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Die Novelle „Das Trolleyproblem" verwebt die komplexen Themen Schuld, Verantwortung, Freundschaft, Verlust und Sprachlosigkeit angesichts eines traumatischen Erlebnisses während einer Musikorchesterfahrt im Jahr 2018. Das Werk adaptiert das moralphilosophische Gedankenexperiment des Trolley-Problems auf eine reale Situation interpersoneller Gewalt und beleuchtet deren langfristige Auswirkungen auf die Protagonist*innen. Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen erzählt, wodurch individuelle Bewältigungsstrategien und Erklärungsansätze tiefgehend beleuchtet werden. Poetische Elemente und fragmentierte Beschreibungen verstärken die emotionale Intensität. In der Gegenwart steht die 19-jährige Livia im Mittelpunkt, eine traumatisierte junge Frau, die sich in einer Therapie mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Trotz ihres Abiturerfolgs leidet sie unter Schuldgefühlen und psychosomatischen Symptomen. Parallel dazu wird die 20-jährige Tamar porträtiert, die am Beginn ihrer Ausbildung zur Kunsttherapeutin steht und durch einen Zufallsfund ihre vergangene Freundschaft zu Livia reflektiert. Die Betreuer Hugo und Ernst komplettieren das Bild, indem sie sich mit den Folgen ihres Nicht-Handelns während der Orchesterfahrt auseinandersetzen. Hugo fühlt sich schuldig und initiiert einen Sensibilisierungsworkshop, während Ernst zunächst abweisend reagiert und Livias Verhalten rationalisiert. Rückblenden zeigen die einst harmonische Freundschaft zwischen der 13-jährigen Livia und der 14-jährigen Tamar, ihre gemeinsame Leidenschaft für Musik und ihre Zukunftsträume. Während der Orchesterfahrt erlebt Livia ein traumatisches Ereignis durch einen Zimmernachbarn. In der Folge schließt sie sich nachts im Bad ein, unfähig zu handeln, während in einem Nachbarraum ein weiteres Mädchen bedroht wird. Die Untätigkeit der Betreuer, die Livias Hilferufe ignorieren, wird zum Symbol für gesellschaftliche Sprachlosigkeit angesichts von Gewalt und Trauma. Die Novelle untersucht, wie die Charaktere mit den Folgen ihrer Entscheidungen – oder Nicht-Entscheidungen – umgehen und welche Auswirkungen dies auf ihr weiteres Leben hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Das Trolley-Problem
Vorwort:
Einleitung zum Trolley-Problem:
Kapitel 1: Echos der Vergangenheit
Kapitel 2: Entscheidungen im Nebel
Kapitel 3: Verschlossen in der Kälte
Kapitel 4: Unsichtbare Grenzen
Kapitel 5: Grauzonen des Leidens
Kapitel 6: Weichensteller
Nachwort
Impressum
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„Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört“
(Hannah Arendt)
Diese prägnante Aussage verdeutlicht die oft tragische Realität, dass in den Momenten extremer Gewalt die Stimme als unser zumeist selbstverständlich wahrgenommenes Hauptkommunikations- und Verständigungsmittel versagt. Allein in Deutschland stieg laut dem Bundesministerium des Innern und für Heimat der Anteil der polizeilich erfassten Straftaten im Jahr 2023 um 8,6 Prozent auf 214.099 Fälle an. Zahlen, die in ihrer drastischen Dimension erschüttern und dennoch nicht der Lebensrealität von Betroffenen, Überlebenden und deren Umfeld gerecht werden können.
Viele Menschen sind bei einem akuten, überwältigenden Angriff nicht dazu in der Lage, sich verbal verständlich zu machen und selbst in Worten zu erfassen, was ihnen widerfährt. Die bedrohungsbezogene Sprachlosigkeit wird unmittelbar durch die Amygdala, einen Teil des Gehirns, der hierbei von höheren kognitiven Prozessen abgekoppelt „funktioniert“ (auch dem Gedächtnis), um automatisierte Überlebensreaktionen auszulösen, initiiert. Ausgeschüttete Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin, die körperliche Symptome wie etwa Atemnot hervorrufen, tragen ebenfalls dazu bei.
Doch diese kommunikative Ohnmacht inklusive der „Unfähigkeit“, sich in komplexen Satzstrukturen auszudrücken, endet oft nicht mit der Beendigung der Gewalt. Angst vor der Stigmatisierung oder Scham sind nur wenige, transformationsnotwendige Gründe, aus denen gesellschaftsübergreifend geschwiegen wird.
Andere Ursachen können in der Verarbeitung des traumatischen Erlebens liegen. Da die Erinnerung oftmals nicht kohärent, also ganzheitlich, gespeichert werden konnte, erleben viele Menschen belastende Erinnerungslücken. Im Falle einer Posttraumatischen Belastungsstörung drängen sich unverarbeitete Körperempfindungen und Stressoren intrusiv immer wieder auf.
Die Sprache wird hier unzulänglich, weil Wörter, die für den alltäglichen Gebrauch konstruiert wurden, niemals in einer Komplexität und Ganzheit beschreiben können, was bei einer Extrembelastung in uns vorgeht und wie sie in uns nachwirkt. Das, was sich unter Umständen ohne ein einziges Wort zutrug, bräuchte unendliche, detaillierte Ausführungen, um auch nur ansatzweise erfasst zu werden.
Diese Novelle, die sich mit Schuld(-gefühlen) und Sprachlosigkeit befasst, kann daher aus intrinsischer Genese heraus nur ein unvollständiger Versuch bleiben, das Unaussprechbare in Worte zu fassen. Livia, Tamar, Hugo, Ernst und selbst die Kamera sind zentrale Elemente einer Erzählung, die versucht, emotionale und psychologische Bewältigungsstrategien zu adressieren und deren Verhaltensvariabilität greifbar zu machen.
Ziel ist es hierbei, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Sprachlosigkeit keine Barriere für Hilfeleistungen und Unterstützung sein darf. Indem die Novelle das Bewusstsein für die Komplexität der Trauma-Auswirkungen schärft, trägt sie dazu bei, eine inklusivere Gesellschaft zu fördern, in der auch jene Unterstützung finden, die ihre Erfahrungen (noch) nicht in Worte fassen können.
Das Trolley-Problem bezeichnet ein moralphilosophisches Gedankenexperiment, das in der Habilitationsschrift von Karl Engisch im Jahr 1930 erstbeschrieben wurde.
Bei dem Experiment findet sich die Probandin bei einem Weichensteller vor, der die Schienen in zwei Richtungen lenkt. Die Probandin sieht, dass ein Zug ungebremst auf dem Gleis fährt, auf dem sich viele Menschenleben befinden. Ein Zusammenstoß ist unvermeidbar und kostet voraussichtlich mehrere Menschenleben. Nur die Probandin könnte in die Situation eingreifen, wenn sie den Zug auf das Nebengleis umlenken würde, auf dem sich weniger Personen befinden.
Dieses moralische Dilemma veranlasst uns, uns mit den komplexen Fragen zu beschäftigen, die auch in der Geschichte von Livia, Tamar, Hugo und Ernst einer wesentlichen Bedeutung gleichkommen. Die 13-jährige Livia überlebt eine traumatische Erfahrung, schafft es aber nicht, ein anderes Mädchen zu schützen und ihre Freundin Tamar von der allgegenwärtigen Gefahr auf dem gemeinsamen Hotelzimmer zu unterrichten. Die 14-jährige Tamar versteht erst mit 20 Jahren, mitten in der Ausbildung, was ihrer Freundin damals passiert ist. Die Betreuer Ernst und Hugo werden mit Livias Hilferufen konfrontiert, die sie auch Jahre später weiterhin umtreiben.
Die Novelle behandelt nicht nur Verlust und Trauer, sondern gleichermaßen Verantwortung und Schuld(gefühle). Wie im Trolley-Problem stehen alle Figuren vor der Wahl – eingreifen oder untätig bleiben?
In der Erzählung gibt es vor allem Einblicke darin, was ihre Entscheidung mit den betroffenen Menschen macht und wie sie deren Lebensrealität beeinflusst.
Durch die Tatsache, dass der Zug interpersonelle Gewalt darstellt, wird die moralische Komplexität weiterhin verstärkt. Bei uns als Leser*innen werden dabei folgende assoziative Fragen und damit auch Beurteilungsversuche fast schon obligatorisch induziert: Was bedeutet es, in einer solchen Situation zu handeln oder nicht zu handeln? Welche Verantwortung tragen wir für die Situation anderer? Was entscheidet überhaupt in uns, wenn wir nicht mehr fähig sind zu denken? Gibt es Zwischenräume zwischen Schuld und Unschuld? Und wie können wir es schaffen, mit den Folgen unserer Taten zu leben?
Livy sitzt zitternd auf unbeheizten Fliesen und greift hektisch nach einem Zettel aus einem durchgewirbelten Stapel. Der Lärm, klopfender Bums, im arrhythmischsten, wuchtigsten Strunz, schneidet sie.
“In the calm /Bum/ of adore /Bum/, dreams take flight /Bum/ Two girls /Bum/ laugh, their hearts shine bright /Bum/ /Bum/ Twilight glows, stars appear Whispering wonders /Bum/, far and near”
Ihre junge, hohe Stimme japst haltlos und schnauft nach Luft, als sie Worte hervorstößt, die das Blatt vorgibt. Sie versenkt sich in Buchstaben, versucht, die schiefen schwarzen Zeichen zu entschlüsseln. Doch ihre Hände zittern, die Augen flattern. Sie bibbert ganze Sätze, ohne deren Sinn zu erfassen. Inmitten des tosenden Unsinns, der sie unergründlich überschwemmt, presst sie leise Zeichen vor sich hin.
“Open hands, a friendship grand Risks? /Bum/ Together, we'll withstand /Bum/ Side by side, we'll chase /Bum/ the light /Bum/ to see our bond in the bright”
Die gedämpften, kaum gesprochenen Worte prallen rückhaltlos an den Klopfgeräuschen aus dem Nachbarraum ab. Livy zuckt zusammen und heftet sich noch stärker an das Blatt. Ihre Augen rasen über die Zeilen.
“Through circumstances, we'll always be two friends united /Bum/, vividly and free /Bum/ No matter where our paths may lead We've got the strength /Bum/ we'll ever need”
Der Lärm wird lauter. /Bums/Wums/Bums/ – das Chaos scheint den Kopf zu durchschlagen und das Denken. Doch Livy liest weiter. Immer schneller. Immer hektischer.
„In the calm of adore, dreams take flight two girls laugh, their hearts shine bright twilight glows, stars appear whispering wonders, far and near open hands, a friendship grand risks together, we'll withstand side by side, we'll chase the light to see our bond in the bright through circumstances, we'll always be two friends united, vividly and free no matter where our paths may lead we've got the strength we'll ever need”
Mit jeder Wiederholung des Liedtextes wird ihre Sprache ratternder und fester, der Text verschwommener und abgehackter, bis die Sätze auseinanderbrechen.
„adore, dreams take girls laugh, their hearts whispering wonders far friendship grand risks together, we'll withstand chase our bond through circumstances matter where paths lead got strength ever need”
„Und wobei kann ich Ihnen behilflich sein?“, höre ich die anmutig klingende Stimme meiner neuen Therapeutin. Ihre sanfte Sprachmelodie kommt mir ungewohnt vor und sie spricht viel zu freundlich, als würde sie nicht wissen, wer hier vor ihr sitzt. Ich ärgere mich darüber, dass sie mir Respekt entgegenbringt, wo sie doch genau wissen müsste, dass mir dieser nicht zusteht.
Ich schlucke, ehe ich antworten kann. Die Spucke sitzt mir im Rachen fest, wie die Vergangenheit an mir klebt. Aber das ist in Ordnung, denn ich bin schuld. „Ich glaube, ich möchte endlich darüber reden“, zögere ich meine Antwort hinaus. Ich, das ist Livia, 19 Jahre alt, Abiturientin, ehrenamtliche Mitarbeiterin in einem Tierzentrum und angehende Studentin an einer Eliteuniversität.
„Worüber genau möchten Sie sprechen?“, hakt Frau Weh, nachdem sie mir viel zu großzügige Minuten zum Reflektieren gegeben hat, nach. „Ich möchte mir das, was unvorstellbar und unvollständig ist, verständlich machen“, erkläre ich. Frau Weh nickt, als würde sie wissen, was in mir vorgeht. Aber das weiß niemand. Jeder kennt doch bloß mein Abizeugnis, das mit zweigliedrigen, hübsch filigranen Ziffern und geistreichen Angaben zum Sozialverhalten all den Schaden zu kaschieren versucht, der ich bin.
„Warum genau jetzt?“, will sie wissen, wobei ich mir sicher bin, dass sie die Antwort bereits kennt. „Weil ich weit weg bin“, gebe ich zu und unterlasse es bewusst zu konkretisieren, dass ich mich mit dem schwachsinnigen Abiwisch ins Auto gesetzt habe und drauflosgefahren bin, bis der Sprit leer war und meine Pop-up-Benachrichtigung die Zulassungsbescheinigung für die hiesige Universität bestätigte. Ich hatte die Vergangenheit 500 Kilometer hinter mir gelassen und sitze dessen ungeachtet hier, bei einer Psychologin, weil sie mich schneller einholt, als ich wegrennen kann.
„Distanz kann manchmal helfen“, versucht sie, eine Verbindung zu mir herzustellen. Aber ihre Worte tun mir weh, wo es sich doch so anfühlt, als hätte ich die Nähe nicht verdient. „Was belastet Sie am meisten?“, möchte Frau Weh sich einen Überblick verschaffen.
Ich muss erneut den Speichel herunterwürgen, der in zähen, fädigen Stücken meinen angeschlagenen Atem blockiert. Fast hätte ich eben wieder das Luftholen vergessen. „Ich kann nicht mehr Geige spielen“, presse ich heraus, obwohl mir das Musizieren gleichgültig geworden ist. Zugeben, dass etwas nicht stimmt, da mir jeglicher Antrieb fehlt, kann ich nicht. „Weil Sie dann immer wieder daran denken müssen?“ Ich nicke.
„Verstehe“, gibt sie vor. „Müssen Sie denn unbedingt Geige spielen?“ Ich zucke mit den Schultern. „Die Teilnahme am Musikkurs der Uni klingt bestimmt vielversprechend“, höre ich meine Stimme, die wie so oft in ihren festgefahrenen Mustern versucht, mir durch Leistung einen Wert einzuheimsen.
„Ist aber sicherlich nicht der Grund, weshalb Sie mich aufgesucht haben“, komplettiert sie meinen abgebrochenen Satz. Sofort bereue ich die vorige Antwort. „Ich zittere, sobald ich Blätter in den Händen halte“, gebe ich zu. „Mittlerweile kann ich nicht einmal mehr an meinem Laptop schreiben“, ergänze ich, um meine prekäre Situation zu veranschaulichen. „Für eine Studentin ist das untragbar.“ Ich versuche stark zu bleiben und ihr nicht gleich mit peinlichen Tränen in der ersten Sitzung zu offenbaren, was für ein menschliches Wrack ich bin. Meine Beine, die unmittelbar mit der Erwähnung des Zitterns in ihre auswerfenden Wackelbewegungen verfallen, rebellieren dagegen jedoch hartnäckig. Ich unterdrücke ein erschöpftes Stöhnen, wie ich es gewohnt bin, und drücke meine Hände fest auf die Beine, damit die Bewegung abebbt, wie ich es gewohnt bin.
„Stört es Sie, dass Ihre Beine zittern?“, lenkt Frau Weh den Fokus gleich auf das mir unliebsame Thema. Ich zucke mit den Achseln. Darüber hatte ich bisher nicht nachgedacht. „Eigentlich nicht, ich möchte einfach sicherstellen, dass ich niemanden irritiere oder durch mein Verhalten belästige“, stelle ich klar. In der Schule und unterwegs hatten mich Leute schon oft merkwürdig beäugt, getuschelt und abwertend kommentiert. Schlimm waren aber nicht die Beleidigungen, sondern das Mitgefühl, das manche Menschen an mich herantrugen. Ich weinte, nachdem mir ein Rentner eine Brezel angeboten hatte, da es sich verkehrt anfühlte, dass er um meinen Blutzuckerspiegel besorgt war, wo ich in dem Wissen war, das Leid einer anderen gebilligt zu haben.
„Mich stört es nämlich nicht“, durchbricht Frau Weh meine abschweifenden Gedanken. Um nicht unhöflich zu wirken und um ihr zu signalisieren, dass ich gewillt bin, ihr zu vertrauen, lasse ich die Hände gemächlich wieder auf die Stuhllehnen gleiten. Etwas unruhig fühle ich mich dabei aber schon, da es ein Kontrollverlust ist, dass ich den Zitterradius meiner Bewegungen nicht mehr händisch abstecke. Die blanken, freien Beine preschen deppert vor sich her. Der dilettantische Geist, der ich bin, steuert die fehlgeleiteten Bewegungen nicht mehr. Missverstanden und ahnungslos überregen sich die Gliedmaßen. Meine Anspannung beginnt sich zu einer Hochanspannung zu steigern. Unwillkürlich bearbeite ich meine Hände mit den scharfkantigen Fingernägeln.
„Könnten Sie mir vielleicht in einem Satz anreißen, was Ihnen passiert ist?“, findet meine Therapeutin den Gesprächsfaden wieder. „Natürlich nur, wenn das möglich ist“, fügt sie einfühlsam hinzu. Mich verärgert und irritiert diese Geste zugleich. „Ja, klar“, antworte ich monoton in meiner antrainierten Maschinenstimme. Ich bin gut darin, Erwartungen und Normen zu erfüllen, wenn ich mich selbst vergesse.
„Es ist auch in Ordnung, wenn es noch zu belastend für Sie ist“, äußert sie offenherzig. Für einen Handlungsaufschub habe ich allerdings keine Zeit, da ich nach diesem Gespräch noch vier Umzugskartons in mein Wohnheimzimmer schleppen muss.
„Ich habe Schuld auf mich geladen“, verbitte ich es mir, an der hässlichen Wahrheit vorbeizureden. „Das habe ich bereits gelesen“, gibt Frau Weh zumindest preis, dass sie meine unmissverständlichen Faxnachrichten zur Kenntnis genommen hat. Ich schaue ihr auf die stupsige Nase, nicht in die Augen, da ich die Verbundenheit eines Blickkontakts nicht ertragen kann.
„Es ist bestimmt nicht einfach, mit einem Schuldgefühl zu leben. Können Sie mir mehr über Ihre damalige Situation berichten?“, fragt Frau Weh und ich spüre, wie sich in meinem Körper alles zusammenzieht. Meine Herzfrequenz tobt und die Beine zucken am Boden, wie gestrandete Fische auf dem Trockenen. Aber das bin ich ja auch, absolut hilflos und ohnmächtig. Nur, dass ich mich nicht wehren werde, falls Frau Weh als ungestüme Anglerin auftreten sollte, weil es mir nicht zusteht.
„Es war auf der Musikorchesterfahrt“, beginne ich, ohne zu wissen, wo ich anfangen soll, wo in dem Fetzenwerk meines Abgrundes ein Startpunkt auszumachen ist. Unruhig orientiere ich mich im weiten Raum, um mein inneres Chaos dieser direkten Diskrepanz auszuliefern. Meine Hände klammern sich schwitzig aneinander und ich bin es leid, dass sie sich selbst tröstend ineinander vereinen. Genervt zähle ich die Objekte um mich herum: meinen Stuhl, Frau Wehs Stuhl, einen Arbeitstisch, einen Schrank mit einer Schiebetür, eine Pflanze und einen Topf.
„Wir waren in einer alten Pension und haben Musik komponiert. Es war so schön und unbeschwert, bis es das nicht mehr war.“ Dicke Tränen rollen über mein Gesicht, aber es sind nicht meine. Sollen sie doch kullern. Meine verlogene späte Reue wendet ohnehin keinen Schaden mehr ab!
„Ich habe ein Trolley-Problem.“
Endlich Spätsommer! Endlich Abi! Die Zeit der lauen Sommernächte, Zeltübernachtungen bei Festivals, Partys und Verabredungen zum Salatessen bei meiner besten Freundin Alice hat ein letztes Mal begonnen. Danach werden wir nicht mehr zusammen Harry Styles in Dauerschleife hören, ausgeknockt auf den Tischen tanzen und an der Sturheit meiner Kaffeemaschine verzweifeln. Wir werden uns noch nicht einmal mehr sehen können, da sie in Berlin Mathe studieren wird und ich in drei Wochen in München eine Ausbildung zur Kunsttherapeutin anfange. Wer weiß, ob wir, wenn wir uns in den Semesterferien treffen, immer noch die gleichen verrückten Ideen haben werden. Bloß nicht jetzt schon schwermütig werden, befehle ich mir.
Mum ist mir absolut kein gutes Vorbild, was die Abschiedsstimmung anbelangt. Ständig umarmt sie mich und findet Gründe, um in mein muffliges Zimmer zu platzen. Neulich kam sie sogar mit pinken Umzugskartons an und mindestens dreimal am Tag darf ich mir anhören, dass ich meinen Kram zusammenkriegen soll. Jetzt bereue ich es, dass ich keine Minimalistin bin und in den letzten 20 Jahren in einem Zimmer wohl mehr zusammengesammelt habe, als andere überhaupt an Mobiliar für ihr Einfamilienhaus besitzen. Priorisieren ist auch nicht gerade meine Stärke und so bekomme ich mich kaum dazu aufgerappelt, zu entscheiden, was in mein 10-Quadratmeter-WG-Zimmer mit soll.
Am liebsten würde ich alle Bilder mitnehmen, die ich gemalt oder entwickelt habe, aber das würde den Rahmen meines Platzes sprengen. Mum, die sich als Ablenkungsskill in ihrer „Tamar-zieht-aus“-Melancholie als Ordnungsexpertin auserkoren hat, hat mir alles, was kleiner als DIN A4 war, in feinsauberen Ordnern mit Klarsichthüllen verstaut. Jetzt liegt es an mir, diese auszusortieren. Langsam öffne ich den ersten Ordner, in dem meine Grundschulzeichnungen liegen. Hübsch, aber nein, denke ich. Bibi Blocksberg ist dann doch zu antiquiert, um es an meine Wand zu schaffen. Im Nächsten finde ich Zeichnungen aus den Anfängen an der Gesamtschule. Keine schöne Zeit, erinnere ich mich. In der 8. Klasse sitzenzubleiben, war wahrlich nicht schön. Und das dann noch als Dezemberkind! Sofort erkenne ich den Missmut und die Verzweiflung meines früheren Ichs, das seine Gefühlsexplosionen in Zickzacklinien externalisierte. Die Bilder, die danach kommen, werden bunter und naturalistischer. Ein paar Selbstauslöserbilder sind auch dabei. Ich betrachte die Küste von Cornwall, erinnere mich an den schönen Urlaub mit meinen Eltern dort und blättere weiter, bis ich zum zweiten Mal zur achten Klasse komme. Mein Bauch rumort plötzlich merkwürdig. Ich denke, dass es daran liegt, dass ich seit meiner Schicht im Café, die bis zum Mittag ging, nichts gegessen habe.
„Hallo Schatz“, höre ich Mums Stimme. Offenbar möchte sie sich vergewissern, dass ich wirklich arbeite und nicht wie gewohnt in meine Träumereien abdrifte. Das hat durchaus seine Berechtigung, denke ich, und wende mich ihr zu. „Hi“, sage ich gelöst. „Ich habe hier noch deine alte Kamera gefunden, die du mitnehmen wolltest“, spricht sie aus, während sie mit hochgezogenen Brauen die von ihr vorsortierten Stapel in meinem Zimmer mustert. Weitergekommen war ich in den letzten Tagen nicht. Ich schaue auf das pinke Gerät mit der geflochtenen Umhängetasche, das Mum mir hinhält, und zucke leicht zusammen.
„Es ist noch die alte Speicherkarte drin“, erklärt Mum, aber ich höre ihr nicht zu. Meine Gedanken beamen sich merkwürdig weg, so als ob alles – bis auf die Kamera – in Watte gebettet wäre. „Ich wusste nicht, ob ich was löschen sollte“, fügt sie hinzu. „Hm“, antworte ich teilnahmslos und beschließe, mir gleich einen Milchshake zu machen, um wieder zu Kräften zu kommen. Anscheinend hatte ich es mit meiner Diät übertrieben.
„Möchtest du, dass ich die Bilder für dich sichte, oder willst du sie dir selbst anschauen?“, hakt Mum fürsorglich nach und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr eben meinen Dank nicht ausgesprochen hatte. Ich schüttele den Kopf und greife nach der Kamera. „Danke, aber ich mach’ das schon“, sage ich und versuche, gelassen zu klingen.
Mum nickt mich zärtlich an und verlässt mit einem kritisch tadelnden Grinsen den Raum. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, starre ich auf das kleine Display an der Kamera. Meine Hände zittern leicht, als ich den Einschaltknopf drücken möchte, um das zuletzt aufgenommene Bild anzusehen. Surrend erwacht die Kamera zum Leben, doch ich entscheide mich instinktiv anders, drehe sie um und betätige den Knopf erneut, damit sie wieder ausgeht. Die Kamera ist zu schwer, beladen mit Geheimnissen. Heute ist nicht der richtige Tag, denke ich.
Tamar und Livia sitzen in Tamars Zimmer auf einem Laken, umgeben von Notenblättern und Instrumenten. Die 14-jährige Tamar hält ihre Gitarre in den Händen, während ihre langen rötlichen Haare sich über die Saiten ihres Schmuckstückes schmiegen. „Ist die neu?“, fragt ihre 13-jährige Freundin Livia, genannt Livy, die ihre Geige, ein Erbstück ihres Großvaters, auf den Schoß ausbalanciert. „Ja, ich hab' sie vom Flohmarkt“, strahlt Tamar und bewegt ihre länglichen Finger zärtlich über den Korpus der Gitarre. „Sie hat zwar Kratzer, aber ihr Klang ist wunderschön“, unterstreicht sie die Feinheit ihres neuen Instruments. Livy gluckst voller Unverständnis über das Sammelsurium ihrer Freundin. „Sicher, und sie hat Charisma“, gibt sie sarkastisch, aber im gleichen Aufwisch voller Zugewandtheit von sich. „Sei nicht so fies, Livy“, erwidert Tamar mit einem gespielten Schmollmund, ehe sie in Gelächter ausbricht. „Ein Messi zu sein, ist eine Krankheit, da musst du nachsichtig mit mir sein.“
„Dann zeig mal, was dein Juwel draufhat, Tamo“, fordert Livy Tamar zum Spielen auf. „Unser Lied?“, erkundigt sich Tamar rein theoretisch und grinst ihrer Freundin zu. „Klar, unser Lied, Sweetheart“, zwinkert Livy zurück. Wenn sie lächelt, bilden ihre sommersprossigen Wangen fipsige Grübchen. Die Mädchen kichern, als sie beginnen, ihre Instrumente aufeinander einzustimmen.
„Warte, ich nehm' es auf“, ruft Tamar begeistert aus und greift nach ihrer Digitalkamera, die sie vor wenigen Wochen zu Ostern geschenkt bekommen hatte. Sie richtet das Objektiv auf Livy, die verlegen aufblickt und ihre Geige fester umschließt. Ihre honigfarbenen Augen schauen offenherzig in Tamars Richtung. „Das ist meine etwas verschüchterte beste Freundin Livy. Komm schon, spiel was!“, transformiert sich Tamar in eine spritzige Videobloggerin. Livy bekommt einen Lachanfall, der ihre Kamerascheue sogleich abschwächt, und beginnt damit, ihre Finger zu den gemeinsam komponierten Noten auf den Saiten ihrer Geige zu bewegen. Die Melodie ergreift den Raum und die Töne durchdringen die Luft in einer sanften, fast magischen Atmosphäre. Tamar filmt alles mit.
„Das wird richtig gut“, lobt sie Livy. Livy strahlt übers ganze Gesicht. „Ich freue mich schon so auf die Orchesterfahrt. Meinst du, dass wir auftreten dürfen?“, überlegt sie nachdenklich. „Natürlich, wir müssen nur jeden Tag hart proben“, spricht Tamar ihnen Mut zu. „Außerdem, wer ist bitte schön so motiviert wie wir?“, fragt sie rhetorisch und schwenkt die Kamera durch ihr Zimmer. Sie dreht am Rädchen, um den Blendenwert schärfer zu stellen. Zwischen den Mädchen werden Notenblätter und Musikständer sichtbar, und an den Wänden sind Dutzende von Postern zu erkennen, die bekannte Opernstücke bebildern.
„Sag etwas für die Nachwelt“, bittet Tamar Livy. „Was soll ich denn sagen?“„Egal was. Etwas, das wir uns in fünf Jahren anschauen und uns darüber amüsieren können“, schlägt sie vor. Livy schaut streng, bis sie die ungewohnte Ernsthaftigkeit nicht mehr halten kann und ihre Mimik zu prusten beginnt. „Ich hoffe, dass wir für immer zusammenspielen können“, wünscht sie sich. „Bestimmt, und dann werden wir berühmt“, schwelgt Tamar in Tagträumen. Livy kichert erneut über ihre übermütige und stolzgeschwellte Freundin. „Das wäre natürlich hellauf verrückt. Ich möchte bloß einfach mit dir musizieren, lachen und vielleicht eine erdende Meinung zu deinem ersten Freund abgeben“, meint sie unbekümmert.
„Wir bleiben für immer beste Freundinnen“, schwört Tamar Livy. „Pinky Promise?“, möchte Livy wissen. Tamar nickt und die beiden Mädchen umschließen ihre Finger vor der Kamera zum Schwur. Als sich die kleinen Finger berühren, klimpern ihre Freundschaftsarmbänder bei der Bewegung mit. Tamars ist lila und zeigt ein halbes Herz, das mit der anderen Hälfte auf Livys blauem Band zusammengesetzt werden kann.
„Versprich mir, dass wir nie aufhören werden, zu träumen“, flüstert Livy Tamar zu, als wolle sie diese Worte vor der Kamera geheim halten. Tamar bewegt sich auf Livy zu und schaltet die Aufnahmefunktion ab.
Es klopft an der Zimmertür zu Livys und Tamars Hotelzimmer. Livy, die steif und angewurzelt wie eine Wachsfigur im Zimmer steht, schreckt zusammen und weicht nach hinten, weiter zur Wand zurück. Die Tür öffnet sich und Hugo, der leitende Betreuer der Orchesterfahrt, tritt ein. Livys starrer Blick schneidet ins Nichts, doch die Hülle ihres Körpers bleibt verhärtet auf der Stelle stehen. Hugo läuft ein paar Meter in den Raum hinein. „Hallo“, sagt er fröhlich und wedelt mit einer prallen Packung Schokolade herum. Der Luftzug der Handbewegung durchkämmt ihre Sinnesrezeptoren, ohne dass die Erregung verarbeitet wird. Sie schaut ihren Betreuer ausdruckslos an, als würde sie nicht wissen, was sie sagen soll, weil sie vergessen hat, wie man Worte formt.
„Ich habe hier was für dich“, kommt Hugo näher auf Livy zu. Livy hebt ihren Kopf schwerfällig an, reagiert aber nicht auf seine Worte. „Die Schokolade ist für dich“, erläutert er, um es ihr, die schwer von Begriff zu sein scheint, deutlicher zu machen. Aber auch die Wiederholung bringt für Livy, die nicht mehr darauf kommt, dass einzelne Worte in Satzgefügen einen Sinn ergeben, keine Klarheit. Ihrem Gedächtnis ist entfallen, wie man mit einzelnen Lauten seine prekäre Situation verständlich machen kann. Geistesabwesend setzen sich ihre Beine, als würden sie mechanisch sein, in Bewegung. Die beiden stehen sich jetzt gegenüber und er hält ihr die farbenfrohe Verpackung vor die sich wegduckende Nase. Apathisch schaut sie auf das schmale Viereck, zwar ohne zu erfassen, nur abgelöst zu starren. Von sich abgetrennt weiß sie nicht mehr, was dieses Ding, diese grelle Schololade sein soll und wofür sie es gebrauchen kann.
Sie spürt nur, dass sie von hier wegwill, so schnell es geht, ohne zu wissen.
„Komm schon, nimm sie“, deutet Hugo erneut auf die Vollmilchnusstafel. Er lächelt Livy aufmunternd zu. Ihr Arm erzittert kurz, aber ihre Hand unternimmt keine Anstalten, um nach der Schokolade zu greifen. Es gibt kein gewöhnliches Reiz-Reaktions-Schema mehr, da ihr Nervensystem Stressoren nicht mehr auseinanderhält. Stattdessen krallen sich ihre Hände fest ineinander, als würden sie einander Halt geben wollen.
„Livy, es war jetzt… nicht so ganz geschickt, dass ich heute Nacht nicht gekommen bin“, sagt Hugo mit einem Anflug von Unbehagen in der Stimme. Livy spricht nicht auf seine Worte an und verharrt weiterhin bewegungslos. Sie versteht nicht, was um sie herum geschieht. Sie nimmt es nicht einmal mehr wahr. Ihr Sichtfeld ist unscharf, fast wie ein nebliger Tunnel, und die benommenen Gedanken drehen sich willenlos im abgeschnittensten Kreis, da ihr das Gedächtnis mit dem Verstand entschwunden ist. Livy kann die Bedeutung von Hugos Anwesenheit und in seinen Worten nichts begreifen. Ihre Eingebung sucht verzweifelt danach, zu verstehen, was mit ihr passiert. Die bleierne Schwere, die sie bebend nach außen abschirmt, macht es ihr unmöglich, die Umgebung zu fassen.
„Tut mir leid, ich habe es vergessen. Aber wie ich sehe, bist du zurechtgekommen. Du bist echt ein großes, starkes Mädchen, Livy“, versucht Hugo, sie zu erreichen. Livy hebt den Kopf einige Zentimeter an, sodass ihre Augen in Hugos Gesichtskreis aufschlagen. Mit geweiteten Pupillen, die die rasende, verzweifelte Unverständlichkeit einfassen und gleichfalls mit dem steifen, verharzten Körper divergieren, reckt sie um Erfassung des Nahumfeldes. Hugo hebt seinen Arm und steckt Livy das Geschenk, die Schokolade in der Plastikhülle, in die vergessene Hand.
Livys Blick folgt seinem Vorgehen voller Ahnungslosigkeit und ihre Handmuskulatur, die nicht vertraut ist, weiß nicht, ob sie das fremde Etwas besser fortschmeißen oder fest umklammern soll. Sie hält in ihrem Stillstand inne. In der Ferne ihrer geistigen Schwammigkeit spürt Livy, dass sie etwas sagen sollte, doch die richtigen Worte entgleiten ihr, bevor sie sie aussprechen kann.
„Dan-ke“, lallt etwas Unbekanntes aus Livy, das ihre Stimme übernommen hat. „Bis später“, antwortet Hugo und läuft wieder auf die Tür zu, um den Raum zu verlassen. Livy stiert fortan in die Leere, als würde sie ihr Antworten auf die Fragen geben, die sie sich nicht einmal mehr denken kann. Sie versucht erneut, einen Laut zu bilden, gleich wie es ihre Stimme eben tat, aber scheitert daran, dass sie nicht mehr weiß, wie die Lautstärke aus ihrem Körper herausdringen soll. Hugo schließt die Tür von außen und lässt sie allein zurück. Livys Gestalt entrückt in der Bewegungslosigkeit, während ihr verschleierter Geist, der der Zeit entflohen ist, nach Orientierung wühlt, die die tiefe Leere fortgekapert hat. Sie sucht verzweifelt nach Antworten, deren Fragen sie vergessen hat. Inmitten der Stille, die Hugo zurückließ, verliert sich Livy im erdrückenden Nichts.
„Können Sie mir genauer beschreiben, was Sie mit dem Trolley-Problem meinen?“, erkundigt sich Frau Weh. Meine Hände lösen sich voneinander und verkrampfen einsamartig fest in der mir bekannt verhassten Greifstellung. Zeigt jetzt bloß keine falsche Schwäche, befehle ich ihnen.
„Ich musste mich entscheiden“, stottere ich zittrig los. Meine Stimme scheint die innere Erstarrung, die mich all die Jahre lähmte, konserviert zu haben. „Ich musste mich entscheiden, ob ich eingreife und versuche, das Leid eines Mädchens abzuwenden, oder ob ich nicht eingreife und es geschehen lasse.“ Ich hasse den verletzlichen Klang, in den meine Stimme, die in den entscheidenden Momenten versagt hatte, fällt. Meine Hände werden sogar noch starrer, da die Worte, die aus meinen Lippen fallen, sich so widerwärtig anhören und ein abscheuliches Relikt meines verhaltensbezogenen Abkackens abgeben.
„Wofür haben Sie sich entschieden?“, fragt Frau Weh weiter, als würde sie nicht registrieren, wie gewissenlos ich bin. „Ich habe nichts gemacht“, meine ich weinerlich, ohne zu wissen, warum mich das Bedauern nicht damals schon überwältigt hat. Vielleicht, weil ich es nicht wahrhaben wollte, dass ich tatsächlich die Wahl hatte und mich für das Einfachere entschieden habe.
„Welche Konsequenzen hätten Ihnen gedroht, wenn Sie eingeschritten wären?“ Augenscheinlich will Frau Weh wirklich nicht sehen, was für ein hässliches Monstrum ich bin. Ich seufze erschöpft über die irrtümliche Feinfühligkeit, mit der sie mir, einer nichtsnutzigen Versagerin, begegnet.
„Ich hätte mich und womöglich auch Tamar, eine Freundin, in Gefahr gebracht.“ Ich spreche die unschöne Wahrheit meiner verhängnisvollen Bredouille ungefiltert aus. Meine Therapeutin nickt weiter, als würde sie sich darüber freuen, dass ich die Abgründe meines Selbst in Worte fasse. Oder sie findet es wichtig, dass ich sie überhaupt erst exploriere, um mich nicht weiter mit Dingen zu betäuben, die mich rühmen sollen, damit niemand merkt, wie ruchlos mein gebrochener Verstand ist.
„Sie denken also, dass Sie die Wahl zwischen zwei Gefahrenszenarien hatten“, fasst Frau Weh die Situation erneut zusammen. Mich stört es, dass sie davon spricht, dass ich etwas denke, und nicht sagt, dass ich es weiß.
„Es fühlt sich so an“, drucksen meine feigen Stimmlippen herum, die die Wahrheit vor sich herschieben. Ein ballastiges Schweigen zieht sich durch den Raum, als ob selbst die Luft von der Bürde meiner unausgesprochenen Gedanken erdrückt werden würde. Ich kann die verhängnisvolle Stille, die mein Nichtstun imitiert, zu dem ich wohl determiniert bin, nicht ertragen.
Ich beginne nervös, meinen linken Fuß immer wieder vom Boden anzuheben und abzusetzen, um durch die rhythmischen Bewegungen die aufkommende Starrheit zu besänftigen. Sofort denke ich, dass ich ein müßiggängerischer Feigling bin, weil ich mich dem Nichts, das ich hinterließ, nicht einmal für wenige Sekunden aussetzen kann. Die Gedanken in meinem Kopf beginnen in ihrem statuesken Hamsterrad aus schamroter Scham und reumütiger Schuld zu hasten und preschen sausend meinem abtrünnigen Selbstwert hinterher. Wie im schnellsten Karussell wirbeln Zweifel und Hass durch mein Bewusstsein. Aufzwingende Empfindungen, die mich mitreißen, bevor ich sie erfassen kann. Warum habe ich bloß so viele Gedanken, dass sie sich selbst ohne mein Zutun aufdrängen? Sie sind schemenhafte Konturen, die sich ankernd auf mein Wahrnehmungsvermögen legen und mir jeglichen klaren Blick entwenden. Fragen hetzten durch meinen Kopf. Hätte ich mich anders verhalten sollen? Was wäre gewesen, wenn ich eingeschritten wäre? Die ungedachten Gedanken übermannen mich und verstärken mein Gefühl der jähen Ohnmacht.
„Es fühlt sich so an … Gefahrenszenario eins war, dass er dem Mädchen wehtut und Gefahrenszenario zwei, dass er Tamar oder mir wehtut“, versuche ich, mich dem wegzureden. Ich merke, dass etwas aus meinem Unterbewusstsein mir einzureden versucht, dass meine Untätigkeit gerechtfertigt war. Dass es vernünftig war, nichts zu machen, um zwei Leben zu sichern. Es probiert mir einzureden, dass es keine andere Wahl gab, dass ich nicht anders hätte handeln können. Wütend dränge ich diese selbstständig gewordenen, unerwünschten Anschauungsfragmente weg, die sich völlig widersprüchlich zu meinen Moralansprüchen zeigen.
„Wieso haben Sie sich dafür entschieden? Wie war Ihre Situation?“, lenkt Frau Weh das Thema auf die Punkte, die ich so gerne verdrängen würde. Ich schlucke schwerfällig und spüre die dornenreiche Last, die geballt auf mir liegt und sich beißend über meinen Hals ausbreitet.
Morgen ist die Aufführung unseres Jugendorchesters. Klar, ich bin schon aufgeregt. Hoffentlich klappt heute alles bei der Generalprobe, denke ich. Im Sommer hatten wir mit den 13- bis 17-Jährigen während eines einwöchigen Trips nach Italien geprobt, aber das ist mittlerweile Monate her und die Kids hatten damals ganz anderes im Kopf als ihre Songs. Zugegeben, wir Erwachsenen auch.
Danach wollten wir uns zwar wöchentlich treffen, aber wie es im Alltag so ist, kamen Fußballspiele, Klassenarbeiten, Geburtstage und Chillen auf der Couch dazwischen. Am Ende hielten nur noch 15 Jugendliche durch, von denen acht zu den Treffen kamen. Der Rest schickte Videos, was bei Partnerauftritten durch das mangelnde gemeinsame Training nicht unbedingt von Vorteil ist. Deshalb schaue ich missmutig auf die leere Bühne und hoffe, dass zumindest das nächste Paar einen strukturierten Auftritt ablegt. Man sagt zwar, wenn die Generalprobe schlecht ist, läuft’s am Ende umso besser, darauf möchte ich mich trotzdem nicht verlassen müssen. Tamar und Livy sind an der Reihe. In puncto Intonation mache ich mir bei den beiden keine Sorgen, sie hatten zusammen immer schon ein gutes Gespür für den richtigen Ton.
Und dennoch … es hatte sich in den letzten Monaten etwas an ihrer Darbietung geändert. Während Tamar durch unsere Rhythmusübungen aufgeblüht war und ihre hohe, entzückende Stimme noch mehr an Authentizität und Glanz gewonnen hatte, war Livy eingebrochen. Nicht, dass ihre Leistung unanständig gewesen wäre oder dass sie auch nur eine Stunde vom Unterricht ferngeblieben wäre. Aber sie, die immer schon leiser und empfindlicher gewesen war, hatte eine sonorere Stimme entwickelt. In ihrer ernsten Dunkelheit muss sie erst noch zeigen, ob sie mit Tamars warmer Stimmfarbe in Einklang zu bringen ist. Dass Livy vor zwei Monaten vorschlug, von ihrer geliebten Geige wegzukommen, machte mir dann aber doch etwas mehr Sorgen. Sicherlich ist das nur die frühe Pubertät, und sie möchte sich neu ausprobieren, dachte ich mir zunächst. Als sie jedoch aufhörte, mit uns zu sprechen, begann ich zu hinterfragen, ob ihr Verhalten nur eine Phase ist.
Schon auf der Fahrt war sie mir an einem Morgen merkwürdig aufgefallen, aber ich erinnere mich nicht mehr, weil wir Betreuer es mit dem Alkohol übertrieben hatten. Ich glaube, dass sie am Abend zuvor wollte, dass ich ihr helfe, doch der Filmriss und der anschließende Kater machten es mir unmöglich, zu rekonstruieren, was geschehen war. Bestimmt sind meine Gedanken ohnehin überflüssig, wo sich Teenager ständig neu ausprobieren und definieren, mutmaße ich. Ich mache mir immer zu viele Gedanken.
Tamar betritt selbstbewusst, erhobenen Hauptes und mit einem Strahlen im Gesicht die Bühne.