Das unbegreifliche Schicksal einer wahren Liebe - Monika Strübing - E-Book

Das unbegreifliche Schicksal einer wahren Liebe E-Book

Monika Strübing

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Beschreibung

»Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte ...« Annegret, eine Lehrerin, reist mit ihrer Tochter an den Ort, in welchem sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Es wird eine Fahrt in die Vergangenheit. Nicht nur seelische Narben schmerzen, sondern auch, dass sie erst nach einem Jahr von dem Tod ihrer Mutter erfuhr, der Annegret noch sehr viele Fragen stellen wollte. Mit Blick übers Elbtal auf einem Weinberg unter Reben liegend, stellt Ronja die Weichen und Annegret taucht auf Drängen ihrer Tochter mehr und mehr in ihre »geheimnisumwobene« Vergangenheit ein, als Annegret noch Schauspielstudentin war.

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Monika Strübing

Das unbegreifliche Schicksaleiner wahren Liebe

ist ein ROMANfür Erwachsene und alle, die es gern werden wollen.

Engelsdorfer VerlagLeipzig2019

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbild © Lars Zahner [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Alles begann im Jahr 1970, stellte Ronja, Annegrets Tochter, fest. Sie fand Notizen, Gedichte und Aufzeichnungen auf Zettelchen und ausgerissenen Heftseiten, die in Ronja eine wissbegierige Neugier entfachte:

Wer war er?

Warum schwieg ihre Mutter bis heute?

Was geschah vor ungefähr 36 Jahren?

Ronja will das wissen!

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Erster Teil: Im Jetzt und Hier

Zweiter Teil: Die Fahrt

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

„Finale – Ende – Finito!!!“

Danke

Steckbrief der Autorin

Andere Bücher der Autorin

PROLOG

Die Generation „Schwarzweiß“

wähnte sich neulich

lustig, weil geläutert,

also grau und es gehe auch rosé

und durchaus gestreift.

Sie gaben es zu:

Auch sie tun mal wanken

auf eigentlich stabil gebauten,

so meine der Bau,

ganz wetterfesten Planken.

Man gibt sich strahlend heiter bis schön.

Sollte ich wirklich etwas übersehen?

ERSTER TEILIM JETZT UND HIER

Annegret saß am Strand. Der Himmel strahlte sein schönstes Blau. So mochte es Annegret. Nicht ein Wölkchen, wie schön, dachte Annegret und genoss für diesen Moment ein Stück innere Ruhe. Zu selten, dachte sie, zu selten packe ich es mit mir und der Welt im Einklang inneren Frieden zu finden. Sie fühlte sich weich und schön, lächelte Spaziergängern zu, die eben solch erhabenen Moment just zur gleichen Zeit genossen. Keinen Gruß, nur Lächeln schenkten sie. Sind sicher in Sorge, dachte Annegret, denn das Glücksgefühl jenes Augenblicks auskostend und es zeitgleich wie Sand durch die Finger rinnen zu fühlen, teilt nicht jeder gern. Annegret schloss die Augen und ließ sich auf den Rücken fallen, atmete tief durch und spürte der Frische der Seeluft nach. Sie träumte, wie so oft, sich in die Weite des Alls; sie fantasierte von noch unentdeckten Sternen und Planeten und Kraft ihrer Gabe sich selbst die hässlichste Kreatur bildhaft vorstellen zu können, suchte Annegret nach irdischem Leben und dessen Lebensart hinter dem heiter himmlischen Blau. „Alles wieder gut?!“, riss es Annegret aus ihren Träumen hart und unerbittlich wie aus einer fernen Welt.

Sie erschrak und hob die Hand winkend nach oben als bekunde sie, dass mit ihr im Hier und Jetzt wirklich alles in Ordnung sei. „Was?“ Annegret richtete sich auf und blickte in die Gesichter ihrer Kollegen, Christa und Pepe, welche oft besser über Annegrets Leben Bescheid wussten als sie selbst. „Perfekt!“, donnerte Annegret aus sich heraus und ließ sich wieder auf den Rücken fallen.

„Ja, dann ist ja gut!“

Immer die gleichen Fragen, ärgerte sich Annegret und erhob beruhigend wie zum Segnen die Hand, während sie entspannt aufs Neue mit geschlossenen Augen Gedanken ohne Unterlass so wie noch nie hindurch passieren ließ.

Die schon wärmende Sonne zauberte Annegret wie jedes Jahr die von ihr stets überpuderten aber dennoch sichtbaren großen Sommersprossen ins Gesicht. All das schenkte ihr im Dunkeln hinter ihren Augenlidern das ins Wanken geratene Vertrauen in sich selbst zurück. Unerschrocken lauschte Annegret dem Schrei einer Möwe und dem Rauschen der See. Wellen spülten Gedanke für Gedanke frei, und bevor am Ufer jede Woge sanft mit winzigen Luftbläschen spielend gebrach, schaukelten aus Annegrets seelischer Tiefe auch Emotionen, Gefühle, die längst vergessen schienen, ohne Vernunft empor. Sie vermischten sich auf schäumender Gischt zu Gischt mit Fetzen und Schnipseln aus Bildern, auf denen Orte und deren handelnde Menschen zu sehen und zu erleben waren. Hemmungslos perlten selbst aus den dunkelsten Ecken der Seele von Annegret schreckliches spielend leicht ohne die geringste Vorahnung mit ins Bewusstsein zurück. Muscheln, Donnerkeile und morsche Hölzer von Kuttern und Schiffen aus Zeiten, welche die See fast ausnahmslos in Stücke zerbarst und mit sich nahm, trudelten in Annegrets Fantasie hin und her oder lagen am Grund kaum sichtbar im gelben steinigen Sand zwischen Seegras und Muscheln.

Stehen bleiben!, brüllte es auf einmal in ihr. Du schaust verdammt noch mal zu! Weglaufen ist nicht mehr! Ein Metallteil blitzte in der fiktiven Ferne direkt auf Annegret gerichtet. Annegret zuckte zusammen und blieb mit Blick auf das, was auf sie bedrohlich zukam, fassungslos stehen. Das Wasser zog sich blitzartig zurück und der Grund der Ostsee glich jenem bei Ebbe der Nordsee. Annegrets Augen starrten offen und verfolgten dem Verlauf eines mörderischen Spiels. Es gelang ihr weder die Augen zu schließen noch konnte sie blinzeln, und die Augäpfel drehen oder irgendwie bewegen, gelang ebenfalls nicht. Sie fühlte sich wie der letzte Ostseefisch, der, ob er es wollte oder nicht, dem, was jetzt passierte, gnadenlos zuschauen musste:

Funken stoben im Bogen wie beim Schleifen und Sägen eines Eisenstücks. Das Funkeln tausender kleiner Sternchen verschlug Annegret nicht nur den Atem sondern nahm ihr auch die Sicht. Annegret gelang es endlich die Augen für einen kurzen Moment zu schließen, denn sie drohten zu verbrennen wie auch ihr rotes lang gewelltes Haar und das immer bleicher werdende Gesicht. Plötzlich war Stille im Dunkel der Nacht. Aus dem Schlamm des Ostseegrundes erhob sich, gleich einer Theaterbühne aus der Versenkung, ein strahlend schönes strohgoldnes Stoppelfeld, dessen Anfang und Ende Annegret, so sehr sie sich auch mühte, nicht zu sehen vermochte. Am Horizont aber bewegt sich doch etwas und kommt auf mich zu, bemerkte Annegret und blinzelte ins gleißende Licht. Zuerst bedeutungslos winzig scheinend aber jetzt immer größer werdende aufgeregt lustig agierende Leute, flößten Annegret Angst ein: Sind das nicht die Freunde, die sich als selbsternannte in Annegrets Erinnerung gruben und nur immer dann zum Vorschein kamen, wenn Annegret sie entweder nicht brauchte oder sie tief ins Vergessen gedrängt hat.

Annegret schrie: „Ich will euch nicht sehen und auch nicht haben!“ Sie stutzte, denn in deren Mitte: „Was will, will denn, will denn er unter denen?“ Sie schluchzte: „Was will Mohammed bei …, oder vielleicht auch zusammen mit ihnen? An diese wollte ich doch … ich will daran nicht im geringsten mehr denken! Von dem einen las ich, dass er gestorben sei, und ich glaubte und hoffte sogar die anderen da auch! Der verstorbene war – der war noch der sanftmütigste von euch allen. Ihr sollt, verdammt noch mal, verschollen bleiben! Weg da! Weg da! Was bitte macht ihr hier?!“, brüllte Annegret. „Freunde seid ihr nie gewesen und werdet auch keine! Nicht einer! Was erdreistet ihr euch?! Fort nach da oben, verschwindet, macht euch doch endlich zum Himmel auf!“

Die selbsternannten schoben Mohammed aus ihrer Mitte und nickten wie Hühner mit den Köpfen sich eine Botschaft zu. Sie tuschelten. Ein Hahn unter ihnen krähte und alle bildeten laut singend eine Reihe. Jeder legte dem Vordermann eine Hand auf dessen Schulter.

Mohammed! Nein! Das sind keine Freunde. Nicht ein ehrlicher unter denen! Warum nur gehst du mit?!, schrie es unerträglich in Annegret.

‚Leute, der kapiert’s einfach nicht! Könnt ihr euch vorstellen unser kleiner schwarzer ‚Heuschnupfen’ will keinem von uns seinen …’, übertönte ein selbsternannter alle anderen in Annegret.

„Weg da! Er hat euch nichts getan! Mohammed ist mein Freund, ihr seid doch irre! Irre seid ihr alle! Warum seid ihr nur so schrecklich kirre, warum?! Ihr, ihr …“

‚Ah, ja!’, juchzte jener plötzlich, der Mohammed beim Wickel hatte. ‚Ich hab ihn!’, sang und plärrte er stolz und laut wie ein Kind. ‚Freunde, es kann losgehen, Freunde! Messen tun wir aber erst oben! – Du, da vorn, du, du schaust zu, ab jetzt nur noch gucken! Maul halten!’ Er meinte Annegret, die, wie auch Mohammed in ihr, entsetzlich keifte und vor Schmerz brüllte und schrie. Der Vordermann von Mohammed hielt dennoch krampfhaft fest und zog und zog ihn lang und hielt. Er zwinkerte Mohammeds Hintermann zu, sodass dieser zu wiehern begann und mit allen Kräften Mohammed vorwärts …

„Mensch Mutsch, du schwitzt ja schon wieder und bist rot und heiß wie ein Backofen. – Alles gut mit dir?“, flüsterte es.

Mit einem Schlag öffnete Annegret die Augen: „Ronja?“

„Wer sonst?“ Ronja schüttelte verzweifelt ihre Mutter.

„Schön, schön, dass du da bist“, hauchte sie entkräftet. „Schön, schön, dass es dich gibt. Du bist ja blasser als – Was? Was ist denn mit dir?“

„Ja, das frage ich dich. Mit mir ist nichts. – Bin nur ein böser Geist, der immer mal gedenkt vorbei zu schauen.“

Annegret sprang ungelenk auf, umarmte und drückte ihre Tochter fest an sich: „Nicht doch, Ronja, bitte! Red nicht so!“

Ronja strahlte: „Nun, ja. Du zitterst aber. Ist was passiert?“

„Gemeine böse Geister machen sich öfter, als mir lieb ist, unflätig breit in mir, sodass mir übler wird, als – es gelingt mir nicht einmal, mich zu distanzieren, und aus dessen Klauen sich befreien geht auch nicht.“

„Das ist ja entsetzlich. Und? Was machst du dagegen?“

„Ganz ehrlich? Nichts. Ich weiß einfach nicht, was ich dagegen tun kann. Nicht ein bisschen fällt mir ein zu deiner Frage. Ich werde es ertragen müssen. Mehr kann ich dir nicht sagen, besser weiß ich es wirklich nicht.“

„Das solltest du aber, du musst etwas tun dagegen! Tante Loni war am Telefon! Fahre endlich mal hin! Ob du kein Gewissen oder so was im Leibe mehr hättest?!“, fragte sie. „Denn ein Jahr sei das nun schon her!“

„Äh, was? Was bitte sei ein Jahr schon her? Von was redest du? Ronja, was soll schon ein Jahr her sein?! Wer bitte spricht so mit dir?!“

Ronja drehte sich zornig um: „Zusammengekracht sei sie und gestürzt worden, meint Tante Loni! Und du?“

„Das ist nicht fair!“

„Fair?! Was ist schon fair?! Du liegst hier herum. Träumst du von Fairness vielleicht?! Und die Familie, die Familie, was ist …“ Ronja rannte laut wie ein Wolf heulend davon.

„Was ist? Sag, was ist denn?! Verdammt noch mal?! Ronja!“

Ronja drehte sich um und stapfte wütend zurück. Sie kramte in der Tasche ihrer Jeanshose und zog einen Ring hervor.

„Ei!“ Annegret sprang ein paar Schritte zurück. „Woher hast du den?“

„Ich bin nicht der Übeltäter. Du, du ganz allein hast deine Ehen, deine Lieben verhökert, zerstört; verkauft hast du sie alle in einem Laden voll mit Antiquitäten. Na, wie viel Mäuse hat dir deine Ehe mit Paps denn so eingebracht?!“

„Ich brauchte das!“

„Und wofür?! Sag’ an. Wofür? Für deine bekifften Geister etwa?!“

„Ronja.“ Annegret schnappte nach Luft. „Nun halt mal an dich. Ich –, ich musste nur eine Rechnung begleichen. Wer schickt dich?“

„Na, wer schon? Dein Angetrauter natürlich. Du solltest mal etwas besseres tun, als immer nur schreien und schreien, ja, und dann auch noch alles aufschreiben hier in deiner Höhle am Strand. Du hättest keinen Groschen mehr in der Tasche aber …!“

„Das sagt er?“

„Nein, icke sage das.“ Ronja schmiss den Ehering ihrer Mutter vor deren Füße. „Kannst ja wieder verkaufen!“, rief sie.

„Hast du ihn eingelöst?“

„Wir beide der Familie wegen!“

„Du lügst. Paul hätte nie ‚Ja’ zum Rückkauf gesagt, und Tante Loni?“Ronja schmiss auch ihr Handy der Mutter vor die Füße: „Die will, dass du endlich anrufst.“

„Weswegen denn?“

„Hm. Ja. Ich weiß es. Du aber – frag du doch selber!“

„Hier telefoniere ich aber nicht. Viel zu viele Ohren.“

„Was willst du denn schon, wolltest du nicht erst zum Essen kommen?“, meckerte Paul, der gerade die Tageszeitung las, als Annegret leise wie auf Katzenpfötchen das Wohnzimmer betrat.

„Wieso? Ronja meinte, ich solle dringend Loni anrufen.“

„Ist so!“, rief Ronja, die bereits in ihrem Zimmer war. „Hab’s gehört!“

Das Telefon klingelte. Annegret griff zum Hörer und fragte: „Rosenbaum und wer ist am Apparat?“

„He Anne, ich bin es die Loni! Endlich hab ich dich“, schrie es am anderen Ende der Leitung.

Annegret hielt erschrocken den Hörer weit vom Ohr entfernt: „He du, bin schon fast taub auf dem Ohr. Muss man so brüllen?“

„Nun entspann dich mal, dachte nur du freust dich. Weißt du noch? Ich ließ mir doch vor langer Zeit zusammen mit Ronja Fotos blitzen!“

„Was hast du?“

„Na, wir zwei Süßen sind preiswert beim Blitzer gewesen. Hat dir davon Ronja nichts erzählt?“

Annegret schrie wütend nach Ronja.

„Bin jetzt im Badezimmer. Kann nicht.“

„Soll ich’s nun schicken oder reicht es beim nächsten Mal. Du kommst doch, oder?“

„Loni, was bist du nur für ‘ne Knalltüte. Wegen diesem Foto soll ich kommen? Ist das wegen zu hoher Geschwindigkeit …?“ Annegret atmete tief durch. „Zuzutrauen wäre es dir.“

„Trau mir doch zu, was du willst. Ich schicke alle.“

„Eh, du Loni, sag, wie viele sind jetzt alle? – Und wer zahlt?“

„Anne, schau in den Karton! Gezählt habe ich die nicht.“

„Nein? Nicht? Sag mir sofort, was für Fotos das sind!“

„Fotos eben, die ehrlich guddi sind.“

„Was und von wem?“

„Kannste dich nicht erinnern? Vor ewig langer Zeit war das, als ich bei dir mal in, na in? Wo hast du studiert? Das musste aber noch wissen.“

„Tja, wo war das nur?“, atmete Annegret langsam aber hörbar aus.

Loni keifte: „Du bist schon so stur wie eure Fischköppe da oben. Schrecklich! Wie hält man das in dieser Einöde nur aus?! Nee, Anne und ja, du hattest doch damals den Fotoapparat von Opa mit, und das Knipsen damit gelang auch mir. Meine Fotos sind perfekt, denn man bedenke: Ich fotografierte das allererste Mal. Ich dich, du mich, er uns, und einmal bat ich sogar einen von der Straße zum Knipsen, weil du ja angeblich Lesung hattest.“

„Vorlesung, Loni! Vorlesung! Gelesen hat der Prof.“

„Wer? Ach so. Verlass endlich mal deine Hütte und komm so schnell wie möglich per Bus oder Bahn und besuche den König von Sachsen!“

„Loni, heulst du? Meintest du mit König etwa deinen Basti?“

„Ja, den meine ich. Der will schon wieder an die See.“

„Kann er doch. Was oder wer hindert ihn daran?“

„Schwester, die Lösung meiner Probleme liegt im Karton. Weil, na, verbrannt hab ich s’e nicht, und ich werde es auch nicht tun“, kicherte Loni.

„Du redest wieder ein Scheiß!“

„Hat er den Knutschfleck noch?“, lachte Loni hell auf.

„Wieso? Weiß ich doch nicht.“

„Ich hab meinen fotografieren lassen, als Beweis, verstehst de?“

„Du Loni, hast du ihn getroffen?“

„Wen? Ach der in Hamburg, Süße. Der könnte es gewesen sein. Weiß aber nicht genau, ob er’s war. Gibt jetzt so viele von denen hier.“

„Ich mach jetzt Schluss. Bin gerade erst angekommen.“

„Du mich auch. Komme eben aus dem Geschäft. Besser wäre aber, du würdest dich zu uns auf den Weg machen.“

„Mach dich vom Acker, Loni! Tschüss!“ Annegret tippte müde auf den kleinen roten Hörer im Display ihres Telefons. Sie öffnete die Wohnungstür und rief kurz: „Ich gehe wieder! Ich fahre zum Campingplatz, bin krank und brauche Abstand mit viel frischer Luft!“

„Und wer kocht?!“, rief Paul.

„Ich bin beschäftigt“, antwortete Ronja. „Wolltest du nicht, Paps?“

„Kartoffeln fehlen, Eier auch, und wo ist meine Butter?!“

„Ronja, holst du?“, schniefte Annegret und schloss hinter sich die Tür zum Wohnzimmer. Zu Ronja, die aus ihrem Zimmer schaute, flüsterte sie: „Im Vorratsschrank findest du alles. Spagetti gehen doch sicher auch. Oder? Wenn der Paps im Vorratsschrank nicht nachschaut, kochst du, ohne ihn zu fragen, für dich ganz alleine halt Spagetti. Hiermit erteile ich dir meine Genehmigung dafür.“ Annegret legte ihre Hände auf Ronjas Schultern und schaute bedeutungsvoll in Ronjas blaue Augen: „Ja?“

„Ich? - Lateinkabeln drücken mich zu Boden. Für Deutsch muss ich noch ‘nen großen dicken Wälzer zu Ende lesen. Nicht nur ein Kapitel, nein, stell dir vor: Vierhundertfünf Seiten sind das. Hab auch Hunger. Nudeln sind wirklich gut. Besser kannst du die aber …“

Annegret stöhnte: „Ich mal wieder.“

„Na, wer denn sonst?“

ZWEITER TEIL

„HALT AN!

So, so. So, so, mein Leben hat also mit einer Lüge begonnen. Ja. Genau das willst du mir sagen.“ Annegret wühlte weiter in alten Fotos, welche ein vergilbter kleiner Pappkarton, der nicht größer als ein Schuhkarton war, beherbergte. Nun endlich wollte sie ergründen, wer alles zur Familie ihrer bereits vor einem Jahr verstorbenen Mutter gehörte. Woher kamen sie? Was taten sie in jener Zeit, als sie lebten? Warum hielt man sich so quälend bedeckt, wenn Annegret nach ihrer Herkunft fragte? Sich selbst, und vor allem Ronjas wegen, ein Stück näher rücken, indem was und wie man fühlt oder auch denkt, danach sehnte, das wünschte sich Annegret sehr. In vielen Situationen des Lebens vermisste sie, die Annegret Rosenbaum, ein tieferes Verständnis bezogen auf ihre eigene Person. Dieser Familie heiter prickelnde, schrille Lebensart schmerzte häufig zu tief, wenn es beispielsweise um ihre Tochter ging. Mit Gelassenheit ist hier nichts mehr zu regeln, dachte Annegret oft. Zu sehr nagte in ihr wütende Unwissenheit und die Neugier fraß sich selbstständig ihren Weg frei zum Handeln. Erinnerungen, ja auch Erfahrungen hatte sie mit jener Seite ihres genetischen Ich’ so wenig wie andere nach einer mit hochprozentigem durchzechten Nacht. Um endlich Schlüsse ziehen zu können, suchte Annegret im Karton wie im Fieber nach Anhaltspunkten oder Aussagen auch für Ronjas Leben. Schon zwei Stunden kramte sie hektisch unter den Fotos und wollte Antworten auch auf Fragen wie: Warum verlief manches so und nicht anders? Warum verstarb ihre Großmutter, die Mutter ihrer Mutter, just an dem Tag, der Ronjas Geburtstag war? Warum? Annegret mühte sich um Fassung: „Wie viele Kartons hast du denn davon noch?“

„Warum?“, meinte Onkel Justus, der Bruder ihrer Mutter.

„Sind doch Kartons von Mutters Schuhe, welche sie damals angeblich preiswerter bekam, oder schenkte man ihr all diese ‚edlen’ Pumps? Das Glück in einer Schuhfabrik einen Lover sein eigen nennen zu können, hatte nicht jeder zu jener Zeit.“

„Tja“, Onkel Justus zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Selbst ich habe auch gern schicke Klamotten getragen, und dazu gehörten halt auch Schuhe.

„Gönne ich oder gönnte ich doch Mutter“, raunte Annegret und wühlte weiter in den Bildern. Plötzlich lachte sie gellend auf: „Wer ist das denn? Der sieht vielleicht aus! Wie unter, ja, unter Strom geraten!“

Ronja griff neugierig zum Foto und wollte es ihrer Mutter aus der Hand ziehen.

„Nicht doch, ich hab’s entdeckt“, brauste Annegret gleich eines Kindes, welches Angst um sein bestes Spielzeug hat, heftig auf. „Lass los! Ist das gemein von dir!“

Ronja aber hielt fest, und da passierte es: Die Fotografie, welches dem vergangenem Jahrhundert zuzuordnen war, bekam einen langen Riss.

Annegret hielt kurz inne, beschaute sich den Schaden und überließ ihrer Tochter erhaben lächelnd das Foto.

„Na, geht doch!“, triumphierte Ronja und strahlte.

Nur Onkel Justus schnappte vor Schreck nach Luft und schimpfte: „Müsst ihr euch denn immer so streiten? Hätte euch für reifer gehalten“, und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Abrupt stand er auf: „Ich brüh’ mir Kaffee“, und schlurfte brabbelnd in die Küche.

„Und wir?“, riefen Ronja und ihre Mutter fast im Chor.

„Ihr habt mit Streiten und Zerreißen zu tun, wozu dazu den guten Kaffee? Den zerrt ihr womöglich ebenfalls hin und her und verschüttet den. Ja, und die Flecken; wer macht die Flecken vom Teppich weg?! Ihr wohl kaum!“

Annegret und Ronja verstummten wie auf Kommando, sahen sich über die Härte im Ton des Onkels erschrocken an.

Ronja flüsterte: „Flecken wegputzen würden wir machen, nicht wahr Mutti?“ Sie ließ ihren Kopf auf die Schultern der Mutter fallen.

Annegret seufzte tief: „Ja, so ist es. Doch, wie du merkst, mögen ist irgendwie anders.“ Leise fordernd fragte Annegret, hörbar um Schlichtung der angespannten Stimmung wegen bemüht: „Sag uns einfach mal, wer das auf dem Foto ist. Kennen wir den? Das wäre doch sicher auch spannend für deine Großnichte, unser aller Ronja.“

Ronja nickte nur beiläufig. Ihr Gesicht wurde ernst.

„So extrem viel hat man uns nun wirklich nicht aus meiner Mutter, also auch aus deiner, Familiengeschichte erzählt. Ihr haltet euch ja und in diesem Fall, lieber Onkel Justus, du; du unser großer Problemlöser und Aufklärer verhältst dich bedeckter wie ein Schlechtwetterhimmel. Schade. Ja, wirklich nur sehr, sehr schade. Hatte ein klein bisschen mehr erwartet.“

„Sieht aus wie eine Steppe, das Gras verdorrt, schau Mutsch“, versuchte Ronja die Stimmung ihrer Mutter zu kippen, welche sich schon lange nicht mehr so traurig und enttäuscht angehört hat.

Ronjas Angst ließ Annegret schrill auflachen: „O-Beine, klein, muskulös, also durchtrainiert, dennoch irgendwie schräg der Typ. Rumpelstilzchen, würde ich sagen! Stimmt’s?“

„Ja, das ist Rumpelstilzchen; wusste nicht, dass Onkel Justus und Oma dem begegnet sind. Genau, du hast es, hast es drauf, Mutsch.“

„Du holst die Tassen“, stupste Annegret ihre Tochter an.

Ronja trabte gemächlich wie zuvor der Onkel in die Küche. Justus rüttelte geübt an einer Schublade der Schrankwand, bevor er sie herausziehen konnte. „Wollt ihr Kekse? Butterkekse“, und stellte eine Dose auf den Tisch.

Das Aroma des Kaffees erfüllte das Wohnzimmer und sorgte für eine angenehm entspannte Atmosphäre.

„Nun sag schon, der Typ da, wer ist es?“ Annegret lief rot an.

„Ah, ja! Aaach, beinah hätte ich’s vergessen: Loni bat mich anzurufen!“ Onkel Justus nahm sein Handy und lief in die Küche. Von dort teilte er Annegret mit: „Onkel ist’s, Onkel von mihier.“

Annegret betrachtete sich erneut im Spiegel und meinte: „Ein Onkel, also. Du bist dir da wirklich ganz sicher?“

„Äh … äh, Loni. Liebes. Ja, ja, bin’s. Den Termin der, … den, Loni, du weißt … weißt du?“

Ronja, die sich bemühte, die Tassen leise auf den Tisch zu stellen, und auch Annegret gelang es nicht, das Nuscheln des Onkels zu entschlüsseln. Ronja gähnte immerzu.

Ähnlich den Pfiffen eines Schiedsrichter rief Justus aus der Küche wild und unmissverständlich: „Zack, zack! Komm ‘ma, Grete, zacki die zack, die Loni muss dich unbedingt sprechen!“

„Was will die?“

„Na komm schon! Beeil dich. Sprechen, nicht beißen will die.“

„Da bin“, Annegret verschluckte sich und hustete länger als nötig, um weitere Bemerkungen schwer wie Bleiklöße im Halse festzuhalten.

„Endlich Kaffee“, freute sich Onkel Justus und eilte leicht geduckt an Annegret vorbei, während er seine immer noch hustende Nichte aus den Augenwinkeln unter Beobachtung hielt. Er grinste breit, bevor er sich erneut zur Schublade begab und Ronja zu sich heran winkte. Während Annegret telefonierte, schenkte Onkel Justus seiner Großnichte für den Heimweg viel Reiseproviant, wie er es nannte, und bat sie der Ordnung wegen, alles und zwar sofort in ihren Reiserucksack zu packen. Danach erst setzte er sich an den Tisch, goss Kaffee in die Tassen und: „Ups, ein Kaffeefleck auf der Tischdecke. Ach macht gar nichts, waschbar alles und wegen der Waschmittel heutzutage dann auch nicht mehr zu sehen.“

„Du übertreibst, hast uns veräppelt“, meinte Ronja. „Irgendwie ist das gemein von dir.“

Annegret kam aus der Küche, setzte sich zu Ronja: „Ein Onkel also?“

„Ja.“

„Und? Na, und wo steht der hier?“

„Puszta.“

„Puszta. - Was ist Puszta?“, fragte Ronja mit steigendem Interesse.

„Puszta ist halt Puszta!“, raunzte Justus, stand überraschend auf und schlurfte in die Küche. „Pustekuchen!“, rief er genervt, während er den Kühlschrank absuchte. „Bier wäre mir lieber!“, seufzte Justus schwer.

Annegret atmete auch für Justus hörbar aus: „Nun lass dir doch nicht alles aus der Na…“ Annegret beugte sich zu Ronja und flüsterte: „Ungarn, Ronja.“

„Puszta ist eine die der Steppe ähnlichen Graslandschaft in Ungarn“, gab sich Justus geläutert und setzte sich zurück an den Tisch.

„Und wann war das auf dem Foto?“, fragte Ronja.

„Ich schätze in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.“

„Stimmt. So ist es. - Nicht ein Bier mehr da“, antwortete Justus enttäuscht. „Verdammt armseliges Leben. Wo ist nur der Zucker für diesen Kaffee und meine Pfeife, wo ist die?“ Justus winkte verächtlich ab. „Ach ihr.“

Ronja seufzte so tief wie ihre Mutter.

„Hol mal Zucker, Ronja. Dass unsere Vorfahren aus Ungarn kommen, wussten wir nicht?! Lüge, stimmt’s, alles nur Lüge.“

„Lüge würde ich’s nicht gerade nennen.“

„Warum nur eierst du immer so? Konkret und Fakten bitte! Hast du doch immer drauf gehabt als ehemaliger Polizist.“

„Meinst du? Ja, wenn du das so siehst: Der Ronja Oma, die Mutter deiner Mutter, Grete, zählte gerade mal schlappe siebzehn und dein Vater war zarte neunzehn nach Kriegsende. Versteht ihr das beide? Keine Kohlen, ohne Lebensmittelkarten keine Butter und der Opa, Ronja, deiner Mutter Vater begab sich auf Karrieresprung.“

„Auf was für einen Sprung war Opa?“

„Er durfte studieren, Ronja. So viel weiß ich“, antwortete Annegret.

Ronja, die an der Balkontür stand und sich das Muster der Gardine ausgiebig betrachtete, fragte: „Hast du nicht auch studiert?“

„Ja, einmal vor und einmal nach der Wende. Die DDR gestattete mir trotz Bewerbung nur ein einziges Studium. Nicht wahr, Onkel Justus?“

Justus rollte mit den Augen und holte tief Luft.

Ronja schloss die Augen und holte ebenfalls tief Luft: „Du musst aber auch alles übertreiben. Zweimal studieren; wer macht denn so etwas? Einmal reicht doch“, meinte Ronja. „Wenn das weiter so geht mit dir und meiner Mathetussi am Gymi, breche ich ab und nicht danach, vorm Abi, vorm Mutsch, ich jedenfalls wandere, nein, ja, ich pilgre erst mal.“

Annegret schrie: „Was willst du? Wandern? Doch nicht etwa allein!“

„Jimmy kommt mit! Wir machen’s wie Harpe!“

„Harpe?“

„Kerkerling. Du kennst aber auch gar keinen.“

„Tja, und dein Abi?“

„Später! Eilt doch ni’. Eilt das?“

Annegret schluckte herunter, was sie hatte sagen wollen. Mit dem Blick auf das Foto zu Justus gewandt: „Der war der genetische. Der erste meiner Mutter war’s.“ Sie schielte zu Ronja und flüsterte: „He du, Ronja, was meinst? War er’s?“

„Halt endlich mal dein großes M-, halt den Mund, du!“, schrie Justus.

„Getroffen! Mach ich. Der da war nämlich nicht mein leiblicher Vater! Alles gut, ich wollte nur Ronjas wegen sicher stellen, dass er’s nicht war. So oft kann ich dich nun auch nicht fragen. Und meine Mutter, wie du weißt, hat sich ins Jenseits abgehoben und grinst soeben ganz sicher hinter dieser Wolke dort. Die hat mir noch nie gern erzählt, und ich vermute: Ich werde mit meinen offenen wunden Fragen allein bleiben müssen, oder habt ihr allesamt Angst vor Wahrheit und lügt bis ihr mit eurem chaotischen Seelenleben vom Psychiater in Gewahrsam genommen werden müsst.“

Onkel Justus lachte genüsslich auf: „Ha, ja! Wahrheit klingt gut. Aus Angst vor ihr landen viele sogar im Knast. Nicht jeder merkt, wie tief er gesunken ist und plötzlich, angeblich ganz unverhofft, stehen wir vor der Tür. Und – klingelst bei dir? Da gibt es keine Ausnahme. – Meinst du wirklich, dass ich lüge?“

„Du trickst, bist scharf wie deine Rasierklingen. Ein bisschen lockerer in der Bereitstellung von wichtigen Fakten und Erkenntnissen, doch nur bezogen auf die Familie und Co, wäre für Ronja und meine Wenigkeit erträglicher mit uns selbst. Wir wurden ohne eignes Verschulden ins Alltagsleben geboren. Ich spüre nicht nur sechshundert Kilometer Entfernung sondern Welten zwischen uns, lieber Onkel, und das Telefon scheinst du ebenfalls zu meiden. Zu heiß. Stimmt’s? Ach, du, gibt es eigentlich die Lauschangriffe noch?“

„He, halt du die Luft an. Telefonieren schmerzt. Ständig musste ich. Meinst du etwa, dass das immer fröhliche Nachrichten waren? Gute Gespräche waren Mangelware wie ‚Radeberger Bier’, Bananen, Apfelsinen oder Tabak, der weder Magen noch Lunge ruiniert und dazu noch schmeckt! Grete, ich will und muss endlich mal aus meiner Panik raus! Dein unerträglicher Tiefgang auch am Telefon wühlt und reißt in mir Abgründe auf, die ich nicht brauche und auch nicht mehr bewältigen will. Von Können mag ich nicht reden! Basta! Fakt und Punkt!“ Onkel Justus schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, stand abrupt auf und schlurfte zur Balkontür, öffnete sie ein wenig, wedelte galant, gleich eines den Verkehr regelnden Polizisten auf einer Strassenkreuzung mit dem Arm und der Hand und sagte: „Saubere Luft gefälligst? Noch ist welche da.“

Ronja wurde heiß: „Eh, du, Onkel Justus, – ist dir nicht gut?“

Justus atmete schwer und tief: „Ach. Doch, doch.“

„Mich schmerzt doch nur der Mangel an Zeit. Uns. Nein, nein. Nur mir wäre es natürlich lieber, wenn wir ohne auf den Zahn fühlen zu müssen, jeden Tag von dir wirklich nur ein winziges Häppchen Antwort bekämen“, lenkte Annegret ein.

„Ehrlich?“, lachte Justus plötzlich wohlwollend auf.

„Autsch! Diese Info, wollt ich. Danke!“

„Erzähl doch mal, Onkel“, bat Ronja und blickte ihrem Onkel, der am Tisch wieder Platz genommen hatte, gerührt in die kleinen schwarzbraunen jetzt samtweichen Augen.

Justus stopfte seine Pfeife mit Tabak und lächelte verträumt. Das mochte nicht nur Ronja an ihm, sondern die ganze Familie wartete oft lange auf das sanfte Lächeln des Onkels. Meist präsentierte er sich mit steilen Falten zwischen den buschigen Augenbrauen und sein Blick war unnahbar hart, und deshalb mied man ihn und versuchte es meist mit Erfolg bei Oma, seiner Schwester, die ebensolche schwarzbraunen Augen besaß. Heute aber dachte Ronja: Der lächelt wie einst auch die Oma. Immer wenn sie diese Oma besuchte, probierte Ronja mit ihren silbrig blau glänzenden und auch schillernden Augen, ebenso warmherzig zu lächeln. Mit großem Erstaunen entdeckte Ronja heute, dass ihr dies mit dem Onkel eigentlich weitaus besser gelang; denn des Onkels Blick schmeichelte nicht nur, sondern der Onkel schien sie sogar abgrundtief zu mögen, als Ronja ihm kurz aber tief in die Augen schaute.

Onkel Justus schmunzelte: „Himmlisch blau wird mir auf Erden. Ich sehe auch kleine sanfte Fischlein vergnügt im klaren Bächlein springen. Hm, singst du eigentlich noch?“

„Ich übe gerade das Jodeln mit dem Rappen zu verbinden. Folklore ist bei mir derzeit out und kleine süße Brathähnchen oder gar Schweinchen am Spieß und die ganz winzigen Fischlein in luft- und wasserdichten engen Konservendosen sind für mich ebensolche Kreaturen der Erde, die ich mit ganzem Herzen bedauere … Ich bekomme manchmal derart das Heulen, weil es einfach nur so eklig ist, wie man die alle behandelt. Für schnulzig klingendes Heimatgesäusel bekommt man sogar Gold oder Platinscheiben! Für das Retten bedrohter Tierarten aber … Onkel, mein allerliebster Onkel, das sind doch Verbrecher! Du bist bei der Polizei gewesen. Kann ich die alle anzeigen? Bitte hilf mir, bitte.“

„Ahhhja! Ja, ja, Anzeigen müsste man die. Aber nicht nur die. Hm? Was könnte man denn da nur machen? Ich bin pensioniert, also Rentner, Hähnchen und Sprotten esse ich selbst sehr gern“, brabbelte Justus überlegend vor sich hin. „Sollte ich erst mal mich dafür anzeigen, um bei einer eventuellen Klärung vor Gericht, zu welcher ich vielleicht auch Presse, Funk und Fernsehen einlade und derart involviere, dass das zum Medienspektakel wird. Das geht natürlich, doch was folgt danach? Würde sich wirklich etwas ändern? Lohnt das? Noch bin ich so la, la gesund aber allein. Macht ihr mit? Na, was ist?“

„Du blaffst. – Ich werde darüber nachdenken. Doch für heute verkürzen wir bitte auf: Nahrungskette. Etwas brauche auch ich von diesen aufgezählten Tie… Jaaa, ich brauche Fisch und Fleisch und nicht nur Kartoffeln zu Gemüse!“, meinte Annegret besorgt.

„Klar hat Ronja Recht! Wenn man es schlau beginnen würde, könnte man nicht nur für Tierarten etwas tun, aber ob die Polizei sich dafür engagieren würde, ich weiß es nicht, bezweifle es eher extrem gründlich. Wir kümmerten uns um Schwerverbrechen, sind auch für den Schutz unserer Demokratie zuständig und müssen für die Einhaltung bereits existierender Gesetze sorgen – Oh, die kommen, wie ihr wisst, nicht von der Polizei sondern von oben. Unser Brötchengeber ist der Bund. Der sagt und wir tun. Kein schlecht bezahlter Job“, freute sich Justus und blickte zur Uhr.

Ronja weinte: „Die systematische Ausrottung der Tierarten und so, das ist kein Schwerverbrechen? Die schöne Natur geht zugrunde, wir schauen zu und sterben systematisch mit. Mord, Selbstmord … die gesamte kriminelle Palette ist das! Die bringen uns alle um, wenn wir nichts dagegen tun!“

„Ronja, bitte lächle wieder. Ich prüfe ein anderes Mal unsere Gesetze und Möglichkeiten. Versteh doch. Nicht heute. In Ordnung? Ich brauche beweisbare Fakten und Tatsachen, bevor ich oder wir, die Polizei, handeln können. Ohne passiert nämlich gar nichts. Ich bin Rentner und habe alle Zeit der Welt, sofern mir der oberste Chef keinen Strich durch die Rechnung macht. – Lächelst du eigentlich auch beim Rappen?“

„Hm? Was?“

„Du hattest eben noch ein so schönes sanftes klares Lächeln. Da! Da ist es, schon wieder eine kleine Forelle!“

„Was für eine? Äh, w- was?“

„Ja, kennst du denn den Komponisten Franz Schubert aus dem neunzehnten Jahrhundert nicht? Der komponierte ‚Die Forelle’“ …

„Ein Kunstlied, Ronchen, und der Texter war Friedrich Daniel Schubert …“, versuchte Annegret mit ins Gespräch zu kommen.

„Bla, bla, ich kann mich doch nicht um alles kümmern. Ich rede jetzt mit deiner Tochter!“, und weiter zu Ronja: „Die Forellen springen so lebhaft vergnügt im Wasser wie deine Augen jetzt blitzen, funkeln und blinken. Grete, sag, weißt du von wem Ronja diese wunderschönen blauen Augen eigentlich her hat?“

„Das fragst du? Woher soll ich das wissen?! Übrigens, du meintest sicher das ‚Forellenquintett’, denn das Kunstlied habe ich nämlich nicht so lebhaft vergnügt in Erinnerung. Franz Schubert ist zwar von beiden Musikstücken der Komponist aber eine Verwechslung ist schier unmöglich. Oder täusche ich mich? – Braune. Der Urheber von Ronja besaß wie ich braune Augen.“

„Ach, braune; dann erbte Ronja sicher die Augen deines Vaters. Der konnte aus seinen, spielend leicht sogar, Tatwerkzeuge kreieren und alle, nicht nur die Frauen, wie auch deine Mutter, schmolzen dahin, weichten auf gleich süßlicher Butter in der Sonne. Schade, das war für mich oft zu unangenehm, weil die vielen süßen Butterstücke schmolzen nicht nur in der Sonne deines Vaters, sondern … – na, ja lassen wir das!

Ronja prustete laut los.

Annegret verkniff sich das Lachen: „Wieso schade? Du warst sicher auch nicht ganz ohne, mein liebstes Onkelchen.“

„Er wurde zum – zum Verräter. Trotz meiner Mahnungen entschied der sich doch immer für die sanften Methoden, mir zu viel Geschwätz mit Bla, Bla. Nicht mein Geschmack. Oft musste ich mir die eine oder den anderen kurzerhand doch noch zu Brust nehmen. Dein Vater bekam gar nichts mit davon. Den ließ ich einsam und allein mit seinen großen Glubschaugen vor mir stehen und sich wundern. Eines wusste ich; der beschwerte sich nicht etwa bei seiner Frau sondern bei mir, deren Bruder, dass ihm schon wieder ein Bekannter, er nannte es Freund, abhanden gekommen ist, oder man ihm trotz emphatischen Bemühen einen Vogel zeigte. Tja, deinen Vater mied man daraufhin für immer und ewig. Das brachte mir wiederum beruflich viele Vorteile.“

„Du hast ihn gehasst, stimmt’s?“

„Wegen der Weiber oft schon, denn die peilten ihn an wie Hornissen, und sausten um den herum wie, wie lästige Mücken vielleicht. Nicht zu ertragen. Er lachte und ich? Er konnte sich in unserem Staat doch frei bewegen und neue Freundschaften schließen und auch machen, was er wollte, oder siehst du das anders, Grete?“

„Geschwätz! Er war der einzige mit dem man sich, ich mich jedenfalls, unterhalten konnte. Von meinem Vater bekam ich Antworten, die nicht nur Hand sondern auch Fuß hatten!“, brauste Annegret auf.

„Half ihm alles nichts!“, explodierte plötzlich einer Feldmine gleich des Onkels dunkle Bassstimme.

Annegret wurde blass, als sie sah, wie sich das Minenspiel im Gesicht des Onkels verspannte und zuckte. Annegret erschrak, denn des Onkels Hand bewegte sich in die Richtung, wo einst für alle sichtbar seine Dienstwaffe positioniert war. Ein plötzlicher Herzstich, ließ Annegret den Atem anhalten. Es schmerzte tief. Hässliche Gefühle überwältigten sie, stiegen in ihr auf wie giftige Rauchschwaden über einem Waldstück während eines extrem heißen Sommers. Des Onkels Bekenntnisse wirkten wie Schüsse durch alle Organe von Annegret, die für ein Leben wichtig sind. Verzweifelt kämpfte sie nicht nur um die Wahrung ihres Gesichtes, sondern gegen den Verlust der Stabilität des hart antrainierten schönen sanften Lächeln. Nicht eine noch so kleine enttäuschte innerliche Regung versuchte sie dem Onkel preiszugeben. Ihr Minenspiel behielt sie trotz Anspannung wie Kopfschmerz und Stiche im Herz und in Galle unter ständiger Kontrolle. Den Sieg gönnte sie selbst ihm nicht, trotzdem sie sich elend und ausgeliefert fühlte. Nur zeigen darf und wird sie es keinem. Diesen Schwur hatte sie bereits während ihres Studiums auch für den Erhalt ihrer Persönlichkeit abgegeben. Denn damals schon stand sie oft genug am Abgrund. Ohne Vorwarnung, ohne zu ahnen rutschte sie ab – und hinein in … wie geschmiert Butter. Was sie erwarten wird, was für Annagreta vorgesehen ist, sagte niemand. Interessierte einfach nicht. Ab die Post und los geht es. Nachfrage nicht erwünscht und oft nicht erlaubt. So der Willkür des Schicksal unbewusst ausgeliefert, wagte sie jetzt erst, nach so vielen Jahren, ohne durch ein winziges Zucken ihre Angst und Wut im Minenspiel dem Onkel preiszugeben. Mit dem Blick zurück und dann auf das Leben im Jetzt und Hier und nach vorn sagte Annagreta in einer heiter aufgeräumten Leichtigkeit: „Bin durch. Diese Welt hat, hatte für mich bislang einfach noch nichts vorgesehen. Schicksal! – Habe keine Fragen mehr.“

„Ich aber“, polterte Justus, lehnte sich im Stuhl zurück und fragte: „Doch ein bisschen Angst? Hä? – Sei froh. Nicht nur zum Trost: Ich musste alle diese ballernden ‚Lebensretter’ abgeben.“ Er winkte verächtlich mit der Hand und lachte laut und kräftig. Ein seine Seele bereinigtes schallendes Lachen ließen Ronja und jetzt auch Annagreta erschüttern.

„Ist schwer gefallen, hm?“, rappelte sich Annagreta auf zum Sprechen, holte tief Luft und lächelte.

„Mit fühlte ich mich sicherer. Die Leute distanzierten sich aber auch ohne Waffe von mir, obwohl es keinen für mich ersichtlichen Grund dafür gab. Wenn einer seinen Job gut machen will, war das nicht nur unangenehm, sondern auch schwer zu ertragen. Hielt sich aber dennoch in Grenzen. Bei den Nutten zum Beispiel …“

Annegrets Blut geriet in Wallung: „He du, stopp mal! War er bei euch auch mit Schnüffeln, auf Staatskosten vielleicht? Sag, war er’s nicht?!“

„Dieses Blauauge? Der entzog sich mir ständig. Vom Gewissen sprach er öfter als mir angenehm. Entzieht sich meiner Kenntnis. Sollte der mich vielleicht? Nein oder doch?“

Annegret grinste.

„Was grinst du so schäbig?“ Justus drehte sich zu Ronja: „Verlern das Lächeln bitte nicht! Versprichst du mir das? Grienen und Grinsen ist kein Lächeln! Hier meine Hand“, sprach er auf einmal mit einem zarten Schmelz in der Stimme, während seine schwarzbraunen Knopfaugen samtig weich zu lächeln begannen.

„Mach ich, ja, versuchen kann ich’s“, meinte Ronja und nahm seine warme kräftige Hand in die ihre. „Das verspreche ich, Onkel Justus. Lächeln macht mehr Spaß.“

Annegret schaute zwischen beiden unentwegt hin und her. Plötzlich wetterte sie, vergleichbar dem Geheul des Orkans, der kürzlich in ihrem Wohnort wie hässliche Furien wirbelte und das Wasser der Ostsee derartaufpeitschte und auch vom Strand nichts mehr zu sehen war, unüberhörbar theatralisch los: „Ich bin nun schon vertrackte genau über fünfzig Jahre alt, und weiß von meiner Herkunft so gut wie gar nichts! Einfach nichts! Euch beiden einfach nur so mal zur Kenntnis hier! Bin ich überhaupt geboren?!“

„Von mir ganz sicher nicht!“, brauste Onkel Justus ebenfalls auf. „Tut mir schrecklich leid um deine unerträgliche Gier nach Wissen und außerdem der Neugier wegen, erzähle ich weder, dass morgen die Sonne scheinen wird und schon gar nicht, dass der angekündigte Weltuntergang später stattfindet als geplant von, – ja von wem eigentlich? So, ich mag, will und muss nicht erzählen! Ich lebe im Jetzt, erinnere mich nicht gern und unter Zwang schon gar nicht. Grete, Fische, ich schaue lieber kleinen Fischen beim Springen zu. Das belastet nicht. Sieh, die Sonne setzt sich ja doch noch durch. Das Trübsal blasende Wetter macht den Gelenken derart zu schaffen.“

„Du lügst! Hast gar keine Gicht und Rheuma auch nicht! Und was war das eben jetzt? Versagten mir vielleicht die Ohren? Du bunkerst Wissen über meinen Vater. Du könntest so viel mehr auch über meine Mutter erzählen. Warum tust du das nicht? Na, und wie ist es mit deinem nächtlichen Schlaf bestellt? Kauf dir ‘n Aquarium und bestücke das mit Fischen.“

Justus schnaufte: „Gute Idee! Wer aber versorgt mir die Fische, wenn ich mal krank oder im Urlaub bin?“

„Ich. Ich komme“, lachte Ronja: „Mir geht das Wetter auch schon lange auf die Nerven.“

„Ja, ja und mir erst. Mir auch, wie eben das Foto hier, von dem ich wie so vieles mehr, bis jetzt überhaupt nichts wusste.“ Annegret kramte weiter in Erinnerungen. Sie konnte aber so gut wie keine im Zusammenhang mit ihrer Mutter finden. Abrupt packte sie alle Bilder in den kleinen Schuhkarton zurück und verschloss ihn mit den Gedanken: Wir, Mutter und ich sind, also waren uns ähnlich in vielen Dingen und trotzdem wie zwei linke Schuhe. War sie überhaupt meine Mutter? Diese Frage werde ich beim nächsten Kommen als Häppchen servieren. Annegret stand auf und schaute sich in der, jetzt vom Onkel bewohnten, gemütlichen und wie auch bei ihrer Mutter sehr aufgeräumten und warmen Wohnung um. Viele Bilder waren es. Auf den meisten posierten ihre Schwester Loni mit Familie, dem Bruder und viele andere Verwandten stellte Annegret fest, denen sie niemals begegnet ist. Nicht einmal Ronjas Foto hatte einen Platz hier gefunden. Annegret schaute Ronja bitter an und fragte: „Wollten wir nicht heute schon fahren?“

Ronja nickte.

„Uns gibt es für euch doch gar nicht. Stimmt’s? Oder willst du an uns nur nicht erinnert werden?“, flüsterte Annegret und fühlte sich auf einmal extrem einsam in diesem wohligen Ambiente voller Bilder auch von großen Künstlern wie Albrecht Dürer, Canaletto und sein berühmter Blick auf die Altstadt von Dresden, genannt auch der „Canaletto-Blick“.

„Muss ja nicht alles oder jeder hier am Nagel hängen, meinte deine Mutter oft“, murmelte der Onkel, als er bemerkte, um was es seiner Nichte ging. „Die Silhouette von Dresden da, die hättest du ihr geschenkt. Das Gemälde mit dem ‚Schokoladenmädchen’ auch, weißt du das denn gar nicht mehr?“

„Doch! Und diese Ikone an der Wand dort ebenfalls. Hat Carolina nicht eben solche Ikone?“, zischte Annegret. „Für Ronja hast du keine Nägel mehr?“

„Kapi!“, prustete Ronja laut los, als sie ihrer Mutter steilen Falten zwischen den Augenbrauen bereits zittern sah.

„Was für ein Kapi?“

„Onkel Justus weiß nicht was der Kapi ist?! Ich mach jetzt einen auf Fischkopp, stumm oder maulfaul und antworte erst, ach egal; ich antworte das nächste Mal. Oder willst du vielleicht, Ronja? Wir wollen dem Onkel doch keine Verspannung machen. Krankenkasse fällt aus, die haben schlimmere Fälle!“

„Mit Kapi ist der Kapitalismus gemeint!“, lachte Ronja hell auf und packte noch einmal die Hand des Onkels.

Justus wurde rot, zog seine Hand gemächlich aus der von Ronja und sprach: „Tja, ich muss mir mein Bierchen wohl selber holen. Habt ihr Durst auf Wein, Sekt …? Der Keller ist noch voll mit Flaschen. Muss mal sichten. Hab’s doch verstanden.“

Annegret schluckte. Der Blick ihres Onkels glich dem Stich einer Harpune, stach spitz und scharf, und nahm Annegret die Luft.

„Von so einer wie dir lasse ich mich doch nicht“, Justus griff sich aufs Herz, stand auf aber setzte sich wieder.

„Der erste meiner Mutter? Ihr ward katholisch und er nicht. Und das machte gewaltige Probleme.“

„Woher weißt du das?“

„Ich bin Lehrerin, und die wissen alles! Fass dir ein Herz und komm mal Sitzen und Angeln! Weit übers Wasser geschaut bringt mehr Entspannung, als du es hier im Moment an der Pfeife ziehend für möglich hältst. Ja, und mein Paul würde sich ebenfalls riesig freuen. Sollten dir nach einem langen Spaziergang am Strand einmal die Beine samt Füße weh tun oder gar versagen, in unserem Keller findest du für den Notfall einen Rollator, der auch als Sitzmöbel genutzt werden kann, ja, und ein fahrtüchtiges Rad gibt’s bei uns sogar auszuleihen. Sind noch weitere Infos gewünscht?“ Annegret räumte ihre Hosentasche aus und überreichte Onkel Justus feierlich eine Visitenkarte: „Hier.“

„Und ich habe die Idee!“ Ronja sprang auf und rief: „Ich kaufe mir einen Fotoapparat, Mutti, und fotografiere Onkel Justus beim Angeln! Du hast vom Urgroßvater zum Geburtstag doch auch einen geschenkt bekommen. Dreizehn warst du oder vierzehn. Erinnerst du dich?“

Annegret betrachtete sich Justus: „Aber nur mit einem großen Fisch am Haken und nach einer Seeschlange wird bei uns auch schon jahrhundertelang vergeblich gesucht“, lachte Annegret.

„Onkel Justus, du hast Glück! Das Fahndungsbild habe ich bereits. In einem Buch der Stadtbibliothek war es.“

Annegret überlegte: „Für den alten Fotoapparat gibt es sicher keine Filme mehr, ja, und wer bezahlt den neuen?!“, versuchte Annegret Ronja zu bremsen.

„Ich! Wo ist meine Brieftasche, Annegret? Meinetwegen könnt ihr, zacki die zack, die Flocke machen. Die Brieftasche, Annegret! Ich erwarte nämlich gräflichen Besuch! Damenbesuch!“

„Komm Ronja, wir als nur geduldete Übrigbleibsel oder unangenehm fragende Reste einer maroden Familie, die in einer Gesellschaft lebt, welche trotz Meinungsfreiheit verschleiert und verwischt, was die Regeln und die Gesetze unserer ‚angeblichen’ Demokratie so möglich machen. Hier kannst du als ein nach Hilfe suchender ohne Blüten in der Tasche gar nichts ausrichten. Ronja, merkst du, wie hier die Lüge boomt und der Betrug Hochkonjunktur feiert?! All das, wogegen Onkel Justus sich höchst persönlich sogar mit Leib und Leben beruflich einmal einsetzte, all das löst auch er mit dem Inhalt seiner Brieftasche. Sind deine Blüten vielleicht sogar der Asservatenkammer des Staates, sprich Rentenkasse, entnommen? Und gewaschen auch, so hoffe ich!“

Justus erschrak. „Ich bin Beamter gewesen, bekomme …!“

„Na, siehst du, also doch, wie viel bekommt man denn so als dienendes Volk, sodass du ganz sportiv verzückt in deine Brieftasche, die sicher aus Schweinsleder ist, greifen kannst? Mir gelingt das nämlich nicht. Such sie doch selber. Gleitsichtbrille haste? So kannst du jeden Winkel der Wohnung meiner Mutter problemlos absuchen.“ Weiter sprach sie nicht, ihr versagte die Stimme, als sie Onkel Justus rot vor Zorn vor sich sitzen sah.

Er schluckte und würgte und presste gleich eines zischenden Dampfkessel aus sich heraus: „Was ich dich eigentlich schon lange fragen wollte ist: Warum hast du damals, als deine Mutter mit Familie im Urlaub war, ihre Wohnung für eine durchreisende Großfamilie aus dem Irak zur Verfügung gestellt? Hausfriedensbruch nannten wir das damals schon!“, entlud sich Justus urplötzlich, sprang auf und positionierte sich direkt vor Annegret.

Annegret schaute Justus in die Augen und sprach: „Diese Familie fand keine Bleibe in der DDR und bat mich, für eine Nacht sie unterzubringen. Die waren friedlicher als die unsrigen, und geklaut haben die ebenfalls nichts. Nur vom Krieg und von Gewalt sprachen sie damals schon.

„Konnten nicht deine Großeltern, für die du sogar die Hände ins Feuer gehalten hättest, jene Familie beherbergen? Warum ausgerechnet deine Mutter, die außer dir noch fünf Kindern hat? Ich konnte der nicht helfen! Deine Mutter musste alles allein ausbaden!“, brüllte Justus.

„Allein? Du hast ihr wirklich nicht helfen können? Du solltest, aber Mutti erzählte: Sie wollte sich von dir nicht helfen lassen!“

„Wie sollte ich das denn tun, ich war ans Gesetz gebunden, wie die heute auch. Meine eigene Schwester an die Wand stellen oder in Handschellen legen, und wenn ich geheult hätte, wäre ich als Versager …“

„Sie hat’s doch gut überlebt. Nein, die Großeltern konnten nicht. Zu groß war diese irakische Familie mit Kleinkindern, ein Baby war auch dabei, und die eine Frau stöhnte ständig wegen ihrer Wehen. Erst am Tag darauf fanden sie Unterkunft in einem Hotel. Also ich bitte dich, diese eine Nacht tat Mutti bestimmt nicht weh. Sollte ich etwa alle unter sternklaren Novemberhimmel auf der Straße übernachten lassen?“

„Du kanntest die Familie, hörte ich, erzählte man.“

„Wer ist man? Den Fahrer des Autos kannte ich. Er war ein Student der Theaterwissenschaft. Ich trampte und war heilfroh, dass er mich mitnahm. Dessen Familie war zu Besuch und fand keine Bleibe, und so bot ich ihnen, ‚ungern’ zwar, aber aus humanen Gründen, die leere Wohnung meiner Mutter an. So selten wie Mutti sich für mich ins Zeug legte, da, war jener Moment so ganz nebenbei“, lachte Annegret und grinste ihrem Onkel ins Gesicht. „Musstest wohl ganz ausführlich und genau berichten, mit Komma und Punkt ohne Fehler versteht sich? Tut mir leid der Tinte wegen. Was haste denn geschrieben?“

„Rache war das! Pure Rache!“

„Ach, du hast von Rache geschrieben? Nein, nein, nach Rache süchtig war und bin ich nicht. Gerechtigkeit. Wir leben alle auf demselben Stern. Es war ein Notfall, mehr nicht!“

„Deine Mutter hatte deshalb großen Ärger! Das weißt du, oder?“

„Mit dir vielleicht. Du hattest den größten Ärger, nicht Mutti. Du hast ihr alles verziehen und geregelt wurde auch vieles von dir. Das stimmt doch, oder? Okay! Mir aber reichte meine Mutter bislang in wichtigen Dingen selten bis keine Hand. Und ich hatte nicht nur Ärger, sondern Probleme ohne Lichtblick. Hat euch das jemals Sorgen bereitet? Großmutter kümmerte sich um uns zum Beispiel als Ronja geboren wurde. Ach, Onkelchen, lassen wir’s! Die Besorgten ward ihr damals alle nicht! Ihr wurdet informiert, und das reichte euch wahrscheinlich. Oder? Da brauchte man nicht helfen und sich kümmern erst recht nicht. Es lief auch ohne persönliche Anteilnahme. Für Ronja und mich täte es wiederum sehr leid, wenn es nicht so gewesen wäre.“

„Ihr inszeniert und täuscht auf der Bühne dermaßen, sodass …!“

„Ja, auf der Bühne aber nicht im Leben, sodass Vertrauen, bei mir zumindest, im Leben einen Platz finden kann. Ohne geht es nicht. Ich musste mir das Lügen und Betrügen oder gar das Morden auf der Bühne hart erarbeiten, und eine Wertung liegt mir im Moment so fern wie der Glauben, dass meine Mutter wirklich nicht mehr am Leben sein sollte. Zur Beerdigung war ich nicht geladen. Ruhe! Habe Kopfschmerzen.“

Justus schielte zu Annegret, hakte sich bei Ronja unter und flüsterte: „Pst! Ich weiß, wo meine ‚Blüten’ zu finden sind, wollte nur schocken, hm“, und zu Annegret: „Bring dir auch ‘ne Tablette mit.“

„Verschone mich. Willst du mich umbringen?!“

Justus tippte mit dem Zeigefinger ein Foto an: „Kennst du den noch?“

Annegret wurde übel: „Kenne ich nicht mehr. Will auch nicht.“

„Solltest du aber, der rührt und rührt ständig in deiner Suppe und bringt immer wieder alles zum Kochen, bis heute. Überlege, wie viele Jahre das her ist, seitdem du dich getrennt hast.“

„Er? Warum sollte er? Genugtuung? Rache? Eifersucht? Familiärer Hintergrund? Oder was? Sind doch aus eurem Metier gewesen, die damals ständig mitmischten, schnüffelten bis in die kleinste Pore. Arrogante heißblütige Leberwurst mit Hang zum Suizid. Wenn nichts klappte spielte der schon mal Aufhängen an der Deckenlampe und, und, und. Erspare es mir. Darin hatte der Fantasie ohne Grenzen, ja, und fürs Überleben war doch auch gesorgt. Bei dem kam immer jemand, der guckte. Vielleicht war es aber gar nur eine leicht verletzte Eitelkeit oder ein weicher Pickel im Hirn, der dann auch fürs Rauchen und Saufen von Schnaps und Whisky in Endlosschleife sorgte. Sicher nicht unüblich in dieser Glaubensgemeinschaft, sagte mir …!“

Justus schrie: „Was waren wir?! Du hast sie doch nicht alle!“

„Ja, ja, in diesem Fall ward ihr eine narzisstisch, rassistische, ich weiß es zwar, will darüber aber nicht im Geringsten mehr nachdenken, reden auch nicht. Schlimme Sache so ‘ne zynische Selbstverliebtheit, die nirgendwo Anklang findet, bei mir jedenfalls nicht! Du durftest bei dem nur verlieren. Er siegte, befand sich ständig auf der Überholspur, ohne angeblich gemerkt zu haben, dass mich sein angeblich bester Kumpel in Sichtweite, ohne ein Wort zu sagen – der spurtete vorbei, und ich?! Mein Werdegang ist dir sicher geläufiger, als mir im Moment an Erinnerung zur Verfügung steht, und an dieser Stelle sage ich der lieb gewonnenen Meinungsfreiheit wegen einfach mal: Punkt!“

„Mutsch hatte den doch geliebt, und deshalb haben die doch auch geheiratet, Onkel Justus, versteh doch bitte, hm?“

„Äh, was hab ich?!“

Justus schlurfte breit grinsend mit Ronja in die Küche und Annegret hörte wie Justus immerfort meckerte: „… Ich bin raus aus dem Spiel. Ich bin raus aus dem Spiel. Verstehst du mich, Ronja, wenigstens du? Überlass das Puzzle doch andern!“

„… UND WEITER GEHT DIE FAHRT–DIE FAHRT GEHT WEITER!

Hast du wirklich schon Lust nach Hause zu fahren?“

„Nö, nicht wirklich.“

„Na, dann; dort rechter Hand, schau, sind noch offene Schließfächer.“ Annegret packte die Schlaufe am Gurt ihres kleinen Koffers und zog ihn energisch hinter sich her.

„Warte doch. Wo willst du denn hin? Der Zug fährt bald.“

„Ronja. Ich zeige dir erst einmal, was für mich hier vor Ort relevant war oder vielleicht gar noch ist. Tja, man weiß nie, was einem das Leben noch alles anspülen wird.“

„Alles?“, stöhnte Ronja. „In der Gemäldegalerie war’n wir bereits und die anderen Schlösser und Museen besuchten wir ebenfalls tausende Male“, bremste Ronja ihre wieder einmal überbordend kreativ und ausschweifend reden wollende Mutter. „Wozu alles? Alles, nein, alles will ich aber heute nicht sehen und wissen erst recht nicht!“

Ihre Mutter, die selbst ihre Lebensereignisse gern mit tiefer gut ausgebildeter ruhiger Stimme, sowie einst auf der Bühne, deklarierte, ließ auch beim größten Quark, so äußerte sich Ronja gern, die Zuhörer lauschend stehen bleiben. Das war für Ronjas Geschmack bei der Ankündigung. AL-LES nicht nur heute zu viel. Zu oft stand sie peinlich berührt daneben. Ronja wollte das kein weiteres Mal. Denn in derart Situationen gleich einem Hasen ständig die Flucht ergreifen zu müssen, denn die Energie und das immer währende Suchen der Mutter nach Ronja, nervte, hatte Ronja satt wie Radieschen sähen im heimischen Garten oder auch das Klappern und Quietschen ihres Fahrrades; Ronja war siebzehn. Sie besaß im Gegensatz zu Jimmy immer noch keinen Führerschein. Darum beschloss sie für sich ganz allein, vor Monaten schon, erst einmal die Gespräche ihrer Mutter in der Öffentlichkeit zu meiden, auszubremsen oder gar zu verhindern. Meist aber flüchtete sie und war kaum auffindbar. Wenn aber die Wortgewalt gemildert schien, der Tatendrang abgedampft, gesellte sie sich gern wieder zu ihr. Ronja überlegte: Relevant? Was kann schon derart relevant sein? Auf keinen Fall so viel wie ALLES! Sie beschaute sich ihrer Mutter Profil aus den Augenwinkeln heraus scheel an und stellte fest: Zu lang geratene stupsige Nase, stattliches spitzes Kinn und eine Haut wie geriffeltes, leicht knittriges Packpapier. In Ronja keimte der Verdacht, dass ihre Mutter sich ganz schön gehen lässt in Fragen Pflege, oder nimmt sie gar die falschen Cremes? Ein anderes Peeling und öfter als sonst Masken mit mehr Feuchtigkeit der trockenen Haut wegen einsetzen, riet sogar Loni, Ronjas Lieblingstante und kleinste Schwester ihrer Mutter. Warum nimmt Mutsch das nicht ernst?!, ärgerte sich Ronja. Sie verzweifelte fast bei dem Gedanken, dass die äußerst geschäftstüchtige Tante Loni in ihrem pompösen Edelsalon, wie Ronja das Fachgeschäft für Kosmetikartikel nannte, enorm viel Schotter auf der Kralle haben müsste, ihrer Mutter aber nicht in jedem Fall eine gute Ratgeberin war oder gewesen sein konnte. Von Oma hörte sie nämlich, dass Tante Loni auch eine Ausbildung für Wurst und Fleisch vom Fleischer, besäße. Weitaus mehr aber schwärmte die Oma, als sie noch lebte, von Tante Lonis selbst kreierten Salben, Ölen wie auch Parfüm. Ja, und Mutsch fand im selben Gespräch ein solch starkes Gefallen an einer ihrem Alter angepassten überaus gehaltvollen softe Creme, oder lügt Mutsch an dieser Stelle? Ronja schoss das Blut durch die Adern wie eine Feuerwehr zum Einsatzort. Warum nur sieht man das einfach nicht? Müsste ihre Haut nicht irgendwie, na, einfach straffer wirken? Selbst Omas Haut gefiel ihr manchmal besser, als die ihrer Mutter. Ronja fing an zu kichern. Sie dachte: Ich werde meiner Mutsch zum Geburtstag ein winzig kleines Bügeleisen schenken und für die Furchen im Gesicht viel Knete und auf die Karte schreibe ich dann:

GESCHWISTERLIEBE SIEHT ABER ANDERS AUS, LIEBSTE MUTSCH. NUR TÖCHTER WISSEN, WAS FÜR IHRE MÜTTER BESSER IST; WAS NOT UND GUDDI TUT!

Je länger Ronja ihre Mutter betrachtete, umso mehr fühlte sie mit ihr, zerflossen ihre Aggressionen in Mitleid. Mitleid wollte sie aber nicht zeigen. Denn auf Mutters Haare schien selbst Landolf, der kleinste Bruder ihrer Mutter, neidisch. Während Annegret ziegelrotes volles langes mit natürlichen Wellen versehenes Haar besaß, das bei Wind verspielt um Annegrets Kopf meist fröhlich wirbelte, hatte der schmächtige Landolf dünnes blondes Haar, welches er gern mit Spray oder Gel in Form zu bringen versuchte. Oma lobte ihn seiner Sorgfalt wegen und auch Annegret wie selbst Ronja fanden ihn zuckersüß anzuschauen. Nur er kokettierte solange, bis alle ihn mitsamt seinen Haaren hässlich fanden. Da dachte sich Landolf, jetzt erst recht und zwirbelte mit Gel seine Haare wie Igelstacheln spitz hoch auf und fragte: „Na, geht es so vielleicht?“

Auf Fragen: „Warum?“, antwortete er jedes Mal: „Eben d’rum.“

Ronja lachte bei den Gedanken an Landolf. Denn alle rätselten aber keiner wusste, welche Richtung er in Fragen Freund oder Freundin einmal einschlagen wird. Landolf ist unser Fisch, sagte Mutsch einmal. Was aber ein Fisch mit Landolf gemein haben soll, konnte sich Ronja bislang nicht erklären, denn Landolf war zwar gefühlt etwas kalt und glitschig zu Ronja, dafür aber konnte er brillant denken und über seine Witze lachte ebenfalls jeder. Auch seine heikelsten Scherze nahm ihm, bis auf Mutsch, keiner wirklich übel.

Ronja senkte den Blick und streifte kurz den ihrer Mutter. „Wie lange werden wir brauchen?“, fragte sie.

Annegret zuckte mit den Schultern. „Alles werden wir sicher nicht schaffen“, lachte sie. „War übertrieben, meinst du nicht auch? Bist du eigentlich schon einmal so richtig lange mit der Straßenbahn gefahren?“

„Äh, ja, jain, Rostock denke ich – lange war das aber nicht.“

„Siehst du. Das werden wir jetzt nachholen. Was wir schaffen, das machen wir und was nicht; es gibt so viele Tage noch im Leben.“

Ronja holte tief Luft und atmete betont langsam aus. Sie hielt sich am Arm ihrer Mutter fest: Weitere Male soll es für Mutsch also auch noch geben. Ich werd zum Trampel oder Schwergewicht bis ich volljährig bin, oder ich schlurfe hinkend nur noch hinter ihr her. Nein, ich verkrümle mich …, ich werd zum Hasen, stöhnte Ronja in Gedanken und setzte sich im Schneidersitz direkt vor Annegrets Füssen auf den Steinfußboden. Mutsch weiß, wie ich das finde. Glaubt sie mir nicht?

Annegret sah zur Uhr. Diese zeigte auf kurz vor Zehn. „He, aufstehen, willst du Grippe im Darm?!“

Ronja sprang entsetzt auf: „Was?“

„Erkläre ich später. Gute Zeit. Wir sollten es angehen. Meinst du, dass wir uns bei Onkel Justus nochmals einklinken könnten, wenn Bedarf bestünde?“

„Der hat uns doch eben, na, der bekommt nur Besuch! Ansonsten glaube ich schon, dass er mich … Ob er allerdings dich …“

Annegret schloss die Augen, nickte immerzu mit dem Kopf und pfiff.

Ronja begann zu lächeln. „Keinen Langweiler, bitte. Ach Mutsch, war ‘n Scherz“, lachte Ronja aus vollem Herzen, als sie die Gesichtszüge ihrer Mutter entgleisen sah. „Weißt du, was ich glaube? Der Onkel Justus würde sich riesig freuen, wenn wir …“

„Glauben ist leider nicht wissen! Hast alles drin?!“, polterte Annegret.

„Ja, ich habe alles drin. Besser?“

Annegret ließ die Tür zum Schließfach ins Schloss einrasten. Ihre Versuche entspannt zu lächeln endete in einem traurigen Seufzer. Abrupt legte sie ihren Arm um die Schulter ihrer Tochter. Im Gleichschritt durchquerten beide den Dresdner Hauptbahnhof. Am Hauptausgang blieb Annegret abrupt stehen, drehte sich noch einmal um, so als wolle sie ein für allemal prüfen, ob die Entscheidung, heute hier noch ein wenig verankert zu bleiben, richtig war. Ängstlich, nur leise säuselte sie: „Tschüss.“ Ihr Blick prüfte bewundernd verzückt die Vorderseite des Bahnhofes. Annegret konnte, nein, sie wollte sich nicht lösen und überhäufte den Bahnhof gleich einem Geliebten sanft mit Worten: „Toller, Bahnhof! Wenn ich da so an früher denke: Wochenendeinkauf in dem tätigen, nee, das war nicht. Der hat sich gemausert, hat sich heraus geputzt wie eine Diva; ja! Ja ‘n bisschen derb und laut mein …, dieser Ton da drin; sehr, sehr laut, zu laut isser geworden aber ansonsten, Ronja; meinst du nicht auch? Schnucklig, das trifft es.“ Annegret schielte zu Ronja und verkniff sich zu lachen.

Ronja zog urplötzlich den Kopf zwischen die Schultern und schaute vorsichtig um sich. Ronja checkte ab, ob irgendjemand die seltsamen Anwandlungen ihrer Mutter mitbekommen hat und hustete und prustete: „Oh! Eh! Äh! Alles in Ordnung? Auch das in dir, Mutsch?“

Ein Pärchen stockte kurz hinter ihnen und rauschten kichernd vorbei.

Ronjas Versuch, darüber erhaben zu sein, scheiterte. Sie fühlte sich den peinlichen Anwandlungen ihrer Mutter mit ausgeliefert und konnte daran, so sehr sie sich das auch wünschte, bislang nichts ändern. Anderes Verhalten oder Ansichten, die einzig und allein Ronjas Vorstellungen von einer sich in der Öffentlichkeit akzeptable präsentierenden Mutter entsprachen, einfach aufdrücken, widersprachen Ronjas Auffassung im Umgang mit Menschen. Was sollte sie tun? Flüchten, wenn es peinlich wird? Dulden und sich in Demut üben? Distanzieren? Sie musste wie viele Kinder, ihre Mutter nehmen wie sie so ist. Ronja sprach quälend um Heiterkeit bemüht. „Ja, ja. Du solltest mal den Berliner oder auch Leipziger Hauptbahnhof sehen; die gleichen alle überdimensionalen Einkaufszentren. Dort kannste kaufen bis!“ Sie holte tief Luft. „Wenn nicht auch noch Züge drin wären, man würde die nicht für Bahnhöfe halten.“ Ronja zog und zerrte am Arm ihrer Mutter, um sie aus der für Ronja äußerst peinlichen Verzückung zu reißen.