Das Tahiti-Projekt - Dirk C. Fleck - E-Book

Das Tahiti-Projekt E-Book

Dirk C. Fleck

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Beschreibung

Deutschland im Jahr 2022. Das Land steht kurz vor einem Bürgerkrieg, der Rest der Welt droht in einem Chaos aus natur- und menschengemachten Katastrophen unterzugehen. Nur auf Tahiti wächst ein neues ökologisches Paradies heran. Cording, Hamburger Spitzenjournalist, tritt den Kampf gegen die Global Player an, denen die Inselidylle eine Dorn im Auge ist ...

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Für Michael

Alle mit einem * markierten Begriffe werden im Glossar erklärt.

Mehr über die Entstehungsgeschichte des Buches und des Equilibrismus erfahren Sie im Nachwort.

ISBN 978-3-492-98118-7 © für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014 © 2007 Piper Verlag GmbH, München, erschienen im Verlagsprogramm Pendo Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Sergey Novikov/shutterstock.com Karten: Andreas Raub Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 2. Auflage 2011   Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.  

EMERGENCY!

24. Mai 2022: Die vier Männer hinter den schwarz getönten Scheiben des Lieferwagens, der im Schatten einer Wacholderhecke unweit der Küstenstraße parkte, hatten keinen Sinn für die landschaftliche Schönheit Bornholms. Sie würdigten die sanft geschwungenen Hügel mit den leuchtendgelben Rapsfeldern keines Blickes. Ihre Augen waren auf die Monitore gerichtet, wo die Bilder ihrer Überwachungskameras darüber Aufschluss gaben, was sich im Inneren des Fachwerkhauses tat, das am Ende des Hohlweges auf einem Fundament aus schwarzem Granit thronte.

In einer Stunde, also Punkt zweiundzwanzig Uhr, würden sich Professor Thorwald Rasmussen, seine Frau und die beiden Kinder schlafen legen. Dann gingen im Haus die Lichter aus. Das nervöse Geflacker aus dem Fernseher, das anschließend durchs Geäst der alten Eiche huschte, erstarb in der Regel wenige Minuten später.

Im Lieferwagen waren die Gespräche nach und nach verstummt. Die Art, wie die Männer ihren Pistolen die Schalldämpfer aufsetzten und sich die Gesichter schwärzten, verriet, dass sie nicht zum ersten Mal ausgezogen waren, um im Auftrage der Firma zu töten. Die Akkuratesse, mit der dieser Wissenschaftler seinen Alltag gestaltete, machte den Job für das Spezialkommando diesmal zum Kinderspiel.

Die Monitore gaben nichts mehr her, lediglich im Flur oberhalb der Treppe brannte noch Licht. Der Professor und seine Frau hatten sich vor wenigen Minuten hingelegt, die Kinder schliefen nebenan. Außer dem monotonen Geräusch der Wellen, die am Strand über die Steine schwappten, war nichts zu hören. Bäume, Büsche und Blumen standen starr. Die Zeit schien eingeschlafen zu sein, kein Windhauch traute sich, sie zu wecken.

Die Entfernung bis zum Haus legte das Kommando im Schutze der Bäume zurück, die die Zufahrt säumten. Dann ging alles sehr schnell. Einer der Männer trat die Haustür ein, die anderen stürmten an ihm vorbei die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.

Professor Thorwald Rasmussen gefror das Blut in den Adern. Er war kurz zuvor noch einmal ins Badezimmer zurückgekehrt, weil er vergessen hatte, seinen täglichen Thrombosehemmer einzunehmen, als er plötzlich einen lauten Knall vernahm. Seit seiner Flucht aus dem Geheimlabor in Boston hatte er in ständiger Angst gelebt, entdeckt zu werden, doch jetzt, da man ihn offensichtlich aufgespürt hatte, war er nicht vorbereitet. Seine Familie! Sie würden es nicht wagen, ihr etwas anzutun, sie waren doch seinetwegen da, versuchte er, sich zu beruhigen. Er öffnete das Fenster, quälte sich über den Sims und ließ sich aus drei Metern Höhe zu Boden fallen. Während er in den Schutz der Rhododendronhecke kroch, hämmerte es ihm durch den Kopf: Nicht die Familie! Nicht die Kinder!

Im Schlafzimmer über ihm eröffneten seine Häscher ein lautloses Sperrfeuer auf die Bettdecken, die unter den Einschlägen kurz aufhüpften, als hätten sie ein Eigenleben. Die Männer hörten erst auf, als zwei kleine Gestalten in Nachthemden im Türrahmen erschienen und sich verwundert die Augen rieben. Für einige Sekunden standen sich die Killer und die Kinder fassungslos gegenüber. Der Schütze, der schließlich das Feuer auf sie eröffnete, hastete als Erster ins Freie.

Thorwald Rasmussen lag währenddessen zitternd unterm Blätterdach und betete. Was war mit seiner Frau und den Kindern? Warum war er weggelaufen? Er drückte seine Stirn ins feuchte Erdreich, als bäte er Gott um Verzeihung. Ich war nicht bei ihnen! Der Gedanke machte ihn fast wahnsinnig. Die halbe Nacht hockte er in seinem Versteck, unfähig, die Qualen seiner erwiesenen Feigheit zu ertragen. Er hatte Schmerzen im Bein, er hätte schreien können vor Schmerzen, aber irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. Es war diese Stille im Haus, diese absolute Stille …

Cording hielt beim Rasieren inne und starrte in den Spiegel. Der Anblick irritierte ihn. Das hatte nur bedingt mit seinen Haaren zu tun, aus denen die natürliche Färbung während der letzten Reportagereise auf wundersame Weise verdunstet war, auch nichts mit den Falten auf Stirn und Wangen, diesen veritablen Runen der Hoffnungslosigkeit. Ihn irritierte etwas anderes: sein Spiegelbild reagierte nicht! Die Augen sahen ihn unerbittlich und regungslos an. Schau hin, sagten sie: du bist ausgebrannt, stumpf, gefühllos. Eine arme Sau, die sich zu lange im Elend anderer gesuhlt hat. So etwas geschieht nicht ungestraft, so etwas fordert seinen Tribut …

Er tupfte sich den Rasierschaum vom Ohr. Du wirst 47, dachte er, was erwartest du? Im Übrigen hatte er nicht gerade das hinter sich, was man eine friedvolle, von süßen Träumen durchwebte Nacht nennt. Das gesamte Elend der Welt war im Schlaf bei ihm vorstellig geworden. Ein endloser Treck schlurfender, zerlumpter Gestalten hatte sich an ihm vorbeigeschleppt, während er die Parade bei glühender Hitze auf einem rostigen Ölfass abnahm und artig salutierte. Aber niemand in dem Zug der Geknechteten hatte ihn auch nur eines Blickes gewürdigt, dabei gab es keinen Zeugen außer ihm.

Er schob die Rüschengardine beiseite und blickte hinaus auf die Mainstreet von Alderpoint, an deren Ende sich die alte Scheune befand, die schon im legendären ›Redwood-Summer‹ von 1990 als Pressezentrum gedient hatte. Dort ging es in diesen Tagen zu wie in einem Bienenstock. Fernseh- und Zeitungsreporter buhlten vergeblich um ein Interview mit Amerikas Umweltschutzikone Nummer eins, Judi Henson. Die zierliche, charismatische Frau wehrte die Wünsche der Medienmeute kategorisch ab. Sie verwies auf die Erklärungen, die ›Earth First!‹ zweimal täglich über das Geschehen am Kriegsschauplatz veröffentlichte. Dass Judi ihm gegenüber eine Ausnahme machte, zeigte Cording einmal mehr, welchen Stellenwert das EMERGENCY-Magazin inzwischen besaß, für das er seit vier Jahren arbeitete.

Es klopfte an der Zimmertür. Die brüchige Stimme der alten Dame, die Zimmermädchen und Pensionsleiterin in einem war, riss ihn aus seinen Gedanken. Judi Henson wartete in der Eingangshalle auf ihn. Also auf in den Krieg um Kaliforniens letzten Wald! Eine vergleichsweise harmlose Aufgabe, wenn er der Schrecken gedachte, die ihn zuletzt in den afrikanischen Dörfern entlang der Giftmülldeponien begleitet hatten, auf denen die europäische Entsorgungsmafia sich ihres chemischen und radioaktiven Drecks entledigte.

Judi schlenderte mit ihm die Dorfstraße hinunter in das lang gezogene Tal, in dem Tausende bemooster, mannshoher Baumstümpfe in Reih und Glied standen wie Grabmale auf einem Heldenfriedhof. Irgendwann blieb sie stehen und deutete auf die kahlen Hänge.

»All das hier war vor vierzig Jahren noch mit majestätischen Urwäldern bedeckt. Bis zu zweitausend Jahre alte Redwood-Riesen ragten über hundert Meter hoch in den Himmel. Zwischen Platt Mountain auf der einen und und Wool Mountain auf der anderen Seite lebten unzählige Vogelarten, Reptilien und Wildkatzen. In den Bächen tummelten sich Forellen und Lachse. Dort drüben rauschte ein Wasserfall in die Tiefe …«

Sie ging in die Hocke und ließ eine Handvoll staubiger Erde durch die Finger rieseln. Cording stand betreten daneben. Ein kalter Luftzug fuhr in die Niederung. Judi hakte sich bei ihm ein, als wollte sie sich stützen. »Wo sind die Pflanzen und Tiere?«, fragte sie mit brüchiger Stimme, »wie können wir es nur aushalten ohne sie?«

Am Himmel kämpfte der Halbmond mit dem Abendrot um die leuchtende Vorherrschaft. Cording fiel auf, dass er noch keine einzige Frage gestellt hatte. Es war einfach nicht die Situation dafür, er hatte Respekt vor der Gemütsverfassung dieser Frau.

Während sie das abgewrackte Sägewerk von Alderpoint passierten, erzählte ihm die Amerikanerin von dem erfolglosen Kampf gegen Kaliforniens Holzindustrie, dem sie fast ihr ganzes Leben gewidmet hatte. Die Medien sprachen 1990 vom ›Eco-War‹, vom Öko-Krieg. Damals hatten die Umweltaktivisten riesige Nägel in die Stämme der Sequoias getrieben, damit sich die Motorsägen daran die Zähne ausbissen. Nachdem sich die ersten Sägewerksarbeiter an den gespickten Mammutbäumen verletzt hatten, wurden Judi und ihre Mitstreiter in der Öffentlichkeit als Terroristen gebrandmarkt.

Was Judi Henson zu Cordings Überraschung nicht erwähnte, war das Attentrat, das auf sie verübt worden war. Damals war in Oakland eine Autobombe hochgegangen und hatte die Gewerkschafterin und den ›Earth First!‹-Sprecher Darryl Sloane schwer verletzt. Polizei und FBI hatten behauptet, es habe sich um einen Unfall gehandelt, die Bombe sei beim Transport zu dem Ort eines geplanten Terroranschlags explodiert. Es war jedoch ein offenes Geheimnis, dass die Lumber Companies hinter dem Attentat standen.

Amerikas Holzindustrie kam die Auseinandersetzung mit den Umweltschützern gerade recht. ›Wenn Sie Amerika ruinieren wollen, unterstützen Sie eine Umweltschutzgruppe!‹, hieß es in einer von ihr finanzierten landesweiten Anzeigenkampagne. Die Redwoods, so war zu lesen, seien keine ›Kathedralen Gottes‹, sondern bestes Bauholz, das den amerikanischen Lebensstil erst ermöglichte.

»In den Vorstandsetagen der Holdings redeten sie nur noch von der Baumernte«, sagte Judi um Fassung ringend, »als würde es sich um den Ertrag eines Maisfeldes handeln. Spätestens 1985 hätte allen Menschen bewusst werden müssen, dass Amerika schon sehr bald ein kahl geschorenes Land sein würde. Damals übernahm Maxxam Inc. die Pacific Lumber Company. Maxxam tätigte den Kauf mithilfe von hoch verzinsten, drittklassigen Obligationen, den sogenannten Junk Bonds, und wies Pacific Lumber umgehend an, die Holzernte zu verdreifachen, um die Schulden zu tilgen. Jetzt ging es nicht nur den verbliebenen Altforsten an den Kragen, sondern auch dem erst vor fünfzig Jahren gepflanzten, gerade mal beindicken Nachwuchs.«

Seine Begleiterin drängte zur Umkehr, sie hatte keine Lust, noch weiter in die schummrige Ödnis zu dringen. Sie führte Cording in ein abseits gelegenes Blockhaus, wo ein Mann am Kamin saß und ins Feuer starrte. Er hatte eine Gitarre auf dem Schoß und hielt das Griffbrett umklammert, als seien ihm beim Spielen die Akkorde abhandengekommen. Cording betrachtete das Poster an der Wand, welches ihm schon im Pressezentrum aufgefallen war. ›Auf dem Holzweg‹ lautete der Titel. Unter einem strahlend blauen Himmel schleiften fünf schwer bewaffnete Polizisten einen nackten Demonstranten davon, der mit weit geöffnetem Mund einen Schrei ausstieß, den man bis nach Alaska gehört haben musste. Im Hintergrund wurde eine frisch geerntete Fuhre Redwoods abtransportiert. Harz perlte aus den Schnittflächen der Stämme. Die Tropfen funkelten wie Diamanten in der Sonne. Seltsam, dachte Cording, wie es die Natur versteht, selbst die grausamsten Momente ästhetisch zu veredeln …

»Das dünne Bürschchen auf dem Poster bin ich«, hörte er den Gitarrenspieler sagen. »Die sind nicht gerade zimperlich mit uns umgegangen. Aber das ist nichts gegen das, was uns morgen erwartet. ’tschuldigung, hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ed. Ed Denson.«

Er reichte Cording die Hand. »Ich habe Ihre Reportage über die staatlichen Babyfänger in China gelesen. Kompliment. Diese Art von Journalismus gibt es nicht mehr in Amerika.«

Cording waren derartige Schmeicheleien unangenehm.

»Wie viele Leute haben Sie am Park auf die Beine gebracht?«, fragte er, um das Thema zu wechseln

Ed blickte Judi fragend an: »Hunderttausend? Was meinst du?«

»Mehr«, antwortete sie. »Allein im Hoopa Valley zelten über 80000 Leute.«

Cording wusste, dass die Abholzung der letzten Redwood-Bestände die amerikanischen Umweltschützer mehr erregte als jedes andere Thema zuvor. Er fragte sich nur warum. 1990 hatten gerade mal 5000 Aktivisten gegen den Kahlschlag aufbegehrt, obwohl damals immerhin noch zehn Prozent der ursprünglichen Wälder standen. Jetzt verschwand mit dem Redwood National Park eine letzte, kaum messbare Größe von der Landkarte, und die Menschen setzten sich aus allen Bundesstaaten in Bewegung. An der Grenze zwischen Kalifornien und Oregon tobte ein Glaubenskrieg zwischen Zerstörern und Bewahrern, obwohl es kaum noch etwas zu zerstören, geschweige denn zu bewahren gab. 40000 Nationalgardisten hatte die Bundesregierung in dieser absurden Auseinandersetzung gegen die Ökokrieger in Stellung gebracht. Zwischen den beiden Städtchen Klamath im Norden und Trinidad im Süden herrschte Ausnahmezustand. ›Earth First!‹ sprach von 23 Aktivisten, die bislang im Wald gefallen waren. Cording war sich also darüber im Klaren, in welche Hölle ihn Ed Denson führen würde.

Um zwei Uhr morgens brachen sie Richtung Eureka auf. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, schaltete Ed die Scheinwerfer aus, die Straße glänzte im Mondlicht hell genug, um sich zurechtzufinden. Sie passierten das Städtchen Loleta, das wie ausgestorben dalag. Die Fenster der Häuser waren verdunkelt wie im Krieg.

Ed zog es vor, Eureka zu umfahren. Das Risiko, in eine Straßensperre zu geraten, war ihm zu groß. Der Pick-up quälte sich über die schmalen, unbefestigten Schotterpisten ins blanke, kalt ausgeleuchtete Gebirge. Cording hielt das Armaturenbrett so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß wurden. Er war nicht schwindelfrei. Eigentlich war einer wie er gar nicht reisefähig. Ein Wunder, dass er es trotz seiner Tunnel- und Brückenphobie, trotz seiner Höhenangst bisher immer wieder geschafft hatte, heil nach Hause zurückzukehren.

Ed Denson schien von seiner Qual nichts zu bemerken, er suchte im Radio nach guter Musik. Der Empfang war erheblich gestört, was Cording eine weitere, kaum zu ertragende Vorstellung davon gab, wie hoch sie inzwischen geklettert waren. Endlich hatten sie den Scheitelpunkt des Gebirges überquert, ab da ging es nur noch bergab. Das war der Moment, in dem sich die Verkrampfung löste, in dem er vor Erleichterung zu plappern begann wie ein Wasserfall. Aus dem euphorischen Redefluss entspann sich eine Unterhaltung, die die nächtliche Fahrt ein wenig unterhaltsamer gestaltete und ihnen beiden half, die Anspannung wegen der bevorstehenden Aktion kurzzeitig zu vergessen.

»Es ist das erste Mal, dass sich amerikanische Ureinwohner offen auf die Seite der Umweltschützer geschlagen haben«, bemerkte Ed stolz. »Sie stellen uns ihr Land als Basiscamp zur Verfügung. Die Regierung wird es nicht wagen, Soldaten ins Reservat zu schicken.«

Bei Willow Creek erreichten sie den Highway 96, dem sie die verbliebenen zwölf Meilen nach Hoopa folgten. Die Erschütterungen, die ihnen die letzten Stunden durch Mark und Bein gegangen waren, hatten endlich ein Ende.

»Callenbach hatte es kommen sehen«, sagte Ed, »er hatte prophezeit, dass wir es in unserer Gesellschaft mit völlig neuen Allianzen zu tun bekommen werden, dass der Umweltschutz seine Verbündeten vor allem bei den Ureinwohnern, den Religionsgemeinschaften, unter Farbigen und Gewerkschaftern finden würde. Er hatte auch die Eskalation der Gewalt vorausgesehen – als logische Folge eines nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Lebensstils.«

»Callenbach?«, unterbrach Cording.

Der Amerikaner blickte ihn ungläubig an. »Ernest Callenbach, Autor von Ökotopia. Nie von ihm gehört?«

»Tut mir leid, nein.«

»Der Mann hat schon vor fünfzig Jahren für eine internationale ökologische Bestandsaufnahme plädiert. Er appellierte an die großen Konzerne, sich von innen heraus umzustrukturieren und sich als in die Natur eingebettete Unternehmen zu verstehen. Callenbach war der Ansicht, dass die Menschheit nicht zur industriellen Produktion bestimmt sei, sondern dazu, sich einen bescheidenen Platz im ausgewogenen Gewebe des organischen Lebens zu suchen. Das würde zwar einen gigantischen Konsumverzicht bedeuten, aber zumindest ihr Überleben garantieren.«

Cording fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Der Optimismus solcher Gutmenschen wie Ed Denson ging ihm auf den Geist. Jede seiner Reportagereisen bestätigte ihm auf fatale Weise, dass das Urteil für die Menschheit längst gesprochen war: lebenslänglich Treibhaus. In den einst gemäßigten Klimazonen der Erde tobten Tropenstürme von solcher Wucht, dass die Rückversicherer ihre milliardenschweren Finanzpolster aufgezehrt hatten und keine Policen mehr ausstellten. Hinzu kam, dass sich die Unfälle aus der aufgerüsteten Atomindustrie aneinanderreihten wie Perlen auf einer Kette. In Europa und den USA registrierte man die Rückkehr von Seuchen, die längst besiegt schienen. Die sintflutartigen Sommerregen in England führten regelmäßig zu Cholera- und Typhusepidemien, die ebenso regelmäßig auf den Rest des Kontinents übergriffen. Auch in Asien und Südamerika waren ganze Regionen durch die extreme Verschmutzung des Trinkwassers unbewohnbar geworden. Hungersnöte und Aids hatten auf dem afrikanischen Kontinent für verheerende Zustände gesorgt. Die Gesundheitssysteme funktionierten nicht mehr, nirgendwo auf der Welt. Gigantische Finanzströme flossen unkontrollierbar um den Globus, weil sich die Börsen in Tokio, London und New York beständig neuer Virenattacken zu erwehren hatten. Die Genmanipulation an Tieren und Pflanzen war längst aus dem Ruder gelaufen und produzierte eine Monsterspezies nach der anderen. Nach einer jüngsten UN-Studie glichen die leer gefischten Weltmeere riesigen Giftmülldeponien und in den aufgeblähten Megacitys rund um den Globus herrschte das pure Chaos.

Cording hätte das Horrorszenario beliebig fortschreiben können. Alles was er sah, war auf Zerstörung ausgerichtet. Anzeichen dafür, dass die Menschheit zur Besinnung kam, konnte er nicht entdecken. Vor diesem Hintergrund mutete jede soziale, religiöse oder wie auch immer geartete Auseinandersetzung lächerlich an. Heute spielten ganz andere Dinge eine Rolle: Verteilungskämpfe um die letzten Ressourcen, verbunden mit einem unvorstellbaren weltweiten Elend. Diese Gewissheit setzte ihn außerstande, den politischen Debatten zum Umweltschutz noch irgendeinen Reiz abzugewinnen, solange sie nicht die Bereitschaft zur Radikalität erkennen ließen.

Er wandte sich erneut an Ed.

»Wann ist Callenbachs Roman erschienen?«, fragte er.

»1975.«

»Und? Hat sich seitdem irgendetwas in die gewünschte Richtung bewegt?«

Er wunderte sich selbst über den scharfen Ton in seiner Stimme. Ed Denson war ein liebenswerter Mensch, er hatte es nicht verdient, dass man ihn auf diese Weise anging. Also zwang sich Cording zur Mäßigung.

»Um die Welt noch vor dem Kollaps zu retten«, fügte er etwas versöhnlicher hinzu, »müsste augenblicklich eine Weltregierung ausgerufen werden, die über genügend Rückendeckung und militärische Präsenz verfügte, um ihr drastisches Schutzprogramm durchsetzen zu können. Dazu müssten die Interessen des Kapitals gebrochen und die sozialen und militärischen Konflikte auf der Erde sofort befriedet werden. Die großen Weltreligionen müssten unter einen Hut gebracht werden, man müsste die Erdbevölkerung auf eine erträgliche Zahl begrenzen und die Menschen dazu zwingen, den Raubbau an der Restnatur sofort einzustellen.« Er hatte sich erneut in Rage geredet. »Hältst du das vielleicht für möglich, Ed? Ich nicht. Die Geschichte ist längst geschrieben, glaub mir.«

Über dem Salmon Mountain stieg die Sonne auf und überflutete die schlafende Zeltstadt im Valley mit einem leuchtenden Rot. Mehr Frieden ging nicht auf diesem nordkalifornischen Kriegsschauplatz, über dem sich die Vision von Ökotopia verflüchtigen sollte, wie ein laues Lüftchen vor dem Sturm … Cording konnte ihn förmlich riechen, diesen Sturm. Aber davon sagte er Ed nichts, der ausgestiegen war, um die bewaffneten Straßenposten von ›Earth First!‹ in die Arme zu schließen.

Das taktische Konzept der Umweltschützer war denkbar einfach. Sie nutzten ihre numerische Überlegenheit, um den Truppen am National Park jeden Tag an anderer Stelle auf die Pelle zu rücken. Die Konzentration von Zehntausenden friedlicher Demonstranten an einem willkürlich ausgesuchten Punkt entlang der Ostflanke des Parks band jedes Mal einen Großteil der Armeeeinheiten, sodass es den Sabotagetrupps von ›Earth First!‹ relativ leicht fiel, fernab der errichteten Scheinfronten in den Wald zu stoßen.

Cording begleitete einen Trupp von zwölf Aktivisten in Tarnuniformen, die sich unter Führung Ed Densons in dem weit verzweigten Höhlensystem versteckten, das unterhalb des Hupa Mountain am Schnittpunkt zweier Forststraßen lag, auf denen die gefällten Baumriesen abtransportiert wurden. Heute war der Tag, an dem Pacific Lumber drei weitere Rodungsmaschinen anlieferte. So jedenfalls lautete die Information, die der Kommandozentrale von ›Earth First!‹ vom Shasta Lake zugespielt worden war, wo die Maschinen bisher gewütet hatten. Die ›Killa Godzillas‹, wie sie von den Umweltschützern genannt wurden, befanden sich kurz hinter Willow Creek. Wie Ed Denson über Mobilfunk erfuhr, bewegten sie sich im Schutze eines Panzers direkt auf sie zu. In zwei Stunden würde es an dieser Stelle zum Showdown kommen …

Die Anspannung unter den Ökokriegern wuchs. Gesprochen wurde kaum. Noch waren die selbst gebastelten Bomben mit den Fernzündern auf der Piste nicht installiert, noch zogen die mit Baumstämmen beladenen Trucks im Minutentakt vorbei. Aber irgendwann würden die Verantwortlichen die Schotterstraße sperren. Es galt, das Zeitfenster von der Straßensperrung bis zum Eintreffen der ›Godzillas‹ zu nutzen. Die Aktion war mit einem hohen Risiko verbunden. Die Kontrollflüge der Helikopter würden eher noch verstärkt werden, und die Piste war von oben gut einsehbar.

Cording lauschte dem gespenstischen Geräuschpotpourri, das wie ein akustischer Nebel aus dem Wald stieg. Über allen Wipfeln ist Ruh … Von wegen. Allein das hysterische Geschrei der Vögel hätte ausgereicht, ihm den letzten Nerv zu rauben. Aber die tierische Verzweiflung verschaffte sich nur bedingt Gehör. Am Himmel die schmatzenden Schläge der Rotorblätter, am Boden das schrille Gebrüll der Kreissägen, gewürzt mit den dumpfen Vibrationen, die vom Aufprall der niedergemetzelten Redwoods rührten. Und als ob die Untergangssinfonie noch eines burlesken Tupfers bedurft hätte, schleuderte ein Ambulanzwagen den zum Tode verurteilten Bäumen seinen Sirenengesang um die Stämme.

Cording blickte zu Ed hinüber, der kreidebleich auf sein Handy starrte.

»Sie machen ernst …«, stammelte er.

»Was meinst du?«, fragte Cording.

Ed antwortete nicht.

»Was ist los, Mann?«, rief jemand.

»Sie haben Richard erwischt«, erwiderte Ed wie in Trance. »Bill und Tommy auch. Die anderen sind abgestiegen und verhaftet worden.«

Cording konnte sich keinen Reim darauf machen. Schließlich erfuhr er, dass die Waldarbeiter wohl Anweisung erhalten hatten, auch jene Bäume zu fällen, in deren hohen Kronen ›Earth First!‹- Aktivisten ihr Leben verpfändeten. Ein Quantensprung der Gewalt. Für Eds Leute bedeutete die Nachricht, dass sie ihren Anschlag auf die ›Killa Godzillas‹ unbedingt erfolgreich gestalten mussten. Eine einzige dieser Maschinen kostete über zwei Millionen Dollar und legte pro Tag bis zu tausend Bäume um. Wer ein solches Monstrum ausschaltete, erregte Aufmerksamkeit. Und nichts brauchten die Ökokrieger zurzeit dringender, als einen symbolträchtigen und medienwirksamen Erfolg.

Seit fünf Minuten hatte sich auf der Forststraße nichts mehr bewegt. Die beiden Helikopter, die flach über den Bäumen ihre Kreise gezogen hatten, stoben mit tief hängender Stirn in östlicher Richtung davon. Für einen kurzen Moment wurde es still, als hätte jemand dem sterbenden Wald das Leichentuch übergeworfen. Doch die Stille währte nicht lange. Aus der Ferne drang das quietschende Geräusch von Panzerketten an ihre Ohren.

Ed gab das Zeichen. Neun seiner Männer stürmten in Dreiergruppen den Hang hinunter. Die Aufgaben waren genau verteilt. Der Erste einer jeden Gruppe wickelte die Zündschnur von der Spule, ein Zweiter hob mit dem Spaten zwei Löcher aus und der Dritte buddelte die Tellerminen ein. Am Ende schlummerten sechs hochexplosive Zwillingsbomben im Abstand von zwanzig Metern in der Piste. Die ganze Angelegenheit hatte keine drei Minuten gedauert. Als die Helikopter zurückkamen und das Kettengerassel anschwoll, lagen die Ökokrieger längst wieder in Deckung.

Cording robbte an den Rand der Höhle. Im selben Moment packte ihn jemand bei den Füßen und zerrte ihn zurück, sodass er nur einen kurzen Blick auf die herannahenden Maschinen werfen konnte. Groß waren sie und breit, ihr Anstrich giftig gelb. Sie leuchteten in den Abgasschwaden des vorausfahrenden Panzers wie Phosphor auf dem Grund der Hölle. Und oben im Führerhaus thronte ein Menschlein, das vermutlich Familie und eine gute Meinung von sich hatte. Das gleich dran glauben musste … Er wunderte sich, dass ihn die Vorstellung nicht schreckte. Diese dienstbaren Kreaturen in ihren Cockpits waren in der Lage, durch eine geringfügige Drehung des Joysticks den Schleier der Schöpfung zu zerreißen und Paradiese in Parkplätze zu verwandeln.

Wieder einmal überkam Cording ein nicht zu bändigender Hass auf die Spezies, der er angehörte und deren einzige Bestimmung die Zerstörung des Planeten zu sein schien. Irgendwann würde er an dieser Erkenntnis zerbrechen. Vielleicht hätte er seine Sensibilität im Widerstand ersticken sollen, er hätte zum Beispiel einer von diesen Guerillatypen werden können. Einer, der bereit war, guten Glaubens einen Forstarbeiter zu erledigen, bevor der letzte Baum zu Boden fiel. Der bereit war, sich selbst zu opfern, falls es notwendig sein sollte. Aber er war nun mal keiner, der klaglos seinen Ameisendienst verrichtete, nicht einmal in einer moralisch hochgerüsteten Armee. Außerdem war er zu feige für den Kriegsdienst. Er hatte sich für ein Reporterleben entschieden. Als Reporter blieb er unangetastet und wurde doch Zeuge all der Tränen, Ängste, Missverständnisse und Vergewaltigungen, Zeuge von Gewalt und Verbrechen, Zeuge für das gesammelte Aufgebot gegen die Lebensfreude. Auch keine einfach zu ertragende Aufgabe.

Ein ohrenbetäubender Knall holte ihn in die Gegenwart zurück. Es fühlte sich an, als sei sein Kopf in tausend Stücke zerplatzt. Zwei weitere Detonationen folgten, sie machten nur noch leise ›puff‹. Scheiße, dachte er, ich höre nichts mehr! Während sich die Jungs um ihn herum in den Armen lagen und ihre Münder Jubelschreie artikulierten, hielt sich Cording die Nase zu und presste Luft in die Ohren. Vergeblich.

»Was ist passiert!?«, schrie er, als Ed ihm triumphierend auf die Schulter haute. Er verstand seine eigenen Worte nicht, Eds Antwort verstand er schon gar nicht. Dass er nahezu taub war, hatte er einer Unachtsamkeit zu verdanken. Während er die vom Mittagsregen gereinigte, vom Duft der Kiefern schwer gewordene Waldluft inhalierte, hatten die anderen die Abgase des Panzers geschnuppert, den Befehl zum Sprengen der Minen abgewartet und sich zur rechten Zeit die Ohren zugehalten.

Cording kroch erneut aus der Deckung. Da er schon nichts hörte, wollte er sich zumindest einen Überblick verschaffen. Auf der Forststraße sah es aus wie nach einem Bombenangriff. Der Erste der gelben ›Godzillas‹ lag brennend auf der Seite. Er hatte seinen Fahrer unter sich begraben, von dem nur die Hand hervorschaute, die in diesem Moment aufhörte zu zucken. Der Zweite war auf den rußgeschwärzten Bauch gefallen und dem Dritten fehlten Schnauze und Führerhaus. Der Begleitpanzer zerrte an den Ketten wie ein gereizter Kampfhund. Sein Geschützrohr schwenkte hektisch auf und ab, aber ein Ziel fand er nicht. Auch die beiden Helikopter standen hilflos im aufsteigenden Rauch, denn noch gab es hier Bäume, die sie an einer Landung hinderten.

Cording stellte erleichtert fest, dass er das Schlagen ihrer Rotorblätter vernehmen konnte, nicht sehr laut, aber immerhin. Die Maschinengewehrsalve, die kurz darauf neben ihm einschlug, hörte er schon beträchtlich deutlicher. Diesmal brauchte man ihn nicht an den Füßen in die Höhle zu zerren, diesmal sprang er von selbst in Deckung, als hätte man ihm einen elektrischen Schlag verpasst. Über der Plattform, auf der er eben noch gelegen hatte, stürzte die Decke ein. Kopfgroße Felsbrocken hagelten auf die Männer nieder. Die beiden Ökokrieger, die neben ihm auf allen vieren den schützenden Katakomben entgegenkrochen, wurden von der Bühne geschossen wie Blechenten auf dem Jahrmarkt.

Cording lag mit geschlossenen Augen auf dem Bauch. Er kannte diesen Moment, in dem sich die Zeit extrem dehnt, in dem eine Gewehrkugel mit der Grazie und Geschwindigkeit einer Daunenfeder angeflogen kommt, in dem man ohne Gefühle und ohne Angst ist. Dies ist der Moment der Aufgabe. Das Leben lässt einen los und plötzlich ist alles im Lot und alles geschieht zur rechten Zeit …

Als er aus der Starre erwachte, musste er feststellen, dass das Leben ihn nicht etwa losgelassen, sondern fest im Griff hatte. Jemand schleifte ihn am Gürtel über den staubigen Boden ins Dunkel. Es war Ed, der ihn aus der Schusslinie zog. Über dem Höhlenausgang lag ein Vorhang aus schwarzem Qualm. Immer noch schossen die Helikopter ihre Maschinengewehrgarben hinein und der Panzer legte wuchtig nach, als wollte er den Berg verrücken. Ed zündete ein Feuerzeug an. Gemeinsam ertasteten sie den Weg in das Höhlenlabyrinth, das ihnen hoffentlich einen Ausgang bescherte.

»Wo sind die anderen?«, fragte Cording, während er sich im Halbdunkel hinter Ed an der Wand entlangtastete. Er hörte immer noch schwer und war nicht sicher, ob Ed ihm überhaupt geantwortet hatte. Den ganzen Weg über quälte er sich mit Schuldgefühlen, schließlich war er es, den die Soldaten als Erstes entdeckt hatten. Das gestand er Ed auch ein. Der winkte nur unwirsch ab

»Es ist Jacks Schuld«, sagte er, »Jack hätte nicht auf den Helikopter schießen dürfen.«

Cording versagten die Beine. Die Anspannung der letzten Stunden fiel mit einem Schlag von ihm ab. Es war nicht er, der die Schießerei ausgelöst hatte, es war Jack! Jack hatte auf den Helikopter geschossen! Cording hatte es nur nicht gehört! Da hatten sie bei dem Einsatz vermutlich neun Tote zu beklagen und alles, was er jetzt spürte, war ein Gefühl der Erleichterung.

In den nächsten Stunden war es Cording, der die Führung übernahm. Er war es, der die dunklen Gänge des Labyrinths auskundschaftete und in die Stollen kroch, bis es nicht mehr weiterging. Der umkehrte, sich um Eds verletztes Knie kümmerte und erneut Anlauf nahm. Irgendwann, es war noch dunkel, witterte er Morgenluft. Waldluft, um genau zu sein. Vom Duft der Sequoias schwer gewordene Waldluft. Er ging zurück und holte Ed. Gemeinsam standen sie am Höhlenausgang und blickten ehrfürchtig an den Stämmen der Mammutbäume empor in einen funkelnden Sternenhimmel. Cording legte seinem Begleiter den Arm um die Schulter. Eigentlich konnte er zufrieden sein, er hatte seine Story. Und er würde wie immer das Beste daraus machen …

David Apfelbaum, Inhaber des ›Hotel David‹ in San Francisco, war extra aus seiner Penthousewohnung heruntergekommen, um sich von seinem deutschen Gast zu verabschieden. Sie setzten sich abseits des hufeisenförmigen Tresens ins Séparée des hauseigenen Restaurants. Vor dem Eingang pöbelte ein hagerer Mann Passanten an. Er hatte sich Lappen um die Füße gewickelt und steckte in einem zerrissenen Armeemantel. Nach einigem Zögern trat er ein. Seine stechenden Augen bewegten sich wie Suchscheinwerfer im Raum. Als er David entdeckte, marschierte er direkt auf ihn zu.

»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte er. »Vor fünf Jahren haben Sie mir angeboten, dass ich jederzeit zu Ihnen kommen darf, wenn ich hungrig bin …«

David bedeutete der Kellnerin durch eine unauffällige Geste, dass der Herr zu speisen wünsche. Der kleine Tiger, wie der San Francisco Chronicle den untersetzten Mann mit dem schütteren Haarkranz einmal genannt hatte, galt unter den Obdachlosen des Theatre Districts als Wohltäter. Aber nicht nur die Obdachlosen kamen gerne hierher, auch für die Prominenten der Stadt hatte das Restaurant einen besonderen Reiz. Sie fanden Gefallen an dem perversen Vergnügen, der Fütterung der ›menschlichen Raubtiere‹ beizuwohnen. Der Laden gehörte zur Stadt wie die City Hall, Alcatraz oder die eingestürzte Golden Gate Bridge.

Die Telefonistin kam an den Tisch und teilte Cording mit, dass ein Anruf aus Hamburg in der Leitung sei. Es war sein Chefredakteur. Mike bestand darauf, dass er den Flug nach Deutschland cancelte, und sich stattdessen nach Baja California aufmachte.

»Kann das nicht New York übernehmen?«, fragte Cording genervt.

»Nichts da. Es ist unsere Geschichte und damit basta!«

»Was machst du denn für ein Aufheben um die paar Wale, Mike? Ich versteh das nicht.«

»Die paar Wale?! Es sind Hunderte, die sich da unten an die Strände werfen. Das ist kollektiver Selbstmord!«

»Das ist doch eine typische TV-Geschichte, so was transportiert sich über Bilder und nicht über Worte. Oder soll ich die Viecher etwa fragen, was sie sich dabei gedacht haben?«

»Hör zu, ich hab keine Zeit, weiter mit dir zu diskutieren. Wenn du an deinem Job hängst, dann fährst du da jetzt runter. Mach’s gut.«

Was blieb ihm anderes übrig, als den Heimflug zu stornieren und beim Autoverleih in der Geary Street vorstellig zu werden? Er entschied sich für ein weinrotes BMW-Cabrio. Das würde zwar Ärger mit der Buchhaltung geben, aber er könnte einfach behaupten, dass sie etwas Billigeres auf die Schnelle nicht parat gehabt hätten. Wer wollte ihm das Gegenteil beweisen? Hinter Monterey stellte er mit einem zufriedenen Grinsen fest, dass diese ungeplante Verlängerung seiner Dienstreise durchaus auch angenehme Seiten hatte.

›Hier also hält sich Gott versteckt!‹ , hatte D. H. Lawrence entzückt notiert, als er 1925 die unwegsame mexikanische Halbinsel Baja California besuchte. Cording hielt den Kopf in den Fahrtwind, um der brennenden Stirn Linderung zu verschaffen, aber ebenso gut hätte er ihn in einen Hochofen stecken können. Wenn Gott diesen Wurmfortsatz Kaliforniens tatsächlich zu seinem Versteck erkoren hatte, musste er verdammt hitzeresistent sein. Zuzutrauen war es ihm. Damit wäre er wohl der Einzige, der alle Voraussetzungen mitbrachte, die vom Menschen verursachte Klimakatastrophe zu überleben.

Baja war ein widerstandsfähiges Fleckchen Erde, das es verstanden hatte, sich die Menschen vom Hals zu halten. Die erfolgsverwöhnte Spezies des Homo sapiens scheiterte bis heute an der grandiosen Feindseligkeit des Landes, das in der Mitte des amerikanischen Kontinents noch immer zu den am dünnsten besiedelten Gebieten der Erde gehörte. Seine von der Sonne gebackenen Gebirge, seine weiten Sandwüsten und abgrundtiefen Canyons duldeten den Menschen allenfalls als Gast. Die erst 1973 gebaute Mex 1, auf der sich Cording jetzt bei geschlossenem Dach Richtung Süden bewegte, war die einzige Zivilisationswunde, die man der Halbinsel hatte zufügen können. Sie schlängelte sich 1700Kilometer von Tijuana nach Cabo San Lucas. Wie gelassen Baja das asphaltierte Implantat zur Kenntnis nahm, ließ sich aus den Trümmern entlang der Strecke ablesen: blutrote Splitter von Rücklichtern, geborstene Windschutzscheiben, bis zum Dach verschüttete Autowracks und rostige Auspuffrohre, die aus dem Sand ragten wie die Arme von Ertrinkenden – das alles zeugte davon, mit welcher Souveränität der Wüstenstrich sich der Automobilmachung zu erwehren wusste. Wo ein Fahrzeug stecken blieb, lag es für immer.

Mit jedem Kilometer, den Cording in diese unwirtliche Landschaft vordrang, verstärkte sich der Eindruck, auf einem anderen Stern unterwegs zu sein. Sämtliche Farben wirkten wie auf Schwarz gemalt, dies war der dunkelste Sonnenhimmel der westlichen Hemisphäre. Die Temperaturen erreichten 55Grad im Schatten, aber wo war schon Schatten? Immer schienen die hintereinander gestaffelten Bergrücken zum Greifen nah, so klar war die Luft. Allmählich entwickelte er ein Gefühl für die erhabene Schönheit dieses gnadenlosen Paradieses. Er war überwältigt von den Cardön-Kakteen, die als gigantische Zeigefinger oder mächtige Kandelaber bis zu zwanzig Meter in den Himmel ragten. Gelegentlich witterte er das Parfüm des Meeres.

Er fuhr rechts ran und studierte die Karte. Den Abzweig nach Bahia de los Angeles hatte er gerade passiert. Bis zur Lagune Ojo de Liebre waren es noch etwa fünfzig Meilen. Als er vom Standstreifen auf die Straße zurückkehrte, hätte er fast einen Campingbus gerammt, der von dem plötzlichen Ausweichmanöver aus der Bahn geworfen wurde und nun heftig schlingernd in die Spur zurückfand. Es handelte sich um eine ganze Kolonne solcher Gefährte, in die er geraten war.

Ziel dieser Untergangstouristen waren die warmen Salzwasserlagunen bei San Ignazio, Guerrero Negro und Bahia Magdalena. Vor langer Zeit waren sie schon einmal Schauplatz eines tierischen Massensterbens gewesen. Die Lagune Ojo de Liebre, wo sich die meisten Wale an Land warfen, trägt im Englischen den Namen ›Scammon’s Lagoon‹, benannt nach dem Walfängerkapitän Charles Melville Scammon. »Die Küsten von Baja sind voller riesiger Knochen«, notierte er vor zweihundert Jahren in sein Tagebuch, »es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die Grauwale nicht mehr unter den lebenden Rassen weilen werden.« Da auch seine Nachfolger in seinem Sinne wüteten, war der weltweite Bestand auf 250 Exemplare geschrumpft, bevor man die Tiere 1937 endlich unter Schutz stellte. Heute schätzte man ihre Zahl auf 30000.

Seit Urzeiten zogen die Grauwale in immer gleichen Formationen aus den arktischen Meeren in ihr pazifisches Winterquartier. Auf der zehntausend Kilometer langen Wanderung legten sie täglich 200Kilometer zurück. Cording hatte sich die Bilder der gestrandeten Wale vor seiner Abreise aus San Francisco noch einmal im Fernsehen angesehen. Er glaubte nicht an die Mär vom kollektiven Selbstmord. Für ihn war das nichts weiter als ein Mediencoup, ein Verkaufsschlager, der das Mitleidspotenzial eines Massenpublikums bediente. Seiner Meinung nach musste es eine logische Erklärung für das Verhalten der Tiere geben. Der Mensch funkte im Meer inzwischen auf allen Frequenzen. Allein das Unterwasserradar der Militärs dürfte ausreichen, das sensible Ortungssystem der Wale außer Kraft zu setzen. Wieso sie trotzdem in ihre Kinderstube zurückfanden, um zu sterben, blieb ihm allerdings ein Rätsel.

Das Klingeln des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Es war sein Chefredakteur, wer sonst. Wie immer war er sehr kurz angebunden.

»Sorry«, sagte Mike, »die Londoner haben umdisponiert. Sie haben nun doch ein Fernsehteam runtergeschickt. Müsste schon vor Ort sein. Tut mir leid. Wo bist du gerade?«

»Kurz vor der Lagune Ojo de Liebre.«

»Na ja, dann schau dir das Spektakel halt an, wenn du willst, aber komm so schnell wie möglich zurück nach Hamburg.«

Er hatte es Mike ja gesagt, dies hier war eine TV-Geschichte.

Um Himmels willen! Was tat sich denn da vorne in den Dünen? Sah aus wie bei einem Freiluftkonzert oder Rodeo. Autos, Wohnwagen und Zelte, so weit das Auge reichte. Auf der Straße war kein Durchkommen mehr. Cording setzte den BMW zurück und parkte am vorläufigen Ende der Blechschlange. Dann griff er nach dem Strohhut, den er sich in Tijuana gekauft hatte, und stapfte auf glühend heißem Untergrund auf jenen langen Kamm zu, der ihm auf den letzten Kilometern den Blick aufs Meer beharrlich verstellt hatte.

Dahinter ging es sanft bergab. Der Ozean glitzerte in der Mittagssonne. Er lag da wie gebügelt. So regungslos wie die schiefergrauen, zehn Meter langen gestrandeten Kolosse, die im flachen Wasser dümpelten, während Hunderte mit Eimern bewaffneter Helfer versuchten, ihre austrocknenden Körper feucht zu halten. Auf den sandigen Rängen dieses absurden Theaters hockte das ehrfürchtige Publikum. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen, viele beteten. Über ihnen kreiste surrend ein Zeppelin mit roter Aufschrift: EMERGENCY TV.

Er hatte noch den Jetlag in den Knochen, als die Chefredaktion ihn zum Rapport bestellte. Cording rief ein Taxi. In der Bogenstraße wütete das in leuchtende Overalls gekleidete Kettensägenkommando des städtischen Gartenbauamts. Die Männer arbeiteten schnell. Er war gerade zwei Monate fort gewesen, und schon standen statt der vertrauten Bäume nur noch Stümpfe in den Straßen seines Viertels. Seit Holz extrem knapp geworden war, machten sie mit ihren Motorsägen nicht einmal mehr vor den Alleen halt.

Er lehnte den Kopf an die Scheibe und schloss die Augen. Er vermisste das Lichtgeflacker auf seinen Lidern, wenn die Sonne durchs Blätterwerk der Kastanien brach, die im Mai weiß aufschäumten. Noch vor zehn Jahren hatte er ihre herabrieselnde Blütenpracht vom Balkon aus mit Händen greifen können.

»Was ist los?«, fragte er, als der Fahrer den Motor abstellte.

»Polizeikontrolle«, antwortete der Mann und trommelte mit den Fingern ungeduldig aufs Lenkrad. »Das ist schon das dritte Mal heute, dass ich in so eine Scheißkontrolle gerate!«, schimpfte

»Nach wem suchen die denn?«

»Nach Arbeitslosen.« Der Fahrer blickte Cording im Rückspiegel prüfend an. »Sie haben wirklich keine Ahnung, oder?«

»Sagen Sie es mir.«

»Sehen Sie die Tankstelle da vorne?«

»He! Was ist denn mit der passiert?!«

»Da ist gestern jemand reingedonnert. Ein illegaler Taxifahrer, ein Arbeitsloser. Das Ding flog innerhalb von Sekunden in die Luft. Peng! Zwölf Tote. Darum die vielen Kontrollen. Also bleiben Sie lieber sitzen. Zu Fuß geht es auch nicht schneller.«

Cording sank in den Sitz. Er fühlte sich einfach nur noch müde. Als der Senat vor fünf Jahren das Umsiedlungsgesetz verabschiedete, hatte er für seine damalige Zeitung einen Kommentar geschrieben, der ihm eine Menge Ärger und schließlich die Kündigung eingebracht hatte. Damals betrug die Arbeitslosenquote in Hamburg fünfunddreißig Prozent. Wer in einer solchen Situation den gesamten Stadtkern für ein Drittel der Bevölkerung sperrte, provozierte genau das, was er verhindern wollte: den Bürgerkrieg. Die Befürworter des Gesetzes behaupteten, dass man die Infrastruktur der Stadt vor Anschlägen schützen müsse. Die Masse der Beschäftigungslosen berge zu viel Gewaltpotenzial, als dass man die Durchmischung zwischen arbeitender und nicht arbeitender Bevölkerung weiterhin akzeptieren könne. Bis zum Jahre 2025 sollten alle Hamburger Betriebe, die mehr als zwanzig Mitarbeiter beschäftigten, in der City konzentriert sein. Unter City verstand der Senat nicht nur den eigentlichen Innenstadtbereich, sondern auch die angrenzenden gutbürgerlichen Wohngegenden Harvestehude, Winterhude und Eppendorf. Wer hier lebte und seinen Job verlor, wurde in die Trabantenstädte verbannt und durfte sich an alter Stätte nicht mehr sehen lassen, nicht einmal zu Besuch oder zum Einkäufen. Es sei denn, er verfügte über ein Bankguthaben von mindestens 100000Euro. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann die Zweiklassengesellschaft explodierte. Was hatte das Millionenheer der Ausgegrenzten schon zu verlieren?

»Die Ausweise bitte!«

Die Sicherheitsvorkehrungen im Verlag wurden immer aberwitziger. Sie filzten nicht nur das Gepäck, jetzt durfte das Wachpersonal den Angestellten in eigens errichteten Kabinen sogar stichprobenartig an die Wäsche. Natürlich traf es mal wieder ihn.

»Machen Sie sich nichts draus«, bemerkte Dr. Werner vom Aufsichtsrat, als sich Cording in der Empfangshalle das Hemd in die Hose stopfte, »mich hat es gestern ebenfalls erwischt. War übrigens hervorragend, Ihre Reportage über die Babyfänger. Was stellen die chinesischen Behörden eigentlich mit den zweitgeborenen Babys an?«

»Das wollten sie mir nicht sagen …«, entgegnete Cording ironisch.

Dr. Werner stutzte kurz, dann begann er zu lachen. »Die bringen sie doch nicht tatsächlich um, wie behauptet wird, oder?«

Cording zuckte mit den Schultern und ging zu den Fahrstühlen. Vierzehnter Stock. Er marschierte den langen Flur hinunter, vorbei an den gerahmten Reportagen, die das EMERGENCY-Team im letzten Jahr zustande gebracht hatte. Die Tür zum Sekretariat stand offen. Betty, Mikes Sekretärin, saß an ihrem Schreibtisch und spielte gedankenverloren mit einem Bleistift. Als sie ihn entdeckte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

»Schön, dass du wieder da bist«, sagte sie.

Cordings Blick glitt unter den Schreibtisch, wo eine kugelsichere Weste sowie ein Stahlhelm mit der Aufschrift ›Presse‹ deponiert waren. Betty war sein prüfender Blick nicht verborgen geblieben.

»Wen schickt ihr denn als Nächsten ins Gefecht?«, fragte er.

»Der Set ist für dich«, sagte Betty.

»Für mich?! Was soll das?!«, schimpfte er, »ich bin gerade mal seit 24 Stunden zurück!«

Betty zuckte nur mit den Schultern.

»Das musst du schon mit Mike klären.«

»Wo soll es denn hingehen?«

»In den Senegal. Du fliegst morgen von Frankfurt aus mit der Bundeswehr nach Agadir. Von dort geht es mit dem Jeep weiter.«

»In die Flüchtlingscamps?! Weißt du, was der nordafrikanische Staatenbund dort veranstaltet? Organisierten Massenmord! Sie lassen die Flüchtlinge in die Falle laufen und hungern sie aus. Dort krepieren Hunderttausende. Frauen, Kinder, Greise. Die senegalesische Grenze ist ein einziges Massengrab. Mein Gott, Betty, ich habe genug Scheiße gesehen die letzten Monate. Das reicht für ein ganzes Leben!«

Betty antwortete nicht. Cording hielt nun ebenfalls die Klappe. Er würde da nicht hinfahren, so viel stand fest.

»Bestell Mike, dass er mich sonstwo kann«, sagte er und verschwand leise fluchend aus dem Büro. Diesmal verzichtete er auf ein Taxi und nahm die U-Bahn. Das Risiko, seiner angestauten Wut an unpassender Stelle Luft zu verschaffen und möglicherweise in einer weiteren Polizeikontrolle Amok zu laufen, war ihm zu groß.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, traute er seinen Augen nicht. Die Mansteinstraße lag unter einer dichten Schneedecke begraben. In der Nacht war die Temperatur um zwanzig Grad gefallen. Und das Anfang Mai! Er lehnte an der offenen Balkontür und hielt sein Gesicht in die Sonne. Unten hatte jemand den Namen ›Anna‹ auf ein verschneites Auto geschrieben. Der Anblick versetzte ihm einen Stich.

Anna. Elf Monate war es her, seitdem sie ihm beim Frühstück in zärtlichster Manier zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihn verlassen werde. Er hatte ihre Entscheidung akzeptiert wie einen Richterspruch. Die Zeit mit ihr war ihm ohnehin als etwas erschienen, das er noch nicht verdient hatte – ein Wechsel auf die Glückseligkeit sozusagen, den es irgendwann einzulösen galt. Er kramte nach ihren Fotos. Anna erinnerte ihn an ein Taipi-Mädchen, von denen Herman Melville berichtet hatte. Die Taipi waren Südsee-Insula-ner. Ihre Mädchen wuchsen frei und ungezwungen auf, sie waren von jeder gesellschaftlichen Pflicht entbunden, körperliche Arbeit war ihnen bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr untersagt.

Doch er kam nicht dazu, lange in Erinnerungen zu schwelgen. Der Wandbildschirm signalisierte den Eingang einer dringenden E-Mail. Die Chefredaktion zitierte ihn ins Haus, das war zu erwarten gewesen.

»Er telefoniert noch«, sagte Betty, die über seinen schnellen Abgang, den er sich das letzte Mal geleistet hatte, immer noch verärgert zu sein schien.

Cording blickte in den Innenhof, der sich unter einer stürmischen Wolkenfront verfinsterte, als sei die Welt beleidigt.

»Kannst reingehen, er hat aufgelegt.«

Als Cording eintrat, ließ Michael Kühling, deutscher Redaktionsleiter des internationalen Reportagemagazins EMERGENCY,die rechte Hand über die Sessellehne fallen, als biete er sie zur Maniküre dar.

»Siehst beschissen aus«, bemerkte er. »Was war los mit dir gestern? Warum bist du nicht in den Senegal geflogen?«

Cording antwortete nicht. Stattdessen sah er sich in aller Ruhe um. Sie hatten den Chefsalon renoviert. Neue Möbel, neuer Teppich, neue Gemälde.

»Der Kandinsky ist echt«, bemerkte Mike, als wollte er der Nachfrage zuvorkommen. »Aber zur Sache: was war los?«

Cording betrachtete seinen Vorgesetzten wie eine Naturerscheinung. Der Mann war innerhalb kürzester Zeit zu einem strahlenden Erfolgsmodell mutiert. Mike war nur noch ein Schatten seiner selbst, bis unter die Haarspitzen von Machtgeilheit und klammheimlicher Lust erfüllt. Wie sollte er diesem gekauften Freund seine Lebensmüdigkeit erklären? Cording fragte sich, was er hier zu suchen hatte. Jedes Mal, wenn er diese gesicherte Trutzburg des Journalismus betrat, hatte er das Gefühl, dass die Selbstzufriedenheit, die an diesem Ort vorherrschte, in keinem Verhältnis zur Realität stand. Die Leute hier hatten doch keine Ahnung, wie es da draußen wirklich aussah.

»London hat sich nicht gerade erfreut darüber gezeigt, dass du den Auftrag abgelehnt hast«, hörte er Mike sagen. »Wenn sie der Meinung sind, dass jemand ihrer Angestellten ausgebrannt ist, reagieren sie humorlos. So ist das Geschäft. Ich habe deine Tochter sterben lassen. Das haben sie als Grund akzeptiert.«

»Meine Tochter? Ich habe keine Tochter!«

»Du hattest eine uneheliche Tochter und damit basta.«

»Hätte es eine simple Krankschreibung nicht auch getan?«

»Bist du naiv, mein Lieber! In welcher Welt lebst du eigentlich? Du bist fast fünfzig! Da kommt eine Krankschreibung überhaupt nicht gut.«

Tja, in was für einer Welt lebte er eigentlich? Das hätte er manchmal selbst gerne gewusst.

»Wie lange ist es her, dass du deine letzte Reportage geschrieben hast, Mike?«, fragte Cording. »Fünf Jahre? Zehn?«

»Acht, um genau zu sein.«

»Lass mich überlegen. Es war der Bericht über den dioxinverseuchten Familienvater, richtig? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du gelitten hast damals. Diese Anteilnahme machte die Faszination deiner Reportage aus. Sie war großartig, wirklich. Kein Mensch hat verstanden, dass du anschließend mit dem Schreiben aufgehört hast. Ich nehme an, dass du dir darüber selber nicht im Klaren bist.«

»Was wird das? Hör auf, den Psychiater zu spielen!«

»Entschuldige.« Cording legte sich mit im Nacken verschränkten Armen auf die Besuchercouch. »Wir beide wissen doch, worin das Erfolgsrezept von Emergency besteht«, sagte er, »in der bedingungslosen Hingabe des Reporters an seine Geschichte. Fernsehteams haben an den aktuellen Brennpunkten kaum noch eine Chance, sie fallen zu sehr auf, sind zu unbeweglich, sie werden verprügelt und davongejagt. Sie können meist nur noch aus der Luft berichten. Aber die arme Sau, die sich am Boden den katastrophalen Verhältnissen stellt, die oft genug mutierten Monstern begegnet statt Menschen, die jede Form von seelischer und körperlicher Verkrüppelung vorfindet – diese arme Sau zahlt mit dem Verlust ihrer letzten Hoffnungen, wenn sie denn bei der Wahrheit bleibt und sich nicht als routinierter Kriegsberichterstatter entpuppt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich das alles nicht mehr lange aushalte …«

Kühling langte in die Schublade und warf ihm eine Orange zu.

»Dafür zahlt euch der Verlag aber eine ordentliche Stange Geld«, bemerkte er ungerührt. »Unsere Reporter gehören zu den Topverdienern der Branche, vergiss das nicht. Was den Erfolg von EMERGENCY angeht, so trägt die Qualität der Beiträge nur bedingt dazu bei. Sicher, die Reportagen sind unser Markenzeichen. Aber gute Reportagen alleine finanzieren ein so aufwändiges Produkt nicht. Das Magazin erscheint in fünfzehn Sprachen, wir verkaufen über zwölf Millionen Exemplare. Der Verkaufspreis deckt aber nur ein Zehntel der Kosten. Also bedarf es potenter Anzeigenkunden: der Global Player, wie du weißt. Das Rezept ist einfach: EMERGENCY liefert den gnadenlosen Zustandsbericht, und die Multis, die ihn zu verantworten haben, versichern an gleicher Stelle, dass nur sie es sind, die Abhilfe schaffen können. Für diese Imagepolitur zahlen sie horrende Summen. Das funktioniert, das ist genial.«

»Das ist nicht genial«, antwortete Cording resignierend, »das ist pervers.«

Auf dem Wandschirm wurde die Videokonferenz mit London angekündigt. Cording wollte sich verdrücken, aber Kühling gab ihm zu verstehen, dass er bleiben solle. Da saßen sie also in trauter Teerunde, die Verantwortlichen aus der Zentrale von EMERGENCY. Chefredakteurin Lydia Parker begrüßte die zugeschalteten Außenredaktionen.

»Bevor wir zur Blattkritik kommen«, sagte sie, »möchte ich unserem Verleger das Wort erteilen, der uns heute mit seiner Anwesenheit beehrt.«

Rupert Matlock erschien auf dem Schirm, der Mann, von dem nicht ein einziges Foto in der Öffentlichkeit kursierte. Matlock war es in den letzten zehn Jahren gelungen, die zwölf potentesten europäischen Verlagshäuser unter einem Dach zu versammeln. Damit hatte er die Pressefreiheit in Europa praktisch außer Kraft gesetzt. Cording starrte gebannt in dieses britische Bauerngesicht mit der knubbeligen Nase.

»Meine Damen und Herren«, begann Matlock mit überraschend heller Stimme, »ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen meinen Dank auszusprechen. EMERGENCY hat sich unter Ihrer Führung in nur vier Jahren auf dem weltweiten Pressemarkt etabliert. Und nicht nur das: Unser Magazin ist zum Marktführer avanciert. Das gilt fürs Internet wie für den freien Verkauf. Die Wirtschaft hat das Konzept angenommen, darüber freue ich mich. Um ehrlich zu sein hatte ich auch nichts anderes erwartet …«

Die am Konferenztisch Versammelten lachten artig.

»Wie Sie wissen, funktioniert die Anzeigenakquisition deshalb so erfolgreich, weil wir die Inserenten ein halbes Jahr im Voraus mit unseren Themenplänen versorgen. Damit geben wir ihnen genügend Zeit, angemessen reagieren zu können. Seit einigen Monaten aber fragen immer mehr Unternehmen von sich aus bei uns an, ob wir ihnen nicht ein geeignetes redaktionelles Umfeld zur Verfügung stellen könnten. Aktuell gilt das für Airbus Industries, Global Oil und Merck. Natürlich werden wir nicht jedem Wunsch nachkommen können, aber wo es möglich ist, da sollten wir es tun. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.«

Cording lag wie betäubt auf der Couch. Die anschließende Diskussion, ob man die vom Elektrosmog in den Wahnsinn getriebenen Eskimos auf den nächsten Titel nehmen sollte, den bolivianischen Bürgerkrieg um privatisiertes Wasser oder die Massenevakuierungen an den indonesischen Küsten, nahm er kaum wahr. Er schützte sich mit einem Zitat des spanischen Kulturphilosophen Ortega y Gasset gegen das Gezerre der Redaktionshyänen um ein sattes Stück verlagsinternen Renommees: »Ich leugne rundum, dass heute in irgendeinem Winkel der Erde eine Gruppe existiert, die ihr Gesetz von einem neuen Ethos empfinge.« Cording musste schmunzeln.

Als die Konferenz beendet war, wurde der Bildschirm wieder matt und blind. In den letzten zwanzig Minuten war Cording einmal mehr bewusst geworden, dass es den Verlag einen Dreck interessierte, wie sich seine teuer bezahlten Edelfedern fühlten. Auch sie waren nur Rädchen im Getriebe und jederzeit austauschbar. Die Fluktuation im Reporterpool hätte ihm schon lange zu denken geben sollen. Von den achtunddreißig internationalen Topschreibern, die Rupert Matlock mit enormem finanziellem Aufwand und unter großem Propagandagetöse bei der Blattgründung rekrutiert hatte, waren siebzehn nicht mehr dabei. Sie waren entweder freiwillig gegangen oder aussortiert worden. Es war wohl einzig der Gnade von Mike Kühling zu verdanken, dass sich Cordings renitenter Charakter bisher noch nicht bis nach London herumgesprochen hatte.

»Ich habe den Eindruck«, hörte er Mike sagen, »als seist du dir immer noch nicht im Klaren darüber, dass wir in erster Linie ein Geschäft betreiben. Es gibt ihn nicht mehr, den edlen journalistischen Ritter, der für nichts anderes als die Aufklärung streitet. Das bildest du dir ein, weil dich in diesem Hause niemand daran hindert, die Wahrheit zu schreiben. Aber die Wahrheit, von der du dir so viel Wirkung versprichst, ist Teil eines ausgeklügelten Deals! Sie ist ausschließlich dazu da, den Schuldigen Absolution zu erteilen. Dafür zahlen die sich dumm und dusselig. EMERGENCY fungiert in diesem Drama als Domina. Wir peitschen die Mächtigen bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus und sie versprechen reumütig Abhilfe. So funktioniert das …«

Cording hatte das Gefühl, dass ihm das aberwitzige Lächeln, das er seit einigen Minuten zur Schau trug, langsam zu einer Maske gefror.

»Wir machen Folgendes«, sagte Mike, »die nächsten zwei Wochen wirst du ausspannen. Leg dich in die Sonne oder organisiere eine Schlittenfahrt auf Grönlands letztem Gletscher. Ist mir wurscht. Danach erwarte ich wieder vollen Einsatz!«

»Theodore Kaczynski ist tot«, warf Cording unvermittelt ein. »Nach 26Jahren Haft im Knast gestorben.«

»Sagt mir nichts der Name.«

»Kaczynski, ehemaliger Harvard-Professor, besser bekannt als Unabomber. Der Mann war in den Neunzigern der meistgesuchte Terrorist in den Staaten!«

Kühling lud die Daten auf den Bildschirm. »Achtzehn Jahre lang terrorisierte der Unabomber die Repräsentanten der technischen Welt«, las er laut. »Er verschickte fünfzehn Briefbomben. Das Ergebnis: drei Tote, 23 Verletzte.« Er blickte Cording irritiert an: »Was willst du mir denn damit sagen …?«

»Ruf sein Manifest auf. Kaczynski hatte dem FBI ein Jahr vor seiner Verhaftung einen Deal vorgeschlagen. Er versprach, seine Aktivitäten einzustellen, wenn eine überregionale Tageszeitung sein Manifest drucken würde. Die Washington Post und die New York Times haben es getan. Titel: ›Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft‹. Los, ruf es auf. Wenn du darin nur einen Satz findest, den du nicht unterschreiben kannst, vergessen wir die Angelegenheit …«

Kaczynskis Manifest leuchtete wie ein Menetekel an der Wand dieser frisch renovierten Schaltzentrale medialer Macht auf: »Die Folgen der Industriellen Revolution haben sich für die Menschheit als eine Katastrophe erwiesen. Das Leben wurde unerfüllt, die Menschen gerieten in eine unwürdige Abhängigkeit, diese Entwicklung hat zu weit verbreiteten psychischen Problemen geführt und der Natur wurde unermesslicher Schaden zugefügt. Die kontinuierliche Entwicklung der Technologie wird die Lage weiter verschlimmern. Mit Sicherheit wird die Menschheit in noch größerem Maße abhängig werden und es werden noch gewaltigere Naturschäden auftreten. Unser Ziel wird nicht darin bestehen, Regierungen zu stürzen, sondern die wirtschaftliche und technologische Basis der gegenwärtigen Gesellschaft zu zerstören.«

Cording registrierte mit Genugtuung, dass sein Freund den Text offensichtlich ernst nahm.

»Die Washington Post und die New York Times haben das Manifest 1995 gedruckt«, wiederholte er. »Ich stelle mir eine Serie unter dem Titel ›Helden‹ vor. Da wäre Kaczynski dabei und Paul Watson, der mit seiner ›Sea Shepherd‹ auf offenem Meer Walfänger rammte. Dave Foreman natürlich, Gründer der radikalen Umweltschutzgruppe ›Earth First!‹. Jaime Lerner, Bürgermeister der brasilianischen Millionenstadt Curitiba*, der trotz explodierender Einwohnerzahlen immer wieder unkonventionelle Konzepte im Kampf gegen Smog, Verkehrsinfarkt, Müllchaos und Verbrechen fand und der das Kunststück fertigbrachte, mit seiner ökologisch ausgerichteten Politik die Favelas zu befrieden. Nicht zu vergessen Edward Abbey, Autor des Romans The Monkeywrench Gang, in dem eine Bande Ökokrieger durch den Südwesten der Vereinigten Staaten zieht und Anschläge auf die technischen Einrichtungen der Montan- und Schwerindustrie verübt. Auch Heimo Schulz-Meinem gehört dazu, der in der Lüneburger Heide eine ›Naturbefreiungsarmee‹ rekrutierte. Vielleicht mögen wir uns sogar an Miguel Gonzales erinnern, den portugiesischen Michael Kohlhaas, der jahrelang erfolglos gegen die Agrarbestimmungen der EU kämpfte, oder an den sturen Bock aus Frankreich, Jose Bové, der mit seinem Traktor McDonald’s-Filialen aufmischte.«

Mike hörte ihm schweigend zu.

»Nicht zu vergessen Ophelia Mendez, Gründerin des Internationalen Öko-Tribunals«, legte Cording eindringlich nach. »Wie hatte Dave Foreman gesagt: ›In vierzig Jahren werden die Regenwälder von der Erde verschwunden sein. Wir sind die letzte Generation, die das verhindern kann. Notfalls werden wir es mit Gewalt tun.‹ Helden … Ihr Widerstand hat zwar nichts gebracht, aber ich finde schon, dass sie ein Denkmal verdient hätten.«

Kühling klopfte kaum hörbar mit dem Kugelschreiber auf die Glasplatte seines Schreibtisches. »Die Idee ist interessant«, sagte er schließlich. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wen wir für dieses Thema als Inserenten gewinnen wollen, aber Serien-Inserate sind ohnehin die Ausnahme. Gut, ich kümmere mich darum.« Er blickte auf die Uhr. »Tut mir leid, ich muss gehen … Ach, fast hätte ich es vergessen: Gestern rief mich ein Mann an, der behauptete, Thorwald Rasmussen zu sein. Du weißt schon, der dänische Professor, dessen Familie auf Bornholm abgeschlachtet wurde. Er sagte, er würde über Informationen von solcher Brisanz verfügen, dass ganze Regierungen vor ihm zitterten. Will sich wieder melden. War vermutlich nur jemand, der sich wichtigmachen wollte. Sollte an der Sache aber etwas dran sein, hole ich dich aus dem Urlaub zurück.«

Cording umarmte Mike zum Abschied. Er war abhängig von diesem Mann, wenn er nicht auf der Straße landen wollte, das wusste er. Aber auch Mike brauchte Cording. Durch ihn verlor er auf seinem Höhenflug durch die Verlagsetagen das freie Leben, dessen größter Verfechter er einmal gewesen war, nicht gänzlich aus den Augen.