Das Theater am Strand - Joanna Quinn - E-Book
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Das Theater am Strand E-Book

Joanna Quinn

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Beschreibung

Das Erfolgsdebüt aus England: »Das Buch des Sommers.« The Times – »Ein absoluter Schatz von einem Buch, das man wieder und wieder lesen kann.« Sunday Times

Dorset an der Küste Englands, 1928: In einer stürmischen Nacht wird ein Blauwal angespült. Nach dem Gesetz gehört alles Strandgut dem König – doch die zwölfjährige Cristabel Seagrave hat eigene Pläne. Sie ist wild entschlossen, aus den Walknochen ein Theater am Strand zu errichten. Eine Bühne für all die Geschichten, die sie heimlich in der staubigen Familienbibliothek gelesen oder denen sie im Verborgenen gelauscht hat. Geschichten, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind und in denen Mädchen wie sie keine Rolle spielen. Doch nun ist Cristabels Zeit gekommen.

Während ihre Eltern hauptsächlich mit sich selbst und ausschweifenden Partys beschäftigt sind, inszeniert Cristabel gemeinsam mit ihren jüngeren Geschwistern immer neue Geschichten in ihrem Freilufttheater, das bald zu einer kleinen lokalen Sensation wird. Doch die Zeiten ändern sich, Krieg steht bevor und die Geschwister müssen erkennen, dass sie nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben eine Rolle zu spielen haben. Und dass man sich diese Rolle nicht immer selbst aussuchen kann…

Ein schillernder Roman voller Wärme und Witz über eine ebenso eigensinnige wie faszinierende junge Heldin, die für das kämpft, was sie im Herzen trägt.

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Das Erfolgsdebüt aus England: »Ein absoluter Schatz von einem Buch, das man wieder und wieder lesen kann.«   The Sunday Times

Dorset an der Küste Englands, 1928: In einer stürmischen Nacht wird ein Blauwal angespült. Nach dem Gesetz gehört alles Strandgut dem König – doch die zwölfjährige Cristabel Seagrave hat eigene Pläne. Sie ist wild entschlossen, aus den Walknochen ein Theater am Strand zu errichten. Eine Bühne für all die Geschichten, die sie heimlich in der staubigen Familienbibliothek gelesen oder denen sie im Verborgenen gelauscht hat. Geschichten, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind und in denen Mädchen wie sie keine Rolle spielen. Doch nun ist Cristabels Zeit gekommen.

Während ihre Eltern hauptsächlich mit sich selbst und ausschweifenden Partys beschäftigt sind, inszeniert Cristabel gemeinsam mit ihren jüngeren Geschwistern immer neue Geschichten in ihrem Freilufttheater, das bald zu einer kleinen lokalen Sensation wird. Doch die Zeiten ändern sich, Krieg steht bevor und die Geschwister müssen erkennen, dass sie nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben eine Rolle zu spielen haben. Und dass man sich diese Rolle nicht immer selbst aussuchen kann …

Ein schillernder Roman voller Wärme und Witz über eine ebenso eigensinnige wie faszinierende junge Heldin, die für das kämpft, was sie im Herzen trägt.

JOANNAQUINN wurde in London geboren, wuchs aber in der Grafschaft Dorset im Südwesten Englands auf. Sie arbeitete als Journalistin für ein Lokalblatt und für Wohltätigkeitsorganisationen. Während dieser Zeit schrieb sie an ihrem Debüt Das Theater am Strand, ein Roman, der genau so werden sollte, wie die Bücher, die sie am liebsten liest: »Geschichten, die so üppig und dicht sind wie ein dickes Daunenbett, in das man sich fallen lassen kann.«

Vollendet hat sie ihren Roman während des Lockdowns, alleinerziehend und ohne Job. Dass sie auf die richtige Karte gesetzt hat, zeigt der große internationale Erfolg des Romans, der sich in zehn Länder verkaufte und gleich nach Erscheinen in die britische Bestsellerliste einstieg.

www.cbertelsmann.de

JOANNA QUINN

Das Theater

am Strand

Roman

Aus dem Englischen

von Wibke Kuhn

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel THEWHALEBONETHEATRE

bei Fig Tree, Penguin UK, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe Joanna Quinn 2022

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Dr. Annika Krummacher

Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München,

nach einem Design von Julia Connolly

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28555-5V002

www.cbertelsmann.de

Für Nancy und Abi

Was fragen diese Brausewinde nach dem Namen König?

William Shakespeare, Der Sturm

Inhalt

ERSTER AKT: 1919–1920

Der letzte Tag des Jahres

Der Morgen danach

Der verlorene Bruder

Einkreisen und noch mal einkreisen

Flehentliche Bitten

Also, zuerst die Primeln

Unter Betten

Eine schlafende Frau

Cristabel und die Geschichten

Warten und Wünschen

Die Jagd am zweiten Weihnachtsfeiertag

Die Seine

Sie wollen ihn nicht einlassen

Hinterher

Das Gemüse

Alles ab

Dinger

Jägermond

Maudie Kitcats Tagebuch

ZWEITER AKT: 1928–1938

Glückswal

Die Ankunft des Gottes Poseidon

Willkommen auf Chilcombe

Dinge, die Kinder erfahren

Durch die Glockenblumenwälder

Schwarze Flagge

Proben

Die geheimnisvollen Wege von Stimmen bei Nacht

Die Ilias

Geräusche aus!

Ausflug nach London

Maudie Kitcats Tagebuch

Ganz deutlich vorstellen

Flügel und Knochen

Hinein in den Wal

Eingeklebte Zeitungsausschnitte aus einem Album der Kinder

DRITTER AKT: 1939–1941

Partys

D an C

C an D

D an C

C an D

Verdunklung

Postkarte

Kleiner Brief auf rosa Papier mit einer Schachtel Lokum

Weihnachtskarte

C an D

Seiten aus einem Notizbuch

Unvollständiger Brief

C an D

Ein Nachtclub in Piccadilly

Kleiner Brief auf rosa Papier mit einem Rosenstrauß

Ausstellungskatalog

VIERTER AKT: 1942–1943

Gefangene

Flossies Tagebuch

Tempo Rubato

Die Sonne und der Mond

D an C

Ein leeres Blatt Papier

Episoden

Größere Ausgaben

Nachtflug

Ein nüchterner Kannibale

Kaffee und Tee

Captain Potter

Neue Rekruten

Vollmond

Wach

Claudine und Gilberte

Sous Terre

Schattenspiel

Das Weihnachtskomitee

Mitgerissen von einem Sturm

C an D

FÜNFTER AKT: 1944–1945

Höhere Ebenen

Meine lieben Jungen

Les Enfants Perdus

Let’s face the music and dance

Der König der Schwerter und Der Stern

Die Amerikaner

Eine Wohnung in Paris

Antigone

Wir

Die Insel

August

Was bleibt

Leere Häuser

Uniformen

Siegesfeier

ZUGABE

C an D

Danksagung

Zitatnachweise

ERSTER AKT

1919–1920

Der letzte Tag des Jahres

31. Dezember 1919

Dorset

Cristabel hebt den Stock auf. Er liegt ihr gut in der Hand. Sie ist im Garten und wartet mit dem Rest des Haushalts darauf, dass ihr Vater mit ihrer neuen Mutter zurückkehrt. Diener in Livree hauchen sich auf die kalten Finger. Saatkrähen krächzen halbherzig von den Bäumen, die das Haus umgeben. Es ist der letzte Dezembertag, der Bodensatz des Jahres. Der Nachmittag siecht langsam dahin, und der Rasen ist ein einziger Morast aus Schlamm und Schneeresten, über den die dreijährige Cristabel in ihren ledernen Schnürstiefeln trampelt. Ihren Stock trägt sie dabei wie ein Schwert vor sich her, eine Miniatursoldatin in einem Wintermantel mit Messingknöpfen.

Sie lässt den Stock durch die Luft pfeifen und genießt das zischende Geräusch, das er dabei macht. Wwtsch, wtsch. Sie spießt ein Stück schmutzigen Schnee auf und steckt es sich in den Mund. Der Schnee fühlt sich auf ihrer Zunge so kühl an wie die Eisblumen am Dachbodenfenster, mit dem einzigen Unterschied, dass er nicht an der Zunge kleben bleibt. Es schmeckt enttäuschend nach nichts. Irgendwo – zu weit weg, als dass sie sich wirklich darum kümmern würde – ruft ihr Kindermädchen sie beim Namen. Cristabel blinzelt das Geräusch einfach weg. Sie beobachtet die Schneeglöckchen, die am Rande des Gartens lächeln. Wwtsch wtsch.

Cristabels Vater, Jasper Seagrave, und seine frisch angetraute Braut sitzen in diesem Moment nebeneinander in einer Kutsche und fahren die Auffahrt zu Jaspers Familiensitz hinauf: Chilcombe, ein vielgiebeliges, vielschornsteiniges, efeubedecktes Anwesen, mit einer elefantösen Anmutung müder Größe. Sein Umriss ist eine Abfolge von absteigenden Dreiecken und hoch aufragenden Schornsteinen. Seit vierhundert Jahren kauert es auf einer bewaldeten Klippe über dem Meer, mit schmalen, bleigefassten Fenstern, die dem Seewind und dem historischen Fortschritt trotzen, und vermittelt den Eindruck allmählichen Versinkens.

Das Personal auf Chilcombe sagt, dass heute ein ganz besonderer Tag sei, aber Cristabel findet ihn langweilig. Dieses ständige Gewarte. Dieses ständige Gerade-stehen-Müssen. Das ist kein Tag, aus dem man eine gute Geschichte machen könnte. Cristabel mag Geschichten, in denen Donnerbüchsen und Hunde vorkommen statt Bräuten und Warterei. Wwtsch. Als sie die Überreste der Schneeglöckchen aufhebt, hört sie das knochenartige Knirschen von Kies unter Wagenrädern.

Ihr Vater steigt als Erster aus der Kutsche, so rund und zufrieden wie eine Pferdebohne, die gerade aus ihrer Schote gepult wurde. Dann erscheint ein einzelner Fuß in einem Knöpfstiefel, gefolgt von einem Samthut, der sich nach oben richtet, um das Haus anzuschauen. Cristabel beobachtet das schnurrbärtige Gesicht ihres Vaters. Er blickt jetzt ebenfalls nach oben, betrachtet die junge Frau mit dem Hut, die ihn immer noch um ein gutes Stück überragt, weil sie auf der ersten Stufe der Kutsche steht.

Cristabel marschiert durch den Schnee auf sie zu. Sie ist fast angekommen, als ihre Gouvernante sie packt und ihr zuzischt: »Was hast du da in der Hand? Wo sind deine Handschuhe?«

Jasper dreht sich um. »Warum ist das Kind so schmutzig?«

Das schmutzige Kind ignoriert seinen Vater. Es interessiert sich gar nicht für den mürrischen, bösen Mann. Stattdessen nähert sie sich ihrer neuen Mutter und hält ihr eine Handvoll Erde und Schneeglöckchen-Blütenblätter hin. Doch die neue Mutter ist geschickt im Annehmen ungeschickter Geschenke – immerhin hat sie ja auch den dröhnend vorgebrachten Heiratsantrag von Jasper Seagrave angenommen, einem rundlichen, hinkenden Witwer mit einem nicht zu bändigenden Bart.

»Für mich«, sagt die neue Mutter, und sie spricht es nicht so aus, als wäre es eine Frage. »Wie originell.« Sie tritt lächelnd aus der Kutsche und senkt ihre Hand langsam auf Cristabels Kopf, als stünde das Kind zu genau diesem Zweck da. Unter ihrem Samthut trägt die neue Mutter ein schickes Reisekostüm aus Wolle und ist in eine Nerzstola gehüllt.

Jasper wendet sich an die Dienerschaft und verkündet: »Gestatten Sie, dass ich Ihnen meine neue Frau vorstelle: Mrs Rosalind Seagrave.«

Vereinzelter Applaus.

Cristabel findet es komisch, dass die neue Mutter den Namen Seagrave trägt, das ist schließlich ihr Name. Sie schaut auf die Erde in ihrer Hand, dann dreht sie sie um und lässt sie auf die neuen Stiefel ihrer Mutter fallen, um auszuprobieren, was dann passiert.

Rosalind entfernt sich von dem Kind, das nicht lächelt. Ein mutterloses Kind, ruft sie sich in Erinnerung, dem die weibliche Führung fehlt. Sie überlegt, ob sie Bänder für sein zerzaustes schwarzes Haar oder einen Schildpattkamm hätte mitbringen sollen, aber dann ist auch schon Jasper an ihrer Seite und führt sie zur Tür.

»Endlich bist du da«, sagt er. »Chilcombe ist nicht gerade in Bestform. Früher hatten wir ein großartiges schmiedeeisernes Eingangstor.«

Als sie über die Schwelle treten, redet er über die Festlichkeiten, die sie an den nächsten Abenden erwarten. Er erzählt, dass die Dorfbewohner ganz entzückt seien über ihre Ankunft. Ein Festzelt sei hinter dem Haus aufgebaut worden, man werde ein Schwein grillen, und dann würden alle dem jung verheirateten Paar mit ihren Bierkrügen zuprosten.

Dann zwinkert er ihr zu, in seinem Tweedanzug, in dem er sich nicht so recht wohlfühlt, und sie ist nicht sicher, wie sie dieses Zumachen und Aufmachen seines Auges interpretieren soll, dieses bühnenhafte Zucken.

Rosalind Seagrave, geborene Elliot, dreiundzwanzig Jahre alt, die in der Tatler-Ausgabe vom April 1914 als »selbstsichere Londoner Debütantin« beschrieben wurde, betritt jetzt durch den steinernen Eingang von Chilcombe einen holzgetäfelten Flur, der sich nach oben erstreckt wie ein mittelalterlicher Rittersaal. Es ist ein hohler Trichter, dämmrig beleuchtet durch flackernde Kerzen, die in Messinghaltern stecken, die an der Wand befestigt sind. Die Luft erinnert sie an leere Kapellen an abgelegenen Orten.

Es ist ein seltsames Gefühl, ein fremdes Haus zu betreten und zu wissen, dass es ihre Zukunft enthält. Rosalind schaut sich um, versucht es zu erfassen, bevor es sie bemerkt. Am Ende des Flurs befindet sich ein Kamin: groß, gemauert, jedoch ohne Feuer darin. Darüber hängen gekreuzte Schwerter. Es gibt nicht allzu viele Möbel, und das Mobiliar spricht sie nicht so an, wie sie gehofft hatte. Eine geschnitzte Eichenholztruhe mit Eisenscharnieren. Eine Rüstung, die einen Speer in der Hand hält. Eine Standuhr, ein nadelnder Weihnachtsbaum und ein Flügel, auf dem eine Vase mit Lilien steht.

Der Flügel ist ein Hochzeitsgeschenk von ihrem Mann, wie sie weiß, aber er ist an die Seite geschoben worden, unter den ausgestopften Kopf eines Hirschs. An allen Wänden hängen weitere Tierköpfe, glasäugige Löwen und Antilopen, neben antiken Gobelins, auf denen Leute im Profil abgebildet sind, die mit Pfeilen herumfuchteln. Da Blau die letzte Farbe ist, die an einem Wandteppich verblasst, gleichen die einst so farbenprächtigen Kampfdarstellungen inzwischen traurigen Unterwasserszenen.

Rechts neben dem Kamin befindet sich eine geschwungene Holztreppe, die in die oberen Stockwerke des Hauses führt, während rechts und links von ihr ausgetretene Perserteppiche durch Torbögen in dunkle Zimmer führen, die zu weiteren Torbögen in weitere dunkle Zimmer führen, und so weiter und so fort, wie eine Illustration der Unendlichkeit. Der Absatz ihres Stiefels verfängt sich in einem Teppich, als sie einen Schritt vorwärts machen will. Wenn sie hier Feste veranstalten wollen, müssen sie vorher diese Teppiche entfernen, denkt sie sich.

Jasper erscheint neben ihr. Er spricht gerade mit seinem Butler. »Sagen Sie mal, Blythe, ist mein umherziehender Bruder schon eingetroffen? Es war für ihn offenbar zu viel verlangt, sich auf meiner Hochzeit zu zeigen.«

Der Butler antwortet mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln, denn so wird Chilcombe geführt, mit so vertrauten und abgenutzten Gesten, dass sie gar keine Gesten mehr sind – der Eindruck von etwas, was einmal da war, der Abdruck eines Fossils im Stein.

Jasper schnieft, dann wendet er sich seiner Frau zu. »Die Dienstmädchen werden dir dein Zimmer zeigen.«

Während Rosalind die Treppe hochbegleitet wird, kommt sie an einer Reihe von Gemälden vorbei, auf denen Männer mit Halskrausen zu sehen sind, die mitten in der Jagd innegehalten haben, um sich porträtieren zu lassen, und ihre bestrumpften Unterschenkel auf die noch warmen Körper von erlegten Ebern gestellt haben.

Cristabel beobachtet alles aus einer Ecke. Sie hat sich hinter einem Schirmständer aus Holz versteckt, der die Form eines kleinen Inders hat: Seine ausgestreckten Arme bilden einen Kreis, an den man Regenschirme hängen kann, aber auch Reitpeitschen und die Gehstöcke ihres Vaters. Sie wartet, bis ihre neue Mutter außer Sichtweite ist, dann rennt sie durch den Flur zur hinteren Treppe, die von der Haupttreppe versteckt ist. Sie führt ins Dienstbotenreich: Küche, Spülküche, Speisekammern und Keller. Hier, in den Wurzeln des Hauses, kann sie sich verstecken und ihre neuen Schätze untersuchen: den Stock und die Halbmonde von Dreck unter ihren Fingernägeln.

Heute ist im Reich der Dienstboten der Teufel los, die geflieste Küche vibriert nur so vor Geschäftigkeit. Die Dienerschaft ist aufgeregt wegen der Feier am Abend, nervös, weil sie die Hochzeitsfeier ausrichten müssen, und gleichzeitig tratschen sie genüsslich über die neue Gattin des Hausherrn. Cristabel kriecht unter den Küchentisch und lauscht. Immer wieder zuckt etwas Interessantes durch ihr Bewusstsein: Lieblingswörter wie »Pferd« oder »Pudding«, bekannte Stimmen, die sie aus dem Geschwätz heraushört.

Ihre Aufmerksamkeit wird von Maudie Kitcat geweckt, dem jüngsten Küchenmädchen, das gerade sagt: »Vielleicht bekommt Miss Cristabel jetzt bald einen kleinen Bruder.« Cristabel hat keinen kleinen Bruder aus der Kutsche steigen sehen, aber vielleicht würde ja später noch einer kommen. Einen Bruder hätte sie wirklich gern. Für Spiele und für Schlachten.

Sie mag auch das Küchenmädchen Maudie Kitcat. Sie schlafen beide in der Dachkammer und üben gemeinsam Buchstaben. Cristabel bittet Maudie oft, die Namen der Leute, die sie kennt, auf das beschlagene Fenster zu schreiben, und Maudie folgt ihrem Wunsch und schreibt mit einem Finger quietschend die Wörter auf die Scheibe – M-A-U-D-I-E, H-U-N-D, N-A-N-N-Y, K-Ö-C-H-I-N –, sodass Cristabel sie mit ihrem eigenen Finger nachfahren oder sie wegwischen kann, wenn sie ihr nicht gefallen haben. Manchmal kommt Maudie in der Nacht zu ihr, wenn Cristabel wieder so einen Traum gehabt hat, der sie schreiend hochfahren lässt, und dann streichelt Maudie ihr den Kopf und sagt: »Pscht, meine Kleine, pscht, nicht weinen.«

In der Küche sagt die Köchin gerade: »Ein Erbe für das Anwesen, was? Hoffen wir mal, dass Jasper Seagrave das noch hinkriegt.« Bellendes Gelächter folgt. Eine Männerstimme ruft: »Wenn er nicht mehr kann, dann werd ich mein Glück mal versuchen.« Noch mehr Gelächter, dann ein Krachen, es wurde etwas geworfen. Das Grölen der Dienstboten bei diesem ihr unverständlichen Wortwechsel geht über Cristabel hinweg wie eine donnernde Woge. Sie beschließt, mit ihrem Stock Buchstaben zu schreiben. Sie malt einen Kreis in das Mehl auf dem Fliesenboden, immer rundherum. O. O. O. O. Zeit, die sie ohne ihre Nanny verbringen kann, die sich immer überall einmischen muss, ist kostbar, sie darf sie nicht verschwenden. O. O. O.

O wie »Oh«. O wie »OhneinCristabelwashastdudennjetztschonwiederangestellt«.

Oben im ersten Stock sitzt Rosalind am Frisiertisch in ihrem neuen Schlafzimmer, obwohl man es kaum neu nennen kann, denn alles darin sieht antik aus. Es ist ein Zimmer mit aggressiv quietschenden Bodendielen und zerbrechlichen Mahagonimöbeln, das Ganze beleuchtet von rußigen Öllampen: eine Sammlung von Gegenständen, die man nicht anfassen darf. Sie hört Gelächter von irgendwoher im Haus und spürt, wie sich ihre Schultern anspannen. Hinter ihr steht ein Dienstmädchen, das Rosalinds tintenschwarzes Haar kämmt, während ein anderes ihre Koffer auspackt. Behutsam nimmt es Wäschestücke heraus, die in parfümierte Seidenpolster gewickelt worden sind. Rosalind ist bewusst, dass sie genau unter die Lupe genommen und abgeschätzt wird. Sie wünschte, sie könnte ihre Koffer selbst auspacken.

Rosalind wirft einen prüfenden Blick auf ihr Bild im Spiegel auf dem Frisiertisch und sammelt sich. Sie hat das vorlaute Gesicht eines Lieblingskindes. Große Augen, eine Stupsnase. Das Ganze ergänzt durch eine Gewohnheit, die sie sich selbst angeeignet hat, nämlich ihre Hände unter dem Kinn zu verschränken, als wäre sie entzückt über ein unerwartetes Geschenk. Genau das tut sie jetzt auch.

Sie hat es trotz allem gut getroffen, sie muss nur fest daran glauben. Es hatte spitzzüngiges Gerede in London gegeben. Anspielungen auf unkluge Liebeleien. Andeutungen, sie habe sich ihre Chancen ruiniert, indem sie sich mit einem Verehrer zu viel verbrüdert hätte. Aber diese Männer waren jetzt alle weg. Einer nach dem anderen, diese ganzen charmanten Jungen, mit denen sie getanzt hatte und spazieren gegangen war und gegessen hatte, waren verschwunden. Zu Anfang war es noch ganz furchtbar gewesen, dann wurde es normal, was schlimmer war als ganz furchtbar, aber weniger ermüdend. Nach einer Weile war es einfach das, was eben passierte. Sie fuhren davon, winkten aus Zügen und landeten unter der Erde an Orten mit ausländischen Namen, die ihr immer vertrauter wurden: Ypres, Arras, die Somme.

Die Kriegsjahre wurden eine schmerzlich monotone Zeit, in der Rosalind auf einem steifen Lehnstuhl hockte und versuchte, eine Stickerei fertigzustellen, während ihre Mutter die Namen von heiratsfähigen jungen Männern vorlas, die in der Times als tot oder vermisst aufgelistet waren. In der Zeitung standen Artikel über »überzählige Frauen« – Millionen von alten Jungfern, die nie heiraten würden, weil die passenden Ehemänner knapp geworden waren. Rosalind schnitt sich Bilder von Bräuten aus der besseren Gesellschaft aus Zeitschriften aus und klebte sie in ein Album: eine Sammlung glücklicher Davongekommener. Sie hatte Angst, dass sie ein schwarz gekleidetes Überbleibsel werden würde wie ihre verwitwete Mutter, eine alleinstehende Frau, die sich über Teetassen und Miniaturhunde mit Affengesichtern ereiferte, eingeschlossen zwischen Strickkörben und wackligen Fußschemeln.

Auch als der große Krieg vorbei war, gab es niemanden mehr, mit dem man hätte feiern können. Die Handvoll annehmbarer Männer, die zurückgekommen waren, verbrachten ihre Partys mit dem Austausch von Kampfgeschichten, mit handfesten Mädchen, die ebenfalls eine Uniform getragen hatten, während Rosalind mit ihrer leeren Tanzkarte an der Wand stand. Als sie Jasper Seagrave kennenlernte, einen Witwer, der eine junge Frau suchte, um einen Sohn und Erben zu zeugen, schien die Stelle wie für sie gemacht, ein winziger Durchgang, durch den sie in das Orangenblütenlicht eines Hochzeitstags kriechen konnte und hinter dem sie ein eigenes Haus erwartete.

Und hier sitzt sie jetzt. Sie hat es geschafft. Eine Hochzeit im Winter – nicht ideal, aber immerhin eine Hochzeit. Trotz der Nebenhöhlenprobleme des Bräutigams. Trotz seines Beharrens auf der holprigen Kutschfahrt. Trotz des Ausblicks aus den Fenstern der ratternden Kutsche, der vor- und zurückzuckte, wie eine Landschaft, die von Amateurbühnenarbeitern bewegt wurde. Trotz des beklemmenden, kratzenden Gefühls in ihrem Herzen. Es lässt sich alles noch korrigieren.

Rosalind hält sich ihre neuen Diamantohrringe an die Ohren. Sie beobachtet im Spiegel, wie eins der Dienstmädchen ihren elfenbeinfarbenen Morgenmantel auf dem Bett ausbreitet und mit respektvoll-begehrlichen Händen arrangiert. Das Bett mit den vier Pfosten hat eine hohe Matratze, wie in dem Märchen von der Prinzessin auf der Erbse. Draußen vor dem dunkler werdenden Fenster knistert ein Freudenfeuer, man hört Stimmengewirr von den eintreffenden Dorfbewohnern und den üppigen, verbrannten Geruch von gegrilltem Fleisch.

Cristabel steht im Garten neben dem Feuer und beobachtet genau, wie das Spanferkel sich auf einem Spieß über den Flammen dreht, mit einem roten Apfel im Maul. Sie hat ihren Stock in der rechten Hand. Ihre Linke hat sie in die Manteltasche geschoben, die Finger fahren über andere neu erworbene Schätze, die sie unter der Treppe gefunden hat: ein Fetzen aus einer Zeitung und ein Bleistiftstummel. Es gibt ihr eine Art von Sicherheit, diese kleinen Dinge zu haben, die sie berühren kann.

Sie hört das Kindermädchen auf der Suche nach ihr durchs Haus rennen. Ihre wütende Kindermädchenstimme rennt vor ihr her wie ein kläffendes Rudel Jagdhunde. Cristabel weiß, was als Nächstes passiert. Man wird sie ohne Abendbrot zu Bett schicken, zur Strafe für ihr Verschwinden. Die Kerze wird ausgeblasen und die Tür abgeschlossen. Der Dachboden wird sich mit Schatten füllen und lauter neue Ecken hervorbringen, eine sich verschiebende Schwärze, die vom langsam wandernden Suchscheinwerfer des Mondes durchbrochen wird, der wie ein großes, lidloses Auge am Himmel steht.

Cristabel fährt mit dem Daumen über die raue Rinde des Stocks, wie sie es auch später tun wird, wenn sie in ihrem schmalen Bett liegt – zum Zeitvertreib, wenn sie keinen albernen Aufstand machen darf. Als sie noch ein Baby war, hat sie oft einen Aufstand gemacht, woraufhin ihr Kindermädchen ihr eine Jacke anzog, deren Ärmel man einmal ganz um den Körper wickeln konnte, damit sie nicht mehr aus dem Bett klettern konnte. Sie hat nicht vor, noch einmal einen Aufstand zu machen.

Unter ihrem Kissen bewahrt sie verschiedene Stöcke auf, ein paar Steine mit Gesichtern und eine alte Postkarte mit einem Hund, der einem König gehört hat. Die Karte hat sie unter einem Teppich gefunden und »Hund« genannt. Sie kann sie alle in einer Reihe hinlegen, ihnen ein Abendbrot hinstellen, sie eine Geschichte spielen lassen und dann schlafen legen. Sie kann sie beschützen und ihnen die Köpfe streicheln, wenn sie Träume haben, aus denen sie schreiend hochfahren, und dafür sorgen, dass sie nicht auf den kalten Holzboden treten.

Sie kauert sich neben einen Schneerest und schreibt mit dem Stock ihre Buchstaben. O. O. O. Sie hört ihr Kindermädchen rufen: »Um Himmels willen, da ist sie ja! Gräbt mal wieder im Schnee und macht sich schmutzig.«

Cristabel mag das Wort »Schnee«. Sie flüstert es leise vor sich hin, dann setzt sie ihre Arbeit fort, ihre tägliche Übung: Buchstaben formen, Wörter bilden, Namen nehmen.

S-C-H-N-E.

Der Morgen danach

1. Januar 1920

Neues Jahr, neues Jahrzehnt, neues Haus, neuer Ehemann. Neu wie eine neue Nadel. Hatte ihre Mutter nicht immer eine Redensart über saubere, neue Nadeln auf Lager? Rosalind fühlt sich wie festgenagelt unter der Decke des Ehebetts. Ihre Wirbelsäule ist so steif, dass sie an die Dinosaurierskelette in den Museen von London denken muss. Sie ist fixiert. Ein Ausstellungsstück. Dienstmädchen mit weißen Hauben kommen und gehen, machen das Feuer an und ziehen die Vorhänge zurück, so geschäftig und weit entfernt wie Möwen. Durchs Fenster kann Rosalind sehen, wie sich die kahlen Zweige bewegen.

Jasper hat gemeint, dass sie sich wahrscheinlich erst langsam an ihre Rolle als Ehefrau gewöhnen müsse. Er meint, sie sei jung, und es sei neu für sie, mit einem Mann zusammen zu sein. (Ein Bild blitzt vor ihrem inneren Auge auf – ein Augustabend am Bootsschuppen mit Rupert, sein Schnurrbart kratzt an ihrem Hals wie Stahlwolle –, doch sie schüttelt es wieder ab.) Jasper glaubt, dass sie sich bald an ihre ehelichen Pflichten gewöhnen und sich mit dem Unvertrauten vertraut machen wird. Sie bleibt mucksmäuschenstill liegen, weil es ihr unmöglich erscheint, dass diese unvertrauten Handlungen in diesem Zimmer stattfinden sollten, neben solch unerschütterlich gewöhnlichen Gegenständen wie ihrer silbernen Haarbürste oder der Nachttischlampe.

Die Dienstmädchen bringen ihr das Frühstück und stellen das Tablett auf ihre Daunendecke, wo sie ein wenig ansprechender Anblick erwartet: ein Haufen gelatineartige Rühreier, eingerahmt von einer gebogenen knorpeligen Wurst. Sie bedeckt das Tablett mit einer Serviette und greift nach ihrem Glaszerstäuber: pff,pfffff, und schon liegt ein feiner Nebel von Yardley Eau de Cologne in der Luft.

Die Dienstmädchen kommen und gehen. Rosalind hört, wie ihre eigene Stimme die passenden Worte spricht. »Nicht so viel Appetit gehabt. Vielen Dank.« Die Dienstmädchen nehmen ihre Worte und das unangerührte Essen wieder mit. Eine diskrete Wendeltreppe, versteckt hinter einem chinesischen Wandschirm in der Ecke des Zimmers, erlaubt ihnen, zu kommen und zu gehen, ohne die Tür zu benutzen.

Sie muss sich jetzt bald ihren Aufgaben widmen. Sie muss sich ordentlich anziehen und tun, was man von ihr erwartet. Sie darf jetzt keine – wie hat Jasper es noch ausgedrückt? Seine Stimme war so schrecklich laut an ihrem Ohr in der Dunkelheit, wie die Stimme eines Riesen – sie dürfe jetzt keine Spielverderberin sein. Rosalind schaut hoch zum Gobelinhimmel über dem Bett, um das Muster wiederzufinden, das sie gestern Nacht studiert hat. Es ist versteckt in dem größeren Muster, eine Art auf den Kopf gestelltes Gesicht, das zurückstarrte und sich immer wieder wiederholte.

Die Dienstmädchen kommen wieder und fuhrwerken jetzt mit Gewändern und Unterkleidern herum. Sie wollen sie anziehen und schön machen. Die Männer hatten sie bewundert und von ihren klopfenden Herzen gesprochen, und sie empfand das als Hochgefühl und Verehrung. Sie hätte nie geglaubt, dass das, was man Liebe nannte, mit so obszönen Betätigungen einherging. Brachiales Gewicht und keuchende Anstrengung. Ein Fleischberg, der nach Portwein und Tabak roch und ihr die Luft aus dem Körper presste, bis sie fast nicht mehr atmen konnte. Und der Schmerz: reiner, weißer Schmerz, der wie Sterne hinter ihren Augenlidern aufblitzte. Nein, das hat nichts mit Liebe zu tun.

Ein Dienstmädchen nähert sich ihr. »Mr Seagrave ist nach Exeter gefahren, weil er irgendwas mit seinen Pferden zu erledigen hat, Ma’am. Er hofft, Sie genießen Ihren ersten Tag auf Chilcombe.«

Rosalind nickt. Sie hat keine Worte mehr. Wie ein leeres Blatt Papier liegt sie da in ihrem steifen Bettzeug.

Das Dienstmädchen kommt noch näher ans Bett, wobei es auf die knarzenden Dielen treten muss. »Wir haben uns gestern kennengelernt, Ma’am. Vielleicht erinnern Sie sich nicht an mich. Ich bin Betty Bemrose. Ich werde Ihre Kammerzofe sein.« Rosalind blickt nach unten und sieht, dass das Dienstmädchen seine Hand auf die ihre gelegt hat. »Vielleicht wollen Sie gerne ein Bad nehmen? Sie sehen erschöpft aus.«

Rosalind schaut in Bettys besorgtes Gesicht unter ihrer weißen Haube. Es ist rund und sommersprossig, und der Druck ihrer Hand ist unerwartet tröstlich.

Betty fährt fort: »Wir haben ein paar Badeöle hier, Ma’am. Ich glaube, die haben Sie mitgebracht. Das sollte Sie wieder auf die Füße bringen.«

»Rose«, sagt Rosalind. »Es gibt auch eins mit Rosenöl.«

»Wunderbar.«

»Ein lieber Freund hat es mir geschenkt. Er war Offizier und ist in Frankreich gefallen.«

»So viele sind tot«, sagt Betty und geht ins angrenzende Badezimmer. »Der Mann meiner Schwester ist bei Gallipoli verschollen. Sie haben ihn nicht mal gefunden. Ich hab vorhin schon heißes Wasser für Sie hochbringen lassen, Ma’am, jetzt muss ich nur noch das Öl reintun.«

»Mein Freund – er hatte Sommersprossen, genau wie Sie.«

»Nein!«

»Er war so charmant.«

Betty erscheint wieder auf der Schwelle zum Badezimmer. »Während Sie in der Wanne liegen, werde ich die Bettwäsche wechseln lassen. Und ein bisschen mehr Kohle aufs Feuer legen. Wir machen hier oben nur Feuer im Kamin, wenn Leute hier wohnen, also braucht es etwas länger, bis es richtig brennt.«

»Einmal hat er mich ins Waldorf ausgeführt. Haben Sie davon schon mal gehört?«

»Das kann ich nicht behaupten, Ma’am.«

»Da gehen einfach alle hin.«

Betty kommt zum Bett und zieht behutsam die Decke zurück. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen, Ma’am.«

Rosalind ergreift die Arme der jungen Frau und lässt sich ins angrenzende Zimmer dirigieren, wo eine schmiedeeiserne Sitzbadewanne vor einem niedrigen Feuer wartet. Darin befindet sich ein wenig stilles Wasser, das nach Rosen duftet.

Cristabel, die auf einer Stufe vor der Küchentür sitzt, packt ihren Stock fest mit der Faust und schreibt in den Staub: B-R-U-E-R. B-R-U-D-R.

»Versuch’s noch mal«, sagt Maudie Kitcat, als sie mit einem Korb schmutziger Bettwäsche vorbeigeht. »Du bist schon ganz nah dran.«

Die neue Mrs Jasper Seagrave verlässt, gebadet und eingeölt, ihr Schlafzimmer und macht sich auf den Weg nach unten. Sie ist sich nicht ganz sicher, was man von ihr erwartet. Ihr Mann ist außer Haus, und sie weiß nicht, wie sie herausfinden soll, wann er zurückkommt. Ein Brief von ihrer Mutter ist gekommen, in dem sie ihre Tochter noch einmal daran erinnert, wie wichtig es ist, von vornherein seine Autorität gegenüber dem Personal klarzumachen. Rosalind befürchtet, dass es ihre Position in den Augen des Haushalts nicht unbedingt verbessert, wenn sie sich erkundigt, wo ihr Mann gerade ist.

Sie fällt jedoch autoritäre Entscheidungen in mehreren Angelegenheiten: dass Würste widerlich sind und nur für Hunde geeignet, dass eine moderne Badewanne installiert werden muss, dass der Weihnachtsbaum rausgeworfen werden soll, zusammen mit den Lilien (ihre Mutter sagt immer, dass sie bei Lilien an sehr auffällige Frauen denken müsse). Des Weiteren: Es muss schleunigst ein Grammofon besorgt werden, und die übellaunige Tochter ihres Mannes soll eine französische Gouvernante bekommen. Du, schreibt Rosalinds Mutter in ihrer nach rechts geneigten Handschrift, bist ein neuer Besen in diesem Haushalt! Kehre forsch und fest!

Trotz der Anweisungen ihrer Mutter fällt es Rosalind schwer, dem männlichen Personal Anweisungen zu erteilen, von denen viele – so wie Blythe, der Butler – alt genug sind, um ihr Vater sein zu können. Andererseits scheint es auch passend, dass sie, die junge Braut, unwissend ist. Hatte sie nicht in The Lady gelesen, dass »Männer gar nicht anders können, als auf den weiblichen Charme des unschuldigen, naiven Mädchens zu reagieren«? »Seien Sie elegant«, fuhr die Zeitschrift fort, »und ein wenig verwöhnt, aber nicht gelangweilt.«

Rosalind lehnt sich ans Klavier, auf dem ein gerahmtes Foto ihres frisch angetrauten Ehemanns steht. Sie mag die Worte »frisch angetrauter Ehemann«, sie fühlen sich so aufregend an, wie eine Schachtel mit Geschenken, in der das Seidenpapier raschelt. Sie benutzt die Worte gerne, obwohl sie es vermeidet, das Bild anzublicken. Frisch angetrauter Ehemann. Elegant, nicht gelangweilt.

Der Tag vergeht. Andere, sehr ähnliche Tage vergehen.

Rosalind abonniert verschiedene Zeitschriften und schneidet Bilder von Objekten aus, die sie für ihr neues Leben als unerlässlich erachtet – Hüte, Möbel, Menschen –, oder notiert sie auf einer Liste. Neben der Tür zu ihrem Schlafzimmer befindet sich ein kleiner Raum, ein Boudoir, in dem alles steht, was die Dame des Hauses brauchen könnte: ein dekorativer Tisch, auf dem man Tee servieren kann, ein verschließbarer Sekretär, ein Brieföffner aus Elfenbein. Rosalind setzt sich an den Schreibtisch und blättert ihre Zeitungsausschnitte durch, wie ein Goldsucher, der sein Sieb schwenkt.

Unterstützt von Mrs Hardcastle, der Haushälterin, bestellt sie ein paar wichtige Dinge – seidene Kissenbezüge und Handcreme – und wartet darauf, dass sie geliefert werden. Wenn sie oben auf der Galerie steht, kann sie in die Eingangshalle hinunterschauen, auch »die Eichenhalle« genannt, um zu schauen, ob irgendetwas angeliefert wird. Sie entdeckt, dass der Satz »Ich werde mal ein bisschen durchs Haus gehen« für gewöhnlich herumlungernde Diener verscheucht. Doch wenn sie weiter herumlungern, fühlt sie sich verpflichtet, tatsächlich ein bisschen durchs Haus zu gehen.

Chilcombe ist von bescheidener Größe, insgesamt neun Zimmer, aber es ist auf so undurchsichtige Art gebaut und erweitert worden, dass jeder Teil schwer erreichbar wirkt. Seine Bewohner und das Personal müssen lange Wege über verschachtelte Korridore zurücklegen, die sich neigen wie ein Schiffsdeck. Oft trifft man auf unerwartete Stufen und plötzliche Treppenabsätze. Die Fenster sind so schmal wie Schießscharten, und die Steinwände fühlen sich feucht an.

Rosalind würde ja hinausgehen, aber die Welt dort draußen kommt ihr so unerreichbar vor. In London hat man das Draußen in saubere Parks verpackt. Und wenn die Abenddämmerung kommt, zünden die Laternenanzünder mit ihren langen Stangen die Gaslaternen an, die die Wege säumen, und überall in der Stadt erwachen goldene Kreise flackernd zum Leben. In Dorset hingegen senkt sich die Dunkelheit so vollständig herab, dass es einem vorkommt, als würde man in einen Kohlenkeller fallen. Es gibt keine Musikpavillons oder Statuen. Nur Unheil verkündende Wälder und ein paar Hektar Grundbesitz, auf dem uralte Bäume stehen, deren Stämme mit Zäunen umgeben sind, als wären es die letzten ihrer Art. Es gibt eine verschrumpelte Eiche, die so verkrüppelt ist, dass man ihre Äste mit Metallstäben abstützen muss. Warum lässt man so einen Baum nicht einfach absterben?, fragt sich Rosalind. Der ist doch potthässlich, nur noch eine Rindenhülle seiner selbst, hochgebunden wie ein Mann, der an die Mauer seines Gefängnisses gekettet ist.

Die Rückseite des Hauses geht auf einen Hof, der von Backsteingebäuden gesäumt wird: einer Wäscherei, einem Werkzeugschuppen und Ställen. Daneben befindet sich hinter einer Mauer ein Küchengarten, der von einem Gärtner gepflegt wird, der ständig mit einer Schubkarre darin herumläuft. Manchmal hängen tote Fasane oder Kaninchen von den Türklinken. Man hört die gemurmelten Unterhaltungen der Dienerschaft, ab und zu lacht jemand. Rosalind beobachtet alles von einem Fenster über einem Treppenabsatz, wobei sie gut darauf achtet, selbst nicht gesehen zu werden.

Ungefähr in anderthalb Kilometern Entfernung liegt ein kleines Dorf, Chilcombe Mell, doch als Rosalind und Jasper auf ihrer Fahrt vom Bahnhof hindurchfuhren, hatte sie nur ein paar reetgedeckte Häuschen gesehen, ein paar Läden, eine Kirche und einen Pub. Der Ort schien halb verlassen, die Häuser alle zusammengedrängt am tiefsten Punkt des Tals, als wären sie mit einer Lawine nach unten gerutscht. Hinter dem Dorf liegt der Teil vom Hochland, der parallel zur Küste verläuft, eine steile Böschung, auf der Bäume wuchern und sich prähistorische Grabhügel befinden. Man nennt diese Gegend einfach »den Hügelkamm«, und er schließt die Welt ziemlich lapidar aus. Wer sollte sie hier jemals finden?

Jasper hatte ihr in der Zeit, als er um sie warb, erzählt, dass der Hügelkamm angeblich derselbe Hügel war, auf dem der alte Großherzog von York seine zehntausend Mann starken Truppen auf und ab hatte marschieren lassen. »Warum um alles in der Welt hat er so was gemacht?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass das nicht die Reaktion war, die sich ihr Mann gewünscht hatte. Die Brautwerbungsphase hatte vor allem darin bestanden, dass er ihr historische Fakten zu Füßen legte, so wie eine Katze ihrem Besitzer tote Mäuse bringt, trotz ausbleibenden Erfolgs. Sogar zu Beginn ihrer Beziehung war da immer diese Verlegenheit gewesen: ein Gefühl von angespanntem Lächeln und kleinen unangenehmen Akten des Dienenwollens.

Als es eines Tages an die Tür ihres Boudoirs klopft, reagiert Rosalind prompt, weil sie erwartet, dass Betty ihr ihre letzte Neuerwerbung bringt. Stattdessen steht ein stämmiger, bärtiger Mann in Tweedanzug und Knickerbockern vor der Tür. Rosalind ist reichlich überrascht, hat sie es doch geschafft, die körperliche Erscheinung von Jasper Seagrave komplett von den Worten »frisch angetrauter Ehemann« zu trennen.

»Habe gehört, dass du eingekauft hast«, sagt Jasper.

»Ein paar Sachen, ja. Aber warum hast du geklopft? Muss ein Ehemann anklopfen?«

»Wenn es dir lieber ist, kann ich es auch lassen.«

»Es kommt mir nur so …« Rosalind merkt, dass sie sich die Wiedervereinigung eines Ehepaars anders vorgestellt hat. Sollte er nicht hereinplatzen und ausrufen, wie schrecklich er sie vermisst hat? Sollte er nicht kleine Schmuckstücke mitbringen? Würde dadurch nicht alles gleich viel besser werden?

»Ich reit heut Nachmittag mit Guinevere aus«, sagt Jasper. »Du hast keine Lust mitzukommen, nehm ich an?«

»Ist Guinevere ein Pferd? Regnet es denn nicht?«

»Nicht doll. Aber macht nichts. Seh dich dann ja beim Abendessen.«

»Ich war nie besonders gut im Umgang mit Pferden …« An dieser Stelle stockt sie, weil sie unsicher ist, wie sie ihn ansprechen soll. »Jasper, mein Lieber«, sagt sie schließlich.

Jasper zupft sich am Bart, dann beugt er sich vor, um ihr einen knappen Kuss auf die Wange zu drücken. »Macht nichts«, sagt er noch einmal, bevor er sich wieder auf den Weg nach unten macht.

Sie ruft nach Betty, damit sie ihr vor dem Abendessen noch mal ein Bad einlässt. Betty schwatzt vor sich hin, während sie Rosalinds blassgrünes, seidenes Abendkleid rauslegt – schmal geschnitten, sorgfältig gebügelt, die seitlichen Säume mit Perlen besetzt –, und Rosalind ist dankbar. Es hilft ihr dabei, ihren Geist zu beruhigen, der seit Jaspers Ankunft in Aufregung geraten ist. Sie lehnt sich im parfümierten Wasser zurück und genießt Bettys Geplauder als Hintergrundgeräusch: die Verlobung einer Schwester, ihre Pläne für ihren näher rückenden Geburtstag.

»Ihr Geburtstag – wie alt werden Sie denn, Betty?«

»Dreiundzwanzig, Ma’am.«

»Genauso alt wie ich.«

»Ich wünschte, ich hätte Ihre Kleidergröße, Ma’am. Sie werden bildschön aussehen in diesem Kleid.«

Rosalind wirft einen Blick auf ihre weißen Arme. »Kann sein, dass wir das Kleid enger machen müssen, Betty.«

»Haben Sie wieder nichts gegessen, Ma’am? Ach, was für ein Jammer. Wahrscheinlich fehlt Ihnen das Leben in London. Ich weiß, dass Ihre Mutter Ihnen häufig schreibt.«

Rosalind hat den Verdacht, dass ihre Mutter solche intimen Unterhaltungen mit dem Personal nicht schätzen würde. Sie stellt sich vor, wie sie sich über ihren Schreibtisch beugt und kritzelt: Die Rolle einer Ehefrau besteht darin, dass sie sich ihrem Gatten unterwirft! Als Gefährtin, Inspirationsquelle und Leitung!

»Meine Mutter schreibt mir jeden Tag«, sagt sie. »Ich bin ihr einziges Kind.«

»Sie muss stolz auf Sie sein, bei dem guten Platz, den Sie sich gesichert haben«, meint Betty.

Die Rolle einer Ehefrau, denkt Rosalind. Unterwerfung. Eleganz. Nicht gelangweilt sein. Sie spinnt diese Worte in Gedanken weiter, um die Schweigepausen beim Abendessen im dunkelroten Esszimmer zu überbrücken, die anschließende Wartezeit im Schlafzimmer und die Zeit danach, wenn sie hochschaut zum Betthimmel, wo das auf dem Kopf stehende Gesicht sie in ihrer Rolle als Ehefrau beobachtet und ihr eine gewisse Distanz zu den Geschehnissen gestattet: zu diesem unaussprechlichen Übergriff und dem Nachthemd, das er nie auszieht und das sich zwischen ihren Körpern zusammenknautscht wie etwas, was er zu ersticken versucht. Obwohl ein Teil ihres Geistes dagegen ankämpft, sich sträubt und Widerstand leistet, rührt sie keinen Muskel, sie schreit nicht auf, sie bleibt einfach dort liegen, krallt beide Hände ins Laken und starrt an ihm vorbei nach oben.

Sie findet es unglaublich. Dass ihr Nacht für Nacht diese Gewalt angetan wird, während um sie herum die Leute schlafend in ihren Betten liegen und anscheinend kein Problem damit haben, dass es geschieht.

Und unterdessen malt ein kleiner Finger auf dem Dachboden in den Staub: B-R-U-D-E-R, B-R-U-D-E-R, B-R-U-D-E-R.

Der verlorene Bruder

Februar 1920

Ein Putt-putt-putt aus weiter Ferne ist das erste Anzeichen, dass der lange Zeit abwesende Willoughby Seagrave, Jaspers jüngerer Bruder und einziges Geschwister, nach Chilcombe zurückkehrt. Cristabel, die mit ihrer erst kürzlich angestellten französischen Gouvernante den Rasen überquert, bleibt stehen, um zu lauschen. Es ist ein völlig neues Geräusch, das an ihre Ohren dringt, über die Entfernung von zwanzig Jahrhunderten – ein Geräusch, das auf diesem Gut noch nie vernommen wurde. Cristabel lässt die tote Schnecke fallen, die sie in der Hand hatte, damit sie sich besser konzentrieren kann. Die französische Gouvernante ist ebenfalls einen Moment aus dem Tritt. Mon Dieu, petite Cristabel. C’est une automobile! Oui, Madame, c’est vrai. Es ist tatsächlich ein Auto.

Als es näher kommt, wird der Lärm des Fahrzeugs deutlicher: Es ist ein ratterndes, schnelles Dug-dug-dug-dug. Ein paar Männer, die hinter dem Haus die Ställe ausmisten, fühlen sich schaudernd an das Geräusch deutscher Gewehre erinnert. Doch für Maudie Kitcat, Betty Bemrose und die anderen Dienstboten, die sich fast überschlagen, um zuerst an der Eingangstür zu sein, ist es das Geräusch von Glamour und Entkommen, von Tagesausflügen und Freiheit, von London und Brighton, von Swanage und Weymouth. Es ist das Geräusch der Zukunft. Es ist Willoughby Seagrave.

Betty und Maudie sind beide glühende Verehrer von Willoughby. Sie haben miteinander vereinbart, dass sie die Briefe in Empfang nehmen, die er an Cristabel schickt, die Kriegsnichte, die er nie gesehen hat, weil er zum Zeitpunkt ihrer Geburt beim Militär in Ägypten war. Betty hat das Lesen von ihrem Vater gelernt, der den Pub im Dorf betreibt, deswegen kann sie Maudie und Cristabel Willoughbys Briefe laut vorlesen. Und was für Briefe das sind! Voll mit tödlichen Skorpionen, Wüstenmonden und Nomadenstämmen. Niedergeschrieben in Willoughbys schwungvoller Handschrift mit aufsteigenden Querstrichen und der großzügigen Verwendung von Großbuchstaben, mit einer ebenso vertraulichen wie dramatischen Stimme. (Glaub mir, kleine Cristabel – das war ein Abenteuer der allerhöchsten Klasse!)

Seine Briefe begannen grundsätzlich mit Meine liebste jüngste Lady, und dann stürzt er sich kopfüber in die Fortsetzung eines Husarenstücks aus einem seiner vorherigen Briefe, sodass sie sich zu einer einzigen endlosen Erzählung von Heldentaten aneinanderreihen. (Du wirst dich zweifellos erinnern, dass ich von diesem übellaunigen Dromedar abgesprungen war, damit Muhammad mich nicht für einen Feigling hielt. Gemeinsam verfolgten wir die Senussi zu Fuß durch die Dünen – im Gefolge meine Männer, zu Tode erschöpft, aber entschlossen!) Am Ende jedes Briefes verlangt Cristabel: »Noch mal. Noch mal.« Also müssen sie ihn noch einmal vorlesen.

Warum Willoughby immer noch durch die Wüste galoppiert, während alle anderen schon wieder aus dem Krieg zurückgekehrt sind, ist ihnen nicht ganz klar, aber sie haben eine Fotografie von ihm in seiner cremefarbenen Uniform gesehen, die Jasper in eine Schublade gelegt hat, und er sieht genauso umwerfend aus wie die Filmstars in Rosalinds Zeitschriften. Die dreiundzwanzigjährige Betty genießt Willoughbys Abenteuer auf dieselbe Art, wie sie eine Klatschspalte genießt, in der über die sorglos vergnügten jungen Männer und Frauen der besseren Gesellschaft berichtet wird, die sich in den Nachkriegsjahren auf wilden Partys in London tummeln. Doch die vierzehnjährige Maudie ist von Willoughby schlichtweg überwältigt. Wenn Betty seine Briefe vorliest, steigt ihr eine heftige Röte ins Gesicht.

Maudie, das jüngste Küchenmädchen und Cristabels Gesellschaft auf dem Dachboden, ist eine Waise, die zu großer Intensität neigt. Einmal hat sie einen Lieferjungen in der Wäscherei eingesperrt, weil er sie wegen ihrer widerspenstigen Haare aufgezogen hatte. Es gehen Gerüchte, dass sie aus einer Schmugglerfamilie kommt. Es gehen Gerüchte, dass der Lieferjunge eine geköpfte Ratte in seinem Fahrradkorb gefunden hat. Maudie hat Bettys Hand fest ergriffen und stolpert jetzt mit ihr zur Eingangstür, während das Fahrzeug mit Willoughby und einem Stapel ramponierten Gepäcks die Auffahrt hochröhrt. Sie dürfen diese Eröffnungsszene einfach nicht verpassen. Denn eines steht fest: Willoughby legt immer einen Auftritt hin.

Der Lärm ist so gewaltig, dass Jasper, der im Esszimmer beim Frühstück sitzt, mitten in seinem Räucherhering innehält und fragt: »Werden wir gerade überfallen?«

Rosalind, die am anderen Ende des Esstischs sitzt, stellt ihre Teetasse ab und hält sich eine Hand an die Kehle. Von draußen hört man den Knall einer zugeschlagenen Autotür, gefolgt von der Kakofonie sämtlicher Saatkrähen, die in den umliegenden Bäumen nisten und jetzt alle auf einmal gen Himmel fliegen.

Blythe, der Butler, deutet eine Verbeugung an und macht sich auf, den Verursacher dieses Lärms zu suchen, doch der Verursacher dieses Lärms ist schon bei ihnen, er betritt mit großen Schritten das Zimmer, das Gesicht ganz schmutzig vom Straßendreck und gekrönt von einer Automobilistenbrille, die er sich ins wellige, kupferfarbene Haar geschoben hat. Irgendwie ist der Raum voller Menschen, die eben noch nicht da waren, die reinste Menschenmenge, die sich hinter Willoughby ins Zimmer drängt, darunter auch Betty und Maudie, Mrs Hardcastle, die Haushälterin, die neue französische Gouvernante und Cristabel mit ihrem Stock in der Hand.

»Tja«, sagt Willoughby mit seiner warmen, beruhigenden Stimme, in der immer ein kleines Lachen mitzuschwingen scheint. »Hallo allerseits.«

Sein Publikum kichert und murmelt Antworten, wobei sie sich gegenseitig ins Wort fallen – wie nervöse Zuschauer.

Cristabel schiebt sich durch die Menge und hebt feierlich ihren Stock. Willoughby verbeugt sich wie ein Pantomime, der einen Prinzen darstellen will, und sagt: »Du musst Cristabel sein. Ich kann deine Mutter in dir erkennen. Welche Ehre, endlich deine Bekanntschaft machen zu dürfen.« Dann wendet er sich an Jasper und Rosalind, die immer noch am Tisch sitzen. »Wobei mir in London Gerüchte zu Ohren gekommen sind, dass mein Bruder die Familie unbedingt erweitern will – und warum auch nicht?«

Rosalind errötet. Jasper macht den Mund auf, aber er hat sein Stichwort schon verpasst, denn jetzt wendet sich Willoughby wieder seinem Publikum zu.

»Betty Bemrose, Sie haben mir gefehlt. Wie ich mich in der Wüste nach Ihren geschickten Händen gesehnt habe. Niemand in Ägypten kann so gut Socken stopfen wie Sie. Ich musste in durchgescheuerten Strümpfen herumlaufen und habe Sie vermisst.«

»Mr Willoughby«, antwortet Betty und knickst ebenso verlegen wie entzückt.

Willoughbys Ton bewegt sich so geschmeidig zwischen den verschiedenen Registern, dass sich kaum sagen lässt, ob er der Star in einem romantischen Film, in einer Shakespeare-Komödie oder einem Schmierentheater im West End ist. Deswegen weiß man auch nicht, ob man sich von ihm beleidigt fühlen soll. Die meisten legen diese Frage zu seinen Gunsten aus, denn die Linie an seinem Mundwinkel ist nach oben gebogen und verrät sein Vergnügen an Zweideutigkeiten und wie er es genießt, dass man schon so oft zu seinen Gunsten entschieden hat – und seine großzügige Bereitschaft, noch mehr in dieser Richtung anzunehmen.

Jasper schnieft. »Ich entnehme diesem grässlichen Radau, dass du dir so ein lächerliches Fahrzeug zugelegt hast.«

»Ich freu mich auch, dich wiederzusehen, Bruderherz«, sagt Willoughby. »Ich habe tatsächlich so ein lächerliches Fahrzeug. Soll ich dich vielleicht mal auf eine Spritztour mitnehmen?«

»Du hättest uns ruhig sagen können, wann du kommst. Dann hätten wir Zeit gehabt, das gemästete Kalb zu schlachten«, sagt Jasper, der sich die Serviette aus dem Kragen zieht.

»Und diese wunderschöne Überraschung verderben? Du lieber Himmel, nein«, protestiert Willoughby, während er die französische Gouvernante anlächelt. »Ich habe aber das Gefühl, dass sich diese junge Dame über so ein lächerliches Fahrzeug freuen würde.«

»Monsieur Willoughby …«

»Ich sehe Sie als Rennfahrerin, Mademoiselle. Mit Lederhandschuhen. Wie sie mit fünfzig Sachen dahinschießen.« Er nimmt seine Automobilistenbrille ab und wirft sie ihr zu. »Probieren Sie die doch mal an.«

»Mr Willoughby, Sie möchten doch sicher ein Bad nehmen«, sagt Mrs Hardcastle, doch Willoughby hat die Gouvernante beim Arm gefasst, führt sie durch die Eichenhalle und sagt: »Nur eine kurze Runde. Nur damit Sie ein Gefühl dafür kriegen.« Sie gehen an Maudie vorbei, und ihr gaffendes Gesicht erinnert an einen Wüstenmond.

Als Rosalind ans Fenster des Esszimmers tritt, sieht sie im blassen Licht des Februarmorgens: Willoughby, eine französische Gouvernante mit Automobilistenbrille, eine Haushälterin mit Grabesmiene und ein Kind, das seinen Stock schwingt, alle zusammen in einem riesigen Cabrio, das ganz langsam über die Auffahrt tuckert und ab und zu auf den Rand des Rasens fährt. Diese ungewöhnliche Aktion wird von Jasper beobachtet, der zwar nicht richtig lächelt, aber auch nicht nicht lächelt, während neben ihm Betty, Maudie und eine Traube von Dienstboten stehen. Rosalind schaut zu, wie das Automobil beschleunigt und dabei den Kies hochspritzen lässt, woraufhin seine französische Passagierin aufschreit. Willoughby ruft über die Schulter nach hinten: »Zum Mittagessen sind wir wieder da.«

Rosalind hört, wie Jasper sich in sein Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses zurückzieht. Sie schlendert zum Salon, aber sie findet keine Ruhe. Sie wird gestört durch die Diener, die von Zimmer zu Zimmer flattern, von Fenster zu Fenster, wie eine Vogelschar, die in einem Haus gefangen ist. Am Ende faltet sie einfach die Hände, schließt die Augen und wartet. Im Warten ist sie mittlerweile schon viel besser geworden.

Die Ausflugsgesellschaft kommt drei Stunden später nach Chilcombe zurück, staubbedeckt und mit Streifen versehen, die an Erdbeermarmelade erinnern. Cristabel, die tief und fest schläft und auch noch im Schlaf ihren Stock umklammert, wird von Mrs Hardcastle ins Haus getragen. Rosalind empfängt sie in der Eichenhalle.

»Du liebe Güte«, sagt sie, »bring doch einer dieses Kind nach oben. Es braucht eine gründliche Wäsche. Ich kann mir das ja kaum anschauen.«

Sie hört die Stimme ihrer Mutter in ihren Worten und findet es beruhigend. Die Störung durch Willoughbys Ankunft hat ihr erlaubt, eine Rolle anzunehmen, die ihr bis jetzt verwehrt war: die der Dame des Hauses. Sie richtet sich kerzengerade auf, als die zerzausten Autofahrer an ihr vorbeimarschieren. Die französische Gouvernante trägt eine rosa Nelke hinter einem Ohr. Am Ende der kleinen Gesellschaft bleibt Willoughby auf der Schwelle stehen. Er hat seine Autofahrerkappe in der Hand und streicht sich reumütig über den Schnurrbart.

»Warum kommen Sie nicht herein?«, fragt Rosalind.

»Ich fürchte, ich habe einen schrecklichen ersten Eindruck gemacht.«

»Es ist nicht üblich, dass unsere Gäste den halben Haushalt auf einen Ausflug mitnehmen.«

»Nein. Das ist wohl nicht ganz angebracht«, gibt er zu.

»Was sollen denn die Dorfbewohner denken, wenn sie Sie so durch die Gegend rasen sehen?«

»Kümmert es Sie, was sie denken?«

Rosalind runzelt die Stirn. »Selbstverständlich.«

Er zuckt mit den Achseln. »Ich glaube, es hat ihnen eher gefallen. Wir sind am Pub stehen geblieben, damit sie sich den Motor genauer anschauen konnten.«

»Sie sind in den Dorfpub gegangen?«

»Ja. Haben Sie was dagegen?«

»Nein. Ja«, sagt Rosalind. »Ich meine, vielleicht hätte ich nichts dagegen gehabt. Wenn ich gefragt worden wäre.«

»Das hatte ich gehofft. Können wir noch mal neu anfangen? Diesmal auf dem richtigen Fuß. Nachdem ich ein Bad genommen habe. Ich werde so blitzsauber sein und mich so perfekt benehmen, dass Sie mich nicht wiedererkennen.« Er lächelt, und es wirkt wie die blendende Explosion des Blitzes beim Fotografen.

»Das klingt … annehmbar«, meint Rosalind.

»Sie sind eine famose Person. Ich wusste, dass Sie so sein würden.«

»Ja? Und wie sind Sie auf diesen Gedanken gekommen?«

Aber er geht schon an ihr vorbei, zieht sich das Hemd aus der Hose und läuft die Treppe hoch, wobei er immer zwei Stufen gleichzeitig nimmt und ruft: »Gibt es heißes Wasser für mich, Betty?«

Rosalind bleibt neben der Tür stehen mit ihren unbeantworteten Fragen, ihrem bisschen Text.

Einkreisen und noch mal einkreisen

März 1920

Chilcombe ist anders, seit Willoughby da ist. Noch bevor Cristabel die Augen aufschlägt, spürt sie eine prickelnde Veränderung in der Luft. Zur gleichen frühmorgendlich dunklen Stunde wie Maudie kriecht sie aus dem Bett, noch bevor irgendjemand anders wach ist, und während Maudie zur Verrichtung ihrer morgendlichen Pflichten in die Spülküche geht, schleicht sich Cristabel auf Zehenspitzen hinunter in die Küche und geht nach draußen, um Willoughbys Automobil zu suchen.

Maudie hat einmal zu ihr gesagt, das einzig Gute daran, so schrecklich früh aufstehen zu müssen, sei, dass der vorherige Tag vorbei sei, der neue aber noch nicht begonnen habe, und dass in dieser Zeitspanne das Haus nur Maudie gehöre. Cristabel spürt, wie wahr diese Behauptung ist, als sie hinaustritt unter einen tiefblauschwarzen Himmel. Das einzige Geräusch, das sie wahrnimmt, ist das Zwitschern einer Amsel, ein Lauf von silbrigen Tönen in der Dunkelheit. Diese atemlose, verschattete Welt ist voller Möglichkeiten. Alles, was sie jetzt berührt, wird ihr gehören.

Das Automobil ist bei den Ställen geparkt und mit einer Plane abgedeckt worden, unter die man ganz leicht schlüpfen kann. Cristabel rafft ihr Nachthemd hoch, klettert auf den Fahrersitz und untersucht das Lenkrad, das Armaturenbrett aus poliertem Holz und die Instrumente unter Glas, auf die man so schön draufdrücken kann. Sie bewegt das Lenkrad nach rechts und links. Sie sagt: »Halten Sie Ihre Hüte fest, meine Damen!«

Manchmal schaut sie auf die Rückbank, um zu sehen, wo sie saß, als Onkel Willoughby ihr ein Marmeladentörtchen nach hinten reichte, das sie mit den Fingern aß, ohne Teller und Serviette, während er durch die Pfützen fuhr und alle aufschrien. »Nur für dich«, sagte er, »Teilen verboten.«

»Ich teile nicht«, antwortete sie, und er musste so lachen, dass sie sich nicht mehr die Mühe machte, ihm zu erklären, dass sie ohnehin nie etwas bekomme, was sie teilen könne. Sie hört ihn gerne lachen. Dieses nicht zu unterdrückende Geräusch, das durch den gewöhnlichen Lauf der Dinge platzt wie eine Kanonenkugel. Cristabel kniet sich auf den Ledersitz und greift nach dem Gummiknubbel der Messinghupe.

Rosalind erwacht früh, sie wurde durch ein lautes Geräusch von draußen aus dem Schlaf gerissen. Willoughby wird doch wohl nicht schon wieder in seinem Automobil herumfahren? Immer, wenn er bei ihnen ist, ist das ganze Haus durchdrungen von einer aufregenden Aufbruchsstimmung – als wäre gerade Ferienanfang –, aber darunter lauert auch immer die Angst, dass er plötzlich wieder abreisen könnte.

Sie lässt sich rasch von Betty ankleiden, um so schnell wie möglich am Frühstückstisch zu sein, aber sie ist die Erste. Willoughby und Jasper erscheinen eine Stunde später und verlangen große Mengen von Essen. Rosalind kann nur selten etwas frühstücken oder auch nur irgendetwas sagen, was über die üblichen Höflichkeiten hinausgeht. Stattdessen beobachtet sie, wie die Brüder sich kabbeln, während sie in sich hineinschaufeln, was immer man vor sie hinstellt, unter den gestrengen Blicken der Seagrave’schen Ahnenporträts.

Jaspers Tischmanieren sind schlicht und rustikal, das entschlossene Schaufeln eines Mannes, der schon längst über kulinarische Genüsse hinaus ist, während Willoughby wie ein extravaganter Maler isst – er schmiert sich Unmengen von Marmelade auf zerkrümelnden Toast, gießt sich Milch aus einem Krug in die Teetasse aus einer solchen Höhe, dass die Flüssigkeit ein einziger dünner Sturzbach wird, und leckt sich die Butter von den Fingern, während er Blythe heranwinkt, um von ihm noch eine Portion Speck zu ordern.

»Schwägerin Rosalind, die aktuelle Mrs Seagrave«, sagt Willoughby, während er sich das letzte Ei schnappt. »Wie sehen Ihre Pläne für die nächsten Wochen aus?«

»Willoughby«, knurrt Jasper, und die Warnung kommt aus den Tiefen seines mit Fischreis bekleckerten Bartes.

»Also …«, setzt Rosalind an.

»Weil ich nämlich für ein paar Tage nach Brighton fahre, also müssen Sie mir kein Essen geben, und Kerzen können Sie auch einsparen. Ich bin verblüfft, dass du immer noch Vorbehalte gegen elektrisches Licht hast, Jasper. Mein Schlafzimmer ist schwarz wie ein Grab.«

»Öllampen sind doch völlig ausreichend«, meint Jasper. »Ich werde mir ganz bestimmt keine unansehnlichen Kabel über mein Land spannen lassen.«

»Was machen Sie denn in Brighton, Willoughby?«, fragt Rosalind. »Ich war auch schon mal in Brighton.«

»Ich will mich mit einem Mann treffen, um mit ihm über ein Fliegerabenteuer zu sprechen.«

Jasper seufzt. »Sei doch vernünftig, Willoughby. Unser Familienvermögen ist auch nicht unbegrenzt. Und ich sag dir doch die ganze Zeit, dass es für ehemalige Offiziere gute Stellungen in den Kolonien gibt. Letzten Monat habe ich deinen Freund Perry Drake im Club gesehen – der geht demnächst nach Ceylon, um die Eingeborenen im Zaum zu halten.«

»Perry wird dem Empire große Ehre machen, da bin ich mir sicher. Aber ich will das nicht. Mutter und Vater haben mir Geld hinterlassen, mit dem ich machen kann, was ich will.«

»Du kannst doch deine allmonatlichen Zahlungen nicht auf alberne Unternehmungen verschwenden«, sagt Jasper.

»Warum nicht?«, kontert Willoughby. »Liest du denn nie Zeitung? Alle großen Anwesen werden langsam, aber sicher verkauft. Warum sollten wir nicht unsere Pennys für etwas Angenehmes ausgeben, bevor wir den großen Batzen verlieren? Wann hast du zuletzt etwas anderes gekauft als ein Pferd? Warum dieses kleinliche Beharren darauf, dass die Dinge unbedingt so gemacht werden müssen, wie sie schon immer gemacht wurden?«

»Ich habe ein Klavier gekauft. Für Rosalind. Meine Frau.«

»Und, spielt jemand darauf?«

»Man hat gewisse Verpflichtungen …«

»Die Zukunft kommt auch zu dir, lieber Bruder, ob es dir nun gefällt oder nicht«, sagt Willoughby. »Apropos Perry: Er kennt einen Kerl in der Armee, der einen guten Immobilienmakler für Chilcombe abgeben würde. Brewer heißt der Mann. Von der praktischen Sorte, aber mit einem genauen Auge für die Finanzen. So einen wirst du bald brauchen.«

Doch Jasper kehrt zurück zum Thema, das er angeschnitten hat, bevor Immobilienmakler ins Spiel gebracht wurden. »Man hat gewisse Verpflichtungen. Wir haben Personal, das sich auf uns verlässt.«

Willoughby wendet sich an Rosalind. »Darf ich Ihnen von meinen Fliegerabenteuern erzählen, Mrs Seagrave? Eine Zeitung hat eine obszöne Summe geboten für den ersten Piloten, der ohne Zwischenlandung von New York nach Paris fliegt.«

»Wäre das denn nicht gefährlich?«, fragt Rosalind.

»Man könnte tatsächlich seinen Hut verlieren. Aber es ist ein Mordsspaß da oben, wenn man durch die Wolken nach unten schaut. Ein weißes Federbett, das sich bis zum Horizont erstreckt.«

»Alberner Unsinn«, bemerkt Jasper.

»Ich habe noch nie in einem Flugzeug gesessen«, sagt seine Frau.

»Ich werde hier auf dem Rasen landen«, erklärt Willoughby.

»Das wirst du schön bleiben lassen«, sagt Jasper.

»Cristabel wäre entzückt«, sagt Willoughby.

»Du solltest in einem leicht zu beeindruckenden jungen Mädchen keine Liebe zur Luftfahrt wecken.«

»Ich glaube, da kommst du ein bisschen zu spät, Jasper. Ich habe einen Spielzeugflieger für sie bestellt, und weißt du, ich habe eins von diesen Holzschwertern gefunden, die wir als Jungs in den Ställen versteckt haben – das habe ich auch für sie sauber gemacht.«

»Mensch, Willoughby, das war mein Schwert«, protestiert Jasper.

»Aber Sie könnten doch nicht mit dem Flugzeug auf dem Rasen landen, oder?«, fragt Rosalind.

Willoughby lächelt. »Ist das eine Herausforderung?«

»Ich werde nicht zulassen, dass du auf meinem Rasen herumflatterst wie ein Fasan«, sagt Jasper.

»Doch wohl eher wie ein Adler.«

»Ich werde mich nicht an meinem eigenen Frühstückstisch so provozieren lassen, hörst du?«, bellt Jasper und reißt sich die Serviette aus dem Kragen.

»Alle können uns hören, Bruderherz.«

Jasper stampft aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Das Geschirr klirrt: ein dünnes, silbriges Läuten von Besteck gegen Porzellan. Willoughby zieht den Frühstücksteller seines Bruders zu sich heran. Sie hören einen Ruf aus dem Flur: »Das Kind hat seine verdammten Stöcke überall liegen lassen!« Dann erklingt Cristabels Stimme, die laut ruft: »Zurückziehen hinter die Barrikaden!« Und schließlich das Geräusch von kleinen Füßen, die die Treppe hochlaufen.

Rosalind wartet, bis die Tafel sich gefasst hat. »Willoughby, wir werden Chilcombe doch nicht wirklich verkaufen müssen, oder? Jasper sagt, dass es schon seit Generationen von der Familie Seagrave bewohnt wird.«

»Sie sind doch jetzt auch eine Seagrave. Was glauben Sie?«

»Ich bin mir nie ganz sicher, was ich denken soll.«

»Sie müssen einen Sohn kriegen, dann können Sie ein bisschen selbstbewusster auftreten. Zwei Söhne idealerweise. Einen Erben, einen als Ersatz. Kein Grund, rot zu werden, liebe Schwester.«

»Ist Ihnen denn völlig egal, was passiert?«

»Mrs Seagrave, ich bin der Ersatz. Nichts von alledem gehört mir, so weit das Auge reicht.« Willoughby macht eine große Geste, bevor er sich wieder Jaspers Essensresten zuwendet.

Blythe, der Butler, kommt herein und zupft die weißen Handschuhe zurecht. »Darf es sonst noch etwas sein, Sir?«

»Überhaupt nichts«, antwortet Willoughby. »Lassen Sie mein Auto vorfahren.«

»So früh fahren Sie schon?«, fragt Rosalind, doch Willoughby hat bereits das Zimmer verlassen und Jaspers restlichen Toast mitgenommen.

Das Frühstück mit den beiden Seagrave-Brüdern endet häufig so, mit Essensdiebstahl, auf den Boden geworfenen Servietten und dramatischen Abgängen. Die aktuelle Mrs Seagrave bleibt dann jedes Mal alleine am Esstisch zurück und starrt die Zuckerdose an, weil sie nichts anderes zu tun hat. Jedes Mal, wenn Willoughby geht, hat sie das Gefühl, eine Chance verpasst zu haben. Sie würde ihm so gerne zeigen, dass sie auch vertraut ist mit der weiten Welt und mit den neuesten Nachrichten der feinen Gesellschaft. Sie wüsste gern, wie sie sein Interesse fesseln und sein munteres Karussell lang genug anhalten kann, um mit aufzusteigen.

Je mehr sie ihn beobachtet, umso mehr fällt Rosalind auf, dass die Benimmregeln für Willoughby anscheinend nicht gelten. Seine Anwesenheit bei den Mahlzeiten ist zufällig, seine Taschentücher sind aus schimmernder ägyptischer Seide. Er schließt sich ihnen nie an, wenn sie am Sonntagmorgen pflichtbewusst zur Kirche von Chilcombe Mell marschieren, doch Rosalind hat gesehen, wie er fröhlich mit den Männern aus dem Dorf plaudert. Jasper hat ihn deswegen einmal getadelt, und Willoughby hat geantwortet, dass er neben solchen Männern gekämpft habe und jetzt sicher nicht anfangen werde, sie von oben herab zu behandeln.

Nach ihrem Nachmittagsschlaf zieht Rosalind oft ihre Schlafzimmervorhänge zurück, um gerade noch zu sehen, wie Willoughbys große Gestalt zwischen den Bäumen am Rand des Rasens verschwindet und Cristabel mit einem Holzschwert in der Hand neben ihm hertrabt. Betty erzählt, dass sie zum Strand hinuntergehen und Willoughby seiner Nichte beibringen wolle, wie man Krebse fängt. Sie fragt sich, wer ihm das erlaubt hat und was die französische Gouvernante eigentlich macht, die sie eingestellt hat.

Sie hat das Gefühl, dass Willoughby in seinem Leben keine Grenzen anerkennt. Es ist im Gegensatz zu ihrem eigenen beneidenswert frei und locker. Rosalinds Leben, erst mit ihrer verwitweten Mutter und jetzt mit Jasper, scheint eine endlose Abfolge von Sonntagen zu sein: von der Uhr bestimmte, genau geregelte Tage, die von Benimm und gemeinsamen Lunches geprägt sind. Wie spannend es ist, zu entdecken, dass die unveränderliche Eigenart der Dinge – Fischmesser, Tischdecken, Gesprächsthemen – ebenso willkürlich ist wie die Entscheidung, dass ein Tag Sonntag heißt und anders behandelt wird als der Rest. Wenn Sonntag nur Sonntag ist, weil wir ihn Sonntag nennen, warum nennen wir ihn dann nicht Freitag?

Eines Morgens trifft sie Willoughby in der Eichenhalle. Er ist auf dem Weg nach draußen, sie macht einen kleinen Spaziergang durchs Haus. Er deutet mit einem Kopfnicken auf die Liste in ihrer Hand.

»Irgendwas Wichtiges, Mrs Seagrave?«

Rosalind schaut auf die Liste. »Oh. Eigentlich nichts.«

Willoughby runzelt die Stirn. »Ist es eine Einkaufsliste? Ich fahre nämlich heute nach London.«

»Nein, das ist meine Liste der Läden, in die ich gehen will. Wenn ich nach London komme.«

Er nimmt ihr die Liste aus der Hand. »Brauchen Sie etwas aus diesen Läden?«

»Das weiß ich erst, wenn ich sie besuche. Ich weiß ja nicht, was sie so führen, weil ich bislang nur von ihnen gelesen habe. In Zeitschriften. Die Läden haben neu eröffnet, und ich würde mir gerne alles anschauen, was sie so haben. Dann werde ich mir etwas aussuchen. Einen Hut vielleicht. Oder ein Armband. Etwas Einzigartiges. Ich habe einen sehr besonderen Geschmack.« Diese neun Sätze stellen einen Rekord dar – so viel hat sie noch nie auf einmal zu ihm gesagt.

»Recht haben Sie.« Er blickt auf die Liste, dann gibt er sie ihr zurück und verlässt das Haus mit einem Winken.