Das Teufelshorn - Anna Nicholas - E-Book

Das Teufelshorn E-Book

Anna Nicholas

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Beschreibung

Isabel Flores genießt ihren Cortado in der Bar Castell im malerischen Dorf Sant Martí, als der friedliche Sommertag jäh durch eine Schreckensnachricht verdunkelt wird: Ein kleines Mädchen ist verschwunden, am Strand entführt, und Hauptkommissar Tolo Cabot bittet seine ehemalige Kollegin Isabel um Hilfe. Als Ermittlerin war sie berühmt für ihren scharfen Verstand und ihre beinahe unheimliche Intuition, doch nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

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Seitenzahl: 439

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anna Nicholas

Das Teufelshorn

Der erste Fall für Isabel FloresEin Mallorca-Krimi

Roman

Aus dem Englischen von Eva Regul und Alexandra Berlina

Diogenes

Für Karen Chandler

Eine treue Leserin, die zu einer

langjährigen Freundin wurde

Prolog

Strand von Pollença, Mallorca. Montag, 20. August, 14.00 Uhr

 

Miranda warf einen flüchtigen Blick zurück zu ihrer Mutter, dann rannte sie los über den heißen Sand. Der kleine, aber schwere Rucksack auf ihrem Rücken hüpf‌te auf und ab, die Plastikriemen scheuerten auf den nackten Schultern. Immer wieder strich sie sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und atmete schwer, schwindelig vor Hitze und Aufregung, dann eilte sie weiter.

Geschickt wich sie den vielen Menschen aus, die am Strand in der Sonne lagen oder Ball spielten, den Blick fest auf das glitzernde Meer gerichtet. Plötzlich blieb sie kurz stehen und ließ ihren roten Plastikeimer und die Schaufel in den Sand fallen. Einen Moment später war sie schon am Wasser, wo der heiße Sand kühl und dunkel wurde. Sie bespritzte sich mit Wasser, genoss die Wellen, die ihre Zehen umspülten. Sekunden später merkte sie, dass jemand sie stumm und geduldig beobachtete.

Neben ihr, umgeben von Sonnenlicht, stand eine Frau mit langen blonden Haaren, die sie anlächelte. Miranda sah mit zusammengekniffenen Augen auf.

Wie in Zeitlupe griff eine kühle entschlossene Hand nach ihrer und zog Miranda weg; mit schnellen Schritten eilte die Frau über den Strand auf die Promenade zu. Am Straßenrand ließ ein blaues Auto die Scheinwerfer aufblinken, kaum zu erkennen im hellen Licht, aber die Frau packte die Hand des kleinen blonden Mädchens noch fester und ging zielstrebig darauf zu. Einen Moment später fuhr das Auto davon.

Lächelnd wandte Mrs Walters sich vom Tresen ab und steckte die Restaurantrechnung in ihre Handtasche. Mit einem entspannten Gähnen trat sie nach draußen auf die schattige Terrasse und sah sich nach ihrer Tochter um, die hier gerade noch gespielt hatte. Sie rief nach ihr, ging langsam die Treppen des Café del Mar hinunter und ließ den Blick über den Strand schweifen. Miranda war nirgends zu sehen. Innerhalb von Minuten überkam Mrs Walters eine albtraumhafte Angst. Sie hastete im Zickzack über den heißen Sand, und ihre immer panischeren Rufe, Miranda, Miranda!, mischten sich mit dem Kreischen der Möwen. Aber es war zu spät: Miranda war verschwunden.

Eins

Knapp über dem zerklüfteten Kamm der Serra de Tramuntana, die sich wie eine gutmütige Eidechse um das Tal schmiegte, ließ sich zaghaft die Sonne blicken. Nicht ohne Mühe stieg sie bis über den höchsten Gipfel und schaute die Orangen- und Zitronenhaine hinab. Dann fiel ihr Blick auf ein winziges gelbes Auto, das ziemlich munter die steile Bergstraße hinaufratterte.

Isabel Flores Montserrat gab die letzte Strophe von Big Yellow Taxi wild und laut zum Besten, und der leichte Wind trug sie vergnügt davon. Inzwischen schwebte die Sonne am Himmel wie ein launischer Luftballon und blendete Isabel so sehr, dass sie kaum die Straße sehen konnte. Sie klappte die Sonnenblende herunter, ließ dann wieder den linken Ellbogen auf dem offenen Fenster ruhen, während sie mit der rechten Hand steuerte. Ihre vom Schwimmen feuchten schwarzen Locken tanzten im Wind; wieder einmal strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und schaltete einen Gang hinunter, um eine besonders enge Kurve zu nehmen. Da entdeckte sie zu ihrer Verblüffung Leben auf der Straße – einen Rentner, der vor ihr mühsam in die Pedale trat. Zu dieser frühen Stunde konnte das nur der alte alte Bartomeu sein. Sie grinste und bremste mit einem kurzen Hupen ab, bis sie im Schritttempo neben dem Fahrrad rollte.

»Ich hätte im Auto noch Platz!«

Der alte Mann starrte sie mit wässrigen grauen Augen an und gackerte heiser. »Gràcies, Bel, aber so lebensmüde bin ich auch wieder nicht.«

Isabel lachte, winkte, ließ den Motor aufheulen und rauschte an alte Bartomeu vorbei. »Pass auf, Pequeñito«, sagte sie zu ihrem Auto und trommelte auf das Lenkrad, »wenn wir im Dorf ankommen, halte die Scheinwerfer nach einem Parkplatz offen, ja?«

Der kleine Fiat schaffte schnaufend den steilen Anstieg nach Sant Martí und ruckelte, als Isabel in einer engen Kopfsteingasse beschleunigte. Die meisten Parkplätze hier waren bereits von Urlaubern belegt, die zweifellos noch in ihren Betten vor sich hin träumten. Gelegenheitsdiebe wurden von diesen Autos geradezu magisch angezogen, denn die meisten trugen einen verräterischen Mietwagenaufkleber an der Windschutzscheibe. Bestimmt würden die Banden, die in der Sommersaison von Palma in die ländlichen Gegenden ziehen, ein paar davon ausräumen – das war so sicher wie das Amen in der Kirche! Die ehemalige Polizistin in Isabel ärgerte sich. Sie bremste am ruhigen Dorfplatz ab, bog links in die Calle Feliu und dann rechts zum Rathaus. Ganz hinten entdeckte sie einen freien Besucherparkplatz im Schatten einer hohen Platane. Sie schoss mit dem Fiat in die Lücke, stellte den Motor ab und klopf‌te liebevoll aufs Armaturenbrett.

»Bis dann, Pequeñito!«

Erst als sie ausgestiegen war, bemerkte sie Pau, den treuen Dorfpolizisten. Er kam auf sie zu, drohte mit dem Finger und zeigte auf Pequeñito.

»Bel, du kannst hier nicht parken. Dieser Platz ist für den Tourismusminister reserviert. Er besucht heute den Bürgermeister.«

Isabel breitete dramatisch die Arme aus. »Steht etwa sein Name drauf? Und überhaupt: Wenn es ebendiese Touristen nicht gäbe, könnte ich in aller Ruhe woanders parken!«

»Das mag ja sein, aber diesen Platz brauche ich trotzdem.«

»Komm schon, Pau, solltest du nicht lieber den Minister bequatschen, damit er sich mal um einen neuen Parkplatz in Sant Martí kümmert? Wenn der mehr Touristen will, soll er eben das Geld lockermachen …«

Der junge Mann zog sich die blaue Uniformmütze vom Kopf und wischte sich die Stirn ab.

»Heiß wird es. Warst du schwimmen?«

Sie nickte. »Ich hole mir einen Kaffee. Kommst du mit?«

Er schnauf‌te und setzte sich die Mütze wieder auf. »Danke, aber ich muss hierbleiben, bis der Minister eintrifft.«

»Schade. Dann fahre ich mal weg.«

Mit einem Seufzer gab sie sich geschlagen und begann, halbherzig nach dem Autoschlüssel zu suchen. Pau legte ihr die Hand auf den Arm.

»Schon gut. Ich finde einen anderen Parkplatz für seinen Chauffeur. Recht hast du, was glauben diese Politiker eigentlich, wer sie sind? Es wird Zeit, dass wir hier Geld für einen neuen Parkplatz bekommen.«

Isabel schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Gràcies,Pau. Du bist ein Engel!«

Als sie in Richtung der Bar Castell schlenderte, wünschte sie sich, alle Problemchen des Lebens wären so einfach zu lösen.

*

Ein Kreischen zerriss die schwüle Morgenluft auf der Plaça de Sant Martí. Isabel ließ ihre Zeitung sinken und schaute aus dem Korbstuhl auf der Barterrasse in den blauen Himmel, entdeckte aber nicht etwa eine Möwe, sondern einen graziösen Zwergadler. Entrückt beobachtete sie seinen Flug – bis ihre Träumerei unsanft von einer eindringlichen Stimme unterbrochen wurde, die von der plaça unten kam.

»He, Bel! Bist du da oben etwa eingenickt?«

Isabel blinzelte und suchte den gepflasterten Platz ab, bis sie eine junge Frau mit weinendem Kind auf dem Arm entdeckte – ihre Freundin Marga nebst Tochter.

Isabel grinste auf die beiden herab. »Das Geräusch eben, war das Sof‌ia?«

Marga zuckte die Achseln. »Deine geliebte Patentochter ist in den Springbrunnen gefallen. Ein Glück, dass ich Wechselsachen für sie dabeihatte. Können wir uns zu dir setzen?«

Isabel warf ihr dunkles Haar zurück. »Venga!«

Als sie ihren Diario de Mallorca zusammenfaltete, zwinkerte ihr der Regionalpräsident von der Titelseite zu. Mit ihrem angeknabberten Fingernagel tippte sie auf seine Nase und schaute ihm in die Augen. »Flirten Sie nicht mit mir, Señor Presidente! Haben Sie nichts Besseres zu tun, als eine neue Galerie zu eröffnen?« Sie warf ihn in die Tasche und mit ihm die üblichen Verdächtigen der Nachrichtenseiten – korrupte Politiker, betrügerische Bauunternehmer, Drogendealer, Taschendiebe und gewalttätige Ehemänner. Rafael, der Barbesitzer, blickte zu ihr, während er am Tresen ein Glas polierte. Sie lächelte ihn an.

Isabel war schon immer Stammgast der Bar Castell gewesen, und Rafael schien nie zu altern. Ob er aus dem Jungbrunnen getrunken oder einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte? Wie auch immer, seine wilden grauen Locken wurden nicht dünner, und auf seinen geraden Rücken wäre auch ein halb so alter Mann neidisch gewesen.

»Es sieht dir gar nicht ähnlich, so lange hier herumzusitzen«, rief er zu ihr rüber. »Kann der junge Pep denn allein die Stellung halten?«

Isabel gähnte. »Ein bisschen Freiraum hat noch niemandem geschadet. Er beschwert sich immer, ich würde ihm im Nacken sitzen.«

»Armer Pep! Ich würde nicht für eine Frau arbeiten wollen. Ihr behandelt uns alle wie Sklaven.«

Sie grinste: »Stimmt.« Und da Marga und Sof‌ia inzwischen die steile Treppe erklommen hatten, fügte sie hinzu: »Apropos Sklaven: Wo bitte sind unsere Kaffees?«

Die beiden Frauen tauschten Küsschen aus, und Isabel wollte das Mädchen in die Arme nehmen, aber die Kleine wehrte sie ab und trippelte mit dem wankenden Schritt eines alten Säufers an die Bar zu Rafael.

Isabel schaute ihr nach. »Du bist mir eine. Hast Rafael lieber als deine Patentante, was?«

Marga seufzte. »Für Rafaels Schokomilch würde sie ihre Seele verkaufen.«

Sie folgte ihrer Tochter, zog winzige nasse Sachen – Shorts, Söckchen und ein T-Shirt – aus ihrer voluminösen Strohtasche und legte sie auf die gekachelte Fensterbank, damit sie in der Sonne trockneten.

Rafael hob die Kleine auf den Tresen. »Für ein Bad ist es nie zu früh, was?«

Er wuschelte ihr durch die Haare, nahm eine kleine Flasche Cacaolat aus dem Kühlschrank, öffnete den Deckel und drückte ihr die Schokomilch in die Hand.

»Pajita!«, befahl sie.

Rafael zog einen blauen Papierstrohhalm aus einem Terrakottatopf und steckte ihn in die Flasche. Sof‌ia schüttelte den Kopf.

»Roja y blanca,Rafa!«

Geduldig ersetzte er den Strohhalm und lachte, als Sof‌ia mit einem ernsten Nicken die rot-weiß gestreif‌te Variante guthieß.

Marga kam auf die Terrasse heraus und ließ sich neben ihrer Freundin im Schatten eines riesigen Sonnenschirms auf einen Stuhl fallen. Rafael kam mit zwei Tässchen dampfenden Kaffees herüber, dazu eine frisch gebackene ensaïmada für Marga. Nach altem spanischen Kaffeeritual schüttelten die Frauen ihre Zuckerpäckchen kräftig, bevor sie diese in ihre Tassen leerten.

»Und, wie läuft es so mit meinem kleinen Bruder?«, fragte Marga und steckte sich genüsslich ein Stück Blätterteig in den Mund.

»Oh, Pep macht sich gut! Obwohl …«

Isabel nahm einen Schluck und ließ den starken Cortado auf sich wirken: den Geschmack, den Kick des Koffeins, die Süße des Zuckers und die Sanftheit der aufgeschäumten Milch. Rafael wusste, wie man Kaffee kocht, deswegen ging sie lieber in seine unauf‌fällige Bar mit der bescheidenen Terrasse als ins Café Jordi auf der anderen Seite der plaça. Dabei war Jordi ein Freund ihres Onkels Idò, und sie mochte, wie er in seinem Café schwatzte und Karten spielte. Aber er nahm nun mal die billigen Kaffeebohnen und servierte seine Cortados in Gläsern statt in Tassen, mit viel zu viel schaumiger Milch obendrauf, wie kleine, minderwertige Cappuccinos.

Isabel kannte Marga schon ewig. Sie dachte an ihre klapprige Bank in der Dorfgrundschule. Damals hatten sie ihre Namen ins Holz geritzt, mit dem Taschenmesser, das Isabel ihrem älteren Bruder Eduardo geklaut und in ihrem Schulranzen versteckt hatte. Faule Sommertage hatten sich in die Länge gezogen wie Karamellbonbons; sie und Marga spielten mit canicas oder rasten unter dem wohlwollenden Blick der alten Rathausuhr mit ihren Rollern über die plaça. Einmal ließen sie Stinkbomben in den hinteren Kirchenbänken los, ein anderes Mal Böller, zur Empörung der Matronen in ihren schwarzen mantillas, die sich ächzend vor dem Altar niederließen. Sie kippten einen Eimer Frösche in der Sakristei aus oder tranken eine halbe Flasche Messwein aus Padre Agustís Sakristeischrank. Erwischt wurden sie selten, und auch bei der Beichte gaben sie ihre Schandtaten niemals zu, obwohl sie sich vor dem Schlafengehen aus Gewohnheit bekreuzigten.

Wenn die Olivensaison begann, fuhren die beiden Mädchen mitsamt Familien und Freunden zu den Olivenhainen hoch über dem Dorf. Stundenlang schufteten sie unter der glühenden Spätsommersonne, pflückten die grünen Früchte von den Bäumen, bis ihre Finger rot wie Jalapeñoschoten waren. Wenn die Sonne die zerklüftete Felswand des L’Ofre mit flüssigem Gold übergoss, sammelten sie ihre Beute ein, luden sie in die Lieferwagen und kehrten ins Dorf zurück, wo sie in der Bar Castell mit ein paar Peseten und einem Glas eiskaltem limón granizado belohnt wurden.

Isabel war als Teenager aufs Festland gezogen, nach Kastilien-La Mancha, aber jeden Sommer, sobald der Oleander blühte, kehrte sie für die langen, langen Ferien mit ihrer Familie in die mallorquinischen Hügel zurück, von Juni bis in den Herbst. Inzwischen waren sie und Marga Anfang dreißig und immer noch die besten Freundinnen. Isabels Gedanken kehrten zurück zu Pep, Margas jüngerem Bruder, der seit Kurzem in ihrer Agentur für Ferienwohnungen arbeitete.

»Ich glaube, Pep findet es schwer, eine weibliche Chefin zu haben.«

Marga stieß Luft aus und fuchtelte mit den sonnengebräunten Armen. »Claro! Ein Macho wie die alle.«

Isabel überlegte kurz. »Ach, da gibt’s doch noch ganz andere. Allerdings ist Furó von ihm nicht so begeistert. Wahrscheinlich dieses italienische Af‌tershave.«

»Dein Frettchen hat eine gute Nase. Pep nimmt das Zeug literweise. Und seine Klamotten, eh?«

Isabel nickte. Pep trug alle möglichen exotischen Marken aus Amerika, Italien und Frankreich. Aber gut, er war erst vierundzwanzig, da ist das Image noch wichtig. Sie selbst hatte wenig Ahnung von Designermarken und konnte sich nicht vorstellen, warum ein geistig gesunder Mensch astronomische Summen dafür bezahlen würde, als lebendige Werbung herumzulaufen. Andererseits hatte sie selbst erst letztes Jahr aus plötzlich entflammter Leidenschaft für einen alten Fiat 500 unsinnigerweise achthundert Euro an den Mechaniker Bernat hingeblättert, der das Auto von einem noch älteren Italiener geerbt hatte. Wie sehr sie diesen temperamentvollen kanariengelben bambino mit seinem launischen Motor und dem wackeligen Schalthebel liebte!

»Wie läuft es in der Agentur?«, fragte Marga.

»Viel los. Diesen Monat kommen jede Menge Urlauber.«

»Ich hoffe, Pep schafft es. Sonst muss er eben wieder Fliesen legen.«

»Er kommt schon zurecht. Ich bin’s nur gewohnt, allein im Büro zu sein. Und bei dir im Salon?«

»Jetzt sind die Touristen da, auf einmal ist es sehr voll geworden. Stell dir vor, wie bei dieser Hitze fünf Föhne auf Hochtouren laufen. Da könnten wir gleich eine Sauna aufmachen.«

Sie lehnte sich zurück und musterte ihre Freundin. »Das morgendliche Schwimmen bekommt dir.«

Isabel wischte sich eine Schweißperle von der Stirn und blickte herausfordernd in den gleißenden Himmel.

»Dabei kann ich am besten nachdenken.«

Sie sah den leeren Strand und die sanften violetten Wellen vor sich, in denen sie gerade noch geschwommen war. Sie konnte noch das Salz auf ihren Lippen schmecken, und kurz erschien ihr das Bild des anmutigen Seidenreihers, der knapp über dem Meer geschwebt hatte. Die beiden Frauen unterhielten sich über dies und das, dann leerte Isabel ihre Tasse und machte sich bereit zum Aufbruch. An der Theke nahm sie die kichernde Sof‌ia auf den Arm und wirbelte sie herum, während Marga die fast schon trockenen Klamotten einsammelte. Die Dorfuhr schlug neun. Isabel reichte Rafael einen zerknitterten Fünfeuroschein.

»Stimmt so«, sagte sie lächelnd.

»Da fehlt noch ein Euro!«, rief er, aber sie war schon aus der Tür. Grummelnd steckte er den Geldschein in die Schürzentasche. »Frauen!«

 

Draußen schlenderte Isabel die Westseite der plaça entlang, vorbei am Café Jordi mit seinen Leinenstühlen und schmiedeeisernen Tischen, dann unter den silbrigen Platanen zum Steinbrunnen vor dem Rathaus. Sie trat auf die Marmorstufe, nahm einen großen Schluck Wasser und wischte sich den Mund ab.

Für ein Dorf mit gerade einmal sechshundert Menschen schien der Platz etwas zu breit und pompös, vor allem, was die neugotische Sant-Antoni-Kirche anging mit ihrem barocken Inneren und dem imposanten Glockenturm, dem campanar. Das Rathaus gegenüber war eine andere Geschichte: Das gute alte ajuntament aus grauem Kalkstein wirkte trotz seines großen Torbogens und seines respektablen Alters gemütlich. Es wurde gemunkelt, im Gebäude spuke ein Gespenst herum: Antonio Ribes, ein Adliger, der im siebzehnten Jahrhundert wie so viele auf Mallorca an der Pest erkrankt war und sich angeblich vom Dach aufs Kopfsteinpflaster gestürzt hatte. Josep, der etwas makaber gesinnte Hausmeister des Rathauses, erzählte eines Abends im Café Jordi, er habe mitten in der Nacht gesehen, wie das Gespenst durch das Büro des Bürgermeisters schwebte, nackt, übersät von Eiterbeulen so groß und schwarz wie Pflaumen und vor Schmerzen heulend. Mit jedem Schluck Vino Tinto und erst recht mit jedem Schluck seines Lieblingsschnapses Fundador wurde die Geschichte gruseliger.

Vor der Kirche unterhielten sich gerade einige Einheimische mit Padre Agustí. Der Priester stand geduldig da, die Hände locker vor der düsteren schwarzen Soutane verschränkt, den mit weißem Flaum bedeckten Kopf von den Sonnenstrahlen abgewandt. Da öffnete sich knarrend eine der beiden massiven, gewölbten Rathaustüren, und heraus kam der kleine dickliche Bürgermeister Llorenç Bestard. Wie er sich bewegte, hatte er etwas von einer eifrigen Spinne. Er blieb stehen, als er Isabel sah, und grinste. »Hey, guapa! Auf dich habe ich gewartet.«

Sie trat einen Schritt vor und küsste ihn auf beide Wangen.

»Wenn es um diesen VIP-Parkplatz geht –«

Er lachte laut auf. »Ah ja, Pau hat mir davon erzählt. Wie konntest du den armen Jungen nur so frech überlisten? Als ob wir in Sant Martí einen Parkplatz bräuchten. Wir haben schon genug Touristen.«

»In Fornalutx gibt es inzwischen drei Parkplätze, und das ist ja auch nur ein Dorf.«

»Schön für Fornalutx.«

Isabel verschränkte die Arme. »Aber im Sommer kann man nirgends parken.«

»Das sind die Touristen mir wert. Und dein winziger Fiat kann sich ja ab und zu in meinen VIP-Bereich quetschen.«

Seine Augen huschten verstohlen vom Ausschnitt ihrer weißen Bluse zum marineblauen Leinenrock und den schlanken gebräunten Beinen.

»Sehr nett von dir, Llorenç. Also, warum wolltest du mich sehen?«

»Ach, nichts Dringliches. Einer britischen Touristin wurde die Handtasche gestohlen. Natürlich spricht sie kein Spanisch und schon gar kein Mallorquinisch.«

Isabel runzelte die Stirn. »Ist es hier in Sant Martí passiert?«

Er winkte ungeduldig ab. »Natürlich nicht. Auf dem Markt von Sóller. Die Polizei vor Ort muss die Anzeige aufnehmen, aber heute ist niemand im Büro, der Englisch spricht. Da haben sie wie immer gefragt, ob du helfen kannst.«

Sie nickte. Daran war sie gewöhnt. »Hat die Frau den Dieb denn gesehen?«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein, aber er kommt bestimmt nicht von hier. Der Markt ist heutzutage ja voller Ecuadorianer, Peruaner, Osteuropäer, Marokkaner –«

»Gott bewahre, dass es ein Mallorquiner sein könnte«, unterbrach Isabel mit ernster Miene.

Der Bürgermeister plusterte sich auf. »Machst du dich über mich lustig, Bel?«

Sie unterdrückte ein Grinsen. »Wie wäre es, wenn ich am Mittag vorbeikomme?«

»Ausgezeichnet. Bis dahin werde ich mit dem Minister fertig sein, und dann können wir das schnell erledigen. Vielleicht magst du mit mir danach einen Happen essen?«

Als Isabel zögerte, bedachte Llorenç sie mit einem Hundeblick. »Im Can Busquets gibt es heute frische gambas rojas. Genau wie du sie magst, gegrillt, mit Olivenöl, Petersilie und Knoblauch.«

Isabel spitzte die Ohren. Llorenç kannte ihre Achillesferse. Einen Teller saftige, süße rote Garnelen abzulehnen – das überstieg Menschenkräfte.

»Gut, dann essen wir zusammen.« Sie verabschiedete sich und bog in eine Gasse seitlich der Kirche, die zur Calle Pastor führte. Padre Agustí rief ihr mit brüchiger Stimme etwas zu, aber sie wollte sich nicht weiter ablenken lassen und ging mit einem fröhlichen »Uep!« weiter. Im Mallorquinischen konnte das alles und nichts bedeuten.

Zwei

Die Calle Pastor, in der Isabel wohnte, war eine Oase des Friedens abseits des Dorf‌trubels, gesäumt von Schatten spendenden Platanen und bernsteinfarbenen Bruchsteinhäusern. Der Vorgarten von Ca’n Moix, dem »Katzenhaus«, mit seinen kleinen stämmigen Palmen und den zahllosen Terrakottatöpfen voller Wildblumen und Kräuter fiel sofort ins Auge. Über die Steinmauer an der Grundstücksgrenze zu Doktor Ramis, dem Nachbarn zur Rechten, quollen Bougainvilleen, und in der Luft lag ein schwerer Jasminduft. Als Isabel den Riegel der Gartenpforte hob, warf sie einen Blick zurück auf den Puig Major, den höchsten Gipfel der Bergkette, die das Tal wie ein riesiger Kranz umschloss.

Dann ging sie auf die von Bögen eingerahmte Veranda zu, die sich halb hinter einem ausladenden Mandelbaum versteckte. Sie war über und über mit grünem Efeu bewachsen, der in seinem ehrgeizigen Bestreben, die Fenster der oberen Etage zu erreichen, auch schon den größten Teil der Fassade bedeckte. Aus der Tür, die sperrangelweit offen stand, drang rhythmische Musik. Isabel schüttelte den Kopf und seufzte tief, bevor sie die kühle Diele betrat und ihre Sandalen abstreif‌te. Gegenüber strömte durch zwei elegante Terrassentüren goldenes Licht in den Raum. Hinter der Terrasse erstreckte sich ein Obstgarten voller Orangen-, Zitronen- und Olivenbäume, in dem ein Hahn mit seinem Harem aufgeregter Hennen im hohen Gras Verstecken spielte. Auf der rechten Seite der Diele befand sich ein traditioneller Kalksteinkamin, und auf der anderen Seite führte eine Marmortreppe nach oben. In der ersten Etage hatte Isabel ihr Büro, das Stockwerk darüber war ihr privates Reich.

Aus der rustikalen Küche mit der offenen Speisekammer gelangte man auf die Terrasse aus liebevoll in konzentrischen Kreisen verlegten grauen und weißen Steinchen. In der Mitte standen unter einem Sonnenschirm ein Tisch und vier Korbsessel mit knallbunten marokkanischen Kissen. Hier saß Isabel spätabends manchmal bei Kerzenschein mit einem Glas kräftigen Rotweins, las einen Krimi, betrachtete die Sterne und lauschte dem rhythmischen Zirpen der Zikaden. Sie liebte es besonders, wenn ein leichter Wind aus den Bergen den Duft von Rosmarin und Thymian mit sich trug und die Kerzenflamme tanzen ließ.

Jetzt stieg sie die kühlen Marmorstufen zum Büro hinauf, und die hektische und, zumindest für ihre Ohren, misstönende Musik wurde lauter. Als sie das Büro betrat, saß Pep mit dem Rücken zu ihr auf seinem Stuhl, die Füße auf dem Schreibtisch, und nickte im wummernden Takt der Musik mit dem Kopf. Der neugierige Furó hockte auf dem Sofa und musterte ihn mit argwöhnischem und leicht verächtlichem Blick. Isabel schnappte sich eine Mappe mit Unterlagen und zog sie Pep sanft über den Kopf. Er sprang auf und sah sie beleidigt an.

»He, was soll das?«

Isabel musterte den braun gebrannten, sportlichen jungen Mann. Jeans, blütenweißes T-Shirt, große schwarze Rehaugen. Wieder einmal staunte sie über seine dunklen, geschwungenen Wimpern. Ob Pep wohl hörte, wie die Herzen der jungen Frauen klopf‌ten, wenn er mit breitem Lächeln über die plaça lief? Aber für ihn gab es natürlich nur eine Frau, zumindest behauptete er das: die kapriziöse Angélica, einzige Tochter des Bürgermeisters.

Isabel blickte ihn streng an. »Wenn du eine Disco aufmachen willst, geh nach Ibiza.«

Er stellte die Musik auf seinem Telefon aus. »Ach, komm schon. So laut ist es doch gar nicht. Siehst du, sogar Furó mag es!«

Beim Klang seines Namens blickte das Frettchen auf und zuckte forschend mit den Schnurrhaaren. Sofort war Isabels Ärger verraucht, sie ging zum Sofa und streichelte Furó über das rostbraune Fell. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ohne ihn schwimmen gegangen war, aber er hatte so tief und fest geschlafen, sie hatte ihn nicht wecken wollen. »Dir gefällt dieser Lärm nicht, oder, Furó?«

Wie aufs Stichwort ließ das Frettchen ein tiefes Knurren hören.

»Du Schuft!«, zischte Pep.

»Na dann«, wechselte Isabel fröhlich das Thema. »Wie war dein Wochenende?«

»Welches Wochenende? Angélica war stinksauer. Diese neuen Gäste, Mr und Mrs Fox, sind mit ihrer Nobeljacht vom Festland rübergesegelt, aber es war ordentlich Seegang, deshalb waren sie erst abends um elf in Port de Sóller. Ihr Schiff heißt Monique La Magnif‌ique, wer immer das sein soll.«

»Vielleicht ist damit Mrs Fox gemeint.«

»Nein, sie heißt Sarah mit Vornamen.«

»Und wann waren sie am Ferienhaus?«

»Um Mitternacht. Danach hatte ich erst Feierabend.«

»Das nenne ich Einsatz, Pep, genau darum geht es hier.«

Er verdrehte die Augen. »Erklär das mal Angélica. Ich habe jedenfalls im brütend heißen Auto auf die beiden gewartet, und –«

»Warum bist du nicht reingegangen?«

»Meinst du etwa, ich setze mich in der tiefsten Pampa in ein Spukhaus?«

Isabel sah ihn ein wenig genervt an. »Venga, hombre! Du glaubst doch wohl nicht an solchen Quatsch?«

»Also, mein Bruder hat bei der Renovierung dieser Finca mitgearbeitet, und er hat mir ein paar merkwürdige Sachen erzählt. Einmal hat er im Obergeschoss ein Kind singen hören, obwohl niemand da war, und einmal –«

»Ja, ja, diese Märchen kenne ich«, fiel Isabel ihm ins Wort. »Natürlich hat Ca’n Mayol eine traurige Vergangenheit, aber jedes alte Haus hier in der Gegend kann doch eine Geschichte erzählen. Das Problem ist, dass in diesem Dorf alle an Gespenster glauben. Aber egal, hat ihnen das Haus denn gefallen?«

Er nickte. »Ich glaube schon. Sarah Fox war auch echt nett, aber ihr Mann ist ein ganz schöner Griesgram. Ihrem Akzent nach scheint sie Französin zu sein, bei ihm weiß ich nicht. Anscheinend ist er Schriftsteller und möchte seine Ruhe haben, während er hier ist.«

Isabel blickte geistesabwesend auf eine offene Mappe auf Peps Schreibtisch und zuckte die Schultern.

»Was an sich kein Problem ist«, fuhr Pep fort, »aber sie haben das Haus für einen ganzen Monat gemietet, da muss Onkel Idò mit den Mädchen einmal pro Woche vorbeikommen, um den Pool zu reinigen und die Wäsche zu wechseln.«

»Und wie sieht’s mit unserem koksschnüffelnden Rechtsanwalt und seiner Frau aus, die Ca’n Julia in Fornalutx gemietet haben?«

»Die Jays? Die fliegen heute Abend zurück nach England. Holst du die Schlüssel bei ihnen ab?«

Sie nickte. »Mit Mr Jay muss ich mal ein paar Worte unter vier Augen wechseln.«

Pep warf ihr einen besorgten Blick zu. »Du willst ihm doch hoffentlich nicht auf den Kopf zusagen, dass er Drogen nimmt? Selbst wenn es stimmt, geht uns das nichts an. Er ist nur ein Kunde.«

»Das ist mir bewusst, gràcies.«

Isabel durchquerte das Zimmer und betrat ihr eigenes Büro mit Blick in den Garten. Sie legte ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab, holte ein zusammengeknülltes weißes Handtuch und einen noch feuchten roten Bikini mit weißen Punkten heraus und warf alles über die Lehne ihres altmodischen Drehstuhls. Auf den Papieren auf ihrem Schreibtisch lagen verstreut ein paar Sonnenblumenschalen. Pep rief ihr hinterher: »Ich wette, jede Menge Touristen koksen.«

Isabel schob die Schalen in den Papierkorb. Wie viele Sonnenblumenkerne sie wohl jeden Tag futterte? Zweihundert vielleicht? Sie warf einen Blick aus dem offenen Fenster in den Garten und ließ einen Pfiff los, als sie zwei Hennen im Gehege herumstolzieren sah.

»Buenos días,Miss Buncle, buenos días, Cleopatra!«

Beim Klang ihrer Stimme legten die Hennen die rotbraunen Köpfe schief und blinzelten zu ihr hoch. Pep stand stirnrunzelnd in der Tür. »Warum haben deine Hennen eigentlich so alberne Namen?«

»Wenn du ein bisschen mehr lesen würdest, fändest du sie gar nicht so merkwürdig.«

Sie ging zurück ins große Büro.

»Und was Mr Jay angeht, mache ich mir nicht nur Sorgen wegen des Kokains. Ich bin dazu noch überzeugt, dass er eine Affäre hat. Auch das geht mich natürlich nichts an, aber es wird sein ohnehin kompliziertes Leben nicht unbedingt leichter machen.«

»Wie hast du das denn rausgekriegt?«, rief Pep überrascht.

»Als ich letzte Woche am Haus die Pflanzen gegossen habe, hat er mit einer Francesca telefoniert und die ganze Zeit geflüstert.«

»Das war wahrscheinlich seine Mutter. Meine macht mich auch immer ganz verrückt, weil sie ständig anruft.«

»Ach, Quatsch. Außerdem kann man sein schlechtes Gewissen förmlich riechen.«

Pep schüttelte den Kopf. »Entschuldige mal, aber sind wir jetzt ein Detektivbüro?«

»Für einen Angestellten hast du ein ganz schön freches Mundwerk. Ich muss Marga sagen, sie soll mal ein bisschen die Zügel anziehen.«

Pep setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und fing an, mit einem Stift herumzuspielen. »Weißt du, was dein Problem ist? Du hältst dich immer noch für eine Polizistin.«

»Kommissarin, bitte.«

»Siehst du! Es fehlt dir nämlich. All die aufregenden Fälle, die Drogen, die Morde.«

»Du hast eine blühende Fantasie, Pep. Polizeiarbeit ist größtenteils Routine.«

»Das mag sein, aber du musst doch zugeben, dass du als Polizistin auf dem Festland den ganzen Actionkram geliebt hast. Es muss todlangweilig für dich gewesen sein, als du nach Mallorca gekommen bist.«

»Bei der Policía Nacional in Palma war es überhaupt nicht langweilig.«

Pep seufzte. »Hier passiert einfach nie was. Wir brauchen mal einen anständigen grausigen Mord.«

Isabel grinste spöttisch. »Sei vorsichtig, was du dir wünschst.« Sie zögerte kurz. »Ehrlich, mein jetziges Leben gefällt mir viel besser. Ich habe meine eigene Firma, verdiene gutes Geld und genieße alle Freiheiten. Was will man mehr?«

Aber in Wirklichkeit fuchsten Peps Worte sie doch. Es war jetzt zwei Jahre her, dass sie ihren Job als Kommissarin bei der Nationalpolizei in Palma aufgegeben und die kleine, schlecht laufende Ferienhausvermietung ihrer verwitweten Mutter Florentina übernommen hatte. In dieser kurzen Zeit hatte sie die Agentur in ein florierendes Unternehmen verwandelt, das Luxusimmobilien bis nach Pollença im Norden und Santa María und Binissalem im Zentrum der Insel vermietete. Sie hatte die Firma Hogar Dulce Hogar getauft – Home Sweet Home.

Es gab natürlich noch andere Ferienhausagenturen im Tal, die wenigsten davon gehörten Einheimischen, aber Isabel hatte sich deswegen nie Sorgen gemacht. Sie hatte mehr zu tun, als ihr lieb war, und eine lange Warteliste mit ausländischen Gästen. Inzwischen beschäftigte sie sechs Putzkräfte, ihren Onkel Idò, den älteren Bruder ihrer Mutter, der als eine Art Mädchen für alles fungierte, und Pep, der ihr bei den Buchungen und Kundenkontakten zur Seite stand. Außerdem engagierte Isabel den örtlichen gestor, den Buchhalter im Dorf, damit die ganze Sache einigermaßen legal über die Bühne ging. Es mussten Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden – was nicht hieß, dass kein dinero negro im Spiel war, aber es war immer klug, seine Finanzen zumindest pro forma korrekt zu verwalten.

Oder machte sie sich wirklich etwas vor? Sehnte sie sich insgeheim zurück in die Zeiten, als sie in Madrid und Barcelona und zuletzt in Palma als Kommissarin gearbeitet hatte? Wenn Isabel einen Kriminalfall in den Medien verfolgte, verspürte sie ab und zu den Drang, noch einmal ein Ermittlungsteam zu leiten, aber das verging auch wieder. Ihr letzter Fall war ihr ein wenig zu nahe gegangen, hatte sie zu viel Kraft gekostet und dazu noch fast ihre Familie zerstört. Sie konnte sich nicht vorstellen, noch einmal dahin zurückzukehren, wo man sich an kleinliche Regeln halten musste und in Bürokratie erstickte. Ihr kometenhafter Aufstieg zur Kommissarin mit nicht einmal dreißig Jahren war absolut verdient gewesen – sie hatte schließlich genügend Fälle gelöst –, aber ihre Methoden galten bei ihren Vorgesetzten als unorthodox und exzentrisch, und ihre Kollegen hatten sie immer argwöhnisch und sogar ein bisschen ängstlich beäugt. Manche nannten sie aufgrund ihrer verblüffenden Fähigkeit, selbst die undurchschaubarsten Fälle zu lösen, la bruja, die Hexe, andere weniger erfolgreiche Kollegen hatten ihre Leistungen als reines Glück abgetan. Isabel ignorierte diese Missgunst und verließ sich weiterhin auf ihren scharfen Verstand und ihr Bauchgefühl, das sie nur selten täuschte.

Doch, es war der richtige Zeitpunkt gewesen, den Dienst zu quittieren. Sie verstand sich immer noch gut mit vielen Mitgliedern der örtlichen Polizei, und ihr ehemaliger Chef in Palma, Hauptkommissar Tolo Cabot, war ein enger Freund. Einige Kollegen hatten damals sogar vermutet, dass die beiden mehr als Freunde waren, aber das war nichts als der übliche Büroklatsch. Die Leute wollten ständig heimliche Affären aufdecken, wo es gar keine gab.

Isabel hatte zurzeit sowieso die Nase voll von Beziehungen. Ihr letzter Freund, Fernando, ein verwöhnter Rechtsanwalt, war ihre Eigenheiten schon nach wenigen Monaten leid gewesen, und sie hatte ihrerseits genug von seinem oberflächlichen Lebensstil. Was hatte sie nur in ihm gesehen? Klar, ihre biologische Uhr tickte inzwischen etwas lauter, aber sie hatte immer noch genug Zeit, übers Kinderhaben nachzudenken, und außerdem gab es ja schon mehrere Kinder in ihrem Leben – die beiden kleinen Söhne ihres älteren Bruders Eduardo aus Toledo, der sie oft besuchte, und ihr Patenkind Sof‌ia. Isabels Beziehung mit Fernando endete abrupt, als ihr Nachbar Doktor Ramis ihr Furó schenkte, der für Fernando nicht viel mehr als eine Kanalratte war. Sie musste sich entscheiden – entweder er oder das Frettchen. Natürlich entschied sie sich für Furó.

Auch bei der Guardia Civil, der grün uniformierten Militärpolizei, die für die ländlichen Gemeinden auf Mallorca zuständig war, kannte Isabel einige der Beamten. Sie kamen oft auf einen Kaffee zu ihr ins Büro, meist, um sie nach ihrer Meinung zu fragen, wenn in der Gegend ein Verbrechen aufzuklären war. Nur den despotischen und ehrgeizigen Capitán Álvaro Gómez konnte Isabel überhaupt nicht leiden, aber das war eine andere Geschichte.

Isabel nahm Furó auf den Arm, als plötzlich das Telefon klingelte. Pep schnappte sich den Hörer. »Home Sweet Home, how can I help you?«, meldete er sich.

Isabel schmunzelte. Pep sprach nicht besonders gut Englisch, aber er war immer rührend bemüht. Sie selbst hatte als Jugendliche Privatstunden über sich ergehen lassen müssen, denn ihr Vater, ein ehrgeiziger jefe superior bei der Nationalpolizei in Castilla-La Mancha, beherrschte selbst viele Sprachen. Zu Hause praktizierte die Familie ein munteres Wechselspiel zwischen dem mallorquinischen Dialekt – der Sprache von Isabels Mutter – und Spanisch, der Sprache ihres Vaters. Die Mahlzeiten waren immer eine besondere Herausforderung, denn ihr Vater redete abwechselnd englisch, deutsch und fanzösisch, um Isabel und ihren Bruder Eduardo auf Trab zu halten.

Pep kam triumphierend in Isabels Büro getanzt. »Ich habe soeben eine Buchung für den gesamten September angenommen. Was sagst du dazu?«

»Enhorabuena! Wenn das so ist, werde ich dich diese Woche vielleicht sogar bezahlen.«

Isabel setzte Furó in sein Körbchen und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. »Zeit für etwas Süßes.«

Pep zuckte in gespieltem Entsetzen zurück. »Igitt! Von diesen Dingern verfaulen dir die Zähne.«

»Dann mach dich wieder an die Arbeit, damit du es nicht mitansehen musst.«

Sie griff in eine Terrakottaschale voller bunter Lollis auf ihrem Schreibtisch, wickelte genüsslich ein knallrotes Exemplar aus und steckte es sich in den Mund. Pep schüttelte missbilligend den Kopf, dann zog er ab, um den nächsten Anruf entgegenzunehmen.

*

Isabel stellte Pequeñito in einer Seitenstraße am Hafen ab und sah sich um. Es war dunkel, und der hartnäckige Mond, der noch über dem Horizont schwebte, warf sein fahles Licht aufs Wasser. Nachdem Isabel einige Zeit lang vergeblich versucht hatte, in der drückenden Sommerhitze einzuschlafen, war sie schließlich genervt aus dem Bett gesprungen und mit Furó zum Hafen gefahren. Keine Menschenseele war in Sicht, als sie über die stille Promenade zum Strand ging. Auf den schwarzen Wellen zerrten Jachten und Fischerboote in einer frischen Brise knarrend und ächzend an ihren Leinen. Isabel grinste, als sie ein sportlich aussehendes Schiff entdeckte, das den Namen Monique La Magnif‌ique trug. Mr und Mrs Fox, die Neuankömmlinge, waren offensichtlich nicht ganz mittellos.

Isabel zog ihre Espadrilles aus und seufzte vor Wonne, als die kleinen plätschernden Wellen ihre erhitzten Füße überspülten. Furó patschte durchs flache Wasser, der Spaziergang zu nachtschlafender Zeit schien ihn nicht zu verwundern. Als Isabel am hinteren Ende der Platja d’en Repic angekommen war, machte sie es sich auf ihrem Lieblingsfelsen gemütlich und genoss den herrlichen Blick aufs Meer. Plötzlich entdeckte sie auf dem Wasser ein schwach beleuchtetes Schiff, das eilig auf den Hafen zusteuerte. Es schlingerte wie ein alter Trawler, aber was hatte ein Fischerboot zu dieser unchristlichen Zeit draußen auf dem Meer zu suchen? Das machte Isabel neugierig. Sie pfiff nach Furó und ging mit schnellen Schritten über den Strand zurück.

Als sie den Hafen erreichte, tuckerte das Boot schon rückwärts in einen Liegeplatz am Kai. Isabel schlüpf‌te wieder in ihre Schuhe, befestigte Furós Leine an seinem Halsband, schlich an der langen Reihe schaukelnder Jachten vorbei und trat in den dunklen Hauseingang einer Bar. Ein paar Minuten später erstarb der Schiffsmotor, und sie hörte laute, wütende Stimmen. Furó knurrte und zerrte an der Leine, aber Isabel beruhigte ihn und zog ihn zurück hinter ihre Füße. In diesem Moment erschien eine junge Frau auf dem Kai, die laut mit zwei Männern schimpf‌te. Isabel konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber sie schnappte das Wort »Polizei« auf. Als die schmale Silhouette der Frau im Halbdunkel über die Promenade auf sie zukam, drückte Isabel sich noch tiefer in den Schatten. Einer der Männer rannte wütend hinter der Frau her, drehte sie am Arm herum und schüttelte sie. Isabels Herz raste, und sie überlegte fieberhaft, ob sie eingreifen sollte, aber da begann die junge Frau zu schluchzen und folgte dem Mann mit gesenktem Kopf zu einem weißen Van, der nur einen Steinwurf von Isabels Versteck entfernt stand. Isabel hielt den Atem an, als die beiden wieder zu streiten begannen.

»Hör zu, Felip, ich will damit nichts zu tun haben. Bring mich einfach nach Hause, und ruf mich nie wieder an.«

Er drehte sich wütend zu ihr um. »Du machst mich krank, weißt du das? Du steckst da mit drin, ob du willst oder nicht. Und jetzt halt die Klappe, und steig ein.«

Er machte die Autotür auf, schob sie unsanft auf den Beifahrersitz und wartete, dass sein Begleiter hinterherkam. Der war kleiner und hatte dunklere Haut, und er schleif‌te zwei Trockensäcke hinter sich her, die er in den Kofferraum lud. Dann stieg er ebenfalls ein, und der Van brauste mit quietschenden Reifen davon, doch im Licht einer Straßenlaterne hatte Isabel gerade noch einen Blick auf die Gesichter der drei Gestalten erhaschen können.

Drei

Als Isabel nach ihrem nächtlichen Abenteuer zu Hause ankam, konnte sie nur ein paar Stunden schlafen – am Morgen hatte sie einiges zu erledigen. Erst um elf war sie wieder in Ca’n Moix angekommen, beladen mit Zitronen, Auberginen und der Wäsche, die sie von der Reinigung abgeholt hatte. Furó trottete ein paar Schritte hinter ihr her und beschnüffelte jeden Winkel der Treppe, als machte er das zum ersten Mal. Im Büro ließ sie alles auf ihr geliebtes Chesterf‌ield-Sofa fallen, das ihr ein alter britischer Bewohner von Sant Martí überlassen hatte. Es war muskatbraun und so alt, dass weiße Wattebüschel wie Kaninchenschwänze aus den Kissen hervorlugten. Sie liebte es trotzdem.

Furó sprang in seinen Korb und schlief sofort ein: Im Hafen hatte er sich ausgepowert, und eigentlich schlief er sowieso die meiste Zeit. Isabel ließ sich vor dem Computer nieder, gähnte und ging ihre E-Mails durch. Nichts Weltbewegendes. Wenige Augenblicke später knallte die Tür zum Büro auf, und vor ihr stand ein zerzauster, verschwitzter Pep.

»Ist das wirklich für mich?«, schnurrte sie, als er ihr einen Cortado auf den Schreibtisch stellte.

Pep runzelte die Stirn. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Keine gute Nacht. Du siehst aber auch nicht so toll aus.«

Pep ließ sich aufs Sofa fallen und warf einen misstrauischen Blick in Furós Richtung.

Isabel zwinkerte ihm zu. »Mach dir keine Sorgen, er hat schon gefrühstückt. Also, was gibt’s?«

»Ich hasse August. Es ist einfach zu heiß.«

»Sei doch nicht so ein Baby.«

Pep wedelte mit dem Saum seines T-Shirts. »Sogar mit der Klimaanlage ist es unerträglich.«

»Du kannst von Glück reden, dass wir überhaupt eine Klimaanlage haben. Onkel Idò sagt, es ist die reinste Geldverschwendung.«

»Klar sagt er das. Er muss ja nicht hier arbeiten.«

Sie nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Kein Zucker?«

Widerwillig zog er ein Päckchen aus der Tasche und warf es ihr auf den Schreibtisch.

»Und, was hat dich letzte Nacht wach gehalten?«

Isabel rührte langsam in ihrem Kaffee. »Es ist was Seltsames passiert. Ich konnte vor lauter Hitze nicht schlafen –«

»Na also, du auch.«

»… also bin ich aufgestanden und mit Furó im Hafen spazieren gegangen.«

»Wann war das?«

»So gegen drei Uhr nachts.«

»Du spinnst doch.«

»Na ja, jedenfalls sah ich dabei einen Trawler in den Hafen einlaufen.«

»Komisch. Wer fischt denn um diese Zeit?«

»Ganz genau. Deshalb habe ich nachgesehen.«

Pep unterdrückte ein Stöhnen. »Okay. Erzähl weiter.«

»Zwei junge Männer und eine Frau sind an Land gegangen. Sie hatten einen heftigen Streit.«

Pep lehnte sich vor. »Und dann?«

»Ich sah sie zwei Trockensäcke in einen weißen Lieferwagen laden.«

»Und was war drin?«

»Leider hatten meine hellseherischen Kräfte gerade einen Aussetzer. Zerstückelte Leichen vielleicht?«

Pep schüttelte sich. »Mach doch nicht solche Witze, Bel! Und dann?«

»Sie stiegen alle in den Van und fuhren weg.«

»Und das war’s?«

»Nicht ganz. Als das Auto vorbeifuhr, konnte ich noch einen Blick auf sie erhaschen. Ich habe alle erkannt.«

»Jetzt sag schon, wer war’s?«

»Aina Ripoll, die Tochter der Bäckerin in Morells, und diese beiden Taugenichtse, die jungen Fischerbrüder – Felip und Francesc Torrens.«

»Echt jetzt? Und warum waren sie um diese Zeit unterwegs?«

Isabel streichelte nachdenklich ihr Kinn.

»Ich habe keine Ahnung, Pep. Aber ich finde es heraus.«

»Ist das eine gute Idee?«

»Wahrscheinlich nicht.«

Er schwieg kurz. »Tja, im Gegensatz zu dir hatte ich einen völlig abenteuerlosen Abend.«

»Und zwar?«

»Stell dir vor: Beide Mieterpaare kamen pünktlich an. Also brachte ich sie in ihre F‌incas und ging mit Angélica essen.«

»Nette Leute?«

»Alles Schweden, und ja, sehr nett. Wie war eigentlich dein Mittagessen mit unserem hochgeschätzten Herrn Bürgermeister gestern? Offenbar erschöpfend, wenn du es nicht mehr zurück ins Büro geschafft hast …«

Isabel grinste. »Du solltest deinem künftigen Schwiegervater mehr Respekt zollen.«

Pep zuckte zusammen. »Lass das, du machst mich nervös.«

»Schon gut, schon gut. Er hat mich einem englischen Paar vorgestellt – die Frau dachte, man hätte ihr die Tasche gestohlen, dabei hatte sie die auf dem Markt fallen lassen, und ein galanter marokkanischer Standbesitzer gab sie im Rathaus von Sóller ab.«

»Also ein Happy End?«

»Exacto. Deshalb haben Llorenç und ich beschlossen, mit einer halben Flasche Viña Sol und zwei riesigen Tellern gambas rojas im Can Busquets zu feiern.«

»Du lässt es dir ja gut gehen.«

Sie hob eine Augenbraue. »Es war ein Geschäftsessen. Wir haben wichtige Dinge beredet, zum Beispiel den Mangel an Parkplätzen in Sant Martí und die Vorbereitungen für die Nit de Foc in Sóller.«

»Aah, ich wünschte, ich wäre nicht in diesem Organisationskomitee. Niemand hört auf mich, schon gar nicht Llorenç – obwohl er mich überhaupt erst dazu überredet hatte mitzumachen.«

»Vergiss nicht: künftiger Schwiegervater. Womöglich.«

»Kannst du bitte damit aufhören?«

Isabel seufzte. »Die Feuerf‌iesta findet schon in zwei Wochen statt, ist dir das klar? Und jetzt hat es sich Llorenç auch noch in den Kopf gesetzt, am Abend davor bei uns im Dorf ein eigenes Fest zu veranstalten …«

»Ohne mich! Ich brauche schon für diese Verrückten in Sóller meine ganze Kraft. Letztes Jahr habe ich glühende Kohle in den Schuh bekommen, meine Socken hätten beinahe Feuer gefangen.«

Isabel gluckste. »Du trägst Socken im August? Jedenfalls hat Llorenç schon jede Menge coca und sobrassada für unser Dorf‌fest bestellt, es ist also deine heilige Pflicht zu kommen. Wer soll das alles sonst aufessen?«

»Schon wieder coca? Das ist doch im Grunde nur Pizza ohne Käse! Und sobrassada-Wurst ess ich schon zu Hause fast jeden Tag. Können wir nicht einmal mit der Tradition brechen und bei dem Fest was anderes anbieten?«

»Sei nicht albern. Wir sind doch in Sant Martí. Was hättest du denn lieber?«

»In Palma gibt es auf Stadtevents Canapés …«

»Aber sobrassada ist das Herz und die Seele von Mallorca! Denk doch nur mal dran, was für eine Kunst es ist, das Schweinefleisch perfekt zu pökeln und mit Paprika und Gewürzen zu mischen …«

»Lieber nicht.«

»Es ist ja, also wolltest du Italienern verbieten, Pasta zu essen. Oder die Griechen ohne Moussaka lassen. Oder die Briten ohne Eier und Speck –«

»Ich will doch nichts verbieten. Ich würde nur gern einmal etwas anderes ausprobieren.«

»– oder die Bulgaren ohne ihren Schopska-Salat …«

Sie stockte. Die Bulgaren waren etwas unerwartet in ihre kulinarische Tirade gerutscht. Sie lehnte sich zurück und schloss mit einem leidenschaftlichen »Es gäbe einen Volksaufruhr!«.

Pep atmete aus. »Schon verstanden.« Er musterte sie kurz. »Übrigens, hast du gestern in Ca’ na Julia Mr Jays Schlüssel abgeholt? Er ist ja jetzt zurück nach London.«

Isabel sortierte mit gespielter Lässigkeit die Papiere auf dem Schreibtisch. »Natürlich.«

Er beäugte sie misstrauisch. »Ich hoffe, du hast nichts zu ihm gesagt.«

»Also echt jetzt. Ich habe es gleich bei der Ankunft gesehen – der Mann hat ein Loch in der Nasenscheidewand. Habe ich bei der Drogenfahndung in Madrid oft genug gesehen. Das kriegt man, wenn man lange genug Kokain nimmt.«

»Und, wie hat er reagiert?«

Sie leerte ihre Tasse. »Wir hatten ein Gespräch unter vier Augen; seine Frau war gerade nicht da. Natürlich hatte er nicht erwartet, von mir harte Wahrheiten über seine Ehe und seine Sucht zu hören, aber er nahm es mit Fassung.«

»Stimmen deine Vermutungen denn überhaupt?«

»Natürlich. Er behauptete, die Affäre sei nichts Ernstes, und schob die Drogen auf Arbeitsstress.«

»Du bist unmöglich! Der arme Kerl wollte Urlaub machen und nicht von seiner Vermieterin ins Kreuzverhör genommen werden.«

Isabel fuhr unbeirrt fort. »Ich habe ihm den Namen eines guten Beraters in London gegeben, ich kenne ihn von der Arbeit. Und ich habe gesagt, dass wir ihm und seiner Frau eine Woche in einem unserer Häuser schenken, wenn er sich bis zum nächsten Sommer bessert.«

»Wie bitte? Ist das etwa gut fürs Geschäft?«

»Ist es nicht. Also mach dich an die Arbeit, und beschaff uns ein paar neue Buchungen.«

Am frühen Abend klingelten beide Telefone. Einen der Anrufe stellte Pep zu Isabel durch. Es war Tolo Cabot, ihr ehemaliger Chef bei der Polizei in Palma. Er klang erschöpft.

»Wie läuft es denn so in der großen bösen Stadt?«, witzelte Isabel.

»Schlecht. Ich brauche deine Hilfe.«

»Was ist denn los?«

»Ein Kind wurde entführt.«

Isabel sprang auf. »Wo?«

»Am Strand im Hafen von Pollença, heute Nachmittag gegen zwei.«

Isabel stellte auf Lautsprecher um und steckte sich einen Sonnenblumenkern in den Mund.

»Muss das sein?«

»Was?«

»Dieses verdammte Kerneknacken.«

»Es hilft mir, mich zu konzentrieren, das weißt du doch. Junge oder Mädchen?«

»Ein achtjähriges britisches Mädchen, Miranda Walters. Sie war mit ihrer Mutter am Strand von Pollença und ist beim Mittagessen einfach verschwunden.«

»Niemand kann ›einfach verschwinden‹. Es sei denn, sie ist ein Geist. Was ist mit Zeugen? Überwachungskameras?«

»Bis jetzt haben wir nichts. Am Strand wimmelte es von Menschen, aber niemand scheint etwas gesehen oder gehört zu haben. Auf die Materialien von den Überwachungskameras warten wir noch. Mir gefällt das alles nicht, Bel. Du weißt, Zeit ist in so einem Fall alles.«

»Hat die Familie Geld?«

»Nicht viel, ein Kidnapping würde ich ausschließen. Außerdem hat niemand ein Lösegeld gefordert.«

»Dysfunktionale Eltern?«

Er lachte heiser. »Haben wir nicht alle welche? Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht viel. Die Jungs von der Guardia Civil reden gerade mit der Mutter und dem Stiefvater. Sie sind natürlich erschüttert.«

»Wenn die Guardia schon an Bord ist, warum bist du überhaupt dabei? Du bist doch für Morde zuständig.«

»So einfach ist das nicht. Es geht um Schadensbegrenzung. Die Guardia und die Nationalpolizei müssen zusammenarbeiten; heute Abend kommen die Schwergewichte aus Madrid. Der Polizeichef will, dass ich dabei bin – er rechnet damit, dass die Sache in einer Mordermittlung endet.«

»Ah, dein charmanter Chef. Immer noch so fröhlich wie eh und je?«

»Ganz genau. Ich hoffe wohl auf ein Wunder, vielleicht hat sich das Kind ja einfach verlaufen und wurde von netten Einheimischen aufgenommen? Jedenfalls ist sie wahrscheinlich nicht ertrunken, baden war sie schon vor dem Mittagessen, und ihr Badeanzug hing gerade zum Trocknen aus.«

»Wann genau ist sie verschwunden?«

»Während ihre Mutter gerade die Rechnung bezahlte, ist sie mit ihrem Eimer zum Meer gelaufen, um ihn aufzufüllen. Sie kam nicht mehr zurück. Eine Sache von Minuten.«

»Das ist leider oft so.«

»Ich weiß. Wie du dir vorstellen kannst, ist der Tourismusminister dem Schlaganfall nahe. Der Präsident hat eine inselweite Durchsuchung durch alle Kräfte angeordnet. Straßensperren überall, es wird zu Lande und von der Luft aus gesucht.«

»Gut. Und die Presse?«

»Heute Abend auf allen Nachrichtensendern. Das wird ein Zirkus! Die internationalen Medien huschen bereits zu uns rüber wie die Kakerlaken.«

Isabel schmunzelte. »Wenn die Guardia Civil involviert ist, wird die Ermittlung also von dir und dem herzallerliebsten Capitán Gómez gemeinsam geführt?«

»Leider Gottes, wie die Richtlinien es vorsehen. Er wurde dem Fall zugeteilt. Aber wenn er mir auf die Füße tritt, kann er was erleben.«

»Habt ihr alle Häfen alarmiert? Und den Flughafen?«

»Komm schon, Bel, ganz so blöd sind wir auch wieder nicht. Klar haben wir das. Eine Fliege könnte nicht entkommen.«

»Und wann hast du alles mobilisiert?«

»So schnell wie möglich. Um drei Uhr war die Insel geschlossen.«

»Nicht schlecht«, sagte Isabel leise. »Aber wenn das Mädchen entführt worden ist, könnte es bis dahin schon in irgendeinem Unterschlupf gelandet sein. Und schlimmstenfalls auf einem Schiff nach Marokko.«

»Wenn irgendeines dieser Monster dem Kind auch nur ein Haar krümmt, bring ich es persönlich zur Strecke.«

Isabel fühlte mit Tolo. Er war seit Langem ehrenamtlicher Berater in einem Zentrum für missbrauchte Kinder in Palma, wo er Fälle von Pädophilie und Kinderhandel zu sehen bekam, die sich nur schwer verkraften ließen.

»Wie kann ich helfen?«, fragte sie.

»Hör zu, ich weiß, du hast Kontakte in Pollença. Halt bitte die Ohren offen, und …«

Er schwieg. Isabel sog ungeduldig die Luft ein. »Ja?«

»Könntest du helfen, die Eltern zu befragen? Sie sind verständlicherweise verzweifelt, und dein Englisch ist besser als meins.«

»Komm mir doch nicht mit so einem Quatsch, du hast genug Dolmetscher.«

»Na gut, die Karten auf den Tisch – dieser Fall braucht dich.«

»Guter Versuch, Tolo, aber die Antwort ist nein.«

»Willst du mich nicht wenigstens anhören?«

Isabel knackte einen Kern. »Ich höre zu.«

»Also, die alten Kumpel deines Vaters im Innenministerium in Madrid haben ausdrücklich deine Beteiligung gefordert, weil du so viel Erfahrung auf dem Gebiet hast.«

Sie lachte bitter. »Sie waren keine so guten Kumpel für meinen Vater, als sein Bruder verschwand, oder? Und jetzt, wenn es ihnen passt, wollen sie also, dass ich helfe.«

»Du bist eine Spezialistin, hast in mehreren komplexen Fällen von Kindesentführung ermittelt. Und rein zufällig bist du auf der Insel.«

»Rein zufällig bin ich auch in Sachen Mord und Drogen ziemlich gut, aber ich kann mich nicht entsinnen, dass du mir bei jeder Koksrazzia und jedem Todesfall ein Ohr abgekaut hättest.«

»Soll ich denn? Das ließe sich einrichten.«

»Lass das. Du hast mich aus einem sehr guten Grund nicht kontaktiert, und zwar, weil ich nicht mehr bei der Polizei bin. Ich habe gekündigt, um ein eigenes Leben zu haben, weißt du noch?«

»Nein, du hast eine großartige Karriere hingeschmissen, weil du so frustriert warst wegen deines verschwundenen Onkels.«

Isabel studierte angewidert ihre abgebissenen Fingernägel.

»Reden wir nicht darüber. Also, was genau schlägst du vor?«

»Du bekommst deine Polizeimarke zurück und wirst externe Beraterin in meinem Team.«

»Das hört sich nicht nach der üblichen Praxis an.«

»Ist es auch nicht.«

»Würde ich also offiziell oder inoffiziell tätig sein?«

»Ein bisschen von beidem. Und ich würde auf jeden Fall versuchen, dich unter dem Radar zu halten.«

Isabel schwieg.

»Wenn es ums Geld geht, Bel …«

»Beleidige mich nicht, Tolo. Du kennst mich gut genug«, antwortete sie müde.

»Hör zu, wir müssen schnell handeln, wenn wir Miranda lebend finden wollen.«

Isabels Gedanken schweif‌ten zu ihrem letzten Entführungsfall in Madrid. Ein Sechsjähriger wurde von einem Pädophilen von der Straße entführt. Sie hatte Glück; nach drei Tagen hatten sie und ihr Team den Mann mithilfe von Überwachungskameras und Augenzeugen aufgespürt. Das Kind wurde aus seinen Fängen gerettet, aber der Schaden war getan. Ein Leben unwiderruf‌lich verändert.

Tolo spürte, dass sie nachgab. »Denk doch nur an deine Erfolgsquote bei Entführungen. Weißt du noch, dein letzter Fall in Madrid?«

Isabel schloss die Augen und versuchte, die verstörenden Bilder auszublenden, die sich den Weg zurück in ihr Bewusstsein bahnten. Ihre linke Hand zitterte ein wenig. War es Angst?

»Was soll ich denn noch tun, niederknien und betteln?«, knurrte Tolo entnervt.

»Eigentlich eine nette Idee, aber lieber nicht am Telefon. Gut. Ich mach’s.«

Er atmete erleichtert auf. »Ich fürchte, du wirst auch mit der Guardia zusammenarbeiten müssen, aber Befehle musst du nur von mir entgegennehmen, nicht von Gómez.«

Isabel knackte noch einen Kern. »Nein, Tolo. Wir machen Folgendes. Wenn ich dir bei dem Fall helfe, wird mir niemand etwas befehlen. Ich werde gern mit dir und der Guardia zusammenarbeiten, aber nach meinen eigenen Methoden, und niemand kommt mir in die Quere. Wenn es vorbei ist, gebe ich die Marke ab. Hörst du mich?«

Tolo wusste, wenn er schachmatt gesetzt war.

»Laut und deutlich. Du musst noch ein paar Formulare ausfüllen.«

»Wann treffen wir uns?«

»Morgen früh um acht Uhr auf dem Polizeirevier von Pollença. Könntest du nach dem Brief‌ing mit Mirandas Mutter und Stiefvater reden und dir den Tatort anschauen?« Er schwieg kurz. »Und was deinen Onkel angeht, gib die Hoffnung nicht auf.«

»Niemals.«

Nach dem Anruf saß Isabel gedankenversunken da, bis Furó aufwachte und ihr auf den Schoß sprang. Vielleicht spürte er ihr Unbehagen? Sie zerzauste das dicke Fell und nahm seine schnurrbärtige Schnauze in die Hand. Sein Gesicht hatte etwas Tragikomisches. Die Schnauze war glatt und beige, der dunkle Fellstreifen um die Augen ließ das Frettchen wie einen Banditen aussehen.

»Was soll ich tun, Furó? Kann ich das denn überhaupt noch? Vielleicht bin ich ganz aus der Übung.«

Das Frettchen grunzte und sprang von ihrem Schoß.

Sie sah ihm nach. »Na, vielen Dank aber auch für diesen Vertrauensbeweis.«

Ein paar Minuten später schaute Pep herein. »Was ist denn mit dir los?«

Sie rieb sich die Augen. »Nichts, Pep. Nur sehr müde.«