Das Tal der Blumen - Niviaq Korneliussen - E-Book

Das Tal der Blumen E-Book

Niviaq Korneliussen

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Beschreibung

Als erste grönländische Autorin ausgezeichnet mit dem Nordischen Literaturpreis – ein Roman, der noch lange nachhallt, voller Dringlichkeit und Poesie

Wie lässt sich damit umgehen, wenn die Lebensfreude plötzlich gedämpft wird und die Sorge überhandnimmt? Eine junge Grönländerin hat noch ihr ganzes Leben vor sich und hadert dennoch mit vielem: Sie hat eine Freundin, die sie liebt. Ihre Familie ist fürsorglich – vielleicht zu sehr. Sie wird demnächst Grönland verlassen, um in Dänemark zu studieren. Und doch fühlt sie sich fehl am Platz: zu dick und nicht gewürdigt in ihrer Kultur, die so viele Demütigungen erlitten hat. Und dann sieht sie täglich die gebrochenen Herzen auf Facebook, die für die vielen jungen Selbstmörder*innen in Grönland stehen. Was bedeutet das für den eigenen Blick auf das Leben? Niviaq Kornenliussen erzählt mit großer literarischer Kraft, aber auch frischem Humor von der Suche nach Identität, der kulturellen Verwurzelung und dem inneren Halt im Leben.

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Seitenzahl: 338

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Buch

Eine junge Grönländerin hat noch ihr ganzes Leben vor sich und hadert dennoch mit vielem: Sie hat eine Freundin, die sie liebt. Ihre Familie ist fürsorglich – vielleicht zu sehr. Sie wird demnächst Grönland verlassen, um in Dänemark zu studieren. Und doch fühlt sie sich fehl am Platz: zu dick und nicht gewürdigt in ihrer Kultur, die so viele Demütigungen erlitten hat. Und dann sieht sie täglich die gebrochenen Herzen auf Facebook, die für die vielen jungen Selbstmörder*innen in Grönland stehen. Was bedeutet das für den eigenen Blick auf das Leben? Niviaq Korneliussen erzählt schonungslos genau, mit großer literarischer Kraft und viel Wärme von der Suche nach Identität, kultureller Verwurzelung und dem inneren Halt im Leben.

Autorin

Niviaq Korneliussen, 1990 in Nuuk, Grönland, geboren, gilt als eine der spannendsten jungen literarischen Stimmen im nordischen Raum und als Sprachrohr ihrer Generation. Ihr Roman »Das Tal der Blumen« wurde mit dem Nordischen Literaturpreis ausgezeichnet, dem wichtigsten Literaturpreis nordeuropäischer Länder, der damit zum ersten Mal an eine grönländische Autorin vergeben wurde. Der Roman erhielt begeisterte Kritiken und erscheint in zahlreichen Ländern.

Niviaq Korneliussen

Das Tal der Blumen

Roman

Aus dem Dänischen von Franziska Hüther

Die dänische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Blomsterdalen im Verlag Gyldendal, Kopenhagen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © Niviaq Korneliussen &

Gyldendal, Copenhagen 2020.

Published by agreement with Gyldendal Group Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf und einem Covermotiv von © Simon Lilholt / Imperiet.dk

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-27942-4V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Danke, Miilla, dass du da warst.

Gewidmet Lars

Ein Rabe sitzt auf dem großen Kreuz am Eingang des Friedhofs. Niemand, der mir etwas bedeutet, liegt auf diesem Friedhof. Aanaa liegt nicht hier. Trotzdem habe ich das Gefühl, hier jemanden verloren zu haben. Das weckt düstere Erinnerungen. Erinnerungen an die Frühjahrsnächte, in denen ich hier gesessen habe, voller Angst vor der nahenden Mitternachtssonne. Erinnerungen an die rosafarbene Sommernacht vor einem Jahr, als ich auf einem Hügel saß, mit Aussicht auf den Sermitsiaq und all die Kreuze der Toten, und an das Leben dachte. Ich war oft allein, doch in jener Nacht war ich einsam und wünschte, ich wäre diejenige, die dort liegt. Die Straßen waren seelenlos wie die Gräber, und ein Rabe kam vorbeigeflogen und landete auf einem der Kreuze in meiner Nähe. Sein schwarzes Gefieder glänzte, seine schwarzen Augen spähten wachsam umher, seine schwarze Seele war die einzige an diesem Ort. Ich ließ meinen Blick auf dem Vogel ruhen, und für einen Moment vergaß ich völlig, dass die Sonne, die vor einer Viertelstunde untergegangen war, in wenigen Minuten erneut hinter dem Sermitsiaq auftauchen würde. Für einen Moment vergaß ich, dass alles wieder von vorn beginnen würde. Der Rabe wachte über mich, bis das Tageslicht kam. Dann flog er davon und ließ mich allein mit den Toten zurück. Er wusste nicht, dass er mich vor dem Licht beschützen sollte, nicht vor der Dunkelheit.

Sie

45. Frau, 38 Jahre. Erhängen.

Die Knötchen in meinen verspannten Muskeln sind so dick, dass ich nicht mal ein Glas Weißwein heben kann, ohne dass es wehtut. Sie haben sich multipliziert, sich in all meinen Muskeln festgesetzt, und sie wachsen und schwellen unter meinen Schulterblättern, wo niemand hinkommt. Nicht mal Ibuprofen. Meine Mutter studiert mein gequältes Gesicht mit sorgenvoller Miene. Seit über zehn Minuten sitzen wir uns schweigend gegenüber.

»Darf ich dich ein bisschen massieren?«, fragt sie und steht auf.

»Nein danke, Anaana.«

Sie kommt zu mir rüber und legt ihre zermürbten Hände auf meine Schultern.

»Anaana, ich hab Nein gesagt.«

Sie beginnt, meine Schultern aufzuwärmen. Ihre gichtigen Knochen sind massig und hart. So wie sie selbst. Ich lasse meine Finger knacken.

»Lass das, sonst bekommst du Gicht.«

Ich fange an, auf Facebook zu scrollen, und halte inne, als ich das Bild einer Frau und haufenweise gebrochene Emoji-Herzen sehe. Auf ihrer Brust steht in neongrüner Schrift 1981–2018, RIP.

»Wer ist das?«, fragt Anaana. Sie kommt ganz nah ran und atmet mir schnaufend ins Ohr. Von der kurzen Massage ist sie schon aus der Puste. Ich halte mein Handy hoch, damit sie das Foto sehen kann.

»Kenne ich nicht«, sagt sie. »Was ist passiert?«

»Bestimmt Selbstmord.«

»Oh. Schlimme Sache.«

»Danke«, sage ich und stehe auf.

»Aber ich wärme dich doch gerade erst auf!«

»Du weißt, dass ich nicht gern massiert werde.«

»Wer wird denn bitte nicht gern massiert? Das ist doch nur eine Ausrede«, sagt sie und reißt sich in einer heftigen Bewegung das weinrote Seidenband vom Kopf, sodass ihr die Haare über die Schultern fallen.

»Eine Ausrede wofür?« Ich trinke einen großen Schluck Weißwein.

»Um dich nicht mit mir unterhalten zu müssen!«

Ich weiß beim besten Willen nicht, wann ich ihrer Meinung nach reden und wann ich die Klappe halten soll. Ich bin eine Puppe mit Batterien, der sie auf den Bauch drücken kann, wenn sie will, dass sie etwas sagt. Sie drückt und drückt, andauernd will sie, dass ich etwas anderes sage als das, was ich sage.

»Worüber willst du denn reden?«

»Das weißt du ganz genau!« Sie bindet ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und fängt noch mal von vorn an, als eine kleine Strähne herausrutscht.

»Anaana, ich hab mich entschieden. Finde dich damit ab.«

Ich überlege, ob ich sie umarmen soll, bringe es aber nicht über mich. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns zuletzt umarmt haben.

»Ich finde einfach, du bist noch nicht bereit wegzuziehen. Was ist denn so schlimm daran, hier auf die Uni zu gehen? Warum musst du unbedingt nach Dänemark? Du bist nicht bereit«, sagt sie.

»Ich bin schon lange bereit.«

Ich leere mein Weinglas und gehe die Treppe runter. Ich fülle die Badewanne mit beinahe kochendem Wasser. Ich drücke fest auf das Duschgel, sodass kleine Bläschen durchs Bad fliegen. Es brennt auf der Haut, als ich in die Wanne steige. Aber schon nach wenigen Minuten bin ich so gut wie gefühllos. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, an einem Spätsommerabend in Italien zu sein. Aber da klopft es an der Tür. Anaana kommt mit einem Glas Wein ins Bad und stellt es auf dem Tischchen neben mir ab.

»Hilft das ein bisschen gegen deine Verspannungen?«, fragt sie mit beschlagener Brille.

Ich nicke und hebe die Augenbrauen. Sie steht reglos da und wartet, dass irgendetwas passiert. Ich bedecke meine Möpse mit Schaum. Sie versteht den Wink nicht.

»Darf ich ein bisschen allein sein?«

Sie seufzt und geht. Ich höre sie oben in der Küche umherstampfen. Sie räumt die Spülmaschine aus. Schmeißt Besteck in die Schublade und Teller in den Schrank, und ich höre meinen Vater brummen. Nicht zu fassen, dass ich es hier so lange ausgehalten habe.

»Ich verstehe einfach nicht, wieso sie nicht mit mir redet!«, beschwert sie sich bei meinem Vater, der etwas Unverständliches zurückbrummt.

So läuft es immer. Anaana beklagt sich, Ataata gibt merkwürdige Brummlaute von sich als Bestätigung, dass er sie hört. Ich sinke unter Wasser und halte die Luft an. Hier ist es still. Nach einer halben Minute schreit meine Raucherlunge nach Luft, aber ich bleibe noch weitere anderthalb Minuten unten. Ich zähle die Sekunden. Zwei Minuten absoluter Stille. Ich habe von vielen Überlebenden gehört, dass es wunderschön ist zu ertrinken. Alles ist voller Farben. Und erfüllt von Ruhe, weil man schnell das Bewusstsein verliert, unterkühlt und in der Regel nach siebenundachtzig Sekunden ins Koma fällt. Ich tauche erneut unter und halte drei Minuten lang die Luft an. Ich wünschte, ich wäre ein Fisch. Ein kleiner Fisch in Italien. Ewig in Stille. Bald, denke ich, und atme tief ein, bald fahre ich. Aber das bedeutet auch, dass ich Maliina zurücklasse.

Anaana ist unzufrieden mit der braunen Soße, die Ataata zu den Frikadellen gemacht hat, deshalb rührt sie in der Küche manisch mit dem Schneebesen, während Ataata seine dickflüssige Soße über seinen ganzen Teller gießt und im Stillen protestiert. Ich schiele im Zehnsekundentakt auf mein Handy und schlinge eine Frikadelle nach der anderen runter. Anaana schafft es gerade noch, sich an den Tisch zu setzen, bevor ich meine Kartoffeln aufgegessen habe.

»Denk dran, mit Salz und Mehl aufzupassen, du weißt doch, wie viel du furzt, wenn du zu viel Mehl isst«, sagt sie.

»Qaa, wir essen!«

»Hast du schon gepackt?«, fragt sie und tunkt ihre Frikadelle in ihre braune Soße.

Ich schüttle den Kopf.

»Du hast nur noch eine Woche! Du musst deine Wäsche waschen, sortieren, aufräumen, Platz im Koffer finden für alles … Hast du daran gedacht, eine Liste zu schreiben?«

Die braune Soße tropft von der Frikadelle auf der Gabel. Es sieht aus wie Durchfall.

»Qaa, wir essen!«, rufe ich.

»Wir WERDEN uns unterhalten, während wir essen. Wir haben keine Eile«, gibt sie zurück.

Ich deute hektisch auf die tropfende Soße, und sie schiebt sich die Frikadelle in den Mund. Sie kaut und kaut, weil sie glaubt, sie würde weniger essen, je länger sie kaut. In ihrem Mundwinkel hängt braune Soße. Mir vergeht der Appetit, und ich checke, ob Maliina geschrieben hat.

Bin zu Hause, komm einfach, falls du Lust hast.

So was von. Ich zwinge die letzte Kartoffel runter.

»Ich geh dann.«

»Wir haben uns doch gerade erst hingesetzt!«, ruft Anaana.

»Maliina ist nicht gut drauf, ich muss zu ihr.«

»Wann treffen wir diese Maliina endlich?«, fragt sie hoffnungsvoll.

»Wir sind nur befreundet«, antworte ich.

44. Mann, 19 Jahre. Schusswaffe.

Ich kann den dicken Nebel riechen, der bereits über Akia auf der anderen Seite des Fjords aufgezogen ist. In ein paar Stunden wird er Nuuk erreicht haben. Heute Nacht scheint die Sonne also nicht. Maliina sitzt in einer kurzen Sporthose auf der Couch, als ich in ihre Zweizimmerwohnung komme.

»Ich muss nur kurz den Absatz fertig lesen«, sagt sie und lächelt.

Ich setze mich ans andere Ende der Couch und betrachte ihre dunklen Augen. Offenbar liest sie gerade einen traurigen Abschnitt, jedenfalls runzelt sie die Brauen und seufzt tief, als sie das Buch weglegt. Sie bettet ihren Kopf auf meine Brust und hält mich fest.

»Scout hat seinen Bruder verloren«, sagt sie.

Ich küsse ihren Kopf, er riecht nach Minze und Schweiß.

»Stell dir mal vor, wie es sein muss, seinen Bruder zu verlieren«, fährt sie fort.

Ich habe mir den Tod meiner Schwester schon ausgemalt. Ich habe mir ausgemalt, wie meine Eltern und ich jedes Wochenende ihr Grab besuchen. Wie wir uns umarmen und sagen, dass wir einander brauchen. Wie wir einen starken Zusammenhalt in der Trauer finden und erkennen, wie wichtig es ist, einander bedingungslos zu lieben. Alles auf Anfang zu setzen, von vorn zu beginnen. Allen Groll gegen meine Schwester zu begraben.

»Das wäre schrecklich«, sage ich, und sie nickt.

»Ist der Semesterplan eigentlich schon veröffentlicht?«, fragt sie plötzlich.

»Hab noch nicht geschaut«, antworte ich.

»Können wir nicht deine Mails checken? Ich will unbedingt sehen, was für Seminare ihr habt.«

»Nicht jetzt.«

»Ist eigentlich auch egal, du wirst in allem gut sein«, lächelt sie und küsst mich.

Ich versuche, sie mit Zunge zu küssen, aber sie zieht sich sofort zurück. Sie will eine Antwort.

»Wird sich zeigen, wie gut ich sein werde«, sage ich.

»Auf jeden Fall wirst du gut sein! Der Test hat doch ergeben, dass genau das dein Ding ist!«

Dabei hatte ich bloß geantwortet, was am besten klang, als sie mir gegenübersaß und einen Haufen Fragen aus einem Studienwahltest stellte. Sie war total happy, als rauskam, dass ich eine gute Anthropologin abgeben würde. Später googelte ich Anthropologie.

»Stell dir mal vor«, sage ich, »jetzt ist es schon … wie lange her? … ein Jahr, seit ich dir zum ersten Mal begegnet bin?«

»Es ist so viel passiert seitdem«, erwidert sie.

»Du warst so heiß«, sage ich.

Sie lächelt verlegen, aber ich bin noch nicht fertig.

»Hättest du damals gedacht, dass wir mal zusammen im Bett landen würden?«

»Weiß nicht. Anfangs nicht, nein.«

»Kann ich gut verstehen. Man wirkt nicht sonderlich anziehend, wenn man nicht mal ein Lächeln zustande bringt.«

»Nein, du warst süß. Sehr nachdenklich, aber total süß«, behauptet sie. »Und du? Hättest du’s gedacht?«

»Du weißt genau, dass ich dich immer schon rumkriegen wollte«, sage ich.

Sie beginnt, mich zärtlich zu küssen, und wir gehen direkt ins Schlafzimmer. Wegen der Verdunkelungsgardinen ist es stockfinster. Ich lege mich auf sie und habe es eilig, unter ihre Shorts zu kommen. Sie nimmt meine Hand weg und rollt sich mit einer schnellen Bewegung auf mich. Ich versuche, sie wieder umzudrehen, ich bin es nicht gewohnt, unten zu sein, doch sie hält meine Arme fest, küsst langsam meinen Bauch. Ich ziehe ihn ein, damit er etwas flacher wirkt, und versuche mich loszumachen.

»Schh«, flüstert sie, während sie weiter nach unten wandert.

Sie schiebt meine Hände unter meinen Rücken, sodass ich mit meinem ganzen Gewicht auf ihnen liege. Ich blicke in die Dunkelheit und atme tief ein, um keine Panik zu kriegen, weil sie die Kontrolle über meinen Körper hat. Dann schiebt sie ihre Finger in mir hoch, vielleicht drei, vielleicht vier, und drückt gegen meine Scheidenwand, dass ich fast pinkeln muss. Mit der anderen Hand kneift sie meine Brustwarze, meine Speckröllchen am Bauch, meine Hüften, ich kann kaum folgen. Als sie anfängt, mich zu lecken, komme ich fast sofort und so heftig, dass mir Tränen übers Gesicht laufen. Sie küsst sie mit einem Lächeln weg.

»Ich hoffe doch schwer, du vergisst mich nicht, wenn du fährst«, flüstert sie mir ins Ohr.

Wie könnte ich dich vergessen, you’re out of my league, du bist mein bis dato größter Triumph und wirst es bleiben, es sei denn, ich mache Angelina Jolie klar, minus ihre ganzen Kinder natürlich.

»Ich hatte gerade den krassesten Orgasmus dank dir, ich glaube, so schnell vergesse ich dich nicht«, antworte ich, obwohl ich ihr sagen will, dass ich verliebt bin, und zwar seit dem Moment, als ich sie das erste Mal sah.

Nachdem sie gekommen ist, kann sie kaum noch die Augen aufhalten. Ich streichle ihren dunklen Körper, bis sie einschläft. Ich inhaliere ihren Geruch, schnüffle förmlich an ihr, schnüffle an ihr, bis ihr Duft sich in meinem Hirn festsetzt. Ich kartografiere ihren Körper, all ihre kleinen Muttermale, ihre Fältchen um die Augen, die eine Wimper, die in die entgegengesetzte Richtung zeigt. Sie dreht sich im Schlaf, sodass wir in Löffelchenstellung daliegen.

»Wollen wir den Hellblauen noch mal angucken?«, fragt sie.

»Was?«

»Den Hellblauen. Wollen wir ihn noch mal angucken?«

»Was meinst du?«

»Keine Ahnung«, sagt sie und lacht, »egal.«

Selbst im Schlaf ist sie unschuldig. Ich spüre ihre tiefen Atemzüge. Es presst mir auf die Lunge, mein Herz ist am Zerspringen, mein ganzer Körper zwingt mich, es zu sagen.

»Ich bin verliebt in dich«, flüsterte ich.

»Den Hellblauen«, sagt sie, »da ist viel mehr Anlauf.«

»Anlauf?«

Sie nickt.

»Wo?«, frage ich und küsse ihren Hals.

»Da«, sagt sie und ruckt leicht mit dem Kopf.

»Ich würde bleiben, wenn du mich bittest«, flüstere ich.

»Bleib«, sagt sie im Schlaf und zieht meine Hand fester an ihre Brust.

43. Frau, 76 Jahre. Erhängen.

Anaana bereitet ein Abschiedsessen für mich vor. Für sich selbst. Deshalb rupft sie jetzt Tordalke und Schneehühner. Die Rentierkeule schmort neben dem neuseeländischen Lamm. Anaana eilt umher und grummelt, das Lamm rieche anders. Ataata sitzt am Tisch und scrollt auf dem iPad durch Anaanas Facebook-Newsfeed. Sie hat ihn schon mehrfach aufgefordert, sich ein eigenes Profil mit eigenen Freunden anzulegen, aber Ataata hat keine eigenen Freunde, Anaanas Welt ist seine Welt, und das nervt sie manchmal. Jetzt ist sie zu beschäftigt, um ihn anzumotzen. Sie rennt herum und meckert, dass es im Brugsen kein südgrönländisches Lamm zu kaufen gibt. Ich renne mit herum, ohne mich irgendwie sinnvoll zu betätigen, bis sie mich anweist, Rote Bete in Stifte zu schneiden. Sie schaut mir über die Schulter und schnauft unzufrieden.

»Du musst sie dünner schneiden, sonst werden sie nicht knusprig, das weißt du ganz genau.« Sie beugt sich vor und begutachtet meine mangelhafte Schnippelei aus nächster Nähe. »Puuh, du stinkst!«, ruft sie aus.

Ich habe heute übelst unter den Armen geschwitzt. Das ist immer so vor Familientreffen. Sie übernimmt meine Arbeit und schickt mich unter die Dusche, bevor die Gäste kommen. Ich gehe runter und lasse Badewasser ein. Als ich die Tür abschließe, fühle ich mich um fünf Kilo leichter.

»Du sollst nicht baden, dafür haben wir keine Zeit!«, ruft Anaana aus der Küche.

Heute Nacht stand die Zeit still. Wir sprechen dieselbe Sprache, wenn wir nicht reden, wenn wir die schwarzen Vorhänge vorziehen, wenn unsere dunklen Körper übereinander sind, ineinander, und wir alles Licht aussperren. Am liebsten wäre ich für immer in dem dunklen Zimmer geblieben, auf ewig in der Dunkelheit, doch am Morgen wurde die Mitternachtssonne zu grell.

Anaanas Ärger verpufft, sobald die ersten Gäste eintreffen. Sie umarmt meine Tanten und küsst meine Cousinen und Cousins auf die Wange. Ich stehe hinter ihr und begrüße alle mit etwas zu festem Händedruck, als träfen wir uns zu einer Klimakonferenz. Wortlos setzen wir uns aufs Sofa. Anaana wirft mir einen nervösen Blick zu. Sie will, dass ich etwas sage.

»Danke, dass ihr gekommen seid«, bringe ich hervor.

Sie bedanken sich im Chor für die Einladung. Anaanas Miene hellt sich auf.

»Bist du aufgeregt?«, fragt meine Tante väterlicherseits.

Ich schüttle den Kopf.

»Wir werden dich vermissen«, sagt sie.

»Wir sehen uns ja eh nur ein paarmal im Jahr, da dürfte es keinen großen Unterschied machen, wenn ich in der Zwischenzeit in Dänemark bin«, lache ich.

Keiner lacht mit mir. Anaana hüstelt und schickt mich Getränke holen. Ich erledige es und gehe aufs Klo, checke, wann Maliina das letzte Mal aktiv war. Vor zwei Stunden. Ich lausche dem Gelächter meiner Familie oben im Wohnzimmer, während ich zum dritten Mal heute kacke. Mein Magen macht mir seit einer Woche zu schaffen. Ich schwitze und zittere. In ein paar Tagen ist es überstanden. Ich frage Maliina, ob wir uns heute Abend sehen.

Na klar, schreibt sie binnen weniger Minuten zurück.

Mein Selbstbewusstsein bekommt einen Booster, und ich gehe hoch ins Wohnzimmer. Als ich zwischen den anderen Platz nehme, wird es still. Diese Wirkung habe ich schon immer auf Leute gehabt, aber es macht mir nichts aus.

»Gibt es da ein Mädchen, das du vermissen wirst, wenn du weggehst?«, fragt meine Tante mütterlicherseits.

Ich schüttle den Kopf. Ich will nicht, dass Anaana sich irgendwelche Hoffnungen macht.

»Was ist mit der Freundin, bei der du übernachtest?«, mischt sich Anaana aus der Küche ein.

»Wir ficken nur«, sage ich.

Meine Schwester bricht in schallendes Gelächter aus. Sie schaut mich an, als wäre ich das Komischste, was sie je gesehen hat. Gespannt wartet sie darauf, dass ich erneut den Mund aufmache. Meine Tante wirkt nervös.

»Du bist so witzig!« Meine Schwester lacht sich weiter einen ab, während die anderen stocksteif und sprachlos auf dem Sofa sitzen.

Meine Schwester liebt es, wenn ich Leute nervös mache.

»Wie geht es dir, meine Liebe?«, erkundigt sich Anaana.

Die Frage ist nicht an mich gerichtet, sondern an meine Cousine, die gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht hat. Das wissen wir, weil sie auf Facebook einen Roman darüber verfasst hat. Sie fängt an zu erzählen, wie schwer es für sie gewesen sei, darüber hinwegzukommen. Anscheinend hatte ihr Freund eine Art Doppelleben geführt und mit anderen Frauen über Messenger geschrieben, was sie erst herausfand, als sie spaßeshalber sein Handy checkte.

»Du hast etwas Besseres verdient!«, sagt ihre Mutter.

»So ein mieser Kerl! Aber wen wundert’s, er ist schließlich ein Olsen«, bemerkt Anaana.

»Aber war er wirklich untreu?«, frage ich.

»Wie meinst du das?«, erwidert meine Cousine. »Ich hab doch eben erzählt, dass er untreu war.«

»War er mit anderen im Bett? Ich meine, war er so richtig untreu?«

Anaana knufft mich hastig in den Rücken. Das macht sie, wenn ich etwas Falsches sage. Ich glaube, seit ich sprechen gelernt habe, bin ich schon mindestens eine Million Mal geknufft worden. Meine Cousine wirft mir einen mörderischen Blick zu.

»Du findest bald einen Neuen, so hübsch, wie du bist«, sagt Anaana und gibt ihr ein Küsschen auf den Kopf.

Meine Cousine lächelt und nickt. Alle schauen mich an, als ob ich eine Bedrohung wäre. Ich gehe runter aufs Klo und sperre die Tür ab. Maliina hat sich noch nie bedroht von mir gefühlt. Ich schließe die Augen und stelle mir ihre seidenweiche Haut und ihre pulsierende Klitoris vor. Die Schmetterlinge in meinem Bauch werden von meiner Schwester getötet, die beharrlich an die Tür klopft.

»Bist du grad am Kacken?«, fragt sie.

»Was geht dich das an?«, rufe ich.

»Du solltest echt mal deinen Darm untersuchen lassen, das ist ja nicht mehr normal«, sagt sie und geht wieder die Treppe hoch.

»Das ist wirklich schön, was bedeuten die Striche und die Punkte?«, erkundigt sich meine Tante bei meiner Schwester nach deren Inuit-Tätowierung am Kinn, als ich zurück ins Wohnzimmer komme.

»Das Tattoo machen zu lassen, war superwichtig für mich, weil es all die starken Frauen in unserer Vergangenheit ehrt.«

»Aber was bedeuten die Striche und die Punkte?«, frage ich.

»Das habe ich gerade erklärt«, gibt sie verärgert zurück.

»Nicht wirklich«, sage ich.

»Ich finde es sehr schön«, unterbricht meine andere Tante, »aber ich würde mir niemals selbst eins stechen lassen.«

»Warum nicht?«, frage ich. »Weil es ein Gesichts-Tattoo ist? Was hast du gegen Gesichtstätowierungen?«

Einige Sekunden lang herrscht Schweigen.

»Das kann ich gut verstehen«, wendet sich meine Schwester an meine Tante. »Anfangs war ich mir auch unsicher, denn was, wenn es meine Jobchancen beeinträchtigt? Aber mir ist klar geworden, dass es wesentlich mehr Möglichkeiten als Einschränkungen mit sich bringt, vor allem hier drinnen.«

Sie klopft sich auf die Brust.

»Ich frage mich, warum du dann noch keinen Job gefunden hast? An deiner Tätowierung liegt es jedenfalls nicht«, sage ich und streichle ihr über den Rücken, damit alle verwirrt sind, auf wessen Seite ich stehe.

»Wer möchte Krähenbeertorte?«, ruft Anaana.

Alle wollen Torte und springen gleichzeitig auf. Anaana lacht nervös in der Küche, während sie ihre selbst gebackene Torte verteilt. Als unsere Blicke sich treffen, runzelt sie die Stirn und schüttelt kaum merklich den Kopf. Ich soll den Mund halten. Wir setzen uns aufs Sofa, die Torte kommt sehr gut an, und Anaana sonnt sich in all dem Lob.

»Hast du schon gepackt?«, will meine Tante wissen.

Ich ziehe die Nase kraus.

»Ich dachte, du packst immer schon eine Woche im Voraus? Warst nicht du es, die als Kind immer Packlisten geschrieben hat?«, fragt sie liebevoll.

»Nein, das war ich«, sagt meine Schwester.

»Ja, du hast eine Liste nach der anderen geschrieben«, stimmt Anaana ein und schnuppert an ihrer Wange, »du bist ja immer noch so gut organisiert.«

»Und du hast immer die wichtigsten Sachen vergessen«, lenkt meine Schwester wieder die Aufmerksamkeit auf mich, und alle lachen.

»Wie das eine Mal, als du mich aus Berlin angerufen hast, weil du deinen Pass verloren hattest und nicht nach Hause kamst, und ich musste überall rumtelefonieren und englisch mit allen möglichen Leuten reden, damit du in Berlin nicht obdachlos wirst. Wir mussten so viel Geld für ein neues Ticket ausgeben. Es war schrecklich«, sagt Anaana.

»Dann doch lieber Berlin als hier diese Hölle auf Erden«, flüstere ich, während alle lachen.

»Ja, und dann das eine Mal, als ich durch Kopenhagen rennen musste, weil du dich verlaufen hattest, obwohl du steif und fest behauptet hattest, dass du selbst zum Kiosk und zurück findest«, ergänzt meine Schwester und wendet sich an die anderen: »Ich habe sie zweihundert Meter entfernt vom Hotel gefunden, nachdem ich sie ganze zwei Stunden gesucht hatte!«

»Wie in aller Welt willst du dich im großen Dänemark zurechtfinden?«, fragt meine Tante.

»Ein Glück, dass es heutzutage Google Maps gibt!«, sagt meine Schwester.

EINGLÜCK, DASSICHBALDHIERABHAUE, will ich schreien, Ataatas Gewehr holen und ein ganzes Magazin in die Wand und durch die Fenster ballern und aus diesem verfluchten Haus hinausfliegen.

Nachdem Aanaa gestorben war, wurde alles schnell wieder normal. Anaana besuchte eine Freundin, und Ataata sah einen Krimi im Fernsehen. Ich hatte den ganzen Tag darauf gewartet, dass die Selbstmordhotline ab 19 Uhr besetzt war. Ich rief fünfmal an, ehe sie rangingen.

»Attavik«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung.

Ich fing sofort an zu weinen.

»Ich vermisse meine Aanaa so sehr.«

»Ist ja gut«, sagte die Frau.

»Ich vermisse sie so sehr!«, rief ich. »Sie war die Einzige, die mich verstanden hat!«

»Hör zu, jetzt atme erst mal tief ein und aus. Wir sind für dich da«, sagte die Frau.

»Wir? Seid ihr zu mehreren?«

»Wir, die für Attavik arbeiten«, sagte sie. »Aber im Augenblick bin ich allein. Niemand sonst ist hier.«

»Was, wenn noch jemand versucht anzurufen?«, fragte ich.

»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte die Frau. »Wo ist deine Aanaa?«

»Auf dem Friedhof«, schluchzte ich. »Sie ist allein in der Kälte.«

»Wann ist sie gestorben?«

»Vor einem halben Jahr. Heute ist mir ihr Geschenk für mich kaputtgegangen.« Ich weinte noch mehr.

»Was war das für ein Geschenk?«

»Ein alter Kompass. Sie hat ihn mir gegeben, damit ich immer den Weg finde. Sie hat mir erklärt, dass man am besten immer nach Norden geht.«

»Aber du hast ihn nicht absichtlich kaputt gemacht«, wandte sie ein.

»Das ist egal! Ich hätte besser darauf aufpassen sollen!«, rief ich gedämpft, damit Ataata mich nicht hörte.

Zwei Stunden lang erzählte ich ihr von allem. Davon, wie ich als Kind die Hand in den Türspalt steckte und darauf wartete, dass jemand die Tür schloss. Wie ich nachts manchmal nicht schlafen konnte und dass ich oft nicht richtig Luft bekam.

»Ich bin so wütend auf mich!«

»Mein Liebes, es gibt keinen Grund, wütend auf dich selbst zu sein. Ich finde, du solltest mit deinen Eltern sprechen und ihnen all das erzählen, was du mir gerade erzählt hast.«

»Das kann ich nicht! Deshalb rufe ich Sie doch an! Ich kann das nicht noch mal erzählen, das schaffe ich nicht«, schluchzte ich.

Meine Nase war voller Rotz.

»Du darfst gern morgen wieder anrufen«, sagte sie. »Wir schließen jetzt nämlich.«

»Können wir dann weiterreden?«, fragte ich.

»Du kannst mit meiner Kollegin sprechen. Ich habe die nächsten zwei Tage frei«, sagte sie. »Meine Kollegin ist aber sehr nett. Du kannst ihr alles erzählen, und sie kann dir helfen.«

Den Rest des Abends versuchte ich, Aanaas Kompass mit Ataatas Sekundenkleber zu retten. Das Glas hielt nicht richtig, ich konnte ihn nicht reparieren, ich hatte ihn unwiederbringlich kaputt gemacht. Also klebte ich mir stattdessen die Finger zusammen zur Strafe, weil mir der Kompass runtergefallen war.

42. Mann, 23 Jahre. Erhängen.

Maliina macht Stretch-Übungen mit einem länglichen Röhren-teil, als ich hereinkomme. Ihre Bauchmuskeln bilden zwei parallele, senkrechte Linien. Weißt du eigentlich, wie schön du bist?

»Argh«, macht sie, als sie eine komplizierte Pose einnimmt.

»So hat eine gewisse Person gestern auch geklungen«, necke ich sie.

Sie verdreht die Augen und drückt meine Knöchel, als ich auf dem Weg zum Balkon an ihr vorbeigehe. Ich blase den Zigarettenrauch zur Seite, damit er ihren dunklen Körper nicht verhüllt. Allein schon ihr Anblick entspannt meine Muskeln. Die Sonne brennt über Akia, der ganze Himmel ist pink und hellblau. Als ich wieder reingehe, ziehe ich die Vorhänge zu.

»War es ein schönes Abschiedsfest?«, will sie wissen.

Ich zucke mit den Achseln.

»War es total furchtbar?«

Ich hebe die Brauen.

»Oje.« Sie streicht mir übers Haar, dann über die Wange.

Ich küsse ihre salzige Haut, und ihr entfährt ein Stöhnen. Meine Hand wandert in ihren Slip, und mein ganzer Körper bitzelt wie von Stromschlägen, als ich spüre, wie feucht sie ist. Plötzlich stoppt sie mich, küsst mich sanft und fährt mit den Fingerspitzen über mein Gesicht.

»Weißt du, wann du zurückkommst?«

Ich schüttle den Kopf.

»Kommst du an Weihnachten nach Hause?«

»Kann sein, ich weiß es nicht.«

»Hoffentlich.«

»Bis dahin bist du vielleicht verheiratet und hast drei Kinder«, ziehe ich sie auf.

Sie lächelt schwach.

»Fünf Jahre«, sagt sie, und ich nicke.

Sie seufzt, dann hellt sich ihre Miene auf. »Fünf Jahre, die vergehen wie im Flug! Du wirst so viel zu tun haben, und ehe du dich’s versiehst, bist du erwachsen und zurück in Nuuk!«

Ich nicke.

»Oder vielleicht auch nur drei Jahre«, fährt sie fort, »wenn du nur den Bachelor machst, denn damit bekommst du auf jeden Fall einen guten Job, hier ist es ja eh ziemlich egal.«

»Ja, vielleicht«, sage ich.

»Hast du dir überlegt, wo du gern arbeiten würdest?«

»Nee, nicht so richtig«, antworte ich zögerlich. »Aber vielleicht bei der Gemeinde?«

»Das ist nichts für dich«, meint sie. »Da erstickst du bloß in sinnloser Papierarbeit. Ich finde, du würdest dich gut als Projektmanagerin machen, als Koordinatorin … irgendwo, wo du mit den Menschen vor Ort arbeitest und etwas bewirkst.«

Ich lächle schwach.

»Freust du dich?«, fragt sie.

»Darauf, als Projektmanagerin zu arbeiten?«

»Nein, aufs Wegziehen, auf die Uni.«

»Teils, teils. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich auf meine eigene Wohnung freue, ich halte es nicht länger aus bei meinen Eltern.«

»Aber?«

»Dänemark«, sage ich. »Das sollte als Antwort genügen.«

Sie nickt.

»Wäre es gegangen, wäre ich lieber nach Kanada«, füge ich hinzu.

»Kanada. Besser Kanada als Dänemark«, pflichtet sie mir bei.

»Und besser Kanada als Grönland«, sage ich.

Sie schaut einen Moment zur Decke und atmet tief durch die Nase ein, als solle der Duft der Atmosphäre ihre Entscheidung besiegeln. Dann nickt sie.

»Dänemark will do for now, da gibt es trotz allem mehr Möglichkeiten, mehr Vielfalt unter den Menschen.«

»Meine Familie hat Angst, dass ich mich verirre. Das passiert mir ja öfter.«

»Na und?«, erwidert sie. »Ich verirre mich total gern. Manchmal verirre ich mich absichtlich. Dann laufe ich einfach los, an einen anderen Ort, und schaue, wo ich lande.«

»Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Landstreicher«, sage ich.

Sie starrt mich an.

»Wie meinst du das?«

»Von Ort zu Ort ziehen, je nachdem, wie gerade meine Lebensumstände sind. Sich vielen verschiedenen Bedingungen anpassen können«, erkläre ich.

»Ein Vogel«, sagt sie, »du wärst gern ein Vogel.«

Sie springt vom Sofa, breitet ihre Flügel aus und beginnt, durchs Wohnzimmer zu fliegen.

»Brr…«, macht sie.

»Du klingst wie ein Flugzeug, nicht wie ein Vogel«, lache ich.

»Wusstest du, dass manche Raben menschliche Laute besser nachahmen können als Papageien? Sie können sogar Motorengeräusche imitieren«, sagt sie und fliegt weiter. »Brr…«

Ich stehe auf und schwebe mit ihr. Wir fliegen dicht aneinander vorbei, wie zwei Raben, die im Sturm spielen. Wir fliegen in einem brennenden Chaos, das durch die schwarzen Vorhänge hereinzudringen versucht, aber wir sind geschützt, wir sind unantastbar. Als sie an mir vorbeifliegt, packe ich sie von hinten um die Taille, und wir fallen um. Ich betrachte sie schweigend. Flieg mit mir weg.

»Iss morgen mit mir zu Abend«, sagt sie und küsst mich.

»Du kannst nicht fliegen!«, schrie Aanaa, bevor ich mit zehn Jahren aus ihrem Fenster stürzte und mir die Schulter brach. Ich war nach der Schule bei ihr zu Besuch, weil in der Nachmittagsbetreuung keiner mit mir spielen wollte und ich nicht allein zu Hause sein durfte. Ich saß im ersten Stock auf der Fensterbank und schaute zu ihr hinunter, wie sie im Garten Unkraut goss. Ich öffnete das Fenster und schwang ein Bein hinaus.

»Aanaa!«, rief ich.

»Sei bloß vorsichtig!«, rief sie zurück.

Mir wurde ein bisschen schwindlig, als ich den Kopf noch weiter vorstreckte. Der frische Wind fuhr in meine Hose und kühlte meinen verschwitzten Körper ab. Ich hielt mich am Fensterrahmen fest, streckte einen Arm aus und lehnte mich mit dem Oberkörper nach draußen, sodass es sich anfühlte, als würde ich fliegen. Ein Ziehen ging durch meinen Bauch.

»Aanaa!«, rief ich.

»Nein! Komm sofort runter!«

»Soll ich wirklich sofort runterkommen?«, fragte ich.

»Ja!«

Ich schwang das zweite Bein hinaus.

»Okay!«, sagte ich und machte mich bereit zum Sprung.

»Nein! Du darfst nicht springen!«, schrie Aanaa.

»Ich springe nicht! Ich werde fliegen!«

»Du kannst nicht fliegen!«, schrie sie, und ich stieß mich vom Fenster ab.

Ich wusste, dass ich nicht fliegen konnte. Ich wollte nur wissen, wie sich ein freier Fall anfühlt.

Ich hörte Anaana schon von Weitem, als sie ins Krankenhaus gestürmt kam. Aanaa rannte aus dem Zimmer, um ihre Schwiegertochter zu beruhigen.

»Was in aller Welt ist passiert?«

Anaanas Wut war deutlich vernehmbar. Ich wusste sofort, dass sie tagelang sauer sein würde.

»Sie wird schnell wieder gesund«, sagte Aanaa.

»Was in aller Welt ist passiert?«

»Sie dachte, sie könnte fliegen.«

»Hat sie sie nicht mehr alle, oder was!«, ereiferte sich Anaana.

»Sie ist ein Kind!«, entgegnete Aanaa.

»Ich dachte, du passt auf sie auf! Du weißt genau, dass sie nur Flausen im Kopf hat!«

»Ich hab geschrien, dass sie nicht springen darf. Es ist alles so schnell passiert.«

»Dieses Kind ist einfach unmöglich! Was soll ich nur mit ihr machen?«, klagte Anaana.

»Unartige Kinder bringen es im Leben am weitesten!«, verteidigte Aanaa mich ein weiteres Mal.

»Das gilt nicht für Mädchen!«

Anaana marschierte in mein Zimmer.

»Du kannst nicht fliegen! Das solltest du wissen!«

41. Mann, 56 Jahre. Schusswaffe. Todesursache: Im Hafen ertrunken.

»Um wie viel Uhr fliegst du morgen?«, fragt Anaana.

»Kurz vor zehn«, antworte ich.

»Hast du schon gepackt?«

»Noch nicht, mache ich nachher.«

Sie hat Schwierigkeiten, ihre Schuhe zuzubinden, weil ihr großer Bauch im Weg ist. Auf einmal schaut sie mit weit aufgerissenen Augen zu mir hoch.

»Hast du Wäsche gewaschen?!«

»Mache ich nachher«

»Nichts da! Mach es jetzt! Jetzt sofort! Sonst werden die Sachen nicht trocken!«

Ich wende mich zur Treppe, um oben meine Klamotten zusammenzusuchen.

»Heute Abend gibt’s Schweineherzen«, sagt Anaana.

»Ich esse woanders«, entgegne ich.

»Es ist unser letzter Abend zusammen!« Sie klingt enttäuscht.

»Du hast doch gerade erst ein Abschiedsessen gegeben.«

»Wir. Wir haben gerade erst ein Abschiedsessen gegeben«, korrigiert sie mich und fährt fort: »Für morgen ist Sturm angekündigt. Hoffen wir, dass ihr noch einen Tag länger bleibt.«

»Gott, bitte nicht«, flüstere ich, während sie aus dem Haus hastet, um den Einser-Bus zu erwischen.

In meinem Bauch flattert ein ganzer Schwarm Schmetterlinge, als ich meinen großen Koffer hervorhole und Klamotten zusammensuche. Ich lasse alle meine langen Unterhosen, dicken Socken und Pullis im Schrank. Ich packe Shorts und weite T-Shirts ein. Ich nehme meine Lieblingsgedichte und lege sie zwischen meine Kleider. Vielleicht sollte ich Maliina als Abschiedsgeschenk einen kleinen Brief oder ein Gedicht schreiben. Ich nehme ein Blatt Papier und setze mich hin. Mein Rabe, schreibe ich, streiche es durch. Mein Herz, ich bin verliebt in dich, schreibe ich, streiche es durch. Ich stehe auf und gehe zu der Vitrine, in der Ataata etliche Tupilaks und andere grönländische Figuren gesammelt hat. Ich nehme den kleinen Raben heraus, der aus Speckstein gearbeitet ist, und stecke ihn ein. Wir sehen uns an Weihnachten, schreibe ich auf das Papier und male ein Herz. Ich schaue darauf, streiche es durch. Wir sehen uns an Weihnachten?, schreibe ich und reiße das kleine Textstück vom Rest des Blattes ab.

Als ich reinkomme, hackt sie gerade Rote Bete. Ihre Hände sind lila.

»Mhm, riecht gut. Brauchst du Hilfe?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf, lächelt und küsst mich ganz knapp neben den Mundwinkel.

»Setz dich aufs Sofa und trink ein Glas Wein.« Sie zeigt auf zwei Weingläser.

Ich betrachte sie, während sie eine Menge unterschiedlicher Gewürze in einem Schälchen mit Öl mischt. Anaana würde sich niemals trauen, so was zu tun. Maliina verrührt alles und gibt den Mix über die Rote Bete.

»Wie war’s heute auf der Arbeit?«

»Die reinste Sklavenarbeit«, antwortet sie.

»Oh, warum?«

»Bald hat die Landesregierung Herbstsitzung, deshalb musste ich haufenweise Diskussionsmaterial fürs Naalakkersuisut übersetzen«, sagt sie und seufzt übertrieben.

Sie setzt sich zu mir aufs Sofa und lächelt mich an.

»Hast du schon gepackt?«

»Das meiste. Ich hab morgen früh noch ein bisschen Zeit. Das Flugzeug geht erst um zehn.«

Sie küsst mich.

»Aber es ist Sturm angekündigt«, füge ich hinzu. »Kann sein, dass wir nicht fliegen.«

»Wie stark?«, fragt sie.

»Dreißig Meter die Sekunde.«

»Das klappt schon«, meint sie.

Ob es ihr egal ist? Ich gehe auf den Balkon, eine rauchen. Meine Hände sind schwitzig. Die Schneeammern zwitschern, sonst ist es still. Als ich die Kippe aufgeraucht habe, stecke ich mir noch eine an. Maliina gibt Milch in die Soße und rührt mit dem Schneebesen, wodurch ihr Hintern ein bisschen wackelt. Sie ertappt mich dabei, wie ich sie anschaue, nimmt die Weingläser und kommt zu mir nach draußen.

»Hier stinkt es nach Rauch«, sage ich.

»Kein Problem, mich stört’s nicht.« Sie blickt in den grauen Himmel.

»Es gibt ganz sicher Sturm«, sage ich.

»Die Raben werden ihren Spaß haben«, erwidert sie. »Prost.«

Sarah McLachlans Stimme dringt durch die Balkontür.

»In the arms of an angel, fly away from here«, singe ich und küsse sie. »Wusstest du, dass das ein Selbstmordlied ist?«

»Quatsch, ist es nicht!«

»Ist es wohl.«

»Hat sie das gesagt?«

»Nein, glaub nicht, aber es ist ziemlich offensichtlich.«

Sie nippt an ihrem Wein, lauscht konzentriert mit gerunzelter Stirn.

»Das sehe ich nicht so. Ich denke, es kommt darauf an, wie man es interpretiert«, sagt sie. »Ich finde, es ist ein schönes Lied.«

»Ich behaupte ja auch gar nicht, dass es nicht schön ist.«

Sie blickt mich schweigend an. Ich schaue vom fünften Stock hinunter auf den harten Asphalt.

»Als ich klein war, bin ich aus Aanaas Haus gesprungen und hab mir die Schulter gebrochen.«

»Warum das denn?«

»Um zu fliegen.«

»Magst du das Rentier aufschneiden?«, fragt sie.

»Hast du es selbst erlegt?«

»Ja, letztes Jahr in Akia.«

»Wow. Was jagst du sonst noch?«

»Schneehühner. Hasen.«

»Was ist mit Moschusochsen?«

»Nein. Für die muss man weiter nach Norden.«

»Hast du schon mal einen Eisbären geschossen?«

Sie grinst. »Jetzt klingst du wie ein Däne.«

»Ich komme aus Südgrönland, ich bin genauso unwissend.«

Maliina drückt meinen Arm.

»War es sofort tot?« Ich pikse mit dem Finger in das Fleisch. »Wie viele Tiere hast du schon erlegt? Wie alt warst du, als du dein erstes Tier erlegt hast?«

»So viele Fragen heute«, bemerkt sie.

»Ich bin nervös. Wenn ich nervös bin, rede ich zu viel«, sage ich.

»Warum bist du nervös?«

»Vielleicht hab ich Reisefieber. Aber mir wird auch einfach bewusst, dass es superviel gibt, was ich nicht von dir weiß. Wie kann das sein, wir kennen uns doch jetzt schon eine ganze Weile?«

»Wir sind einander ja erst in letzter Zeit nahegekommen«, sagt sie.

»Einander nahegekommen, ineinander gekommen«, lächle ich frech, und sie lächelt zärtlich zurück.

Ich kriege es nicht hin, diese verdammte Gabel richtig zu halten, als ich ihr gegenüber an dem kleinen Tisch sitze. Ich habe das Gefühl, ich kaue zu laut und esse zu schnell. Sie stellt ihren Fuß auf meinen, und ihre Ruhe überträgt sich auf mich. Ich möchte sie fragen, wie ihre Kindheit war, wer ihre Familie ist, ich möchte von ihrem Liebeskummer hören, von ihren dunkelsten Seiten, ihren Zukunftsvisionen, sie fragen, ob ich ein Teil davon sein darf.

»Wer bist du?«, versuche ich es.

»Gute Frage«, lacht sie.

Plötzlich wird ihre Miene ernst.

»Ich denke nicht viel darüber nach. Ich finde, das ist Zeitverschwendung, wo ich doch ohnehin nicht wissen kann, wer ich in zehn Jahren sein werde.«

»Soll das heißen, du weißt nicht, ob du in zehn Jahren noch lesbisch bist?«

»Sag niemals nie, aber ich werde nie wieder in meinem Leben Sex mit einem Mann haben«, sagt sie. »Aber dass ich lesbisch bin, sagt ja nicht sonderlich viel über mich aus.«

Ihr Fuß krabbelt mein Bein hinauf, und meinen ganzen Körper überzieht eine Gänsehaut.

Sie kommt zu früh, weil ich vergesse, beim Lecken Pausen zu machen. Wir liegen im Bett und begreifen, dass die letzte Nacht angebrochen ist. Sie schläft in meinen Armen ein. Worte rasen in meinem Kopf, Worte wie Liebe und Hoffnung, aber die Worte können nicht heraus, sie sind in mir gefangen. Ich zähle die Minuten, bis ihr Wecker piept, bis ein neuer Tag beginnt und wir Abschied nehmen müssen. Weißes Licht fällt vom bewölkten Himmel durch den Türspalt, und ich kann nicht schlafen. Mit zunehmender Helligkeit breitet sich Leere in mir aus, daher küsse ich ihren warmen Hals, schließe die Augen und atme ein letztes Mal ihren Duft ein, bevor ich aufstehe. Ich lege den kleinen Raben und den Zettel neben die Kaffeemaschine und stehle mich aus ihrer Wohnung, ohne einen letzten Blick auf ihren dunklen Körper, denn das könnte ich nicht ertragen. Der Sturm baut sich allmählich auf. Es wird ein langer Tag. Es wird ein langes Leben ohne dich.