Das Teehaus in Mentone - J. S. Fletcher - E-Book

Das Teehaus in Mentone E-Book

J.S. Fletcher

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Beschreibung

Als der berühmte Herausgeber von Lord Cheverdales Zeitung, dem Morning Sentinel, brutal ermordet auf dem Wohnsitz seiner Lordschaft gefunden wird, sind sein Geld und sein Schmuck noch immer in seinem Besitz, aber seine Taschen, die – wie bei jedem erfolgreichen Journalisten – normalerweise vor Papieren überquellen, sind leer. Scotland Yard spricht schnell von einem politischen Mord. Aber der erfahrene Ex-Polizist Chaney und sein smarter Assistent Camberwell vermuten, dass die Lösung vielleicht nicht ganz so einfach ist, wie es scheint. Im Rahmen ihrer Untersuchungen geraten die beiden Detektive mehr als einmal in Lebensgefahr. Und es soll nicht bei diesem einen Mord bleiben Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 277

Veröffentlichungsjahr: 2025

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J. S. Fletcher

Das Teehaus in Mentone

Kriminalroman

J. S. Fletcher

Das Teehaus in Mentone

Kriminalroman

Überarbeitung und Korrekturen: Null Papier VerlagÜbersetzung: Dr. v. Herget Published by Null Papier Verlag, DeutschlandEV: Goldmann, Leipzig, 1934 (220 S.) Copyright © 2018 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-962815-49-3

null-papier.de/636

Das hier veröffentlichte Werk ist eine kommentierte, überarbeitete und digitalisierte Fassung und unterliegt somit dem Urheberrecht. Verstöße werden juristisch verfolgt. Eine Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Verwertung ohne Genehmigung des Verlages ist ausdrücklich untersagt.

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Zu­sam­men­fas­sung

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Zusammenfassung

Als der be­rühm­te Her­aus­ge­ber von Lord Che­ver­da­les Zei­tung, dem Mor­ning Sen­ti­nel, bru­tal er­mor­det auf dem Wohn­sitz sei­ner Lord­schaft ge­fun­den wird, sind sein Geld und sein Schmuck noch im­mer in sei­nem Be­sitz, aber sei­ne Ta­schen, die – wie bei je­dem er­folg­rei­chen Jour­na­lis­ten – nor­ma­ler­wei­se vor Pa­pie­ren über­quel­len, sind leer.

Scot­land Yard spricht schnell von ei­nem po­li­ti­schen Mord. Aber der er­fah­re­ne Ex-Po­li­zist Cha­ney und sein smar­ter As­sis­tent Cam­ber­well ver­mu­ten, dass die Lö­sung viel­leicht nicht ganz so ein­fach ist, wie es scheint.

Im Rah­men ih­rer Un­ter­su­chun­gen ge­ra­ten die bei­den De­tek­ti­ve mehr als ein­mal in Le­bens­ge­fahr. Und es soll nicht bei die­sem einen Mord blei­ben.

1

Im No­vem­ber 1920 tat ich mich mit Ex-In­spek­tor Wil­liam Cha­ney (frü­her Kri­mi­nal­ab­tei­lung Scot­land Yard) zu­sam­men, bald nach­dem wir bei­de un­se­re nicht­amt­li­che Un­ter­su­chung in der Mord­sa­che Wri­des Park er­folg­reich ab­ge­schlos­sen hat­ten. Un­ser Ge­schäft soll­te un­ter der Fir­ma Cam­ber­well und Cha­ney als Pri­vat-Aus­kunf­tei lau­fen. Wir mie­te­ten Bü­ro­räu­me in Con­duit Street, ein paar Häu­ser ent­fernt von New Bond Street; es wa­ren zwei sehr große Räu­me, dazu kam noch ein drit­ter für un­sern An­ge­stell­ten, einen ge­ris­se­nen jun­gen Lon­do­ner, na­mens Chip­pen­dale. Be­vor er in un­se­re Diens­te trat, war Chip­pen­dale bei ei­nem An­walt so eine Art bes­se­rer Lauf­bur­sche ge­we­sen und hat­te dort eine Men­ge höchst brauch­ba­rer Kennt­nis­se auf­ge­schnappt, be­son­ders auch von den Schat­ten­sei­ten des Rechts. Über un­serm Büro la­gen ein paar Zim­mer, die ich für mich als Jung­ge­sel­len­woh­nung ein­rich­te­te. Ich wohn­te also so­zu­sa­gen über dem ›La­den‹ und war wie ein Arzt Tag und Nacht ver­füg­bar. Cha­ney, der ver­hei­ra­tet war, wohn­te au­ßer­halb. Ob­wohl ich also stets zur Stel­le war, kann ich mich nicht er­in­nern, dass man mich je­mals au­ßer­halb der Bü­ro­stun­den ge­ru­fen hät­te; erst An­fang Fe­bru­ar 1921 wur­de ich ei­nes Mor­gens um halb sie­ben von je­man­dem an­ge­läu­tet, der sich als Mr. Wat­son Pa­ley, Pri­vat­se­kre­tär Lord Che­ver­da­les, vor­stell­te. Er woll­te wis­sen, ob er mich in ei­ner höchst dring­li­chen Ge­schäfts­an­ge­le­gen­heit um drei­vier­tel acht auf­su­chen kön­ne. Ich ant­wor­te­te, dass ich zu sei­ner Ver­fü­gung ste­he. Vom Zweck sei­nes Be­su­ches er­wähn­te er nichts, ich hielt es aber für das bes­te, mei­nen So­zi­us hin­zu­zu­zie­hen; da Cha­ney ge­ra­de noch an­rief, bat ich ihn, so­fort ins Büro zu kom­men. Er er­schi­en um halb acht, und eine Vier­tel­stun­de spä­ter öff­ne­te ich Mr. Wat­son Pa­ley die Tür. Wenn ich jetzt zu­rück­den­ke, wird mir klar, dass ich vom ers­ten Au­gen­blick an ge­gen die­sen Mann eine schwer er­klär­ba­re Ab­nei­gung fühl­te. Genau so ging es auch Cha­ney, wie er mir spä­ter be­stä­tig­te. Wie sah der Mann aus, der einen sol­chen Ein­druck auf uns mach­te? Mr. Pa­ley war ein zart ge­bau­ter, mit­tel­großer Mann von drei­ßig bis fünf­und­drei­ßig Jah­ren. Selbst zu so frü­her Mor­gen­stun­de war er pein­lich kor­rekt ge­klei­det. Sein schwar­zes Jackett, sei­ne Wes­te, sei­ne ge­streif­ten Ho­sen sa­hen aus, als wä­ren sie ges­tern vom bes­ten Schnei­der aus der Sa­vi­le Row ge­lie­fert wor­den. Sei­ne Wä­sche war ta­del­los, Kra­wat­te und Schuh­werk wa­ren streng vor­schrifts­mä­ßig, eben­so sein Zy­lin­der und sein Schirm. Die ele­gant be­hand­schuh­ten Hän­de wa­ren klein wie sei­ne Füße: ein Gent­le­man wie aus dem Ei ge­pellt, was An­zug und Zu­be­hör an­traf – und doch ging et­was Be­drücken­des von ihm aus, ohne dass man ei­gent­lich sa­gen konn­te, warum. Je­den­falls ge­fiel mir Mr. Pa­leys Ge­sicht weit we­ni­ger als sein An­zug, sein We­sen weit we­ni­ger als sein Ge­sicht. Er hat­te eine blas­se Ge­sichts­far­be, sei­ne Au­gen er­in­ner­ten an die ei­nes Scha­fes. Sei­ne ziem­lich lan­ge Nase war scharf ge­schnit­ten, Bart und Schnurr­bart wa­ren schüt­ter und von ei­nem un­de­fi­nier­ba­ren Hell­braun. Ein Zug um sei­ne Lip­pen ließ deut­lich er­ken­nen, dass er sich zwar nicht of­fen über alle Men­schen lus­tig ma­che, sich aber doch ge­wöhn­li­chen Sterb­li­chen über­le­gen füh­le. Mich über­kam in sei­ner Nähe ein selt­sa­mes Frös­teln.

Aber Mr. Pa­ley kam ja als Kun­de oder im Auf­trag ei­nes Kun­den; ich hof­fe also, dass ich es nicht an der ge­büh­ren­den Höf­lich­keit feh­len ließ. Er nahm den an­ge­bo­te­nen Stuhl, zog sei­ne Hand­schu­he aus und setz­te sich in Po­si­tur wie ein Leh­rer, der eine Klas­se von Neu­lin­gen zu un­ter­rich­ten hat.

»Ich nann­te Ih­nen schon am Te­le­fon mei­nen Na­men, Mr. Cam­ber­well«, be­gann er ru­hig und gleich­mü­tig, »Wat­son Pa­ley, Pri­vat­se­kre­tär von Lord Che­ver­da­le. Sie sind na­tür­lich über Lord Che­ver­da­le un­ter­rich­tet?«

»Ich ken­ne Lord Che­ver­da­les Na­men«, ant­wor­te­te ich; »wei­ter aber nichts.«

»Aber ich weiß über Lord Che­ver­da­le ziem­lich ge­nau Be­scheid«, sag­te Cha­ney.

Pa­ley wand­te sich an mei­nen So­zi­us.

»Dann wis­sen Sie also, Mr. Cha­ney, dass Lord Che­ver­da­le, wenn er in der Stadt ist, in Che­ver­da­le-Haus, Re­gent’s Park, wohnt«, sag­te er.

»Ich weiß es«, ant­wor­te­te Cha­ney.

»Sie wis­sen also auch, dass Lord Che­ver­da­le Be­sit­zer der ›Mor­ning Sen­ti­nel‹ ist?«

»Auch das weiß ich.«

»Dann ist Ih­nen viel­leicht auch be­kannt, dass die ›Mor­ning Sen­ti­nel‹, seit sie Lord Che­ver­da­le vor ei­ni­gen Jah­ren grün­de­te, von Mr. Tho­mas Han­ning­ton re­di­giert wird?«

»Das ist mir gleich­falls be­kannt.«

Pa­ley zog sei­ne Hand­schu­he durch die Fin­ger und sah mit ei­nem merk­wür­di­gen Aus­druck sei­ner mat­ten Au­gen von Cha­ney zu mir, von mir zu Cha­ney.

»Also«, mein­te er in sei­ner ru­hi­gen, ein­tö­ni­gen Art, »Mr. Han­ning­ton wur­de ver­gan­ge­ne Nacht auf Lord Che­ver­da­les Grund­stück tot auf­ge­fun­den, bes­ser ge­sagt, heu­te Mor­gen zu frü­her Stun­de. Die ge­naue Zeit steht nicht fest, etwa um Mit­ter­nacht.«

»Tot?« frag­te Cha­ney.

»Wie fest­ge­stellt wur­de, er­mor­det«, ant­wor­te­te Pa­ley. »Dar­über be­steht nicht der min­des­te Zwei­fel. Ge­tö­tet durch Schlä­ge mit ei­ner stump­fen Waf­fe auf den Kopf.«

Ei­nen Au­gen­blick herrsch­te Schwei­gen. Cha­ney und ich sa­hen uns an; Pa­ley fuhr fort, sei­ne Hand­schu­he durch die Fin­ger zu zie­hen. Jetzt nahm ich das Wort: »Wa­rum sind Sie zu uns ge­kom­men, Mr. Pa­ley?«

Er sah mit ei­nem stil­len, zy­ni­schen Lä­cheln von ei­nem zum an­de­ren.

»Wa­rum?« ant­wor­te­te er. »Lord Che­ver­da­le ge­hört zu den Leu­ten, die in al­lem nach ih­rem ei­ge­nen Kopf han­deln. Na­tür­lich wur­de die Po­li­zei ge­holt, als man Han­ning­tons Lei­che fand, und sie ist be­reits in Che­ver­da­le-Haus. Wahr­schein­lich«, fuhr er spöt­tisch fort, »sind Sie über die Metho­den der Po­li­zei bes­ser un­ter­rich­tet als ich. Lord Che­ver­da­le über­lässt zwar al­les der Po­li­zei, be­steht aber auf ei­ner wei­te­ren, da­von völ­lig un­ab­hän­gi­gen Un­ter­su­chung. Er hat von Ih­nen ge­hört und wünscht, dass Sie die­se Nach­for­schun­gen über­neh­men. Es wird Ih­nen in Che­ver­da­le-Haus jede ge­wünsch­te Er­leich­te­rung ge­währt wer­den und eben­so in den Bü­ros der ›Mor­ning Sen­ti­nel‹. Was Ihre Aus­la­gen be­trifft … Sie wis­sen ja­wohl, dass Lord Che­ver­da­le ei­ner der reichs­ten Män­ner Eng­lands ist. Sie brau­chen also kei­ne Aus­ga­be zu scheu­en, buch­stäb­lich ge­nom­men. Das Ge­heim­nis, das über die­ser An­ge­le­gen­heit liegt, wünscht Lord Che­ver­da­le un­ter al­len Um­stän­den auf­ge­deckt zu se­hen. Darf ich jetzt wie­der ge­hen und Lord Che­ver­da­le sa­gen, dass Sie den Auf­trag über­neh­men?«

»Ja­wohl, und sa­gen Sie Lord Che­ver­da­le, dass wir un­ser mög­lichs­tes tun wer­den«, ant­wor­te­te ich. »Wir kom­men nach Che­ver­da­le-Haus, so­bald wir un­se­ren Tee ge­trun­ken ha­ben. Aber sa­gen Sie uns, bit­te, hat man ir­gend­ei­nen An­halts­punkt? – Wis­sen Sie ir­gend et­was?«

Pa­ley stand auf, zog lang­sam sei­ne Hand­schu­he an und ging zur Tür.

»Wir ha­ben kei­ner­lei An­halts­punk­te, wir wis­sen nichts«, ant­wor­te­te er.

2

Wir tran­ken schnell un­se­ren Tee und wa­ren ein Vier­tel nach acht Uhr schon im Auto auf dem Weg nach Che­ver­da­le-Haus. Ich wuss­te also nichts oder so gut wie nichts über Lord Che­ver­da­le, die »Mor­ning Sen­ti­nel« und Mr. Tho­mas Han­ning­ton, Cha­ney da­ge­gen au­gen­schein­lich eine gan­ze Men­ge. Er fing an, mir zu be­rich­ten, als wir rasch durch die er­wa­chen­de Stadt fuh­ren, die noch trü­be im Dunst des Fe­bruar­mor­gens lag.

»Also Lord Che­ver­da­le«, sag­te Cha­ney. »Ja, sei­ne Ge­schich­te ist ein rich­ti­ger Ro­man – sie ist üb­ri­gens sehr be­kannt. Er hieß frü­her ein­fach John Che­ver. Ich habe er­zäh­len hö­ren, er sei ur­sprüng­lich ein klei­ner Ge­würz- und De­li­ka­tes­sen­händ­ler in ir­gend­ei­ner Stadt der Mid­lands ge­we­sen. Nun, ei­nes Ta­ges be­kam er Wit­te­rung, dass mit Tee viel Geld zu ver­die­nen sei. Es ge­lan­gen ihm glück­li­che Spe­ku­la­tio­nen mit Tee­ak­ti­en. Dann mach­te er hier in Lon­don ein rie­si­ges Tee­ge­schäft auf – ha­ben Sie nie von Che­vers Tee ge­hört?«

»Ich ken­ne we­der Na­men noch Fir­men von Tee­sor­ten«, ant­wor­te­te ich. »Ich weiß nur zu un­ter­schei­den, was gu­ter und was schlech­ter Tee ist.«

»Also Che­vers Tee ist in der gan­zen Welt be­kannt«, fuhr Cha­ney fort. »Rie­si­ge Ge­schäfts­häu­ser, Bü­ros und der­glei­chen mehr. John Che­ver mach­te sich mit Tee ein Ver­mö­gen. Dann wur­de er ehr­gei­zig – der nor­ma­le Ver­lauf! Er kam ins Par­la­ment, wur­de ge­adelt, weil er Spen­den für Kran­ken­häu­ser ge­macht hat­te, und wur­de Baron, weil er Spen­den für Sa­na­to­ri­en ge­macht hat­te. Dann kam der große Krieg – Che­ver leis­te­te auf al­len mög­li­chen Ge­bie­ten Her­vor­ra­gen­des. Und nach zwei wei­te­ren Jah­ren war der net­te, ein­fa­che John Che­ver ver­wan­delt in John, den ers­ten Baron Che­ver­da­le. Aber vor­her hat­te er noch die ›Mor­ning Sen­ti­nel‹ ge­grün­det – um dem bri­ti­schen Pub­li­kum sei­ne An­sich­ten vor Au­gen hal­ten zu kön­nen. Er ist et­was ver­dreht, ein Schwär­mer, sehr ein­fach und be­schei­den – kein Al­ko­hol, kei­ne Wet­ten. Der Mann, den er sich als Re­dak­teur ge­nom­men hat, Han­ning­ton, der nun er­mor­det sein soll, war ganz nach sei­nem Her­zen. Ich bin ihm ein- oder zwei­mal be­geg­net, als ich noch in Scot­land Yard war; er war noch mehr Idea­list als sein Ar­beit­ge­ber. Ir­gend­ei­ne Schrul­le hat­te er im­mer im Kopf. Im­mer war er be­geis­tert für dies oder je­nes. Selt­sam, dass er ge­ra­de auf Lord Che­ver­da­les Grund und Bo­den um­ge­bracht wur­de …«

»Und kein An­halts­punkt!« warf ich ein.

»So sagt Pa­ley«, er­wi­der­te Cha­ney mit ei­nem Räus­pern. »Aber ich gebe we­nig auf das, was Pa­ley sagt. Un­se­re Auf­ga­be ist es, einen An­halts­punkt zu fin­den. Da fällt mir schon et­was ein, be­vor ich noch die Ein­zel­hei­ten die­ses Fal­les ken­ne.«

»Wirk­lich?« frag­te ich.

»Han­ning­ton«, fuhr Cha­ney fort, »war ur­sprüng­lich Re­por­ter und dann zwei­ter Re­dak­teur beim ›Mil­thwai­te Ob­ser­ver‹. Er ge­hör­te zu den Leu­ten, die sich Fein­de mach­ten – das Los von Son­der­lin­gen und Schwär­me­rn. Er zog ge­gen eine Rei­he von Din­gen zu Fel­de und gei­ßel­te als Miss­brauch, was an­de­re Leu­te ›gu­te Ka­pi­tals­an­la­ge‹ nann­ten. Er war ein fa­na­ti­sches Mit­glied von Mä­ßig­keits­ver­ei­nen. Wäh­rend der letz­ten Kriegs­jah­re mach­te er sich sehr un­be­liebt. Er griff auch den Frie­dens­ver­trag an; und neu­lich – wenn Sie die ›Mor­ning Sen­ti­nel‹ le­sen, wer­den Sie be­merkt ha­ben …«

»Ich lese sie nicht«, un­ter­brach ich ihn, »ich ken­ne sie nur vom Hö­ren­sa­gen.«

»Na, es ist zwar ein schreck­lich sit­ten­rei­nes und bra­ves Blätt­chen«, mein­te Cha­ney. »Aber ei­nes ist nicht zu leug­nen:

Han­ning­ton hat­te dort neu­er­dings die bol­sche­wis­ti­sche Re­gie­rung mit al­ler Schär­fe an­ge­grif­fen. Er kann­te nun ein­mal kei­ne Kom­pro­mis­se. Na­tür­lich deck­te ihn Lord Che­ver­da­le, der sei­ne An­sich­ten teil­te. Es soll­te mich also nicht wun­dern, wenn es sich hier um einen po­li­ti­schen Mord han­delt! Aber da sind wir ja schon bei Che­ver­da­le-Haus.«

Man er­reicht Che­ver­da­le-Haus vom In­ner-Circle des Re­gents Park. Ein weit­läu­fi­ges Her­ren­haus im Ge­or­gia­ni­schen Stil, ein­ge­bet­tet zwi­schen mäch­ti­gen Bäu­men, um­ge­ben von aus­ge­dehn­ten Ra­sen­flä­chen, die mit klei­ne­ren Bäu­men und Ge­sträuch so dicht be­pflanzt wa­ren, dass man das Haus erst se­hen konn­te, wenn man da­vor­stand. Zu dem Haus ge­lang­te man auf ei­nem Fahr­weg, der sich durch die Park­flä­chen und Ra­sen­plät­ze wand. Von dem Haupt­weg zweig­ten nach ver­schie­de­nen Rich­tun­gen an­de­re Wege ab. Wir lie­ßen un­se­ren Schof­för im In­ner-Circle auf uns war­ten und gin­gen auf dem Haupt­fahr­weg zum Haus; im Vor­bei­ge­hen be­merk­te ich zwi­schen dem Ge­sträuch auf der rech­ten Sei­te den Helm ei­nes Po­li­zis­ten und mach­te Cha­ney dar­auf auf­merk­sam.

»Zwei­fel­los die Mord­stel­le«, mein­te er. »Man hat sie wohl schon ab­ge­sperrt und eine Wa­che da­vor­ge­stellt. Aber dar­über wer­den wir ja gleich hö­ren.«

Pa­ley er­war­te­te uns an der Haus­tür; als er uns er­blick­te, dreh­te er sich um und wink­te je­man­den aus der Hal­le her­bei. Ein jung aus­se­hen­der Die­ner trat her­aus.

»Das ist der Mann«, sag­te Pa­ley, als wir her­an­ka­men, »der die Lei­che von Mr. Han­ning­ton ge­fun­den hat, – Har­ris, ei­ner un­se­rer Die­ner. Wol­len Sie ihn zu­erst be­fra­gen, oder wol­len Sie erst die Stel­le be­sich­ti­gen, an der die Lei­che ge­fun­den wur­de?«

»Wir wol­len uns zu­erst die­sen Ort an­se­hen, Mr. Pa­ley, und dann mit Har­ris spre­chen«, ant­wor­te­te Cha­ney.

Pa­ley wand­te sich an den Die­ner: »Zei­gen Sie Mr. Cha­ney und Mr. Cam­ber­well, wo Sie Mr. Han­ning­tons Lei­che fan­den, und be­rich­ten Sie al­les Nä­he­re dar­über«, sag­te er. »Ich kann mich Ih­nen lei­der nicht wid­men«, füg­te er hin­zu. »Lord Che­ver­da­le ist von dem Vor­fall so an­ge­grif­fen, dass er heu­te Mor­gen nicht ar­bei­ten kann, dar­um habe ich an sei­ner Stel­le ei­ni­ges zu er­le­di­gen. Aber ich soll Ih­nen die Wün­sche Sei­ner Lord­schaft mit­tei­len. Sie möch­ten hier nach­for­schen, wo und bei wem Sie wol­len; wenn Sie hier fer­tig sind, wünscht Lord Che­ver­da­le, dass Sie das Büro der ›Mor­ning Sen­ti­nel‹ auf­su­chen, um dort Nach­for­schun­gen an­zu­stel­len. Er ist über­zeugt, dass dort und nicht hier be­deut­sa­me Fest­stel­lun­gen ge­macht wer­den kön­nen. Hier sind ein paar Vi­si­ten­kar­ten Lord Che­ver­da­les; wenn Sie die­se vor­zei­gen, wird Ih­nen in den Bü­ros jede Er­leich­te­rung ge­währt wer­den. Spä­ter am Tag, wenn Lord Che­ver­da­le sich bes­ser fühlt, wür­de er ger­ne von Ih­nen und von den Be­am­ten von Scot­land Yard hö­ren, wie Sie die gan­ze An­ge­le­gen­heit be­ur­tei­len. Das wäre im Au­gen­blick al­les.«

Er entließ uns mit ei­ner Hand­be­we­gung; Har­ris for­der­te uns höf­lich auf, ihm zu fol­gen, und wir ent­fern­ten uns schwei­gend, et­was ein­ge­schüch­tert durch die dik­ta­to­ri­sche Art des Pri­vat­se­kre­tärs. Der Die­ner führ­te uns von dem Fahr­weg auf einen schma­len, as­phal­tier­ten Sei­ten­weg, der sich in Win­dun­gen durch das Strauch­werk zog, und tra­fen auf einen Schutz­mann, der mü­ßig einen etwa zwei Qua­drat­me­ter großen, ein­ge­frie­de­ten Fleck vor sich be­trach­te­te. Hier blieb der Die­ner ste­hen.

»Das ist die Stel­le«, sag­te er und zeig­te auf die Ein­frie­di­gung. »Hier lag er.«

Na­tür­lich war nichts zu se­hen als die zwei Qua­drat­me­ter As­phalt­flä­che. Cha­ney sah nach dem Po­li­zis­ten, der uns prü­fend be­trach­te­te.

»Wozu ist das hier mit Stri­cken ab­ge­sperrt?« frag­te Cha­ney den Po­li­zis­ten.

Der Mann schüt­tel­te sei­nen be­helm­ten Kopf, »Be­fehl«, sag­te er. »Wol­len es wohl nach Fuß­spu­ren un­ter­su­chen.«

»Sehr wahr­schein­lich, aus­ge­rech­net auf As­phalt Fuß­spu­ren zu fin­den«, mein­te Cha­ney iro­nisch. »Eben­so gut könn­te man er­war­ten, Fuß­spu­ren von ei­ner Bie­ne oder Flie­ge zu fin­den – Also Sie fan­den ihn?« wand­te er sich zum Die­ner.

»Ja­wohl, Sir.«

»Be­rich­ten Sie uns, bei wel­cher Ge­le­gen­heit Sie ihn fan­den.«

»Das kam so: Ich hat­te letz­ten Abend Aus­gang und bin im Thea­ter ge­we­sen. Ich ging dann zu Fuß nach Hau­se. Ich kam die­sen Weg ent­lang …«

»Ei­nen Mo­ment!« un­ter­brach Cha­ney. »Die­sen Weg, sa­gen Sie? Wie kommt man auf die­sen Weg? Ich mei­ne, wenn man von drau­ßen kommt?«

»Vom In­ner-Circle her; dort ist näm­lich eine klei­ne Tür in der He­cke. Der Weg ist eine Ab­kür­zung vom In­ner-Circle zum Haus.«

»Viel be­nutzt?«

»Die meis­ten Leu­te, die zu Fuß kom­men, be­nut­zen ihn.«

»Ob Mr. Han­ning­ton ihn wohl kann­te?«

»O ja, Sir, Mr. Han­ning­ton kann­te ihn ganz ge­nau.«

»Schön, er­zäh­len Sie wei­ter!« sag­te Cha­ney.

»Ich ging also die­sen Weg ent­lang«, wie­der­hol­te Har­ris. »Wie ich hier­her kam, sah ich vor mir einen Men­schen lie­gen; er lag mit dem Ge­sicht nach un­ten. Ich be­fühl­te ihn so­fort – er war noch nicht ganz kalt. Ja – und dann – dann lief ich ins Haus, Sir, und weck­te sie.«

»Weck­te wen?« frag­te Cha­ney.

»Mr. Pa­ley war der ein­zi­ge, der noch auf war. Er las in der Biblio­thek. Ich be­rich­te­te ihm. Er sag­te mir, ich sol­le Wal­ker, den Kam­mer­die­ner, und Smitt­son, den zwei­ten Die­ner, we­cken. Als sie dann her­un­ter­ka­men, gin­gen wir zu­sam­men hier­her zu­rück. Ich wuss­te noch nicht, wer der Tote war, und erst als wir zu­rück­ka­men, sah ich, dass es Mr. Han­ning­ton war.«

»Schön; und was ge­sch­ah dann?« frag­te Cha­ney.

»Mr. Pa­ley te­le­fo­nier­te nach der Po­li­zei, Sir. Die ließ nicht lan­ge auf sich war­ten, und als sie kam, nahm sie so­gleich al­les in die Hand.«

Cha­ney sah nach dem Po­li­zis­ten, der ru­hig zu­hör­te.

»Wa­ren Sie ei­ner von den te­le­fo­nisch her­ge­ru­fe­nen Po­li­zis­ten?« frag­te er.

»Nein, Sir, ich hat­te erst seit heu­te Mor­gen hier Dienst«, er­wi­der­te der Po­li­zist. »Als ich hier pos­tiert wur­de, war nichts mehr zu se­hen als dies da!« Er zeig­te auf die Sei­le und Pfäh­le.

Cha­ney wand­te sich noch­mals an Har­ris: »Um wel­che Zeit fan­den Sie die Lei­che?« frag­te er.

»Kurz nach zwölf, Sir. Je­den­falls zwi­schen zwölf und zwölf Uhr zehn.«

»Wis­sen Sie, ob Mr. Han­ning­ton Lord Che­ver­da­le be­sucht hat­te?«

»Ja, Sir, das weiß ich. Er hat ihn nicht be­sucht. Mr. Wal­ker, der Kam­mer­die­ner, mach­te eine Be­mer­kung dar­über. Er sag­te, Mr. Han­ning­ton wäre nicht hier ge­we­sen, aber wohl auf dem Weg hier­her, als er über­fal­len wur­de.«

»Wa­ren Sie zu­ge­gen, als die Po­li­zei kam, Har­ris? So, Sie wa­ren da­bei? Hör­ten Sie, wie je­mand über das Vor­ge­fal­le­ne sprach?«

»Ja, Sir, ich hör­te, wie ei­ner – ein In­spek­tor, glau­be ich sag­te, dass es kein Raub­mord sei, denn Mr. Han­ning­ton hat­te noch Uhr und Ket­te so­wie einen wert­vol­len Ring, den ihm Lord Che­ver­da­le ge­schenkt hat­te, und eine be­trächt­li­che Sum­me ba­res Geld bei sich. Da­ge­gen fan­den sich kei­ner­lei Pa­pie­re in sei­nen Ta­schen, und ich hör­te, wie Mr. Pa­ley zur Po­li­zei sag­te, dass das höchst ver­däch­tig sei, denn Mr. Han­ning­ton hat­te stets sei­ne Ta­schen mit Pa­pie­ren voll­ge­stopft.«

»Hat ei­ner von Ih­nen et­was Ver­däch­ti­ges ge­hört?« frag­te Cha­ney.

»Nein, Sir, kei­ner hat et­was ge­hört. Von hier bis zum Haus ist es ja auch ein hüb­sches Stück Weg.«

Wir wand­ten uns au­to­ma­tisch dem Haus zu, das man ge­ra­de durch die Bäu­me se­hen konn­te. Als wir uns um­dreh­ten, sa­hen wir eine Dame mit drei Hun­den lang­sam auf uns zu­kom­men. Wir tra­ten et­was zu­rück, und ich konn­te sie mir ge­nau­er an­se­hen. Eine große Frau mit ecki­gen Be­we­gun­gen, un­ge­fähr fünf­und­drei­ßig bis vier­zig Jah­re alt, mit ei­nem nicht ge­ra­de geist­vol­len Ge­sicht. Be­son­ders auf­fal­lend wa­ren ihre un­schö­ne Nase, die vor­ste­hen­den Zäh­ne und ihre star­ren, hell­blau­en Au­gen. Sie trug ein Schnei­der­ko­stüm mit sehr großen Ka­ros nach Her­ren­schnitt, dazu eine Sport­kra­wat­te; in der Hand hat­te sie eine Hun­de­peit­sche. Sie sah mehr für einen Aus­flug aufs Land aus­ge­rüs­tet aus als für einen Spa­zier­gang im Re­gents Park. Als sie her­an­kam, starr­te sie uns einen nach dem an­de­ren an und wand­te sich dann an den Po­li­zis­ten.

»Gibt es et­was Neu­es?« frag­te sie has­tig.

»Nein, Miss, nichts Neu­es«, ant­wor­te­te der Po­li­zist.

»Merk­wür­dig … höchst merk­wür­dig!«

Dann ging sie wei­ter.

Cha­ney aber wand­te sich an Har­ris: »Lord Che­ver­da­les Toch­ter, nicht wahr? Miss Che­ver?«

»Ja­wohl, Sir«, ant­wor­te­te der Die­ner. »Sei­ner Gna­den ein­zi­ges Kind.«

Cha­ney stell­te kei­ne wei­te­ren Fra­gen. Wir gin­gen lang­sam den as­phal­tier­ten Weg zu­rück, bis wir auf den Fahr­weg un­mit­tel­bar vor dem Haus ka­men. Hier wand­te er sich zu mir: »Ich den­ke, wir fah­ren jetzt zum Büro der ›Mor­ning Sen­ti­nel‹. Hier ist nichts mehr zu be­sich­ti­gen … im Au­gen­blick we­nigs­tens. Vie­len Dank, Har­ris.«

Als wir uns vom Haus ent­fern­ten, wur­de dort ein Fens­ter auf­ge­ris­sen. Pa­ley lehn­te sich her­aus.

»Mr. Cham­ber­well, Mr. Cha­ney!« rief er. »Ich ver­gaß ganz, Ih­nen zu sa­gen – wenn Sie ins Büro der ›Mor­ning Sen­ti­nel‹ kom­men, fra­gen Sie doch nach Miss Hether­ley – zu­erst nach Miss Hether­ley.«

3

Als wir wie­der in un­se­rem Auto sa­ßen, lehn­te sich Cha­ney mit ei­nem Seuf­zer der Be­frie­di­gung in die Ecke des Wa­gens.

»Also Miss Hether­ley«, be­merk­te er. »Aus­ge­zeich­net! Tüch­ti­ge Ge­schäfts­frau – wir wer­den mit ihr gut aus­kom­men.«

»Wer ist Miss Hether­ley?« frag­te ich.

»Han­ning­tons Pri­vat­se­kre­tä­rin«, ant­wor­te­te er. »Sei­ne rech­te Hand. Ich bin ihr öf­ter be­geg­net.«

»Sie wis­sen an­schei­nend eine gan­ze Men­ge von die­sen Leu­ten, Cha­ney«, sag­te ich. »Wie kommt das?«

»Ein­fach da­her«, er­wi­der­te er, »weil mein Schwa­ger Ab­tei­lungs­lei­ter in Che­vers Tee­stu­ben ist; so höre ich al­ler­hand. Ja, ich weiß eine Men­ge von Lord Che­ver­da­le und sei­nen Ge­schäf­ten … und höre so man­ches, wie Sie sich vor­stel­len kön­nen. Sie ha­ben doch eben Miss Che­ver, oder um ihr den ihr ge­büh­ren­den Ti­tel zu ge­ben: die Ho­nou­ra­ble Miss Che­ver ge­se­hen. Was hal­ten Sie denn nach die­ser flüch­ti­gen Be­geg­nung von ihr?«

»Ich glau­be, sie hat nicht den Ver­stand, den man ih­rem Va­ter nach­rühmt«, ant­wor­te­te ich.

»Da fehl­t’s al­ler­dings ein biss­chen, nicht viel, aber eben ein biss­chen«, sag­te er. »Also die Ho­nou­ra­ble Miss Che­ver ver­hei­ra­tet sich dem­nächst. Die An­zei­ge er­schi­en vor kur­z­em in der ›Ti­mes‹ und in der ›Mor­ning Post‹. Ganz fei­ne Sa­che. Der Mann, den sie hei­ra­tet, Mr. Fran­cis Craye, gilt wirk­lich so­viel wie Che­ver selbst, we­nigs­tens in der Tee­bran­che. Der alte Herr über­lässt al­les Ge­schäft­li­che Cray­es Hän­den, wie mir mein Schwa­ger er­zähl­te. War ein paar Jah­re dort im. Ge­schäft, die­ser Craye – kam als Ab­tei­lungs­lei­ter und wur­de bald der all­mäch­ti­ge Chef. Jetzt hei­ra­tet er Lord Che­ver­da­les ein­zi­ges Kind – sie be­kommt ja ein­mal das gan­ze Geld des al­ten Herrn; kann froh sein, der Bur­sche, aber mein Schwa­ger meint, das habe noch sei­ne be­son­de­ren Grün­de. Ich möch­te das auch an­neh­men. Be­stimmt!«

»Was denn für Grün­de?« frag­te ich.

»Das ist doch klar«, ant­wor­te­te er. »Nicht je­der hei­ra­tet eine Frau, die ein biss­chen schwach im Kopf ist, die oben­drein nicht von Schön­heit ge­plagt und schon bei­na­he vier­zig ist. Aber Craye wird sie hei­ra­ten, Lord Che­ver­da­le ver­traut ihm sei­ne Toch­ter und sein Rie­sen­ver­mö­gen an. Ver­ste­hen Sie jetzt?«

»Ich ver­ste­he – still­schwei­gen­des Übe­rein­kom­men!«

»So ist es! Man sagt, Craye sei ein Finanz­ge­nie er wird Che­ver­da­les Mil­lio­nen schon gut ver­wal­ten. Die Frau ist der Preis. Ihre ein­zi­ge Lieb­ha­be­rei ist, wie ich höre, die Hun­de­zucht – na, das ist ja eine harm­lo­se Sa­che.«

Wir lie­ßen dies The­ma wie­der fal­len und ka­men auf den Mord zu­rück.

»Schon eine Ver­mu­tung, Cha­ney?« frag­te ich.

»Bis jetzt noch nicht«, ant­wor­te­te er. »Ich rei­me es mir aber so zu­sam­men, dass Han­ning­ton trotz der spä­ten Stun­de noch Lord Che­ver­da­le auf­su­chen woll­te und dass man ihm folg­te oder ihm auf­lau­er­te. Wich­tig wäre es nun, ge­ra­de hier­über Klar­heit zu be­kom­men. Wenn man ihm auf­lau­er­te, muss­te je­mand wis­sen, dass er hier­her kam; und wenn man ihm folg­te – aber es ist mü­ßig, sich jetzt dar­über den Kopf zu zer­bre­chen. Wir müs­sen zu al­ler­erst wis­sen: wo war Han­ning­ton ges­tern Nacht? Wir be­gin­nen mit un­se­ren Nach­for­schun­gen na­tür­lich im Büro der ›Mor­ning Sen­ti­nel‹. Wir sind ja gleich da. Der Mann soll an der Ecke hal­ten – wir kön­nen das Stück­chen hin­un­ter zu Fuß ge­hen.«

Wir wa­ren jetzt in Fleet Street und stie­gen aus. Cha­ney bog in eine Sei­ten­stra­ße ein und ging auf die Neu­bau­ten zu, die in den letz­ten Jah­ren zwi­schen der Oste­cke von Tem­ple Gar­dens und Black­fri­ars ent­stan­den wa­ren. We­ni­ge Au­gen­bli­cke spä­ter stan­den wir vor ei­nem Be­am­ten an der Tür der ›Mor­ning Sen­ti­nel‹-Bü­ros. Wir schick­ten un­se­re Aus­weis­kar­ten hin­ein, au­ßer­dem eine Vi­si­ten­kar­te von Lord Che­ver­da­le. So­fort kam ein Boy und fuhr uns im Lift in den ers­ten Stock; hier führ­te er uns in ein vor­nehm aus­ge­stat­te­tes Zim­mer, in dem uns gleich das große Por­trät ei­nes fei­er­lich aus­se­hen­den Herrn auf­fiel, der fins­ter und miss­bil­li­gend in die Welt blick­te.

Cha­ney zeig­te auf das Bild: »Lord Che­ver­da­le«, sag­te er. »Es war vor zwei oder drei Jah­ren in der Aka­de­mie. Ver­gnügt aus­se­hen­der Bur­sche, nicht? Und das ist Han­ning­ton.« Er zeig­te auf ein Foto an der Wand ge­gen­über.

Ich ging hin und sah es mir in­ter­es­siert an. Ein Blick ge­nüg­te um fest­zu­stel­len, dass Han­ning­ton ge­nau so war, wie Cha­ney ihn ge­schil­dert hat­te: ver­schro­ben, schwär­me­risch, ein En­thu­si­ast! Die Au­gen schie­nen in die Fer­ne zu bli­cken. Der gan­ze Aus­druck ver­riet aber, dass der Mann auch fa­na­tisch sein konn­te.

Jetzt öff­ne­te sich eine Tür, und eine Dame trat ein. Ich be­trach­te­te sie mit noch grö­ße­rem In­ter­es­se als vor­her die Bil­der; sie war eine äu­ßerst leb­haf­te, hüb­sche, ele­gant an­ge­zo­ge­ne Frau von un­ge­fähr fünf­und­drei­ßig, die einen mun­te­ren und ge­wand­ten Ein­druck mach­te. Sie hielt un­se­re und Lord Che­ver­da­les Kar­ten in der Hand und wies auf zwei Stüh­le, die zu bei­den Sei­ten des großen Schreib­ti­sches stan­den.

»Gu­ten Mor­gen, Mr. Cha­ney’«, sag­te sie mit fri­scher Stim­me. »Wir ha­ben uns ja schon frü­her ge­trof­fen. Und das ist Ihr Kom­pa­gnon, nicht wahr? Gu­ten Tag, Mr. Cam­ber­well. Sie wa­ren also schon im Haus Che­ver­da­le? Pa­ley te­le­fo­nier­te mir, dass Lord Che­ver­da­le au­ßer der Po­li­zei auch Ihre Diens­te in An­spruch nimmt. Eben erst bin ich zwei Leu­te von Scot­land Yard los­ge­wor­den; sie ha­ben mich drei­vier­tel Stun­den lang aus­ge­fragt, und nun muss ich wohl die gan­ze Sa­che noch ein­mal mit Ih­nen durch­spre­chen. Was möch­ten Sie denn von mir wis­sen?«

Sie setz­te sich an den Schreib­tisch und sah uns, als wir Platz ge­nom­men hat­ten. fra­gend an. Wie üb­lich, ließ ich Cha­ney re­den.

»Eine gan­ze Men­ge, Miss Hether­ley«, sag­te Cha­ney. »Bis jetzt wis­sen wir nur, dass Mr. Han­ning­ton in der ver­gan­ge­nen Nacht, etwa um Mit­ter­nacht, auf Lord Che­ver­da­les Grund­stück über­fal­len und durch Hie­be auf den Kopf ge­tö­tet wur­de und dass kei­ner­lei Spur von dem Mör­der oder den Mör­dern zu fin­den ist. Ich möch­te wis­sen, was vor­her­ge­gan­gen ist. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir sa­gen könn­ten, wo ich am bes­ten an­fan­gen soll. Wie wa­ren Mr. Han­ning­tons re­gel­mä­ßi­ge Bü­ro­stun­den hier?«

Miss Hether­ley ant­wor­te­te so­fort: »Von zwei Uhr nach­mit­tags bis zwei Uhr mor­gens.«

»Blieb er die gan­ze Zeit hier?«

»In der Re­gel, ja; manch­mal ging er zum Es­sen aus. Aber das kam nur sel­ten vor. Nach der streng ein­ge­hal­te­nen Re­gel wur­de ihm das Es­sen um halb acht Uhr ge­bracht.«

»Was für Bü­ro­stun­den hat­ten Sie als sei­ne Se­kre­tä­rin?«

»Von zwei Uhr nach­mit­tags bis neun Uhr abends.«

»Und ges­tern Abend …?«

»Ges­tern Abend wich er von der Re­gel ab, er ging schon um neun Uhr, zu­gleich mit mir.«

»Aus ir­gend­ei­nem be­son­de­ren Grund?«

»Nicht, dass ich wüss­te! Es sei denn, dass er we­gen ei­nes Vor­fal­les frü­her ging, der sich ges­tern hier er­eig­ne­te.«

»Was war denn das?« frag­te Cha­ney.

»Vi­el­leicht hat das große Wich­tig­keit«, ant­wor­te­te Miss Hether­ley. »Ich habe schon den Scot­land-Yard-Leu­ten da­von er­zählt, und jetzt muss ich es Ih­nen wohl auch be­rich­ten. Am bes­ten, ich er­zäh­le es mit al­len Ein­zel­hei­ten. Die­ses Zim­mer hier dient Lord Che­ver­da­le als Pri­vat­bü­ro, so­oft er hier­her kommt. Die Tür dort führt ins Zim­mer des Re­dak­teurs, zu Mr. Han­ning­ton. Da­hin­ter ist ein klei­ne­rer Raum, mein Büro. Kein Be­su­cher konn­te zu Mr. Han­ning­ton, au­ßer durch mein Zim­mer. Ist das klar?«

»Ver­ste­he«, sag­te Cha­ney.

»Schön. Nun hö­ren Sie wei­ter. Ges­tern Nach­mit­tag, etwa um fünf Uhr, brach­te mir ein Bote einen Brief, der an Tho­mas Han­ning­ton adres­siert und links oben in der Ecke mit dem Ver­merk ›Pri­vat‹ ver­se­hen war. Die Hand­schrift war die ei­ner Frau. Ich brach­te den Brief zu Mr. Han­ning­ton hin­ein und war­te­te, bis er ihn las. Als er ihn ge­öff­net hat­te, sah er zu­erst nach der Un­ter­schrift. Es fiel mir auf, dass die Un­ter­schrift ihn über­rasch­te. Has­tig über­flog er den Brief, und ich be­merk­te, wie er da­bei die Stirn run­zel­te. Er steck­te dann Brief und Um­schlag in die Ta­sche und wand­te sich zu mir: ›Füh­ren Sie die Dame her­ein, Miss Hether­ley‹, sag­te er, ›und sor­gen Sie, dass wir un­ge­stört blei­ben.‹ Ich ging in mein Büro zu­rück, wo der Bote war­te­te, und schick­te ihn hin­un­ter, die Dame zu ho­len. In ein paar Mi­nu­ten kam er mit ihr zu­rück.«

»Kön­nen Sie sie be­schrei­ben?« frag­te Cha­ney.

»Ja, bis auf ihr Ge­sicht«, ant­wor­te­te Miss Hether­ley ru­hig. »Das kann ich we­der Ih­nen noch sonst je­man­dem be­schrei­ben, denn sie war dicht ver­schlei­ert – so dicht, dass ich nicht ein­mal sa­gen könn­te, ob sie blond oder brü­nett war, ob sie dunkle oder hel­le Au­gen hat­te. Aber nach ih­rem Gang und ih­rer Fi­gur – ei­ner sehr gu­ten Fi­gur – wür­de ich sie für eine Frau von drei­ßig oder zwei­und­drei­ßig Jah­ren hal­ten. Eins aber weiß ich ganz ge­nau: ihre Klei­der wa­ren nicht aus Eng­land!«

»Wo­her denn?« frag­te Cha­ney.

»Aus Pa­ris! Ich ken­ne Pa­ri­ser Klei­der – al­les war of­fen­sicht­lich aus Pa­ris. Sie war an­ge­zo­gen, wie sich nur eine Fran­zö­sin an­zieht, oder wie Frau­en von ei­nem fran­zö­si­schen Schnei­der an­ge­zo­gen wer­den. Ich hielt sie so­fort für eine Fran­zö­sin.«

»Hör­ten Sie sie spre­chen?« frag­te Cha­ney.

»Ich hör­te sie nicht spre­chen, nicht ein Wort; we­der beim Kom­men noch beim Ge­hen. So­fort, als der Bote sie in mein Zim­mer brach­te, führ­te ich sie zu Mr. Han­ning­ton. Und jetzt ach­ten Sie, bit­te, auf fol­gen­de zwei Mo­men­te: Ers­tens war es ganz au­ßer­ge­wöhn­lich für Mr. Han­ning­ton, je­man­den um die­se Nach­mit­tags­stun­de zu emp­fan­gen; und zwei­tens war es noch viel un­ge­wöhn­li­cher, dass er ir­gend­je­man­dem er­laub­te, sei­ne Zeit län­ger als ein paar Mi­nu­ten in An­spruch zu neh­men. Die­se ge­heim­nis­vol­le Frau aber blieb bis fast sechs Uhr, also bei­na­he eine Stun­de, bei ihm!«

»Be­tra­ten Sie das Zim­mer um die­se Zeit?« frag­te Cha­ney.

»Nicht ein ein­zi­ges Mal. Wenn Mr. Han­ning­ton sag­te: ›Se­hen Sie zu, dass wir nicht ge­stört wer­den‹ oder ›Las­sen Sie uns un­ge­stör­t‹, so war das für mich Be­fehl. Nein, ich ging nicht hin­ein. Und ich sorg­te da­für, dass Mr. Han­ning­ton nicht ge­stört wur­de, so­lan­ge sie bei ihm war.«

»Aber schließ­lich ging sie doch«, sag­te Cha­ney.

»Um sechs Uhr öff­ne­te Mr. Han­ning­ton sei­ne Tür und kam mit ihr her­aus; er führ­te sie durch mein Zim­mer und öff­ne­te ihr dann die Tür zum Kor­ri­dor. Ich hör­te sie kein Wort mit­ein­an­der wech­seln. Er nick­te ihr zu, lä­chelnd, als ob sie sich sehr gut ver­stän­den, und sie grüß­te mit ei­nem Nei­gen des Kop­fes, was mich wie­der auf den Ge­dan­ken brach­te, dass sie Fran­zö­sin sei, denn das war nicht der Gruß ei­ner Eng­län­de­rin. Aber in mei­ner Ge­gen­wart wech­sel­ten sie nicht ein ein­zi­ges Wort. Sie wer­den mir jetzt wohl glau­ben, dass ich ganz gut be­ob­ach­ten kann?«

»Ich glau­be, Sie kön­nen es, Miss Hether­ley«, ant­wor­te­te Cha­ney und schmun­zel­te. »Der An­fang ist so­gar viel­ver­spre­chend!«

»Ich be­merk­te noch et­was, das von In­ter­es­se und viel­leicht von Wich­tig­keit sein könn­te«, fuhr Miss Hether­ley la­chend fort. »Als näm­lich die ver­schlei­er­te Dame durch mein Zim­mer zu Mr. Han­ning­ton hin­ein­ging, trug sie in ih­rer rech­ten, ne­ben­bei be­merkt, höchst ele­gant be­hand­schuh­ten Hand ein Päck­chen Pa­pie­re, das mit ei­nem grü­nen Band zu­sam­men­ge­bun­den war. Als Mr. Han­ning­ton sie hin­aus­ge­lei­te­te, hat­te er das Päck­chen mit dem grü­nen Bänd­chen in der Hand; und als er dann durch mein Zim­mer in sein Büro zu­rück­ging, sah ich, wie er das Päck­chen in die in­ne­re Brust­ta­sche sei­nes Rockes steck­te. Ist das von ir­gend­ei­ner Be­deu­tung?«

»Das will ich mei­nen!« rief Cha­ney. »Gut! Al­les, was Sie uns be­rich­ten, ist höchst wert­voll, Miss Hether­ley. Kön­nen Sie uns noch mehr sa­gen?«

»Da ist nicht mehr viel zu sa­gen«, ant­wor­te­te Miss Hether­ley. »Als die Frau weg war, nahm der Tag wie­der sei­nen ge­wöhn­li­chen Ver­lauf.«

»Mach­te Mr. Han­ning­ton ir­gend­ei­ne Be­mer­kung über sei­nen Be­such?« frag­te Cha­ney.

»Nein, mit kei­nem Wort. An­de­re Din­ge nah­men sei­ne Auf­merk­sam­keit in An­spruch …«

»Was mach­te er dann noch am Abend?« frag­te Cha­ney. »Sie sag­ten, dass die Frau um sechs Uhr ging und Mr. Han­ning­ton um neun Uhr. Nahm er sein Es­sen noch hier ein?«

»Ja, aber et­was frü­her als ge­wöhn­lich.«

»Und Sie sa­gen, er ging um neun?«

»Ja, ich weiß das aus dem ein­fa­chen Grund, weil er mit mir im Lift hin­un­ter­fuhr. Ich hat­te ge­ra­de den Lift er­reicht, als er eilends den Kor­ri­dor ent­lang kam und mit ein­stieg. Wir fuh­ren zu­sam­men hin­un­ter, gin­gen quer durch die Ein­gangs­hal­le und tra­ten zu­sam­men auf die Stra­ße. Ich wand­te mich der Fleet Street zu, um mei­nen Om­ni­bus nach Hau­se zu be­kom­men. Mr. Han­ning­ton aber ging zum Em­bank­ment hin­über. Und jetzt«, fuhr Miss Hether­ley fort und ver­riet zum ers­ten Mal ein leich­tes Zö­gern, eine klei­ne Un­si­cher­heit im Spre­chen und Be­neh­men, »jetzt kommt et­was, wor­über ich ei­gent­lich nicht ger­ne spre­chen möch­te, denn es könn­te ja nur Ein­bil­dung von mir oder Zu­fall ge­we­sen sein …«

»Macht nichts, las­sen Sie hö­ren, was es ist«, sag­te Cha­ney. »Und las­sen Sie nichts aus; Sie ah­nen nicht, wie wich­tig jede Klei­nig­keit ist.«

»Schön, es han­delt sich also um fol­gen­des«, ant­wor­te­te Miss Hether­ley. »Als Mr. Han­ning­ton und ich aus der Haus­tür tra­ten, lun­ger­te ein Mann – nach sei­nem Aus­se­hen ein Aus­län­der – auf der ge­gen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te um­her; ich dach­te, er be­ob­ach­te die Tür. Als ich ein paar hun­dert Me­ter die Stra­ße hin­auf­ge­gan­gen war, sah ich mich um; der Mann, von dem ich sprach, folg­te Mr. Han­ning­ton. Je­den­falls ging er un­mit­tel­bar hin­ter Mr. Han­ning­ton die Stra­ße zum Em­bank­ment hin­un­ter.«

»Das ist ja eine hoch­wich­ti­ge Nach­richt!« be­merk­te Cha­ney. »Könn­ten Sie den Mann wie­der­er­ken­nen?«

»Ich be­zweifle es«, ant­wor­te­te Miss Hether­ley. »Ich sah ihn nur im Licht der Stra­ßen­lam­pen. Ich hat­te den Ein­druck, dass er ein Aus­län­der war, denn er trug eine Art Um­hang, statt des hier­zu­lan­de üb­li­chen Über­rockes, und einen großen Schlapp­hut. Er stand der Tür des Bü­ros ge­ra­de ge­gen­über.«

»Mach­ten Sie Mr. Han­ning­ton auf ihn auf­merk­sam?«

»Nein, Mr. Han­ning­ton wür­de ihn gar nicht be­ach­tet ha­ben, selbst wenn ich es ge­tan hät­te.«

»Sie kann­ten Han­ning­ton gut, Miss Hether­ley?«

»Ich war sei­ne Pri­vat­se­kre­tä­rin, sei­ne rech­te Hand, Mr. Cha­ney, seit­dem die­se Zei­tung vor sechs oder sie­ben Jah­ren ge­grün­det wur­de.«

»Was ist Ihre An­sicht über ihn?«

»Er war ein vor­treff­li­cher Mensch, ein ta­del­lo­ser Cha­rak­ter, aber ex­zen­trisch; wenn je­mand mit ei­nem wirk­li­chen Kum­mer zu ihm kam, nahm er sich der Sa­che an, als ob sein ei­ge­nes Le­ben da­von ab­hin­ge. Aber Sie wis­sen ja, was die ›Mor­ning Sen­ti­nel‹ für einen Ruf hat …«

»Wis­sen Sie, ob Han­ning­ton Fein­de hat­te?«

Miss Hether­ley schüt­tel­te den Kopf. »Ach«, sag­te sie, »ich glau­be nicht, dass er als Mensch auch nur einen Feind auf der Welt hat­te. Aber als Macht­fak­tor, als po­li­ti­scher und so­zia­ler Macht­fak­tor, hat­te er si­cher eine gan­ze Men­ge schlim­mer Fein­de – dar­an zweifle ich nicht.«

Hier schal­te­te ich mich in die Fol­ge von Fra­ge und Ant­wort ein: »Für wen en­ga­gier­te sich denn Mr. Han­ning­ton in letz­ter Zeit be­son­ders?«