Das Torhaus - Helga Dreher - E-Book

Das Torhaus E-Book

Helga Dreher

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Beschreibung

"Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollten?" Aus dem Seitenfenster des Taxis sah sie eine mit Graffiti besprühte Hauswand, die in der Nachmittagssonne schmutzig-silbern glänzte … Nein, sicher ist sich Alma keineswegs, als sie in Weimar aus dem Taxi steigt. Eine unverhoffte Erbschaft hat sie an diesen Ort und vor dieses Haus geführt. Alma Winter, Anfang dreißig, fühlt sich fremd und ein wenig verlassen an diesem regnerischen Tag in der Klassikerstadt. Aber schneller als gedacht findet sie sich in einem Kreis von Freunden wieder, alles zupackende Thüringer, die sie fest an die Hand nehmen. Es geschehen Liebesgeschichten und andere Katastrophen. Doch das Torhaus birgt ein Geheimnis, das Alma zum Handeln zwingt.

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Seitenzahl: 639

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für Thomas und Sabine

Helga Dreher

DAS TORHAUS

Eine mysteriöse Erbschaft mit Folgen

Roman

Die Handlung und die darin agierenden Personen sind frei erfunden.

Das Torhaus befindet sich in Weimar an der beschriebenen Stelle.

© Bertuch Verlag Weimar GmbH 2010

2. Auflage 2020 mit freundlicher Genehmigung des Bertuch Verlags Weimar GmbH

Titelfoto: Astrid Rippke

Umschlaggestaltung: Eckehard Werner, Thomas Dreher

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-7497-2213-6 (Paperback)

978-3-7497-2215-0 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

MAI

KAPITEL 1

„Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollten?“ Der Taxifahrer nickte in Richtung des Gebäudes und schaute sie zweifelnd an. Alma verstand sofort, was er meinte. Aus dem Seitenfenster des Taxis sah sie eine mit Graffiti besprühte Hauswand, die in der Nachmittagssonne schmutzigsilbern glänzte.

„Ich denke schon“, antwortete Alma, zog ihre Geldbörse heraus und zahlte. Sie fand den Taxifahrer sympathisch und seine fürsorgliche Bemerkung rührend. Während der Fahrt war sie nicht auf seinen Versuch eingegangen, ein Gespräch zu führen. Sie glaubte zu wissen, worauf es hinauslaufen würde: das Wetter, die Benzinpreise, die Baustellen oder Umleitungen … Darauf hatte sie keine Lust gehabt. Oder war sie vielleicht aufgeregt gewesen? Ein wenig tat es ihr jetzt leid um das verpasste Gespräch, das möglicherweise einen nicht uninteressanten Einblick in die Befindlichkeit der Stadt oder der Städter gegeben hätte.

„Danke, und einen schönen Aufenthalt in Weimar!“ Der Taxifahrer machte mit der Hand eine kurze Bewegung zur Stirn, die sie eher von einem Matrosen erwartet hätte. Aber andererseits, er war ja eine Art Fahrensmann, der Taximensch. Alma bat ihn, mehr aus einem Impuls des Freundlichseinwollens als tatsächlicher Notwendigkeit, um seine Karte – für eventuell sich nötig machende weitere Beförderungen. „Und einen schönen Tag noch für Sie, mit vielen Fahrgästen!“, fügte sie ein wenig durcheinander und, so fand sie, eigentlich unnötigerweise hinzu.

Nun stand sie auf dem Bürgersteig unmittelbar neben dem Haus, „ihrem Haus“, wie sie für einen kurzen Moment dachte. Sekundenlang wiederholte sich der Anfall von Unsicherheit vor dem, was da auf sie zukam.

Kurz vor dem Ziel hatte der Taxifahrer gemeint, er könne sie nicht an der Haustür, die sich direkt neben einer Ampel befände, absetzen, das wäre ungefähr wie ein Halt in der Poleposition bei der Formel 1. Er werde sie um den Stock fahren, zum Busbahnhof, der eigentlich eine Straße sei, und sie könne dann hinter dem Haus aussteigen. „Um den Stock …“, hatte Alma in sich hinein gelächelt, wie früher in Neustadt bei Oma und Opa. Nur war man damals um den Stock gelaufen, ein Auto hatten die Großeltern nie besessen.

Alma ging auf das kleine Haus zu, ihren Rollkoffer hinter sich herziehend. Die Seitenfront, vor der sie eben ausgeladen worden war, bot einen bedauernswerten Anblick. Die Wand war bis über Augenhöhe mit silberner und schwarzer Farbe besprüht. Zwei Fenster mit viergeteilten, vor Schmutz fast undurchsichtigen Scheiben hingen unsicher in den Maueröffnungen, eine der kleinen Scheiben war eingeschlagen und mit Presspappe hintersetzt. An mehreren Stellen zeigte der Putz große, tiefe Löcher. Als Alma mit ihrem Koffer auf der Suche nach der Eingangstür um die Hausecke bog, fand sie sich unmittelbar an besagter Ampel wieder, die eine offensichtlich stark befahrene Kreuzung regelte. In Zweierreihe standen Autos an, mehrere Fußgänger warteten auf der anderen Seite, einige davon mit wachsender Ungeduld. Die Autos bekamen Grün, fuhren an und versahen Alma mit einer kräftigen Dusche aus Pfützenwasser.

„Oh, shit“, murmelte sie. Ihr hellgrauer Trenchcoat sollte sie eigentlich während ihres gesamten Aufenthaltes in Weimar sauber bemänteln, und um die Füße fühlte es sich auch feucht an. Aber ihr Ärger dauerte nur kurz: Kleidungsstücke ließen sich reinigen, Schuhe trocknen. Unglücke dieser Kategorie konnten Alma nicht nachhaltig beeindrucken.

Durch den plötzlichen Wasserguss war ihr entgangen, dass sie schon unmittelbar vor dem Eingang des Hauses stand. Eingang war untertrieben, dachte sie – das war ja ein richtiges Portal, mit zwei Säulen, einer winzigen überdachten Vorhalle und einer soliden Haustür. Alma zog ihren Koffer zwei Stufen hinauf und unter das Dach, um weiteren Fontänen zu entgehen. Sie musterte die kleine Fläche vor der Tür. Auf der einen Seite lehnte ein blaues Damenfahrrad, Marke Diamant, tiefe DDR, ohne Gangschaltung und auch ohne Vorderrad, dafür mit einem schönen Gesundheitslenker und einem Ledersattel. Beides erinnerte sie für einen Moment wehmütig an die Räder ihrer Kindheit. Obwohl nicht fahrbereit, war es mit einem teuren Schloss sorgfältig an eine Eisenstange angehängt, die die linke Seite der Vorhalle zur Straße hin abgrenzte. Rechts neben der Tür lagen mehrere vollgestopfte Plastiktüten.

Alma schaute näher auf das schmutziggraue Klingelschild neben der Tür. Statt eines Namens befand sich darauf ein weißes Klebeetikett. Sie beugte sich vor und las: „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage“. Shakespeares Hamlet in der Goethestadt – hier lässt man nichts anbrennen, dachte sie. Mit einem prüfenden Blick überzeugte sie sich, dass die Luft rein und die Autos fern waren und sie wieder auf den Bürgersteig an der Ampel treten konnte. Sie fasste den Koffer, ging schnellen Schrittes zurück um die Hausecke und fand sich an ihrem Ausgangspunkt, der Graffitiwand, wieder.

Was nun? Sie schaute sich suchend um, sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch. Das fing ja gut an.

Ihr Blick fiel auf ein kleines Gebäude, gelb verputzt und mit neuem Ziegeldach, das auf einer Art Verkehrsinsel mitten in der Straße stand. Leider hatte der Graffiteur auch hier sein Unwesen getrieben und das Häuschen zu einer Beleidigung für die Augen gemacht. Ein Stehtisch und drei Tische mit blauen Plastiksesseln standen rechts neben dem Haus, versorgt durch einen Schalter – offenbar der Busbahnhofskiosk. Alma verspürte sofort Kaffeedurst und gleichzeitig kräftigen Hunger. Das Sandwich vom ICE hatte sie schon auf der Höhe Leipzig aufgegessen, den hochpreisigen Kaffee dazu getrunken, und all das lag gut zwei Stunden zurück. Ihr Hunger war berechtigt, fand sie.

„Was darf’s denn sein?“, erklang eine tiefe und laute, aber nicht unfreundliche Frauenstimme aus dem Inneren des Kiosks durch die Schalteröffnung.

Alma hatte gerade ihren Koffer abgestellt, den feuchten Mantel über eine Sessellehne gehängt und schaute ein wenig erschrocken auf. „Einen Pott Kaffee mit Milch – und etwas zu essen, bitte.“

Jetzt hätte sie eigentlich die obligatorische Aufzählung erwartet: Currywurst mit Pommes, Hamburger, Bulette … Ach nein, sie war ja wieder zu Hause in Thüringen, da waren Bratwurst mit Brötchen oder Bockwurst mit Kartoffelsalat angesagt. Zu ihrer Verwunderung war nicht eines der erwarteten Angebote zu hören, stattdessen der Ruf nach hinten in die Tiefe des Häuschens: „Holger, einmal das Spezi!“

Alma fand, dass heute der Tag der Überraschungen war, da sollte man nicht unnötig eingreifen. Sie bedankte sich, als der Kaffee kam, der auf einem kleinen Tablett in blitzsauberer Tasse aus gutem Porzellan mit einem Kännchen Milch und einem Glas Wasser sogar zu ihr herausgebracht wurde.

„Nach einer Reise hat man ja doch ordentlich Durst, oder? Essen ist bei Holger in Arbeit.“

Alma schaute auf. Eine Frau ungefähr Mitte vierzig, vollschlank und mit schwarzem Lockenkopf, in den mehrere feuerrote Strähnen eingefärbt waren, nickte ihr mit wachem Blick und der Andeutung eines Lächelns zu. Alma fühlte sich taxiert (Fremde, groß, dünn, Anfang/Mitte dreißig? Kleidung nicht ganz billig; Frisur einfach; dezentes Makeup; Westfrau?) und fand das in Ordnung. Als professionelle Gastgeberin würde sie es ebenso machen. Sicherlich hatte der Ausschank am Busbahnhof meistens Stammkunden, die Busfahrer zum Beispiel, oder regelmäßige Fahrgäste. Da fiel ein Fremdkörper auf und wollte eingeordnet werden.

„Vielen Dank“, sagte Alma, einem plötzlichen Wunsch nach Verbindlichkeit folgend, „und machen Sie dem Koch keinen Stress. Hier sitzt man sehr angenehm, mit einem schönen Blick übrigens auf die wunderbaren alten Bäume.“

„Ja, da haben Sie recht, das ist eine der schönsten Straßen in Weimar – finde ich jedenfalls. Wenn bloß die Kastanien nicht von dieser Motte befallen wären. Jetzt haben wir Anfang Mai, da sieht alles schön grün aus. Aber ich seh schon wieder, wie Ende Juli die ersten Blätter braun und trocken werden. Ein Jammer ist das!“

Mit anklagendem Kopfschütteln und festen Schrittes ging sie zurück zum Haus, drehte sich jedoch unvermittelt noch einmal um: „Das Klo ist übrigens hier im Haus, gleich um die Ecke – aber Automat, Sie brauchen fünfzig Cent.“

Alma nickte und hatte nun Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Unwillkürlich suchte sie gleich wieder ihr Haus, dem sie auf der busbahnhöflichen Verkehrsinsel im Abstand von wenigen Metern gegenübersaß. Jetzt hatte sie die Rückfront im Blick. Sie sah eine niedrige Mauer mit einem aufgesetzten Holzzaun darüber und einer sehr dichten Hecke dahinter. Vom Haus war nur das kleine Obergeschoss mit einem halbrunden Fenster zu sehen. Alles andere war unsichtbar hinter der Hecke verborgen. Das Gebäude wirkte von hier aus nicht mehr so desolat und das Dach schien fast neu zu sein. Neben dem Zaun stand ein blaues Straßenschild. „Hoffmannvon-Fallersleben-Straße“, las sie.

Sie drehte ihren Plastikstuhl ein wenig nach links und schaute die Straße namens Hoffmann von Fallersleben entlang, versuchte sich gleichzeitig an den Namenspaten zu erinnern: deutscher Dichter, hatte das „Deutschlandlied“ geschrieben, und zwar schon Mitte des 19. Jahrhunderts, also frei jeden Verdachts, etwas mit dem braunen Reich zu tun zu haben. Das „von Fallersleben“ bezeichnete, wenn sie sich recht erinnerte, weniger alten Adel als vielmehr seinen Geburtsort. Hatte er nicht auch Kinderlieder geschrieben? War „Alle Vögel sind schon da“ eines davon? Ein wenig schämte sie sich, es nicht genauer zu wissen, schließlich hatte sie im Zweitfach Germanistik studiert. Na ja, das war Jahre her und danach war sie fast nur noch mit dem Englischen befasst gewesen.

Zu beiden Seiten der kurzen Straße standen gewaltige Laubbäume, die die Illusion einer schattigen Allee herstellten, von leichtem Wind und hellem Sonnenlicht mit lebendigen Lichtreflexen versehen. Rechts und links der Fahrbahn befanden sich breite gepflasterte Busspuren und Haltestellensäulen auf den Bürgersteigen. Linker Hand war ein verglastes Buswartehäuschen zu sehen.

Ein ohrenbetäubendes Sirenengeräusch riss sie aus der eben noch als so stadtfern und fast beschaulich empfundenen Ruhe. Alma wandte den Kopf und schaute zurück zur Fahrstraße, die hinter einem breiten Bürgersteig und einem durchgehenden Geländer verlief. Dort tobte das pralle Verkehrsleben, momentan kurz gehindert von einem durchrasenden Krankenwagen mit Blaulicht.

„So, Ihr Essen. Holger hofft, dass es Ihnen schmeckt. Guten Appetit!“

Alma drehte sich erneut mit dem Plastiksessel und sah auf dem Tisch vor sich „ihr Essen“. Auf einem großen flachen Teller, der sie eher an ein Sternerestaurant erinnerte, lag eine Bulette neben einer Portion frisch aussehenden Feldsalats – Rapünzchen, wie Oma immer gesagt hatte. Mehrere Scheiben Weißbrot, ungetoastet, aber innen zart mit knusprig brauner Kruste darum lagen in einem Körbchen auf einer Stoffserviette. Es duftete verführerisch und sie musste gleich davon kosten. Sie suchte das Besteck und fand es, ebenfalls in einer Stoffserviette, neben ihrem Teller.

Alma schaute ungläubig zum Schalter, aber niemand war zu sehen. Sie begann zu essen. Die auf den ersten Blick unauffällige Bulette erwies sich als kleine Köstlichkeit. Das Innere war von zarter Beschaffenheit und enthielt neben dem, was von einer Bulette erwartet werden konnte, Hackfleisch, Semmel, Ei und Kümmel, offensichtlich weitere Ingredienzien: Alma schmeckte Knoblauch, Kräuter und einen Hauch Schärfe, Tabasco vielleicht? Oder Senf? Dann sah sie winzige rote Pünktchen, die ohne Zweifel auf die Verwendung von frischer Chilischote hinwiesen – die Bulette war ein Ereignis. Das ebenfalls unverdächtig daherkommende Häufchen Feldsalat stand seiner Nachbarin auf dem Teller in nichts nach. Es war mit einem Dressing versehen, in dem sie winzige, knusprig gebratene Speckwürfel und sämig geriebene Kartoffel schmeckte. Obwohl inzwischen sehr hungrig, aß sie mit Bedacht und Genuss. Alma hatte im Lauf der Jahre eine ehrfurchtsvolle Liebe zu gutem Essen entwickelt, und hier fühlte sie sich einer verwandten Seele nahe. Aber wo war diese Seele? Steckte sie in Holger und in den Tiefen des Busbahnhofskiosks?

„Bockwurst mit Semmel und ’nen großen Kaffee, Moni!“, erklang eine dröhnende Bassstimme hinter ihr. Alma schaute auf und sah einen weiteren Gast am Schalter stehen – ein Bär von einem Mann, Mitte dreißig, Schwergewicht. Er trug ein hellblaues Hemd, das über seinem enormen Bauch spannte, und einen perfekt gebundenen gestreiften Schlips unter einer dunkelblauen Windjacke, an deren Ärmel ein buntes Schild aufgenäht war. Das war zweifellos ein Busfahrer, Stammgast sicher, einer der hier rechtens sein zweites Frühstück oder auch schon sein Mittagessen bestellte.

„Alles klar, Mirko! Kaffee kommt, Bockwurst braucht noch zwei Minuten.“

Mirko war mit dem zeitlichen Ablauf am Schalter offenbar vertraut und nicht ungeduldig. Ein kurzes Nicken in Almas Richtung, danach wurde die randvolle Kaffeetasse zum Stehtisch balanciert, eine Zigarette angezündet und das Handy herausgeholt. Alma nickte zurück, aber Mirkos Aufmerksamkeit war bereits bei seinem telefonischen Gesprächspartner.

„Hat es Ihnen geschmeckt?“ Alma wandte den Kopf und schaute zu einem jungen Mann in weißer Kochjacke, der hinter dem Schalter stand und sich ein wenig herauslehnte. Er schien breitschultrig, hatte dunkle lockige Haare, ein rundes Gesicht und ein offenes Lächeln.

„Das war ein sehr luxuriöses Mahl. Ich habe lange nicht mehr so etwas Einfaches – hm, Bodenständiges, meine ich, Sie verstehen mich bitte nicht falsch – so toll zubereitet gegessen. Ehrlich, es war ein Genuss!“ Alma hörte sich sprechen und erkannte sich nicht wieder. Ein Gespräch am Imbissstand zu führen – undenkbar war das normalerweise für sie. Alma die Unnahbare, oder Alma die Verschlossene, das waren, wie sie wusste oder Grund hatte zu vermuten, Attribute, die man ihr gern nachsagte.

Der Koch wurde tiefrot und sein Lächeln breiter. Inzwischen war seine Kollegin mit Mirkos Bockwurst nach draußen gekommen. Sie stellte den Teller vor den noch immer telefonierenden Busfahrer, lehnte sich dann neben den Schalter und sagte mit einem Stolz, der offensichtlich vor allem Holger galt: „Wir haben für Sie unser Spezi von heute serviert – Holger, wie nennt es sich doch gleich?“

„Boulette Spéciale de Pays – vom Lande, wegen des Feldsalats. Aber das ist eher für mich und Moni hier, aus Spaß, wissen Sie.“

Moni übernahm das Wort: „Also, das ist so. Ich und Holger haben vor einem halben Jahr den Kiosk übernommen. Holger hat richtig auf Koch gelernt und war nach der Lehre in mehreren teuren Hotels – sogar in der Schweiz! Ihm hat’s aber nicht gefallen, war ihm alles zu fein. Jetzt haben wir zwei den Imbiss, und Holger macht zum Essen eigentlich das Übliche – Bowu/Brötchen, Bowu/Majo, dasselbe mit Roster, dann Soljanka, belegte Brötchen, so was halt. Geht immer gut. Ja, also … und dazu macht er jeden Tag noch das Spezi, ein Spezialessen sozusagen, wo er sich kochlich austobt. Heute war’s Bulette mit Feldsalat, gourmetmäßig aufgerüscht.“

„Unsere Normalos versorg’ ich mit dem Üblichen – die wollen das, was sie immer hatten, und keine Experimente“, unterbrach sie Holger und machte eine Kopfbewegung in Mirkos Richtung. „Aber ehrlich, wir sind hier in Weimar. Auf klassischem Boden, sozusagen. Da muss doch außer Bockwurst und Bratwurst noch mehr drin sein, da muss Goethen und Schillern irgendwie Ehre angetan werden, oder? Na, und da dachte ich, mach ich noch täglich ein Spezialgericht. Fast jeden Tag kommt jemand, der aussieht, als ob er – oder sie, Sie wissen, wie ich’s meine – offen ist für was Besonderes. Dann gibt’s Holgers Spezi. Sie waren heute mein Spezi-Gast. Das hat Moni gleich gesehen. Schief gehen konnte es natürlich noch, Sie hätten ja Vegetarier sein können. War aber nicht, oder?“

„Zum Glück nicht“, antwortete Alma und stellte das Geschirr zum Abräumen zusammen.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche, aber ich glaube, wir sind verabredet. Sie sind Frau Alma Winter?“

From: Alma Winter

To: Benjamin Lenk

Sent: Thursday, April 29, 2004 9:56 PM

Subject: Termin Weimar

Sehr geehrter Herr Dr. Lenk,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 26.04.2004.

Hiermit bestätige ich den von Ihnen vorgeschlagenen Termin Montag, 10. Mai 2004, 11:30 Uhr für die Besprechung in Ihrer Kanzlei in Weimar, Lincolnstraße 32.

Mit freundlichen Grüßen

Alma Winter

From: Benjamin Lenk

To: Alma Winter

Sent: Friday, April 30, 2004, 8:06 AM

Subject: Re: Termin Weimar

Sehr geehrte Frau Winter,

vielen Dank für die Terminbestätigung.

Ich schlage allerdings vor, dass wir uns zunächst unmittelbar an der Adresse Erfurter Straße 1 treffen. So kann ich Ihnen vor unserer Besprechung das Gebäude zeigen, das Bestandteil des Erbes ist. Wir verbleiben bei dem von Ihnen bestätigten Termin 10.05.2004, 11:30 Uhr.

Ich werde mir erlauben, Ihnen eine Übernachtung zum 11.05. in Weimar im Hotel Liszt zu reservieren, so dass Sie vor Ort hinreichend Gelegenheit zu Besichtigung und Information haben.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Benjamin Lenk

Rechtsanwalt

Kanzlei Rottloff und Kollegen

Weimar

Ein hochgewachsener Mann in grauschwarzem Anzug stand in einigem Abstand vom Schalter auf der Verkehrsinsel. Er hatte kurze dunkle Haare und trug eine Brille mit getönten Gläsern. Auf dem Bürgersteig neben dem Haus stand jetzt ein schwarzer BMW.

Alma schaute den Riesen an und nickte. „Und Sie sind … Rechtsanwalt Dr. Lenk? Waren wir nicht vor einer halben Stunde verabredet?“

Herr Lenk erschien keineswegs verlegen und antwortete kühl: „Ich bedaure die Verspätung außerordentlich. Mein Sohn hatte einen kleinen Unfall. Leider waren Sie nicht auf dem Handy zu erreichen, ich habe es mehrfach versucht.“

Alma erinnerte sich sofort, dass sie ihr Handy im Zug demonstrativ aus der Handtasche genommen und abgestellt hatte, als ein Mitreisender ihr gegenüber sein drittes Telefonat in Serie begonnen und ihre vernichtenden Blicke konstant ignoriert hatte. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann.

„Ihrem Sohn ist doch hoffentlich nichts Schlimmes passiert?“

„Nur ein Sturz von der Schaukel. Aber zur Sicherheit sind wir doch in die Klinik zum Röntgen gefahren, auch, um die Kindergärtnerinnen zu beruhigen. Na, und die Schürfwunden an Knie und Ellenbogen wurden danach in der Ambulanz von ihrem Besitzer stolz vorgezeigt und von der Schwester aufwendig verbunden. Jetzt ist Paul wieder im Kindergarten und …“

„Und sicher der viel beachtete Mittelpunkt mit seinen Verbänden“, unterbrach ihn Alma.

Herr Lenk nickte mit der Andeutung eines Lächelns. „Also dann noch einmal von vorn: Willkommen in Weimar, Frau Winter. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Es ist gut, dass wir uns gleich hier, am locus delicti sozusagen, treffen. Ich sehe, Sie sind vor dem Verhungern bewahrt worden. Dann lassen Sie uns doch gleich zur Sache kommen. Darf ich mich Ihres Koffers annehmen?“

Er machte Anstalten, sich des Koffergriffes zu bemächtigen, doch Alma schüttelte den Kopf.

„Einen Moment, Herr Lenk. Ich muss noch schnell für den Gourmetimbiss bezahlen.“

Der Anwalt schaute irritiert von Alma zum Schalter, ließ aber den Koffer gehorsam stehen. Alma zahlte und sagte mit dem Anflug eines Lächelns zu Moni und Holger: „Toll – aber irgendwie kaum zu glauben! Auf Wiedersehen!“

„Immer gerne“, antwortete Moni, nickte ihr zu und musterte dabei den BMW samt seinem Besitzer argwöhnisch.

„Jetzt können wir. Und glauben Sie mir, ich bin schon sehr gespannt.“

Alma wollte nach ihrem Koffer greifen, aber Herr Lenk war schneller.

„Ich schlage vor“, sagte er, „wir verstauen Ihren Koffer im Auto und besichtigen zunächst das Haus. Danach fahren wir in die Kanzlei und besprechen alles Notwendige. Sie haben dann bereits einen ersten Eindruck vom Gegenstand der Nachlasssache und können mithilfe der Informationen, die Sie von mir erhalten, erste Überlegungen anstellen. Ich darf Ihnen meine Karte geben?“

Alma nahm die Visitenkarte. „Benjamin Lenk, Rechtsanwalt, Kanzlei Rottloff und Kollegen, Rechtsanwälte und Notare“ las sie.

Als sie aufblickte, ging Herr Lenk bereits auf das Haus zu. Alma beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Er zog einen Sicherheitsschlüssel aus der Hosentasche und bog um die Ecke in Richtung Hauseingang.

„Vorsicht!“, wollte Alma noch rufen, aber sie sah, dass auf dem Bürgersteig neben der Ampel im Moment keine Gefahr drohte, alles stand auf Rot und nichts bewegte sich.

KAPITEL 2

Im Zug von Berlin nach Weimar hatte Alma die beiden Briefe mehrmals aus dem Rucksack geholt und durchgelesen. Doch das Schreiben des Nachlassgerichts sagte ihr ebenso wenig wie das der Anwaltskanzlei.

Sicher, sie erinnerte sich an Onkel Ewald, der eigentlich der Onkel ihrer Mutter gewesen war. Damit war er ihr Großonkel, oder? Und der Bruder ihrer Oma, oder der Halbbruder? In Omas Familie gab es, so fiel ihr wieder ein, einige „Brüche“, wie ihre Mutter bisweilen mit verschmitztem Lächeln zu bemerken pflegte. Oma hatte auch zwei unterschiedliche Familiennamen besessen, bevor sie Opa heiratete, einen als Kind und einen als junge Frau. Das hatten die Kränzchentanten einmal ausgeplaudert, als Alma bei Oma war. Opa lebte zu dieser Zeit wohl schon nicht mehr.

Omas Mutter, also auch Onkel Ewalds Mutter, hieß auch Alma und war, so der einhellige Tenor aller Erzählungen „von früher“, eine wunderbare Frau und exzellente Köchin gewesen. Sie hatte im Haus des Direktors einer bekannten Porzellanfabrik in Thüringen gedient und gekocht, woran ein Großteil des guten Geschirrs in Omas Büfett erinnerte. So war Almas Vorname eigentlich feinsten menschlichen Ursprungs, was sie allerdings in ihrer Kindheit nicht immer anzuerkennen imstande war. In einer Zeit, in der die Mädchen Angela, Jacqueline (Schacklin gerufen und auf der ersten Silbe betont) oder Mandy hießen, hätte Alma lieber auch einen „modernen“ Namen gehabt. Später allerdings, als die Generation der Paulas, Lucies und Marias heranwuchs, war sie als Alma unauffällig geworden.

Onkel Ewald, daran erinnerte sie sich inzwischen, war „ein hohes Tier“, das jedenfalls pflegten Opa und Oma von ihm zu sagen. Ab und zu war sein Name in der Zeitung zu lesen, manchmal sogar neben oder unter einem Bild. Auf den Fotos stand Onkel Ewald an einem Rednerpult oder schüttelte anderen Männern die Hand, immer in Schlips und Anzug. Sein wallender weißer Haarschopf hob ihn meist aus den älteren und schütteren Köpfen hervor.

Nachdem ihre Großeltern gestorben waren, hatte es keines der großen Familienfeste mehr gegeben, bei denen sich die Generationen trafen. Und nach dem Tod ihrer Mutter hatte Alma nichts mehr von Onkel Ewald gehört. Sicherlich war er nach der Wende auch aus den Zeitungsberichten verschwunden, aber das vermutete Alma mehr, als sie es wusste. Sie war nach Göttingen zum Studium gegangen und hatte ihr Leben an anderen Orten weitergelebt. Nach Thüringen war sie seit Jahren nicht mehr gekommen.

Dass sie jetzt seine Erbin sein sollte, war schwer zu glauben. Kinder hatte Onkel Ewald nicht gehabt, das stimmte, aber Tante Lise war doch seine Frau gewesen, oder? Möglicherweise war sie aber vor ihm gestorben, offensichtlich sogar. Und wieso besaß Onkel Ewald ein Haus in Weimar? Ein „Torhaus“? Er hatte doch immer in der Bezirksstadt gelebt, in seiner großen Blockwohnung im neunten Stock, mit Fahrstuhl, wie Oma nicht ohne Neid zu erzählen wusste.

Onkel Ewald war gestorben, vor vielen Wochen schon. Es hatte wohl gedauert, bis das Nachlassgericht sie, Alma, ausfindig gemacht hatte. Die Kanzlei Rottloff und Kollegen, Rechtsanwälte und Notare, war mit der Abwicklung der Formalitäten betraut worden und hatte sie nach Weimar eingeladen. Dort, so hoffte sie, würde sie auch etwas mehr über Onkel Ewalds letzte Lebensjahre und die Umstände seines Todes erfahren.

Alma faltete die beiden Briefe wieder zusammen und verstaute sie in ihrer Handtasche. Die letzte Station war Naumburg gewesen, die nächste würde Weimar sein, Zeit also, Buch und Zeitungen zu verpacken, den Mantel überzuziehen und sich ins Abenteuer einer rätselhaften Erbschaft zu stürzen.

Benjamin Lenk drehte den Schlüssel im Schloss der Eingangstür zweimal um und öffnete das Haus. „Ich gehe voran, es ist alles etwas … nun, unwirtlich, um es vorsichtig auszudrücken. Vorsicht, nicht stolpern, es liegt einiges herum.“

Er stieg mit großen Schritten über mehrere Kartons und Müllsäcke.

„Das Haus hatten bis zum Ende des Semesters noch Studenten angemietet, als Arbeitsräume und manchmal auch für diverse Feiern, vermute ich. Das war alles noch über Ihren Onkel, Herrn Arnheim, gelaufen. Die Studenten sind inzwischen ausgezogen, haben aber nicht alles wegschaffen können. Die Diplomarbeiten, die Prüfungen, die Partys – na, Sie können sich das vorstellen. Irgendwann demnächst wollen sie die Reste entsorgen, das haben sie mir versprochen.“

Alma schaute sich um. Sie standen in einem kleinen Flur, von dem nach rechts und links geräumige Zimmer abgingen. Sie hatten keine Türen, und statt der Zwischenwände standen nur noch die Stützbalken. Die waren schön dick, Eiche vielleicht, und sahen gut erhalten aus. Alma betrat das linke Zimmer. Es war tatsächlich erstaunlich groß. Durch vier Fenster kam ausreichend Licht nach innen, eines davon ließ im Moment Sonnenstrahlen herein. Alma ging durch den Raum und schaute nach draußen, zuerst zur Ampelkreuzung, dann zum Bürgersteig mit BMW und zuletzt zur Hecke, hinter der sich der Busbahnhofskiosk befinden musste. Doch davor – Alma bekam große Augen – sah sie einen winzigen Garten, der zwar vollkommen verwildert war, aber, umschlossen von der mannshohen Hecke, einen verwunschenen Eindruck machte.

„Das Torhaus hat eine interessante Geschichte, vielleicht haben Sie ja die Tafel neben der rechten Säule bereits gelesen?“

„Nein, habe ich nicht“, erwiderte Alma und konnte den Blick nur schwer von dem kleinen Garten wenden. „Ich vermute, es war irgendwie ein Tor in einer früheren Stadtmauer?“

„Nicht ganz. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde die Stadt entfestigt, das heißt, die Stadtmauer wurde im Wesentlichen abgerissen. Trotzdem sollten ja an den großen Zufahrtsstraßen, zum Beispiel der Erfurter Straße von Westen, weiterhin Chaussee- und Pflastergelder kassiert werden. Die später gebauten Torhäuser dienten dem Wachpersonal als Unterkunft. Dieses hier wurde vom Architekten Clemens Wenzeslaus Coudray gebaut, der zur Goethezeit hier lebte und so etwas wie der Chefarchitekt des Großherzogs Carl August war. Später war das Gebäude Stationsgebäude der Berkaer Bahn. Einen Berkaer Bahnhof gibt es übrigens heute noch in der Erfurter Straße, einige Hundert Meter von hier.“

Gut vorbereitet, dachte Alma. Sie löste sich vom Blick in den Garten und folgte Benjamin Lenk in das gegenüberliegende Zimmer. Es schien spiegelgleich, hatte aber statt der Fenster in der Längswand eine Tür. Der Anwalt öffnete sie und zeigte ihr einen weiteren recht großen Raum. Hier gab es allerdings nur kleine Fenster, alles schien dunkler und roch auch ein wenig muffig.

„Irgendwann wurde dieser Anbau errichtet, zu welchem Zweck auch immer. Ich sehe, Sie riechen es auch, ist wohl der Zahn der Zeit. Vielleicht hilft ja kräftiges Lüften.“

Alma wollte schnell noch zurück zum zweiten Gartenblickfenster gehen, aber ihr Torhausführer war schon nicht mehr zu sehen.

„Kommen Sie, wir schauen noch ins Obergeschoss. Hier, die Treppe hinauf, aber seien Sie vorsichtig, bei dem Geländer bin ich mir nicht so sicher!“

Eine Holztreppe mit einem schön geschwungenen, wenn auch sehr staubigen Geländer führte nach oben. Auf dem oberen Treppenabsatz sah Alma eine Kochplatte auf einer Art Küchenschrank, hier hatten die Studenten wohl gekocht. Sie schaute nach links und holte tief Luft. Wow! Ihr Blick fiel in ein Dachzimmer, mit schrägen Wänden an beiden Seiten und einem wunderschönen breiten Bogenfenster an der Stirnwand. Durch die Scheiben war eine gelbe Hausfassade mit mehreren Fensterreihen zu sehen – das musste die Erfurter Straße mit der Ampelkreuzung sein. Nur wenig leiser als vorher hörte sie die Geräusche der vorbeifahrenden Autos und erneut den Klang einer Sirene. Entweder hatte Weimar ein hohes Unfallrisiko, dachte sie erstaunt, oder eine schnelle Polizeitruppe oder beides.

Sie blickte sich im Zimmer um. „Schauen Sie doch, hier sind noch Wandöffnungen auf jeder Seite, sieht fast aus wie Geheimtüren. Wo die wohl hinführen? Können wir sie öffnen?“ Alma ging auf eine der beiden Brettertüren zu.

„Vorsicht, lassen Sie mich versuchen. Hier muss man mit allem rechnen.“

Benjamin Lenk drückte die rostige und wackelige Klinke vorsichtig nach unten und schob die Tür auf. „Ich sehe nicht viel, ist wohl eine Bodenkammer. Oder das Refugium der Hausmäuse, wer weiß?“

Alma lachte. „Am besten, Sie lassen mich mal einen Blick … na gut, man sieht nicht viel. Aber wer weiß, was die Torwächter hier hinterlassen haben?“

„Liebe Frau Winter, es steht leider eher zu befürchten, dass es sich um Hinterlassenschaften der Studenten handelt. Aber das wird sich mithilfe einer Taschenlampe – die ich jetzt nicht bei mir habe – später verifizieren lassen. Ich wollte Ihnen ja zunächst einen ersten Eindruck vermitteln.“

Er zog die Tür zu und ging zur gegenüberliegenden Wand. Die dort befindliche Tür ließ sich nicht öffnen. „Irgendwer wird einen Schlüssel haben. Ich kümmere mich, Frau Winter.“

Alma bemerkte, dass der Anwalt nicht sehr diskret auf seine Armbanduhr schaute, und folgte ihm mit Bedauern die Stufen hinab. Am Fuß der Treppe hielt sie jedoch inne und schaute zu Benjamin Lenk auf: „Aber in den Garten können wir doch schnell noch gehen?“

„In den Garten? Ah, Sie meinen den verwilderten Hinterhof – da muss ich sehen, ob der Schlüssel passt.“ Er versuchte es mit dem einzelnen Sicherheitsschlüssel, aber Alma sah gleichzeitig mit ihm, dass es sich um einen alten, stark angerosteten Türbeschlag handelte.

„Ich kümmere mich auch darum, Frau Winter. Nachher rufe ich gleich einen der Mieter an, das muss sich ja irgendwie klären. Auch das Fahrrad vor der Haustür sollte doch irgendeinen Besitzer haben. Glauben Sie, dass Sie fürs Erste genug gesehen haben? Hinreichend eingestaubt sind wir beide auf jeden Fall.“ Damit musterte er seine grau überzogenen Schuhe und klopfte ein wenig an seinem Jackett herum.

Alma hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie ließ ihren Blick nochmals umherschweifen und sah jetzt, in welch schlechtem Zustand sich alles befand, sowohl die fleckigen Wände und Decken als auch die brüchigen Fensterrahmen, Fußböden und Türen. Und trotzdem – tapfer durchgehalten, mein Torhaus, dachte sie bei sich, drehte sich um und folgte dem Anwalt nach draußen.

Die Anwaltskanzlei Rottloff befand sich in einer Stadtvilla. Dr. Lenk parkte das Auto auf einem Hof mit mehreren Stellplätzen und einer kleinen, offenbar frisch bepflanzten Grünanlage mit Büschen und jungen Bäumen. Sie betraten das Haus, in dem sich die Kanzleiräume im Erdgeschoss befanden. Benjamin Lenk öffnete eine Tür und ließ Alma vor sich eintreten. Dies war wohl das Vorzimmer der Kanzlei.

„Na, wie geht es denn unserem Paul, Herr Lenk?“

Die Frau, die gerade aus einer weiteren großen Tür mit ebenfalls zwei Flügeln ins Zimmer trat, erschien Alma wie der Inbegriff der Anwaltssekretärin. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit weißer Bluse, schwarze Schuhe mit kleinem Absatz, eher bequem als modisch, und war tadellos frisiert.

„Alles im grünen Bereich, Frau Rottloff. Ein paar Schrammen, die sind jetzt schön blütenweiß verbunden, und einen tüchtigen Schreck, mehr hat er zum Glück nicht davongetragen.“

„Na, da soll er in den nächsten Tagen unbedingt mit Papa bei uns vorbeischauen, das muss doch alles haarklein berichtet werden. Und wir wollen es aus erster Hand, nicht wahr, Jörg?“

„Unbedingt“, erklang eine Stimme aus dem Hintergrund. Sie gehörte zu einem schlaksigen jungen Mann in dunkler Anzughose und hellgrauem, exakt gebügeltem Hemd, der der Schule noch nicht lange entwachsen sein konnte. Er trug eine Krawatte, die man nur abenteuerlich nennen konnte – Regenbogenfarben mit aufgedruckten Gegenständen. Alma konnte Autos, Bohrmaschinen, Hämmer und Schrauben erkennen.

„Darf ich vorstellen, Dr. Rottloff, Senioranwältin dieser Kanzlei – Frau Winter, unsere Klientin in der Torhaussache. Und Jörg Vollmer, unser Anwaltssekretär. Nun ja, es nennt sich heute anders, wie doch gleich, Jörg?“

„Rechtsanwaltsfachangestellter. Aber, Sie wissen doch, Dr. Lenk, Anwaltssekretär ist schon in Ordnung – passt auch gut zu unserer holzgetäfelten Kanzlei. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Frau Winter, Tee, Kaffee, Wasser? Oder Kombinationen davon?“

Alma war erleichtert über den freundlichen und lockeren Ton, mit dem sie begrüßt wurde. Sie lächelte dem jugendlichen „Sekretär“ zu, bat um Kaffee und Wasser und schaute zu der Frau, die als Dr. Rottloff vorgestellt worden war. Von wegen, typische Sekretärin, dachte sie, da bist du möglicherweise um ein tiefes Fettnäpfchen herumgekommen, Alma.

Die Anwältin schaute sie jetzt konzentriert an und sagte in leicht verändertem, nun recht sachlichem Ton: „Frau Winter, geben Sie doch bitte Herrn Vollmer noch Ihren Personalausweis. Darf ich Sie dann in mein Büro bitten? Herr Lenk und ich werden jetzt das Testament eröffnen. Keine Bange“, fügte sie hinzu, als ob sie Almas Anspannung spürte, „Sie müssen zunächst nur zuhören. Und glauben Sie mir, nichts Schlimmes kommt auf Sie zu. Eher das Gegenteil.“

Die letzten Worte klangen aufmunternd und weniger formell, so dass Alma innerlich noch ein wenig mehr aufatmete. Ein Tablett mit Thermoskanne, Wasserflasche, Geschirr und einem Teller mit Keksen wurde von Sekretär Jörg mit der Andeutung einer Verbeugung auf den Tisch gestellt, und Dr. Lenk bat Alma Platz zu nehmen. Er verteilte Tassen und Gläser, goss Wasser und Kaffee ein und ermunterte sie zuzugreifen. Dr. Rottloff holte indessen eine dünne Akte von ihrem Schreibtisch. Sie setzte sich gegenüber, öffnete die Akte, nahm einige lose Blätter in die Hand und begann, den Text zu verlesen.

KAPITEL 3

„Eine Bohnensuppe, und danach den Bauernsalat. Dazu nehme ich ein Wasser und ein Viertel von Ihrem Hauswein … Ja, vom Roten bitte.“

Alma saß im griechischen Restaurant am anderen Ende der Busbahnhofstraße. Es befand sich direkt gegenüber einer Kirche, die Alma am Mittag nicht aufgefallen war. Sie war wohl von den Laubbäumen verdeckt gewesen.

Der Platz unmittelbar vor der Kirche, war eher eine verbreiterte Fahrbahn und Alma hatte Mühe gehabt, eine Lücke im lebhaften Feierabendverkehr zu finden, um wieder in die Hoffmannvon-Fallersleben-Straße zu gelangen. Das Kirchenportal war geöffnet gewesen, aber Alma hatte nach einem kurzen Blick ins Innere beschlossen, sich später etwas mehr Zeit für die Besichtigung zu nehmen. „Herz-Jesu-Kirche“ hatte sie im Schaukasten mit den Ankündigungen noch gelesen, und dass es eine katholische Kirche war. Alma war jetzt stärker von dem schneeweißen antiken Torbogen angezogen worden, der – auf Gasbetonsteinen ruhend – den Eingang des Restaurants umrahmte. Immerhin, hatte sie gedacht, so wusste man schon von Weitem, welche Küche einen erwartete.

Jetzt saß sie im gemütlichen Erker der Gaststätte, und Wein und Wasser waren inzwischen gebracht worden. Außer ihr war nur ein weiterer Gast da, der sich gerade angeregt mit dem Wirt, oder Kellner, unterhielt – wohl einer der Stammgäste. Alma saß plötzlich ganz still und ihr wurde erneut ein wenig schwindlig bei dem Gedanken an das, was ihr heute passiert war. Nun gut, passiert im eigentlichen Wortsinn war nichts, aber geschehen schon, ihr geschehen nämlich.

Dr. Rottloff und Dr. Lenk hatten ihr in Einzelheiten erläutert, was in dürren juristendeutschen Sätzen in jenem Brief stand: Sie hatte geerbt. Sie war Ewald Arnheims Alleinerbin. Sie hatte ein Haus in Weimar geerbt, das Torhaus in der Erfurter Straße Nummer eins.

Dem Verlesen des Testaments hatte sie zwar akustisch folgen können, aber der Text enthielt neben verständlichen Teilen solche, deren Sinn sie entweder nur ahnen konnte oder überhaupt nicht verstand. Die beiden Anwälte hatten Almas Fragen danach geduldig beantwortet.

Sie würde Besitzerin des Torhauses werden. Zum einen bestünde das Erbe aus einem Geldfonds, aus dem sie Zahlungen erwarten dürfe. Ja, dies würden regelmäßige Zahlungen sein, die für eine festgelegte Zeitspanne ihren Unterhalt absicherten. Eine Art Gehalt. Zum anderen würden dies unregelmäßige, zweckgebundene Zahlungen sein, die sie nach Belieben und Notwendigkeit abrufen könne. Der Zweck war die vollständige und sorgfältige Restaurierung des Torhauses. Richtig, das würde für absehbare Zeit ihre Aufgabe sein und dafür bekäme sie ihr „Gehalt“. Danach könne sie natürlich, wenn sie wolle, auf Lebenszeit im Torhaus wohnen, denn es sei ja ihr Eigentum. Die Gehaltszahlungen an sie würden nach beendeter Sanierung zwar eingestellt. Für den Unterhalt des Gebäudes, für später notwendige Reparaturen und bauliche Maßnahmen allerdings sei finanziell vorgesorgt, da müsse sie sich keine Sorgen machen.

Die Kanzlei stünde ihr außerdem als juristische Begleitung bei Bedarf zur Seite (Vertrauen weckender Blick aus zwei Anwaltsaugenpaaren). Auch dafür sei die Kostenfrage bereits mit dem Testament geklärt. Ihr Ansprechpartner wäre Dr. Lenk, und sie möge in allen Fragen und bei allen möglichen Problemen nicht zögern, ihn anzusprechen.

Ihr Gehalt würde der Aufgabe angemessen bestimmt. Ewald Arnheim hätte diesen Aspekt in die Hände der Kanzlei gelegt, um auf Veränderungen reagieren zu können, die Zeit und gegebenenfalls Inflation nach Abfassung des Testaments mit sich gebracht hätten und noch bringen könnten. Dr. Rottloff hatte eine Summe genannt, die sie ob ihrer komfortablen Höhe kurz schlucken ließ. Zwar hatte Alma versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie war sich sicher, dass ihr anschließendes tiefes Luftholen nicht unbemerkt geblieben war.

Über ihren Onkel könne man ihr über die Aktenlage hinaus nicht viel mehr sagen. Seine letzte Postadresse sei Weimar gewesen. Das Testament sei auch in dieser Kanzlei, die gleichzeitig Notariat war, hinterlegt worden, die letzte Fassung Ende der neunziger Jahre. Damals habe der Vater der Anwältin, Dr. Rottloff Senior, die Kanzlei noch geführt. Vielleicht erinnere er sich ja an Einzelheiten. Bei Wunsch könne man bei ihm anrufen und Alma gegebenenfalls einen Termin vermitteln. Alma hatte bei „Wunsch“ heftig genickt.

Und, das solle sie immer vor Augen haben, natürlich könne sie die Erbschaft ausschlagen. Es gäbe da eine gesetzlich bestimmte Frist, die ihr das Nachlassgericht mitgeteilt hätte. Für diesen Fall wären im Testament weitere Vorkehrungen getroffen, die mit ihr, Alma, allerdings nicht besprochen werden müssten.

„Die Bohnensuppe – und guten Appetit!“

Alma dankte dem Wirt und widmete sich dem Essen. Es war eine dunkelrote kräftige Suppe mit großen weißen Bohnen darin. Dazu gab es Weißbrot. Sie nahm einen weiteren Schluck vom Rotwein und spürte, wie der Alkohol wirkte und ihr ein Gefühl von Wärme und nunmehr wohligen Schwindels vermittelte.

Genau genommen war das vermeintliche Problem doch ein ganz angenehmes, dachte sie, während sie die Suppe löffelte. Sie würde für die Zeit der Sanierung keine Geldsorgen haben. Sie hätte eine Aufgabe, von der sie allerdings im Moment keinerlei konkrete Vorstellung besaß. Nun, das würde sich zeigen. Ein denkmalgeschütztes Gebäude wäre zu sanieren, da sollten doch Fachleute und Handwerker zu finden sein, die das in ihrem Auftrag und mit Onkel Ewalds – nein ihrem, Almas – Geld würden erledigen können.

Sie malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie in das fertige Haus einziehen könnte. In ihr eigenes Haus! Das Zimmer im Obergeschoss würde ihr Schlafzimmer werden. Nun gut, ein Vorhang vor dem Fenster würde sich nötig machen, die Bewohner des gegenüberliegenden Hauses hätten sonst ungehinderte Sicht in ihr Allerheiligstes. Unten würde sie eine große offene Wohnküche einrichten, mit einer Kochinsel, wenn es der Platz zuließe, und einem großen Tisch für viele Gäste. Solche Küchen sah man in Zeitschriften, mit modisch gekleideten schlanken Frauen am Herd, oder neuerdings auch öfter mit gut aussehenden Mittdreißigern männlichen Geschlechts, die ihrer Liebsten – in mutigen Einzelfällen ihrem Liebsten – oder wahlweise einer Gruppe fröhlicher Freunde zulächelten und gleichzeitig mit den frischsten und buntesten Zutaten etwas Exotisches kochten.

Wie beim Stichwort genommen brachte der Wirt ihren Bauernsalat, einen großen Teller mit verschiedenen Blattsalaten, Paprika, Tomaten und Gurke, bedeckt mit einer Schicht geraspeltem Schafskäse.

„Darf ich Ihnen noch einen Rotwein bringen?“

„Sie dürfen“, antwortete Alma fröhlich.

Ihre Beklemmung von vorhin schien wie weggezaubert, sie fühlte sich leicht und zuversichtlich. Sie aß den Salat und wischte mit Brot einen Rest Dressing vom Teller. Als die zweite Karaffe mit Wein kam, befiel sie für einen Augenblick die Einsicht, dass sie sich gerade kräftig betrank. Aber sie hatte doch eine gute Grundlage, sogar mit Vorsuppe und viel Brot, da konnte wohl nichts passieren.

Wie war doch gleich der Stand ihrer Planung? Ah ja, sie war im Erdgeschoss. Im Raum gegenüber der Küche würde sie eine Art Wohn- und Arbeitszimmer einrichten, am liebsten mit einigen Designermöbelstücken, schließlich war sie der Wiege des Bauhauses jetzt nahe, verpflichtete das nicht? Ein Bad müsste noch irgendwo untergebracht werden, vielleicht im Anbau, da schien reichlich Platz zu sein.

Ach, und der Garten! Das würde der allerschönste Teil des Projekts Wohnen im Torhaus werden, da war sie sich sicher. Eine Terrasse müsste gebaut werden, oder sollte sie nur einen gepflegten Rasen anlegen lassen, mit einigen Sträuchern, die nacheinander im Lauf des Sommers in leuchtenden Farben blühten?

Das zweite Viertel vom Rotwein war fast geschafft und sie beschloss, ihrer inneren Stimme der Vernunft zu folgen. Sie bestellte noch einen Espresso, trank ihn in zwei Zügen aus, zahlte und zog ihren Mantel über. Der muss unbedingt in die Reinigung, nahm sie sich vor. Als sie durch das Restaurant zur Tür ging, bemerkte sie mit Erstaunen, dass sich der große Gastraum fast gefüllt hatte und der Geräuschpegel erheblich war. Irgendwie freute sie sich für den Wirt.

Während sie die wenigen Schritte zum Hotel Liszt zu Fuß ging, verflog die eben noch durchlebte und durchträumte Vorfreude auf das Kommende. Du musst völlig verrückt sein, Alma, dich in ein solches Abenteuer zu stürzen, dachte sie und fühlte, wie ihr Kopf klarer wurde. Konnte sie ihr bisheriges Leben einfach so ändern? Wollte sie es?

 

„Ja?“

„Er ist gestorben.“

„Und wann?“

„Vor einem halben Jahr.“

„Hallo? Bist du noch dran?“

„Wieso erfahren wir das erst jetzt?“

„Du weißt genau, dass wir niemanden in der Stadt haben, den man da ansetzen konnte.“

„Und du? Weshalb hast du dich nicht gekümmert?“

„Ich war ein paar Mal unten. Kam nie zu was. Der war schlau.“

„Sieh zu, dass du ab jetzt schlauer bist. Vielleicht ist noch was zu machen. Auftrag verstanden?“

„Positiv. Das geht aber erst in ein paar Wochen, hatte eine OP an der Hüfte.“

„Dann mach, dass du wieder auf die Beine kommst!“

„Ich nehme einen aus der Zwo-Null-Vier mit.“

„Das überlasse ich dir. Aber liefere Ergebnisse.“

KAPITEL 4

Der Sirenenton war jetzt noch durchdringender als die anderen Male. Irgendwie hört das nicht mehr auf, dachte Alma irritiert. Gleichzeitig fühlte sie, dass sich ihr Bett in gleichmäßigem Rhythmus bewegte.

„Hallo, bleiben Sie wach, wir sind gleich …“, hörte sie eine Stimme, weit entfernt und schwächer werdend. Das wird sich alles geben, ein böser Traum dachte sie noch, beim nächsten Aufwachen ist er vergessen. Sie fühlte sich schläfrig und schloss die Augen wieder. Alles würde sich klären …

„Frau Winter! Können Sie mich hören, Frau Winter?“ Alma öffnete ihre Augen und diesmal konnte sie die Lider ganz heben. Zwei fremde Gesichter erschienen links und rechts in ihrem Blickfeld, und nach einem kurzen Augenblick konnte sie auch die dazugehörigen Körper sehen, weiß bekittelt verdeckten sie helles Licht unter einer hohen Zimmerdecke.

„Sie sind im Krankenhaus, Frau Winter. Sie hatten einen Unfall“, sprach eines der Gesichter langsam und eindringlich auf sie ein. Es war eine Männerstimme, die ruhig und unaufgeregt klang. „Wir haben Sie untersucht und versorgt. Halten Sie vor allem Kopf und Hals still, und auch den linken Arm sollten Sie im Moment möglichst wenig bewegen. Bleiben Sie ganz ruhig, Frau Winter. Schwester Silke kümmert sich um Sie.“

Gut, dachte Alma, nicht so schlimm. Ich kann sehen und hören. Ich kann – sie machte unter der Decke einige vorsichtige Bewegungen – Hände und Füße spüren. Allerdings machte ihre linke Hand eine Ausnahme, fühlte sich eher etwas taub an. Aber nicht sehr taub, nur ein wenig.

Das Bett, in dem sie lag, wurde bewegt, einen Korridor entlang geschoben und durch eine geöffnete Tür in ein Zimmer gefahren. Alma lag sehr flach und konnte nicht viel sehen. Kopf und Hals waren in eine Polsterung eingebettet und angenehm gestützt. Ihr rechter Arm lag auf der Bettdecke und fühlte sich normal an, bis auf eine Kanüle, die aus dem Arm ragte und von der ein durchsichtiger Schlauch nach oben zu einem Gefäß führte. Kochsalzlösung, dachte Alma, die vor zwei Jahren operiert worden war und sich jetzt wieder an Umstände wie diese erinnerte. Oder vielleicht ein Schmerzmittel, fiel ihr ein. Sie suchte mit den Augen ihren linken Arm und sah, dass der Unterarm in einem dicken, unbeweglichen Verband steckte. Ermüdet schloss sie die Augen. Und begann sich zu erinnern: Sie war im Haus gewesen … war hinauf in das „Schlafzimmer“ gestiegen … wollte wieder nach unten, die Treppe hinunter, die Treppe … die Treppe …

„Guten Tag, Frau Winter! Ich bin Dr. Behringer. Sie sind im Klinikum in Weimar, auf der chirurgischen Station. Sie hatten einen Unfall, sind offensichtlich aus einer größeren Höhe gefallen und haben sich verletzt. Zeitweise waren Sie bewusstlos, deshalb haben wir Sie zunächst sehr gründlich untersucht. Um Sie gleich zu beruhigen – Sie haben Glück gehabt. Wir haben keine Kopfverletzung diagnostiziert, Schädeldecke und Wirbelsäule sind ohne Befund. Am Rücken haben Sie ein paar Prellungen, ein HWS-Syndrom und ich gehe von einer Gehirnerschütterung aus. Deshalb haben wir Kopf und Hals erst einmal ruhiggestellt.“

„Und was ist mit meinem Arm?“ Alma versuchte, ihren linken Arm zu heben und hinzuzeigen, ließ ihn aber mit einem Schmerzenslaut wieder auf das Bett sinken.

„Ja, Ihr linker Arm ist gebrochen. Glatter Bruch, ist versorgt, kein Problem. Heilt in acht Wochen. Frau Winter, wissen Sie, was passiert ist?“

„Es ist mir eben wieder eingefallen. Ich muss die Treppe hinuntergefallen sein. Oder eher glaube ich, dass die Treppe eingebrochen ist, so etwas in der Art. Ich wollte mich festhalten, aber irgendwie war kein Halt zu finden. Daran erinnere ich mich. Und an die Sirene, sehr laut und nah …“

„Das hört sich doch sehr gut an, also keine relevante Gedächtnislücke, Frau Winter. Nun lassen Sie Kopf und Hals ein paar Tage Ruhe, das geht am besten bei uns hier. Na, und den Bruch können Sie dann samt Verband mit nach Hause nehmen. Wir sehen uns heute Abend noch einmal.“

„Ja, aber wie …“ Alma wollte noch etwas Wichtiges fragen, doch der Arzt war schon hinausgeeilt und hatte die Tür des Krankenzimmers fest hinter sich geschlossen.

Nach Hause …? Zu Hause war sie in Berlin. Oder besser, sie wohnte dort. Hier war sie aber doch in Weimar. Plötzlich fiel ihr ein, was sie den Arzt fragen wollte. Wie in aller Welt war sie in den Krankenwagen gekommen?

Sie war allein ins Torhaus gegangen, das wusste sie noch, hatte mit dem Schlüssel geöffnet, den ihr Benjamin Lenk im Anwaltsbüro zusammen mit einigen Papieren gegeben hatte. Sie könne ja am darauffolgenden Tag vor ihrer Abfahrt noch einmal ins Haus gehen und sich alles ganz genau und in Ruhe ansehen. Das hatte sie nach einem Frühstück am erfreulich reichhaltigen Büfett des Liszt-Hotels getan. Vorher hatte sie, rotweingestützt, gut im Hotelbett geschlafen und sich am Morgen frisch und unternehmungslustig gefühlt.

Ihren Koffer hatte sie nach dem Auschecken im Hotel gelassen und war die wenigen Schritte bis zum Torhaus gelaufen. Vor dem Busbahnhofskiosk war Moni gerade beim Geschirrabräumen gewesen und Alma hatte eine Handbewegung in ihre Richtung gemacht – ein wenig so, wie man einer Nachbarin zuwinkt, die man häufig sieht, aber nicht näher kennt. Moni hatte genickt, fast freundlich, und Alma hatte für einen Moment sogar geglaubt, ein Augenzwinkern in ihre Richtung erkennen zu können, aber da hatte sie sich wohl getäuscht. Von Holger war nichts zu sehen. Der Stehtisch war gut besucht gewesen, mehrere Busfahrer in blauen Hemden und mit Kaffeetassen standen zusammen.

Sie hatte aufgeschlossen und war dann herumgegangen, um möglichst viele Fenster zu öffnen und den muffigen Geruch hinauszulassen. Dann war sie die Treppe hinaufgestiegen, hatte das schöne halbrunde Fenster geöffnet und sich hinausgelehnt. Dabei war ihre Bluse schmutzig geworden, einer der Fensterflügel aus den Angeln gefallen und unten durch die Zugluft wohl ein Fenster zugeschlagen. Sie hatte Scherben fallen hören – oh nein, jetzt ging das Haus schon bei ihrem ersten Besuch zu Bruch – und war erschrocken nach unten gerannt. Oder wollte nach unten rennen. Sie war auf der Treppe ausgerutscht, hatte sich festhalten wollen, aber das Treppengeländer hatte ein knackendes Geräusch gemacht und war plötzlich nach links weggerutscht. Sie hatte den Halt verloren, einen scharfen Schmerz verspürt – das war es, woran sie sich erinnerte. Hatte sie bei diesem Fall aufgeschrien? Vermutlich ja, das war ihre Art. Bei Schmerzen hatte ihr schon immer kräftiges und lautes Jammern sehr geholfen.

Als Nächstes erinnerte sie sich an die Sirene. Wie war sie in den Krankenwagen gekommen? Jemand musste den Notarzt gerufen haben. Und wie war der ins Haus gekommen? Sie hatte doch sicher die Haustür hinter sich geschlossen, und die war solide, hatte außen einen Knauf und keine Klinke.

Du hast eine Gedächtnislücke, Alma. Einen Blackout, wie man sagt. Oder Amnesie? Du hast mit Sicherheit nicht nur einen gebrochenen Arm. Da ist mehr mit dir passiert, was immer der Arzt behauptet – womöglich nicht zu reparieren.

Alma legte ihren Kopf resigniert tiefer in die Halsstütze und fühlte, wie Tränen kamen, wie sie schluchzen musste, einen Weinkrampf bekam.

„Aber, aber, das wird doch alles wieder.“ Alma spürte, wie jemand ihre Hand fasste und beruhigend streichelte. Sie schaute vorsichtig auf und sah eine Frau neben ihrem Bett stehen. Sie trug ein graues T-Shirt über einer weiten Hose, stützte sich auf einen Stock und war definitiv keine Schwester. Jetzt erkannte Alma aus dem Augenwinkel, dass neben ihrem Bett ein zweites im Zimmer stand. Dem war ihre Trostfrau offensichtlich hastig entstiegen, denn die Bettdecke war aufgeschlagen und halb heruntergerutscht.

„Sie haben sicher einen Schock, da muss man weinen, das ist ganz normal. Und dann plötzlich im Krankenhaus, man weiß ja gar nicht, wie einem geschieht. Lassen Sie Ihre Tränen ruhig fließen, lassen Sie alles heraus, dann geht es gleich besser.“

Alma schluchzte noch einige Male, fühlte sich aber schon nicht mehr so elend wie noch eben. Nach wenigen Augenblicken war sie wieder klar und schaute ihre Bettnachbarin verlegen an.

Die Frau war älter als sie, „Mittelalter“ pflegte Alma sonst zu denken, über vierzig jedenfalls. Sie war schlank und hatte kurzes dichtes Haar, gut geschnitten, mit blonden Strähnen über dunklen Wurzeln. Aus ihrem sehr gepflegten Gesicht, das ebenmäßige Züge und viele kleine Lachfältchen schön machten, schaute sie mitfühlend auf Alma hinunter. Ihr Lächeln wirkte heiter und fast ansteckend. Alma lächelte zurück, sie fühlte sich erleichtert und getröstet. Wie hatte ihre Bettnachbarin gesagt? Es würde schon alles werden.

„Wir sind hier in der der Unfallchirurgie, im Zimmer 302. Ich bin Sieglinde Roth, seit zwei Tagen hier, Unterschenkelbruch und ein paar Schrammen, gut verteilt. Autounfall. War ich selber. Zum Glück nur an einem Baum vorbeigeschrammt und auf die Seite gekippt, hab keinen anderen mit hineingezogen. Darüber bin ich heilfroh, das kann ich Ihnen sagen.“

Alma fühlte ihren Herzschlag stolpern, ein kurzes Stechen in der Brust, der Atem drohte eng zu werden. Keinen anderen mit hineingezogen … Froh … Zum Glück … Ach Mama, kein Glück für dich damals. Für Sekunden wieder dieser tiefe Fall in Trauer und Wut, dann gelang es Alma durchzuatmen und sich zu fassen.

„Und Ihr Bein? Wird es wieder …?“ Ganz heil, wollte Alma sagen, unterbrach sich aber rechtzeitig. Wer wusste schon, welche medizinische Problemlage hier bestand?

„Wie ich gerade zu Ihnen gesagt habe – wird schon wieder. Jedenfalls glaube ich fest daran, und der Oberarzt hat mir gute Hoffnung gemacht – Sie wissen, wie ich’s meine“, lachte sie fröhlich, „mehr medizinisch gesehen. Schön, dass Sie schon wieder ein wenig lächeln können.“

Damit nahm Bettnachbarin Sieglinde Roth eine große Tasse von ihrem Nachtschrank und schwenkte sie ein wenig in Almas Richtung. „Kaffee, gibt’s hier auf dem Gang, jederzeit verfügbar. Soll ich Ihnen …?“

„Vielen Dank … autsch!“ Alma wollte heftig mit dem Kopf schütteln, gab es aber sofort auf. „Ich bin sonst eine richtige Kaffeetante, aber im Moment ist mir irgendwie komisch im Magen. Vielleicht später“, fügte sie hinzu, worauf Sieglinde Roth nickte, ihre Tasse und den Stock nahm und aus dem Zimmer humpelte. Alma schloss erschöpft die Augen.

„Hier ist sie, Herr Lenk!“, klang wenig später eine laute Stimme aus der Richtung der Zimmertür, die sich jetzt weit öffnete.

KAPITEL 5

Als Erstes sah Alma einen Blumenstrauß, hinter dem die Kioskfrau Moni entschlossen ins Zimmer trat und Benjamin Lenk mit einer ungeduldigen Handbewegung hinter sich hereinwinkte.

„Bin ich froh, dass es Ihnen gut geht! Wir hatten doch alle schon das Schlimmste befürchtet.“ Moni schien Almas Lage im Halskorsett und den bandagierten Arm nicht als Zeichen von Gefahr für Gesundheit oder Leben zu sehen. „Das Genick hätten Sie sich brechen können! Gut, dass mein Kleiner gerade da war. Hatte wieder Englisch geschwänzt, der Schlawiner, aber in dem Fall das reinste Glück … Herr Lenk, am besten, Sie übernehmen kurz, ich schau mal nach einer Vase und Wasser für die Blumen.“ Damit ging sie festen Schrittes in Richtung Tür, wo sie beinahe mit einer der Schwestern zusammengestoßen wäre.

„Nicht so hastig, Vasen sind in der 314 gegenüber, Tür ist offen. Frau Winter, lassen Sie mich Ihr Kopfteil ein wenig anstellen, sonst sehen Sie ja Ihren Besuch gar nicht richtig.“ Mit geübtem Griff verstellte die Schwester mit dem Vornamen Silke auf dem Namensschild den oberen Teil des Bettes ein wenig, jedoch so, dass Alma noch immer gut in ihrer Halsstütze lag. Nach einem prüfenden Blick zur Infusionsflasche, einem etwas strengeren in Richtung des Anwalts und den Worten „Aber nur kurz, die Patientin braucht noch viel Ruhe“ eilte sie aus dem Zimmer.

Alma sah Benjamin Lenk erstaunt an. Jetzt konnte sie sehen, dass er ihren Koffer neben sich stehen hatte. Der Anwalt wirkte wie schon gestern gelassen und gab ihr freundlich die Hand. „Guten Tag Frau Winter. Schön, Sie wiederzusehen, wenn auch unter diesen eher misslichen Umständen.“

Er zog zwei Stühle, die an einem Tisch neben dem Fenster standen, heran und setzte sich auf den etwas weiter von ihr entfernten.

„Sie hatten großes Glück, Frau Winter. Wie ich inzwischen erfahren habe, hat sich der Unfall so ereignet: Als Sie im Haus die Treppe hinabgestürzt sind, haben Sie offensichtlich laut aufgeschrien. Das wurde draußen am Busbahnhofskiosk gehört und Frau John ist sofort mit ihrem Kollegen und einem der Busfahrer zum Haus gerannt. Die Haustür war geschlossen und war auch nicht aufzudrücken, Sie haben sie ja gesehen, sehr stabil.“

„Aber zum Glück hatten Sie ja alle Fenster geöffnet.“ Moni, offensichtlich Frau John, war mit den Blumen, nun ordnungsgemäß in Vase und Wasser, zurück und setzte sich energisch auf den ersten Stuhl am Bett. „Nur – ich konnte da nicht hoch, bin zu unsportlich, und Bernd, der gerade den 221er abgestellt hatte, auch nicht – hat noch ein paar Pfunde mehr drauf als ich. Holger wäre rein, aber wer kommt in dem Moment angeschlichen? Mein Jüngerer, Sven, aus der Schule. 15 Jahre, klein und wendig. Hätte eine Freistunde, wollte er gerade ansetzen, da haben wir ihn schon hochgehoben und durch eins der offenen Fenster geschoben. Einmal drinnen, ist er sofort zur Haustür gelaufen, schlauer Kerl, mein Sveni, und hat uns reingerufen. Dann haben wir Sie gefunden, unten an der Treppe, Sie haben sich nicht mehr gerührt. Wir dachten schon … Na ja, jedenfalls hatte mein Sven schon die 112 gewählt und keine zehn Minuten später war der Notarztwagen da. Bernd hat Sie inzwischen auf stabile Seite gelegt und den Puls geprüft, war da, also musste er nicht auf Herz massieren. Hätte er wohl auch gekonnt, die Busfahrer müssen das ja bringen, für den Notfall …“

Moni, oder Frau John, umfasste jetzt Almas unverletzte rechte Hand. „Mädchen, Sie haben uns vielleicht einen Schreck eingejagt!“

Alma schaute Moni John an, atmete tief durch und sagte, „Ich bedanke mich bei Ihnen allen. Gut möglich, dass mich sonst niemand gefunden hätte, und alles ganz böse für mich ausgegangen wäre.“ Für einen Moment schloss sie die Augen, drückte aber gleichzeitig fest Frau Johns Hand. Dann sah sie fragend von Moni zu Benjamin Lenk.

„Ah, der Anwalt … Den haben wir dann auch noch ausfindig gemacht. Kriminalistisch, sozusagen. Holger, müssen Sie wissen, hat diese komische Sucht. Er muss sich Autonummern merken, kann irgendwie nicht anders. Das nervt oft mächtig, wenn er Nummern heruntersagt, die früh hier ihre Kinder an der Schule ausladen oder in der Wendeschleife falsch parken. Dabei bleibt’s aber, er zeigt niemanden an, wenn Sie das vermuten. Also, was wollte ich sagen …“

Anwalt Lenk hatte inzwischen mehrfach zum Reden angesetzt, kam aber nicht zu Wort.

„Ja, also, Holger erinnerte sich natürlich noch an die Weimarer Nummer vom BMW, mit dem Sie und er“ – Kopfwendung zu Benjamin Lenk – „gestern weggefahren waren. Na, und mein Sven wusste, wie man es per Telefon schafft, zu einer Autonummer den passenden Besitzer zu ermitteln. Schlau der Junge, muss man schon sagen. Leider schwänzt er gerne, heute war’s wieder Englisch. Von wegen Freistunde! Na, andererseits ein Glück!“

„Nach dem Anruf habe ich unseren Sekretär Jörg in die Spur – oder besser, auf Ihre Spur – geschickt. Er hat im Hotel nachgefragt, Sie hatten Ihren Koffer deponiert, aber nicht abgeholt. Dr. Rottloff hat Jörg sofort mit dem Auto hinuntergeschickt, der Koffer wurde geholt – und hier ist er. Wir in der Kanzlei sind ebenfalls sehr froh, dass Ihnen nichts ganz Schlimmes geschehen ist, Frau Winter.“

Alma dankte ihm, blickte danach aber ratlos von einem zum anderen. „Und nun? Wie soll es weitergehen? Ich habe mich ja noch nicht entschieden. Und der Arzt will mich mit meinem gebrochenen Arm nach Hause schicken.“

„Na, damit hat er aber sicher nicht heute und morgen gemeint! Ich vermute, Sie haben hier bis zum Ende der Woche ein sicheres Bett“, war von der Tür her zu hören.

„Sieglinde! Du bist auch hier?“ Moni John drehte sich ruckartig um, sprang auf und umarmte Almas Bettnachbarin stürmisch. „Wir haben gestern erst von deinem Unfall gehört, man schaut ja nicht jeden Tag rüber in den Laden. Heute oder morgen Abend wären wir besuchsmäßig angerückt, ist mit Horst abgesprochen. Hast ja auch Glück gehabt, oder?“ Sie musterte Sieglinde von oben bis unten und konnte von ihr gerade noch daran gehindert werden, ein Hosenbein anzuheben.

„Ja, großes Glück. Wenn ich mir vorstelle … Aber du – du rauschst hier auf die Station, führst wie immer das große Wort und übersiehst deine zweitbeste Freundin!“

„Beste, Sieglinde, beste! Aber das alles hier sind längere Geschichten, da trinken wir mal lieber ein gutes Glas Wein zusammen, wenn du wieder in Schuss bist. Und Sie sind herzlich eingeladen, Frau Winter.“

Benjamin Lenk sah zur Tür und erhob sich. „Ich denke, Sie brauchen jetzt tatsächlich etwas Ruhe, Frau Winter. Bitte machen Sie sich keine Gedanken wegen des Hauses. Wir haben eine ausreichende Frist, in der Sie sich entscheiden können. Ich fände es übrigens sinnvoll, wenn Sie nach Ihrer Entlassung aus der Klinik noch ein paar Tage in Weimar bleiben könnten. Rufen Sie bitte an, wenn es soweit ist. Oder auch vorher.“

Alma bemerkte, dass Moni John aufmerksam und wohl nicht ohne Neugier zugehört hatte. Jetzt stand sie ebenfalls auf, drückte Sieglinde noch einmal fest und reichte Alma die Hand. Und wenn Alma etwas brauche, solle sie Moni nur anrufen, die Nummer schreibe sie ihr schnell noch auf, außerdem könne sie sich vertrauensvoll an Sieglinde halten. Die sei schon damals immer Klassenbeste gewesen, wie viele Jahre ist das jetzt her, Sigi, 25? Oder noch länger? Sieglinde hätte Moni aber immer abschreiben lassen und so eine bis heute lebendige Freundschaft begründet. Also, wie gesagt, sie komme dann wieder vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, morgen Abend oder spätestens übermorgen. Jetzt müsse sie aber wirklich los, gegen Mittag wäre richtig Betrieb am Kiosk, da käme Holger ohne sie in Stress. Herr Lenk würde sie doch sicher bis zum Busbahnhofskiosk im Auto mitnehmen?

Alma schloss erschöpft die Augen. Ihr unerwarteter Besuch war gegangen und plötzlich wurde ihr bewusst, dass es für sie keinen „erwarteten“ Besuch geben würde. Sie wusste niemanden, den sie jetzt anrufen und ihm oder ihr sagen konnte: Ich hatte einen Unfall. Ich liege im Krankenhaus. Es geht mir ganz gut. Aber es hätte schlimmer kommen können. Ja, natürlich kannst du mich besuchen. Komm bitte gleich.

Sie hatte niemanden, der gleich kommen würde.

KAPITEL 6

Der Anruf hatte sie in ihrer WG in Göttingen erreicht, abends, als sie gerade aus der Bibliothek zurückgekommen war. Jule, ihre Mitbewohnerin, hatte ihr den Hörer hingehalten, „Für dich, Alma, jemand von daheim.“ Almas leichte thüringische Sprachfärbung war anfangs Gegenstand gelegentlicher gutmütiger Hänseleien in der WG gewesen, die allerdings, fast unbemerkt von allen, bald wieder aufgehört hatten.

„Sind Sie Alma Winter? … Frau Winter, hier ist die Polizeiinspektion Pößneck. Ich muss Ihnen eine sehr traurige Mitteilung machen. … Ja, es geht um Frau Marlene Winter aus Neustadt. Sie sind in Frau Winters Papieren als nächste Verwandte angegeben … Ihre Mutter? Das dachten wir uns … Ein Unfall ist geschehen, ja, Verkehrsunfall … heute Morgen … aber wir haben Sie nicht eher erreicht, unter Ihrer Nummer ist niemand ans Telefon gegangen. Ja, Ihre Mutter ist ins Krankenhaus gekommen, das heißt, sie war auf dem Weg … Glauben Sie mir, es ist alles ganz schnell erfolgt, Notarzt, Rettungswagen, der Hubschrauber war angefordert. … Nein, der Notarzt konnte nichts mehr tun … sehr schwere Verletzungen, vor allem im Kopfbereich … Ich gebe Ihnen jetzt eine Telefonnummer, an die Sie sich wenden können. Haben Sie einen Stift und Papier zur Hand? … Können Sie jetzt schreiben? … Sind Sie allein, oder kann Ihnen jemand helfen? … Ich möchte Ihnen noch mein Beileid aussprechen.“

Mehr als fünf Jahre waren seit jenem Spätherbst vergangen, an dem Alma von einem Tag auf den anderen ohne Familie war. Zurückblieb mit dem Gefühl, nur noch ein halbes Leben zu haben.

Sie schaute zur Decke über ihrem Krankenhausbett und wusste, dass die Bilder von damals wiederkehren würden. Die Fahrt nach Hause, betäubt von der Nachricht, ohne Genaueres zu wissen. Keine Vorstellung davon, was sie jetzt tun musste. Völlig unvorbereitet.