wie aus einem Mund.

Dominik spielte den Entrüsteten, doch dann änderte sich seine Mimik und seine Stimme klang weich, als er von seiner neuen Flamme erzählte: »Sie heißt Melissa … und sie ist …einfach …« Verklärt zuckte er die Achseln.

»Oha«, sagte Yannick.

Jens nickte bedächtig. »Ja, ja … Dieses Mal ist es die große Liebe, ich hab mir das schon den ganzen Tag anhören müssen.«

»Das glaubst du ja wohl selbst nicht«, sagte Claus.

Dominik sah ihn ernst an. »Wer weiß … Ich werde mir dieses Mal auf jeden Fall Zeit lassen.«

Jetzt war es Jens, der lauthals loslachte. »Oh Mann, das sagst du jedes Mal und dann geht die Post trotzdem schon am ersten Abend ab!«

»Diesmal nicht, ich werde ganz brav sein!« Dominik hob die Hand zum Schwur, die anderen vier stöhnten und winkten ab.

»Na schön. Und was machen wir?«, fragte Jens in die verbliebene Runde. »Bleiben wir da, oder machen wir Nürnberg unsicher?«

»Närmberch ist gut«, sagte Till und trank rasch sein Bier aus.

»Ich komm nicht mit«, brummte Yannick. »Hab Nele versprochen, mit ihr den Krimi im Ersten zu schauen.«

»Mannomann, was seid ihr zwei für Spaßbremsen.« Claus beschenkte sie mit einem Blick der vor Vorwürfen nur so triefte.

»Hey Mr. Bombastic, sieh's doch mal so«, sagte Dominik, »wenn Yannick und ich nicht dabei sind, bleibt mehr für dich übrig!«

»Haha«, muffelte Claus. Till stieß ein glucksendes Geräusch aus und fing sich damit einen strafenden Blick ein.

Dominik sah auf die Uhr. »Shit, ich muss los! Treffe mich mit Melissa um neun im Mirage.« Er kniff Till in die Nase.

»Aua!«

»Ich muss mich ja noch umziehen, gell, Till?!«

»Dann toi toi toi Alter. Und sag deiner Melissa, sie soll das nächste Mal ein paar Freundinnen mitbringen«, sagte Jens.

»Genau!«, näselte Till, mit beiden Händen im Gesicht.

»Mach ich! Tschüss!«

Dominik machte ein: Wir sehen uns-Zeichen und verließ das Pub.

4

Dominik schloss den Reißverschluss seiner Jacke, als er vor der Tür des Pubs stand und atmete die frische, kühle Abendluft ein.

Der eisige Strom, der seine Lungen füllte, ließ ihn etwas frösteln. Er wickelte den Schal um den Hals und machte sich auf den Weg. Dichter Nebel lag träge in den Gassen und ließ ihn kaum die Hand vor Augen sehen.

Ins Mirage, einer Disco in der Nähe,waren es nur rund neunhundert Meter und auf dem Weg dorthin kam er an seiner Wohnung vorbei – wie praktisch.

Melissa …

Der Gedanke an sie zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht.

Als er vor zwei Wochen für Recherchen über das regionale Herbstfest unterwegs gewesen war, hatte er sich in einem Festzelt an eine Kaffeebar gesetzt, um Notizen zu machen.

»Der geht aufs Haus«, waren die Worte gewesen, die ihn von seinem Notizblock aufblicken ließen.

Sein Herz war in der Brust gehüpft, als sie vor ihm gestanden war, mit einem Espresso in der Hand, den sie vorsichtig auf seinen Tisch stellte.

Vom allerersten Moment an war er verzaubert gewesen.

Sie hatte ihn angelächelt und er bemerkte, dass ihr niedliches Gesicht ganz rot wurde, als er zurück gelächelt hatte.

Wunderschöne haselnussbraune Augen und dunkelbraune glänzende Haare, welche ihr locker auf die Schultern fielen, hatten sie wie ein mystisches Wesen aus einer anderen Welt erstrahlen lassen. Sie besaß das allerschönste Lächeln der Welt und das galt ihm allein.

Sie hatten zu plaudern, zu lachen und zu flirten begonnen und er wurde von tausend tanzenden Schmetterlingen in seinem Bauch gekitzelt – ein Gefühl, das er so noch gar nicht gekannt hatte.

Nach einer Weile hatte sich das Festzelt leider immer mehr gefüllt und sie musste wieder an die Arbeit. Sie hatten noch kurz die Handynummern ausgetauscht, bevor Dominik auch weiter musste.

Seit jenem Tage hatten sie sich immer wieder geschrieben und heute würden sie sich endlich treffen.

Bereits hatte er das Wohnhaus, in dem er eine 2-Zimmer-Altbauwohnung im zweiten Stock bewohnte, erreicht. Er sprintete, mehrere Tritte auf einmal nehmend, die Treppe nach oben und betrat sein Reich.

Angeekelt verzog er das Gesicht.

»Uff … So geht das also echt – nicht – weiter!«

Seufzend warf er die Schlüssel auf die hässliche, mit hellgrüner Farbe bestrichenen Kommode, die er spottbillig auf einem Trödelmarkt erstanden hatte und begutachtete sein Chaos:

Turnschuhe, Sneakers und Winterboots, einzeln verteilt im Flur, als wären sie verzweifelt auf Partnersuche unterwegs. Vier oder fünf Jacken, abwechselnd richtig rum und verdreht, allesamt über dem selben, viel zu kurzen Garderobenhaken. Daneben am Boden, auf dem Rücken liegend, die Ärmel weit von sich gestreckt – seine verwaschene Jeansjacke. Dazu verdammt auf den Dielen ihr Dasein zu fristen, weil sie sich dort oben nicht mehr festkrallen konnte und abstürzte – das arme Ding.

Dominik stieg über die Single-Schuhe und warf einen Blick in sein kleines Wohnzimmer, mit der blauen, fluffigen Couch und dem uralten, aber riesigen Röhrenfernseher, der ein solch ausladendes Hinterteil besaß, dass sich der Bildschirm beinahe in Zimmermitte befand.

Auch hier hatte seine Desorganisation stolz das Zepter übernommen:

Mehrere getragene T-Shirts und Sweatshirts, ineinander verschlungen über einer Stuhllehne hängend, erinnerten irgendwie an Gruppensex.

Die beachtliche Menge an Magazinen und Zeitungen, Papierkram und Schulunterlagen, verteilt auf Tisch und Boden sah nach Altpapiersammlung aus.

Eine leere Flasche Bier und ein halbgefülltes Glas Cola mit fetten Fingerabdrücken versehen thronten auf dem gläsernen Salontischchen, welches ein nettes Muster aus Ringen von klebrigen Gläserböden besaß.

Eine angefangene Tüte Kartoffelchips lag da auch noch rum und ein Teil des Inhaltes würde mit Sicherheit zwischen den Ritzen der Sofakissen zu finden sein. Ölig und piksig, wenn man sich darauf setzen würde.

»Morgen räumst du hier auf, du Dreggschbachdl!«

Also wirklich … igitt.

Dominik ging in sein Schlafzimmer, entledigte sich seiner biergetränkten Sachen und zog ein neues T-Shirt und darüber ein sauberes Hemd an.

Er überlegte, während er sein Hemd zuknöpfte und das ungemachte Bett mit den getragenen Kleidungsstücken darauf betrachtete. Wenigstens sein Bett sollte er noch etwas anständig herrichten, falls …

»Nein! Denk nicht mal dran!«

Dieses Mal nicht. Er glaubte – nein, war sich sicher, dass dieses Mädchen es wert sein würde, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, auch wenn ihm das verdammt schwer fallen wird.

Er pfiff eine selbst kreierte Version von DJ Ötzis Stern, weil ihm die Originalmelodie außer des Refrains gerade nicht mehr geläufig war, und machte sich im Badezimmer etwas frisch.

Er begutachtete sein Gesicht im Spiegel, kontrollierte, ob da nicht noch Zahnpasta oder sonst was Peinliches an seiner Backe klebte und zupfte an seinen Haaren herum.

Diese doofe Haarsträhne ließ sich einfach nicht bändigen.

»Bub, du hast da halt so einen Wirbel«, hatte die Frisörin kopfschüttelnd gesagt, als er mit neun Jahren das erste Mal in einem richtigen Coiffeursalon gewesen war.

Von heute auf morgen hatte sich klein Dominik geweigert, seine Haare weiterhin von Oma mit einem Haartrimmer, mit dem man durchaus auch ein Schaf von seiner Wolle hätte befreien können, scheren zu lassen. Anna hatte ihn deshalb zu ihrer Frisörin mitgenommen und die hatte ihm endlich eine coole Frisur verpasst.

Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte, dass er verdammt spät dran war. Er sprintete quer durch die Wohnung, schlüpfte in die Schuhe, schnappte sich die Jacke, katapultierte sich in Windeseile raus ins Treppenhaus, Treppe runter, auf die Straße.

Sein Handy hatte er in der Hitze des Gefechts in der Wohnung liegen gelassen.

Er zog die Jacke an, währenddessen er durch die dunklen Gassen rannte, bog ab um eine Ecke, um eine zweite … Sein Herz war frei, leicht … gleich würde er sie sehen …

Da vernahm er hinter sich ein Geräusch, bemerkte einen Schatten, der hervor preschte und bevor er sehen konnte, was das war, verspürte er einen schmerzhaften Schlag auf dem Hinterkopf.

Er verlor das Gleichgewicht, fiel vornüber und dann spürte er gar nichts mehr.

5

»Wach auf!«

Ein schmerzhafter Schlag mitten ins Gesicht riss Dominik aus seinem Koma.

Stille.

Er erwachte nur langsam. Seine Wange brannte, sein Kopf dröhnte … pulsierte in einer dumpfen Weise, als wäre er in heiße Watte gepackt.

Sein Mund war trocken. Er schluckte, um seinen Rachen zu befeuchten, sein Hals kratzte und fühlte sich danach noch trockener an. Er verstand nicht, weshalb er sich so krank fühlte.

Er lag auf dem Bauch … irgendwie ausgestreckt.

Warum?

Er brauchte einen Moment, um einen einigermaßen klaren Gedanken fassen zu können.

Wo …? Was …?

Bleierne Dunkelheit umgab ihn.

Er versuchte die Augen zu öffnen, aber es war nicht möglich. Etwas drückte auf seine Lider und ließ nicht mal das kleinste Blinzeln zu.

Mühselig hob er den Kopf. Das dröhnende Pochen in seinen Schläfen verstärkte sich. Er legte ihn wieder zur Seite.

Angestrengt versuchte er erneut die Lider aufzureißen, es fühlte sich an, als wären sie an seinen Augäpfeln festgeklebt. Irritiert wollte er hin fassen um zu befühlen, was da sein könnte, doch es ging nicht. Seine Arme lagen seitwärts ausgestreckt.

Er versuchte den rechten Arm an den Körper zu ziehen, stellte aber verdutzt fest, dass dieser straff fixiert war.

Die Hand ließ sich bewegen. Er ballte seine verkrampften, eiskalten Finger und streckte sie wieder. Es schien beim Handgelenk zu blockieren. Er versuchte die Hand durch eine Drehbewegung aus dieser Fixierung zu befreien. Es stach und pikste und schnürte seine Haut ein.

Eine Fessel!

Was verdammt?

Mit einem beherzten Ruck probierte er seinen linken Arm zu sich zu holen, doch der war genauso unbeweglich wie der Rechte … auf dieselbe Art festgebunden.

Er geriet in Panik, versuchte die Knie zu beugen um auf die Beine zu kommen und realisierte dabei entsetzt, dass seine Beine gespreizt und genau so unbeweglich wie seine Arme waren.

Er war gefesselt, an allen vier Gliedern.

Straff festgebunden und aufgespannt, wie eine Tierhaut nach der Häutung.

Er mobilisierte all seine Kräfte, zerrte gewaltsam und gleichzeitig an allen vier Fesseln und musste verzweifelt feststellen, dass sie immer tiefer in seine Haut schnitten, je mehr er daran zog.

Das mussten Seile sein … Raue, haarige Seile. Es brannte, stach und kratzte.

Er pausierte kurz, sein Herz raste. Angst kroch in ihm hoch wie ein schleimiger Wurm und nahm ihm die Luft zum Atmen.

Langsam…

Das ist sicher nur ein dummer Scherz von den Jungs …

»Ist da jemand?«

Seine Stimme kam ihm fremd vor.

Totenstille.

Dunkelheit.

Er zitterte … Vor Kälte …? Vor Angst …?

Sein Körper vibrierte auf dem harten Boden. Seine Zähne klapperten. Er versuchte dies zu stoppen, indem er die Backenzähne zusammenbiss, was aber nichts zu nützen schien. Das Klappern war das einzige Geräusch in dieser absoluten Schwärze und erschien ihm unnatürlich laut.

Die Umgebung schien sich zu drehen und ihn zu umrunden. Was war oben? Was unten?

Er versuchte sich eine Orientierung zu erschnuppern. Sein Atem ging flach und schnell und er musste sich zwingen, ruhiger zu atmen, um den Geruch seiner Umgebung wahrnehmen zu können.

Es roch etwas nach Holz. Nach älterem Holz. Leicht modrig, ein wenig wie in einem Keller mit Naturboden, wo man Kartoffeln lagern konnte. Der Boden war hart, aber ebenmäßig, vermutlich ebenfalls aus Holz.

Er schnüffelte daran und rieb seine Wange darüber. Unbehandeltes Holz, das etwas kratzte und gammelig roch.

Er befand sich folglich in einem Raum.

Das Gefühl, sich ein bisschen orientieren zu können, beruhigte ihn ein ganz klein wenig. Wut machte sich zusätzlich in ihm breit und verdrängte kurzfristig seine Angst. Er holte tief Luft und schrie in die Dunkelheit: »Verdammt! Was soll der Scheiß?! Lasst mich los!!!«

Ein Zischen durchbrach die Stille und fast zeitgleich spürte Dominik einen feurigen Schmerz auf seinen Schulterblättern. Die unerträgliche Hitze breitete sich in Sekundenschnelle aus und überzog seinen ganzen Rücken.

Er rang nach Luft, hob seinen Kopf, versuchte sich gegen den Schmerz zu stemmen.

Ein leises Geräusch ließ ihn zusammenfahren.

Es war ein feines Klicken, als würde ein Kippschalter gedrückt.

Dann dröhnte es laut:

»Halt deinen Mund!«

Es war keine menschliche Stimme. Künstlich, roboterähnlich. Laut und verzerrt.

Vor Schreck erstarrte er.

»Du hast hier nichts zu melden! Sei ruhig, sonst klebe ich dir das Maul auch zu!«

Nach einer kurzen Pause: »Du tust nur, was ich dir sage! Und jetzt halt still!«

Was heißt das …?

Diese Stimme war unwirklich, unheimlich. Eine monotone Computerstimme … unmöglich sie zu identifizieren.

Das muss ein Stimmverzerrer sein …

Dominik gefror das Blut in den Adern.

Er hörte zwei Schritte … jemand kam ihm ganz nah.

Er verkrampfte sich, ballte seine Hände zu Fäusten, krümmte seine Zehen …

Er konnte ein schweres Atmen hören … eine Berührung in seinem Nacken spüren … eine warme Hand … sanft. Dominik zuckte unter ihr zusammen, spannte jede Faser seines Körpers.

Die Hand strich nach oben durch sein Haar, glitt zärtlich und langsam über seinen Hals … seine brennenden Schultern, auf dem Rückgrat hinunter zu seinem Gesäß.

Da wurde es Dominik bewusst, dass er nackt war.

Mein Gott!

Die Hand wurde fordernder, mit massierenden Bewegungen berührte sie ihn, änderte ihre Richtung und versuchte, sich in seiner Leistengegend nach vorne zu schieben.

Nein, nein, nein …

»Nein!«

Die Hand wurde abrupt zurückgezogen, doch kaum eine Sekunde später zischte es erneut und eine weitere brennende, unerträglich schmerzhafte Hitzewelle flutete seine Rücken. Es fühlte sich an, als wäre seine Haut aufgeplatzt.

Er schrie auf.

Sein Rücken brannte und pulsierte. Ihm war schwindlig vor Schmerz … Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er solche Angst. Erschöpft ließ er seinen Kopf sinken und stöhnte, röchelte … glaubte zu ersticken …

Wieder umgab ihn absolute Stille.

Stille und Dunkelheit, komplette Orientierungslosigkeit …

Sein Röcheln kam schnell und stoßweise …

Was würde als Nächstes passieren?

Er lag ungeschützt da … bewegungsunfähig … konnte nichts tun … bloß warten.

»Bitte …«, hörte er sich leise flehen, »bitte … lassen Sie mich gehen …«

Keine Antwort.

Eine Träne suchte sich ihren Weg zwischen Klebeband und seiner Wange. Sie war heiß und kitzelte … er wollte sie so gern wegwischen.

Auf einmal ein Geräusch ganz dicht an seiner Seite … kniete sich der Irre neben ihn?

Urplötzlich und grob wurde er an den Haaren gepackt und sein Kopf wurde mit einem kräftigen Ruck in den Nacken gerissen. Er spürte etwas Hartes, Kaltes an seinem Hals, das ihm tief in die Haut gepresst wurde.

Ein Messer …

Er hörte sich wimmern.

Ein stimmloses Flüstern drang an sein Ohr. Ganz nah …ohne das Verzerrgerät … aber nicht minder erschreckend. »Zum letzten Mal: Halt deine Schnauze. Sonst schlitz ich dir die Kehle auf.«

Er spürte den Luftzug des Atems, heiß und unangenehm.

»Hast du mich verstanden?« Die flüsternden Lippen schienen ihn beinahe zu berühren.

Dominik nickte vorsichtig.

Der Druck an seinem Hals verschwand. Sein Kopf wurde mit Wucht nach vorn gepfeffert, so dass seine Stirn auf dem harten Boden aufschlug. Reflexartig wollte er sich die Stelle reiben, was er nicht konnte, wie ihm schmerzlich in Erinnerung gerufen wurde.

Nebenan ein Rascheln, eine Bewegung … der Andere stand wohl auf.

Ein leises Geräusch … kaum hörbar. Dominik lauschte angestrengt …

Das feine Zurren eines sich öffnenden Reißverschlusses …

Mit blankem Entsetzen verstand er.

Oh nein … das nicht … bitte …

Dominik riss mit ganzer Kraft an den Fesseln, sie schnitten tief in sein Fleisch. Panisch versuchte er sich aufzubäumen, wurde aber im selben Moment von einer unglaublichen Wucht niedergedrückt, als sich der Andere auf ihn legte. Es presste ihm die Luft aus den Lungen … er konnte kaum atmen … ihm wurde speiübel. Sein Kopf wurde seitwärts grob mit einer Hand oder Arm festgeklemmt … am Boden fixiert … ein Mund an seinem Ohr, heißer Atem und wieder dieses tonlose Flüstern … ganz … nah.

»Schhh … ganz ruhig …«

»Nein! N…« Sein Aufschrei wurde abgewürgt, durch diesen entsetzlichen Schmerz der sogleich folgte … diese harten Stöße, die ihn nicht atmen ließen, dieses schwere, feuchte Atmen an seinem Ohr …

Weg, weg … ich will weg …

Dominik verzerrte sein Gesicht … presste die Augen zusammen unter dem Klebeband … seine Kiefer mahlten und die Zähne knirschten. Die Hände ballte er zu Fäusten, presste die Fingerkuppen in seine Handballen, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Er zog immer und immer wieder an diesen verdammten Seilen … Hände und Füße wurden taub, als ihnen das Blut abgeschnürt wurde. Das Brennen und Pochen seines verletzten Rückens verschmolz mit diesem grauenvollen, neuartigen Schmerz und überall wurde er angefasst, an jeder erdenklichen Stelle seines Körpers …

Oh mein Gott …

Ein unterdrücktes Stöhnen … ein Festkrallen in seinem Haar … feuchte Lippen, die sich seitwärts an seinen Hals pressten, und ein Innehalten der Bewegung signalisierten Dominik nach einer gefühlten Ewigkeit, dass der Kerl wohl endlich fertig war.

Jener verharrte noch eine Weile schwer atmend auf ihm, bedeckte ihn komplett mit seinem Körper, hatte seine Hand noch eine Zeit lang in Dominiks Haar festgekrallt, bevor er seine Faust öffnete, von ihm abließ und sich endlich erhob.

Dominik stand unter Schock.

Das war nicht real, das konnte nicht real sein!

Er würde jeden Moment aufwachen und zu sich sagen:

Mensch, was für ein beschissener Traum, – aber er erwachte nicht.

Er lag noch immer in dieser vollkommenen Dunkelheit, ausgestreckt wie ein fleischiger Teppich. Sein gesamter Körper pulsierte wie eine einzige, riesige Wunde, das Atmen fiel ihm schwer.

Er vernahm nestelnde Geräusche – der Andere schien sich die Hose wieder raufzuziehen. Dominik hörte ihn noch immer atmen.

Vielleicht ließ er ihn jetzt gehen?

Er wartete … wartete auf irgendwas …

Wieso sagte er nichts? Wieso geschah nichts?

Diese unerträgliche Stille und die Dunkelheit, gefangen in einem Vakuum.

»In Ordnung«, Dominik sprach so leise, dass er sich selber kaum hören konnte, dann räusperte er sich. »Sie hatten Ihren Spaß. Lassen Sie mich jetzt gehen.« Er musste gegen Tränen ankämpfen, als er dies sagte, aber es war ihm gelungen, etwas selbstbewusst zu klingen.

Es vergingen einige unerträgliche Sekunden, dann folgte das feine Klicken.

Eiskalt und monoton hallte die Stimme:

»Oh nein … Ich habe gerade erst mit dir angefangen!«

Und mit unendlicher Verzweiflung und Todesangst nahm Dominik die undefinierbaren, klirrenden Geräusche von metallenen Gegenständen wahr.

6

Als Dominik noch ein Kind war, träumte er manchmal, dass er im Dunkeln von einem unsichtbaren Monster gejagt wurde, welches ihn immer fast packen konnte.

Aber er war schneller gewesen, konnte der Bestie stets um Haaresbreite entwischen, bis er irgendwann aufwachte.

Dieses Monster aus der Kindheit war nun zurückgekehrt und hatte ihn doch noch erwischt.

Es hatte ihn in seine Höhle gezerrt, quälte ihn und ließ ihn nicht aufwachen. Es hielt ihn während Stunden in einem Albtraum gefangen, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien.

Dominiks anfänglich verzweifelter Versuch, mit seinem Peiniger doch noch in einen Dialog zu kommen, wurde im Keim mit Peitschenhieben erstickt.

Dann begann er mit der Polizei zu drohen, was angesichts seiner Lage absolut lächerlich war und ihm noch mehr Peitschenschläge einbrockte.

Als dann die Erschöpfung und die Schmerzen unerträglich wurden, warf er den Rest seines Stolzes über Bord, bettelte, winselte, flehte und hasste sich selber dafür.

Schlussendlich musste er akzeptierten, dass er dem Teufel höchstpersönlich in die Hände geraten war und kapitulierte. Er kapselte sich in eine mentale Blase ab, welche ihm das Gefühl gab, seinen Körper verlassen und die Szenerie mit einer gewissen Distanz beobachten zu können. Dies wurde zu seinem rettenden Hafen, seiner einzigen Chance, diese Nacht zu überstehen.

Er wusste nicht, wie oft er mit den verschiedensten Gegenständen penetriert wurde, wie oft er ausgepeitscht, mit dem Messer bedroht und vergewaltigt wurde. Er hörte auf zu zählen.

Sein Peiniger legte eine enorme Ausdauer an den Tag. Er verging sich etliche Male an ihm und wenn er selber vorübergehend nicht mehr dazu in der Lage war, benutzte er einfach etwas anderes. Eine seiner Requisiten, wie er sie nannte.

Damit folterte er Dominik stundenlang auf abscheulichste Weise. Testete aus, wie grob, wie tief er mit diesen Dingen in ihn eindringen konnte oder musste, um ihm ein Ächzen, ein Stöhnen oder Schreien zu entlocken. Er geilte sich daran auf und – was noch schlimmer war – machte sich darüber lustig.

Dominik wäre am liebsten gestorben, wären da nicht diese wenigen Pausen gewesen, an die er sich verzweifelt klammerte. Kurze Pausen – vielleicht zehn, fünfzehn Minuten, in denen er in Ruhe gelassen wurde. Dann öffnete der Andere die Tür, ging nach draußen und ließ ihn allein.

Kühle, frische Luft strömte dann jeweils in diesen Raum, wo es nach Schweiß und anderen Körpersäften stank. Und obschon es meist fürchterlich kalt wurde, schien es Dominik, als würde die reine Luft ihn umarmen, sanft streicheln und trösten wollen.

Es roch nach Erde und Moos, nach Natur und Freiheit. Es war die einzige Verbindung zu einer doch noch real existierenden Welt und half Dominik, nicht den Verstand zu verlieren. Das war seine Medizin, welche ihm mehrfach das Leben rettete, wenn die Türe wieder geschlossen wurde und ein: »Sooo … machen wir weiter!«, durch den Raum hallte.

Mehrere Male war er trotzdem kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

Sofort wurde ihm mit flacher Hand ins Gesicht geschlagen und sein Oberkörper mit Wasser bespritzt. Sein Kopf wurde an der Haaren gepackt, nach hinten gerissen und dann wurde ihm eine Wasserflasche an den Mund gehalten.

Es war dem Kerl anscheinend wichtig, dass Dominik keine Sekunde verpassen, keinen Moment in eine erholsame Ohnmacht abgleiten konnte.

In der ersten Zeit weigerte sich Dominik, das Wasser anzunehmen und ließ es mit zusammengekniffenen Lippen an seinem Hals hinunterlaufen. Aber als sein Stolz irgendwann verflog, sein Durst zu quälend wurde, siegten die elementaren Bedürfnisse …

… er trank und verachtete sich dafür.

Seit längerer Zeit passierte nun nichts mehr.

Der Kerl war anscheinend endlich fertig mit ihm.

Es klang nach Zusammenpacken, roch nach Putz- und Desinfektionsmitteln, klirrte und schepperte, aber kein menschlicher Laut, wie ein Hüsteln, ein Schniefen oder ein Räuspern, war zu hören, außer Schritten. Schritte, die sich näherten, die sich entfernten …

Dominik war am Ende.

Sein Kopf war leergefegt, sein Körper eiskalt und taub.Er empfand weder Schmerzen, noch ein Gefühl von Kälte. Vielleicht war er bereits tot und wusste es nur noch nicht …

Ab und zu fiel er in einen Sekundenschlaf, aus dem er aber sofort wieder erwachte.

Seit undenkbar langer Zeit waren seine Augen zugeklebt, er war in dieser absoluten Dunkelheit gefangen.

Manchmal erschienen in der Schwärze schemenhafte Gesichter, bösartige Fratzen, die ihn verspotteten und auslachten. Teilweise formten sie sich gar zu kompletten Gestalten, welche auf ihn zu schwebten, ihn umkreisten, mit den Fingern auf ihn zeigten und laut kreischten.

Er war ihnen ausgeliefert, konnte nicht ausweichen und musste sie erdulden, bis sie sich im Nichts auflösten, von der Dunkelheit verschluckt wurden.

Das unvermittelte Klicken des Stimmenverzerrers ließ ihn zusammenfahren.

»Wir machen eine Reise!«

Sein rechter Arm wurde gepackt und mit einem einzigen Schnitt war die Fessel gelöst. – So einfach war das.

Das Selbe auf der anderen Seite: Ratsch – weg war das Seil!

Dominik winkelte die Ellbogen an. Es schmerzte. Seine steifen Gelenke blockierten wie rostige Scharniere.

Die neu gewonnene Freiheit war aber nur von kurzer Dauer. Seine Handgelenke wurden gepackt, auf dem Rücken überkreuzt und mit Klebeband zusammengebunden. Dann machte sich der Andere an Dominiks Fußfesseln zu schaffen. Ein beherzter Schnitt auf jeder Seite und er konnte die Knie wieder beugen. Seine Beine waren genauso steif wie die Arme.

Klick.

»Aufstehen!«

Grob wurde ihm aufgeholfen.

Dominik dachte, er trüge Prothesen, das waren nicht seine Beine. Er knickte ein, der Andere musste ihn stützen, damit er nicht hinfiel.

Oben …? Unten …? Dunkelheit … Drehte er sich?

Er konnte kaum gehen, als er zur Tür hinaus geschoben wurde.

Kühle Morgenluft wehte ihm entgegen.