Das Universum nach Landau - Karsten Kruschel - E-Book

Das Universum nach Landau E-Book

Karsten Kruschel

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Beschreibung

Als unerwartet eine biologische Katastrophe losbricht, bei der die Pflanzenwelt auf der Erde völlig durchdreht, scheint das Ende der Menschheit gekommen. Aber sie überlebt. Als eine geheimnisvolle Macht eine Welt nach dem anderen übernimmt oder auslöscht, gibt niemand mehr einen Pfifferling auf den Homo sapiens. Aber er macht weiter. Auch wenn er von unbegreiflichen Lebensformen absorbiert wird, zum alles beherrschenden Raubtier umgewandelt oder von einer übermächtigen Zivilisation zur Ausrottung vorgesehen wird, es gibt ihn immer noch. Selbst als die Kälte in ihrer reinsten Form ihn umzubringen versucht, widersteht er. Und auch, als sich das Universum selbst sich gegen ihn auflehnt, findet der Mensch einen Weg, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Nach den Romanen über den Regenplaneten - "Vilm. Der Regenplanet", "Vilm. Die Eingeborenen", "Vilm. Das Dickicht" - und dem Roman "Galdäa. Der ungeschlagene Krieg" entführt Karsten Kruschel, zweifacher Gewinner des Deutschen Science Fiction Preises, den Leser wieder in sein Universum. Es gibt viel Neues zu entdecken, vor allem aber den wichtigsten Verbündeten: Die Zeit.

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Von Karsten Kruschel bisher im Wurdack Verlag erschienen:

Vilm – Der Regenplanet

Vilm – Die Eingeborenen

Galdäa – Der ungeschlagene Krieg

Vilm – Das Dickicht

Das Universum nach Landau

Karsten Kruschel

Das Universum nach Landau

Roman in Dokumenten und Novellen

(c) 2016 Wurdack Verlag, Nittendorf

www.wurdackverlag.de

Lektorat: Heidrun Jänchen

Covergestaltung: Ernst Wurdack

ISBN der Druckausgabe: 978-3-95556-093-5

Inhaltsverzeichnis
Das Universum nach Landau
1. Grün: Im Sternzeichen des Rasenmähers
E-Mail von Landau an alle
Rezept für Katzenbaby-Crépinette à la chatte étouffée
2. Rote Bonbons
oder: Eskimos sind auch nur irgend so ein Feind
Lexikoneintrag: Atibon Legba
3. Violets Verlies
Das Testament des Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christofor Antonowitsch Juliette-Bugatti
4. Ende der Jagdsaison auf Orange
Vorletzter Tag der Jagdsaison, um die Mittagsstunde
Vorletzter Tag der Jagdsaison, abends
Letzter Tag der Jagdsaison
Erster Tag nach dem Ende der Jagdsaison
Rezension von »Raumfahrende Menschheit«
5. Gelb wie Zwiebelgras, Jahre vor dem Frühlingsende
Geburtsurkunde, leicht beschädigt
6. Weiß: Der Ausweg Blanche
Unvollständige Liste der unauffindbaren oder unauffindbar gewesenen Welten
7. Schwarz:Netz:Schwarz
Unwesentlicher Kommentar
Anmerkungen

1. Grün: Im Sternzeichen des Rasenmähers

Obwohl der alte Mann erst seit wenigen Stunden tot sein konnte, war bereits Gras über ihn gewachsen.

Eva Talman kniete neben dem Körper und betrachtete ihn im frischen Licht der Morgendämmerung. Ole Bernsens Füße und Beine waren vollständig von zarten Grashalmen überwuchert, ebenso die linke Hand und der größte Teil des linken Armes. Fingernagellange grüne Triebe, dicht an dicht. Den Rumpf des Leichnams hatte das emsige Unkraut nicht vollständig besiedeln können. Es mochte seine Wurzeln nicht durch Fleisch bohren, das noch warm war.

Ole Bernsen hatte in den letzten Sekunden seines Lebens versucht, den Schnitt in seiner Kehle mit seiner rechten Hand zuzuhalten. Eine zwar verständliche, aber völlig sinnlose Reaktion, wenn einem Luftröhre und Schlagader derart gründlich durchtrennt worden waren.

»Selbstmord können wir ausschließen«, sagte Eva und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.

»Ach, wirklich?«, sagte Maximilian mit einem gezwungen spöttischen Unterton. Er stand ein paar Meter hinter der Bürgermeisterin, um nicht zu ihr aufblicken zu müssen. Sein Gesicht war kreidebleich; seine Augen flackerten aufgeregt, und er hatte offensichtlich alle Mühe, nicht hinter das nächste Gebüsch zu kotzen. Sein Kumpel Torbjörn, der den Toten gefunden und als erster Alarm geschlagen hatte, war weniger widerstandsfähig gewesen und würgte immer noch. Sein Mageninhalt lag neben ihm am Wegesrand und würde morgen für eine besonders üppig emporsprießende Pflanze an dieser Stelle sorgen. Oder ein absonderlich farbenfrohes Moos. Je nachdem, was er gegessen hatte.

Die Bürgermeisterin würdigte die beiden jüngeren Männer keines Blickes. Das Licht der aufgehenden Sonne zeichnete lange Schatten von Haus zu Haus, ausgehend von den überall aufragenden Reaktionstanks. Irgendwo in der Siedlung warf jemand den ersten Rasenmäher an.

»Ja. Selbstmord können wir ausschließen. Es gibt nämlich keine Tatwaffe«, antwortete Eva Talman auf die Frage, die keine gewesen war. »Irgendwas verteufelt Scharfes war das, soviel steht fest.«

Die Schnittkanten, die sie hinter den mit geronnenem Blut verkrusteten Fingern des alten Mannes gesehen hatte, waren glatt und makellos. Die Wunde starrte genauso teilnahmslos in den blitzblauen Himmel wie die trüb gewordenen Augen von Ole Bernsen.

»Messer?«, brachte Maximilian hervor.

»Nicht unbedingt ein Messer. Heutzutage haben Messer viel Konkurrenz.«

»Binsenblätter?«, fragte Max, dessen jungenhaftes Gesicht langsam wieder Farbe annahm.

»Wäre möglich.«

Die großgewachsene, früh ergraute Frau dachte an die Sauergrasgewächse, die jeden morastigen Fleck und jeden Pfützenrand in kürzester Zeit überwucherten und sich mit ihren gezähnten Blattkanten, scharf wie Samurai-Klingen, zu wehren wussten. Man hatte bereits Hunde gesehen, die in so eine Pflanze gelaufen waren und dabei Pfoten oder gar ein Bein eingebüßt hatten.

Damals, als es noch Hunde gab.

»Hier kannst du nicht liegenbleiben, Ole«, sagte sie, stand auf und gab Anweisungen. Die Morgensonne ließ nach und nach, während sie höher stieg, die Farben der buntlackierten Biogastanks aufleuchten, die sich über und neben den Eigenheimen der Siedlung in den Himmel streckten.

Maximilian und Torbjörn zogen, so wie es die Bürgermeisterin angeordnet hatte, den Leichnam des alten Mannes auf eine dicke Plane, damit das Gras ihn nicht weiter überwuchern konnte. Die Wurzeln der Pflanzen wurden mit auf die dicke Plastikfolie gelegt, um die Wasserzufuhr zu stoppen, und die Plane mit dem Körper darauf in den tiefen Schatten des nächsten Gärtanks gezerrt, um das Wachstum der Triebe zu beenden.

»Nicht doch«, sagte Eva, als die beiden jungen Leute sich anschickten, die Wurzelsprossen aus dem Leib und den Beinen des Mannes zu zupfen.

Maximilian und Torbjörn blickten die Bürgermeisterin verwirrt an.

»Lasst es so, wie es ist«, sagte sie und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Bahnhofes. »Mit dem Dienstagsmäher kommt der Polizist aus der Hauptstadt. Der möchte bestimmt den alten Ole nicht zerfleischt vorfinden.«

Sie wusste, dass die weitverzweigten Rhizome dieses Grases mittlerweile die Schienbeinknochen des alten Mannes mit einem zähen Geflecht umrankt hatten. Mindestens.

Die beiden Männer wichen zurück, als könnten die Pflanzen in Ole Bernsens erkaltendem Leib sie plötzlich anspringen.

»Diese Wurzeln können sehr lang sein«, erklärte Eva Talman, »und sehr widerstandsfähig.«

Sie musste lauter sprechen, weil das Knattern der Rasenmäher nun aus allen Richtungen kam. Die Siedlung war erwacht und lärmte herum wie jeden Morgen. Alle, die gehen konnten und denen ihr Leben lieb war, füllten den seit gestern frischvergorenen Treibstoff aus ihren Reaktionsgefäßen in die Rasenmäher um, und machten sich daran, die Stadt vom frischgewachsenen Unkraut der letzten Nacht zu befreien.

Das war einer der Gründe, die Binsen mit den mörderisch scharfen Blättern nicht auszurotten. Sie gaben prima Schneiden für die rotierenden Arbeitsmesser ab, und es war sehr praktisch für die tägliche Morgenarbeit, wenn die Ersatzklingen jederzeit ein paar Schritte entfernt wuchsen, griffbereit.

Heute war Dienstag.

Ich sollte zum Bahnhof gehen und den Polizisten darüber aufklären, dass er dieses Mal mehr Arbeit zu erledigen haben wird als sonst, dachte die Bürgermeisterin.

»Ähem«, sagte Maximilian.

Eva Talman blickte ihn überrascht an.

Hatte sie wirklich so schnell vergessen, dass er brav wie ein begossener Pudel neben der Plane mit dem teilbegrünten Ole Bernsen stand? Dann winkte sie ab. Sollte er sich trollen, wahrscheinlich wartete sein Pensum Rasenmäherarbeit auf ihn. Torbjörn hingegen hatte sich einfach verdrückt, wortlos. Wahrscheinlich füllte er inzwischen längst gehäckselte Biomasse in seine Gärtanks.

»Auf Wiedersehen, Ole«, sagte sie, blickte noch einmal auf den alten Mann herab und wandte sich ab.

Ole Bernsen würde hier auf sie warten, die steife Hand an seiner Kehle – teilweise grasbedeckt, auf seiner dicken Folie, durch die keine Triebe hindurchwachsen konnten.

Jedenfalls nicht im Laufe eines einzigen Tages.

Umschwirrt von den summenden, töffelnden und ratternden Klängen der Morgendämmerung ging die grauhaarige, große Frau die Hauptstraße hinunter in Richtung Bahnhof. Hier und da wurde sie gegrüßt; die meisten Leute waren jedoch zu sehr damit beschäftigt, das in der letzten Nacht emporgeschossene Pflanzenzeug zu stutzen. An manchen Stellen war es kniehoch, hier und da ragte es bis zur Gürtellinie eines ausgewachsenen Mannes hinauf. Zwischen den dünnen Grashalmen verbargen sich Distelstrünke und Stauden, die spotzende Hustenanfälle im Gedröhn der Rasenmäher verursachten, wenn die rotierenden Schneiden in ihre saftigen Stiele hineinhieben und sie entzweisägten.

Eva Talman rümpfte die Nase. In die vielfältigen Gerüche der emsig arbeitenden Rasenmähermotoren – jeder Gärtank produzierte seinen eigenen brennbaren Treibstoffcocktail – mischte sich hier und da der Gestank halbvergorener Pflanzenmasse. Nicht alle Biogasanlagen und Gärbehälter in der Siedlung waren hundertprozentig dicht. Je nachdem, was gerade in der Apparatur seine Erscheinungsform wechselte, konnte man unversehens das saure Aroma von Silage in die Nase bekommen oder die scharfen Ausdünstungen eines lange nicht gereinigten Tigerkäfigs.

Leider war der direkte Weg zum Bahnhof nach wie vor versperrt. Eva Talman musste die Hauptstraße verlassen und einen großen Bogen um die Pflanze machen, die sich im zerstörten Vorgarten der ehemaligen Tierarztpraxis breitgemacht hatte. Das immense Herkuleskraut war längst über dreißig Meter hoch und mindestens ebenso ausladend. Es versperrte die Straße in ihrer vollen Breite. Schon lange traute sich niemand mehr, Hand an dieses Gewächs zu legen. Seine Blätter und Dolden – und sogar die Stiele – waren mit mordsscharfen Nesselhaaren bedeckt. Das waren Nadeln, die durch Haut und durch Lederhandschuhe mühelos hindurchstachen. Die geringste Berührung dieser Pflanze genügte, um sich den Rest seines Lebens daran zu erinnern. Denn das heimtückische Kraut sonderte über seine Nesselhaare ein geruchloses, furchteinflößendes Teufelszeug ab. Furanocumarine, hatte der Doktor gesagt, ehe er an seiner eigenen Begegnung mit dem Kraut gestorben war. Eine tückische chemische Verbindung, die zu grässlichen Verbrennungen führte, eiternden Pusteln und zerstörten Hautpartien. Noch schlimmer war die Wirkung, wenn sie ans Freie gelangte und das Sonnenlicht ihre Giftigkeit explodieren ließ.

Die Bürgermeisterin schätzte den Winkel ab, in dem das Morgenlicht das Herkuleskraut beschien. Wenn es sehr warm war, gaste die Pflanze ihre höllischen Inhaltsstoffe gern in ihre Umgebung aus. Der Doktor hatte es damals eingeatmet, als er den unvorsichtigen Mechaniker gerettet hatte, und seine Lungen waren von innen heraus langsam verbrannt und zersetzt worden.

Das war kein schöner Tod gewesen. Deutlich hässlicher, als nach einem glatten Schnitt durch die Kehle zu verbluten.

Sie beschloss, den sicheren Weg außen herum zu nehmen. Dieser Sommer war zu heiß, um das Risiko des Trampelpfades einzugehen, der sich direkt an den quadratmetergroßen Blättern des Herkuleskrautes vorbeiquetschte. Und gemäht worden war dort schon ein paar Tage nicht mehr. Es könnte also mühsam werden, sich durch die Unkräuter zu wühlen, die inzwischen auf den Pfad emporgewuchert waren.

Unbedingt vormerken, dachte Eva und umrundete das verfallende Haus des Tierarztes in weitem Bogen. Die nächste Aktion mit unserem Flammenwerfer muss diesem ekligenHeracleum mantegazzianum gelten. Und zwar nachts. Wenn es nicht mehr so trocken sein würde wie derzeit.

Der Umweg blieb ohne Folgen: Der Dienstagsmäher hatte Verspätung.

Mattis Schmitz hob bedauernd und nur beiläufig die breiten Schultern, als er die weißhaarige, große Gestalt der Bürgermeisterin näher kommen sah. Dann fummelte er weiter in den Eingeweiden seines Rasentraktors herum. Er hatte rings um den Bahnhof sehr viel Fläche freizuhalten, und entsprechend häufig musste er frische Binsenblätter in den Sichelhalterungen seiner Maschine befestigen. Wegen der Hitze hatte er das Oberteil seines zerschlissenen Overalls um die Hüften gebunden, so dass die Ärmel bis zum Boden herab baumelten, und riskierte wieder mal einen Sonnenbrand. Das Licht des heißen Tages brannte auf seinen nackten Rücken.

»Wie lange?«, fragte ihn Eva Talman.

Mattis hörte auf, mit dem Werkzeug herumzuklappern. Dann sprang er fast ohne Anlauf zu dem stählernen Bahnsteig hinauf. Früher war der mal die Ladefläche eines Autotransporters gewesen. Von dort aus spähte der Mechaniker nach Osten, die Augen mit der Hand beschirmend. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Arbeiterdenkmäler in genau solchen Posen aus Bronze gegossen worden waren, dachte Eva. Muskeln, eine angespannte Körperhaltung und der Blick in die Ferne. Die hatten jedoch nach einer lichten, glücklichen Zukunft Ausschau gehalten, nicht nach dem Zug.

Irgendwo dort hinten stiegen die Abgase des Dienstagsmähers in die Luft, der sich wie üblich mühsam vorankämpfte.

»Du hast Glück«, sagte Mattis und kam wieder herunter. »Nicht mal eine Stunde, denke ich. Die Trockenheit lässt all den grünen Dreck ein bisschen langsamer wachsen. Es muss ja auch mal gute Nachrichten geben.«

»Gab es denn so viele schlechte?«, erkundigte sich die Bürgermeisterin.

Der Mechaniker warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Es beunruhigt dich nicht, wenn unsere Nachbarstadt sich drei Wochen lang nicht meldet? Wenn niemand von dort bei uns auftaucht, wie sonst regelmäßig? Na, ich weiß ja nicht.«

Er hatte Recht, das wusste Eva. Sie hatte gedacht, dass das Verstummen der Gemeinde mitten im Wald nicht allgemein bemerkt werden würde. Nicht so schnell. Es gab genug andere besorgniserregende Neuigkeiten – das abrupte Verstummen des Verwaltungssenders in der Hauptstadt hatten ja nur die Bürgermeister mitbekommen, denn der Sender war verschlüsselt gewesen.

»Ich habe ihnen immer geholfen, ihren John Deere für die Rückfahrt fertigzumachen«, sagte Mattis und zeigte in die Richtung, in der die Waldgemeinde lag. Den riesigen amerikanischen Mähdrescher hatte man so umgebaut, dass man damit den Weg durch den irrsinnig gewordenen Wald zurücklegen konnte, denn Bahnanschluss gab es dort hinten nicht. »Das hat immer Spaß gemacht. Fast soviel, wie an meinen Armbrüsten zu bauen. Ich habe eine ganze Reihe davon, musst du wissen.« Er wollte sich wieder seinem kranken Traktor zuwenden.

»Ole Bernsen ist tot«, teilte Eva ihm mit.

Schmitz hielt kurz inne und kratzte sich die nackte Brust.

»Kann kaum behaupten, dass mich das betrübt«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Schließlich ist er ein Eierkopf. Äh, schließlich ist er ein Eierkopf gewesen. Hm. Womöglich einer der Eierköpfe, die uns diesen Schlamassel eingebrockt haben, oder?«

Dann beugte sich Mattis wieder in die dunkle Mechanik des Rasentraktors hinab. Auf seinem Rücken konnte Eva Talman die Narben sehen, die sich blassrot abzeichneten und ein wirres Muster bildeten. Als hätte ein urzeitliches Vieh versucht, dem Mann alles Fleisch von den Rippen zu reißen.

»Jemand hat Ole Bernsen den Hals durchgeschnitten«, teilte Eva mit.

Mattis erstarrte.

Dann wandte er ihr im zahnraddurchsetzten Halbdämmer der Maschinerie sein schweißnasses Gesicht zu und fragte, ohne sich aufzurichten: »Ach so? Schon eine Ahnung, wer’s war?«

»Nicht die geringste«, antwortete Eva und beobachtete Schmitz’ Reaktion.

Er grunzte kurz, als habe er so eine Antwort erwartet, und widmete sich wieder seiner Arbeit. Dabei murmelte er ein paar Worte vor sich hin, die man nicht verstehen konnte.

Eva ging sehr nah an den halb auseinandergeschraubten Mäher heran, so dass sie den Schweiß des Mechanikers riechen konnte. Dann fragte sie Mattis, ob er ihr etwas mitzuteilen habe.

Er schrak hoch und stieß sich den Kopf an der aufgeklappten Motorabdeckung.

»Au, verdammt! Was soll ich denn mitzuteilen haben? Was?«

»Wo du gestern Abend gewesen bist, beispielsweise«, sagte die Bürgermeisterin leise, sehr leise. Typen wie Mattis Schmitz hörten am besten zu, wenn man nicht halb so laut war, wie sie selbst üblicherweise herumpolterten.

Der Trick funktionierte immer wieder. Der halbnackte, schwitzende Mann überlegte. Er drehte dabei irgendein Werkzeug in seinen Händen wieder und wieder herum, und sprach langsam, während er sich an Einzelheiten erinnerte, die eigentlich unwichtig gewesen waren.

»Ich hab Maximilian geholfen, seinen Sekundärtank wieder hinzubekommen. Da waren ein paar Ventile festgegangen, und die ganze Straße stank nach saurer Milch. So Kleinkram halt. Nachbarn können allerdings ganz schön sauer werden wegen so was. Danach ... danach war ich in der Faulen Ameise, was trinken. Frau Lehmann hatte ihren neuen Whisky aufgemacht. Sie nennt es einen Single Cask Malt, ein sagenhaftes ganzes Jahr alt. Verkostung zum halben Preis.«

Schmitz schüttelte sich und grinste bei der Erinnerung an den Kneipenbesuch.

»War immer noch zu teuer, wenn du mich fragst.«

Er hatte recht. Eva Talman war ebenfalls dort gewesen und hatte gekostet, was Frau Lehmann in ihrer Baracke als Whisky ausgeschenkt hatte.

»Desinfektionsmittel«, sagte sie. Bei der Erinnerung an den Geschmack des Schnapses musste sie sich ein bisschen schütteln.

»Möglicherweise. Oder Abbeize. Sollte jeden Lack von der Kommode runterholen ... Warum fragst du das eigentlich?«

Beide vermieden die Gedanken daran, dass die Quellen des wirklichen Whiskys vor wenigen Monaten versiegt waren, als habe eine noch fürchterlichere Gewalt als die der entfesselten Pflanzenwelt sie hinweggewischt.

»Wie lange warst du in der Faulen Ameise?«, fragte Eva. »Als ich dort war, habe ich dich nicht gesehen.«

Mattis achtete nicht auf ihren forschenden Blick.

»Keine Ahnung«, erwiderte er. »Ich war ziemlich zugelötet. Stark war sie ja, Frau Lehmanns Batteriesäure. Ich bin dann wohl irgendwann nach Hause getorkelt. Habe ein wenig an einer Armbrust herumgeschraubt und bin darüber eingeschlafen.«

Eva schüttelte den Kopf. »Besoffen gewesen zu sein ist kein besonders gutes Alibi.«

Schmitz schraubte sich vor ihr zu seiner vollen Größe empor und starrte die grauhaarige Frau drohend an, was ein bisschen seltsam wirkte, denn er musste nach oben schauen dabei.

»Alibi? Ich brauche ein Alibi?«, fragte er empört.

»Nicht nur du.«

Sie sah hinab, ihm in die Augen, kühl.

»Da sind eine ganze Reihe von Leuten, die ich nach einem Alibi werde fragen müssen. Der alte Mann war ja nun nicht gerade beliebt.«

»Aus gutem Grund«, knurrte Schmitz. »Ohne seine verfluchten Forschungen und seinesgleichen könnte unsere Welt womöglich noch richtig aussehen. Ich meine, so aussehen wie immer. Nicht so ...«

Er suchte nach einem passenden Wort.

»Nicht so grün.«

Eva Talman nickte und strich Mattis Schmitz in Gedanken von ihrer Liste verdächtiger Personen. Der Mechaniker war zu simpel gestrickt, als dass er hätte derart unbeteiligt bleiben können, wenn sie ihn mit ihrer Vermutung konfrontierte.

»Wenn Ole Bernsen und seine über den Globus verteilten Kollegen nicht so erfolgreich an diesem Glibberzeug geforscht hätten ...«, begann Schmitz.

»Du meinst das Komplex-Gibberellin ...«

»Ja, eben das ... Ich würde tun, was ich immer getan habe. Heckspoiler an Kleinwagen schrauben. Und Familienlimousinen tieferlegen. Bassbooster in Kofferräume montieren. Lachgaseinspritzer an viel zu kleine Motoren bauen. So Zeug eben.«

Er zuckte mit den Achseln und verzog ein wenig das Gesicht. Beinahe fürchtete die Bürgermeisterin, die rosa glühenden Narbenlinien auf seinem Rücken hätten sich wieder geöffnet.

Seitdem die unaufhörlich in immer neue Kräuter schießende Vegetation die Autobahnen und Fernstraßen in undurchdringliche Dickichte zurückverwandelt hatte, war der Bedarf an Kraftfahrzeugen auf nahezu Null gesunken. Es gab nichts, wo man hinfahren konnte, und vor allem gab es keine Straßen, auf denen man hätte ein Auto bewegen können – abgesehen von den paar Wegen hier in der Siedlung, die jeden Morgen gemäht werden mussten. Deswegen schraubten Leute wie Schmitz heutzutage an Rasentraktoren und Binsenklingen herum. Hin und wieder an einem John Deere. Oder an den wirklich großen Maschinen wie denen, auf die Talman gerade wartete, oder denen im Himmel.

Gab es eigentlich in den letzten Monaten wirklich immer weniger Zeppeline, oder bildete sie sich das ein?

Irgendwo weit hinten im Dschungel trötete ein Nebelhorn. Das musste der Dienstagsmäher sein, der sich auf seinem Weg durch die grüne Hölle bemerkbar machte. Irgendjemand hatte der Maschine einen dieser Schiffsheuler spendiert, einen Typhon, mit denen sich normalerweise Ozeanriesen im dichten Nebel auf hoher See voreinander warnten. Wenn dieses Geräusch auf dem Land erklang, mitten in einer vollkommen verwilderten Ebene, die von ausgeflipptem Grünzeug überwuchert war, hatte das etwas Unwirkliches.

»Der Dienstagsmäher«, sagte Mattis überflüssigerweise.

»Du bist doch oft genug in dieser Kaschemme«, sagte Eva Talman.

»Wenn ich nicht schrauben oder Gras und anderes grünes Gelump wegmachen muss, ja. Na klar. Viele andere Möglichkeiten gibt’s ja heutzutage nicht.«

Diesen blöden Satz beachtete die Bürgermeisterin nicht.

»Wenn da über das Gibberellin und über den alten Bernsen geredet wird ... wer schimpft denn so am lautesten? So richtig mit Pfeffer?«

Schmitz dachte nach, und seine linke Hand, die gerade kein Werkzeug gepackt hatte, wanderte langsam zur Hüfte, um wie unter Zwang an den Narben auf dem Rücken herumzupulen. Eva griff zu und stoppte die Bewegung.

»Nicht dran rumkratzen«, sagte sie. »Sei froh, dass du die Begegnung mit dem Heracleum halbwegs überstanden hast.«

Andere hatten nicht soviel Glück, setzte sie in Gedanken hinzu, andere nicht.

Mattis riss sich zusammen, entwand seinen Arm dem Griff der großen silberhaarigen Frau und nahm irgendeinen schwer und kompliziert aussehenden Schraubenschlüssel oder dergleichen in die freie Hand. Ein Engländer, ein Franzose? Die Bürgermeisterin kannte sich mit all dem Mechanikerkram nicht gut aus.

»Wenn es einmal wirklich hoch hergeht, dann sind alle wütend auf die Weißkittel und ihre saublöden Forschungen«, murmelte er und drehte die beiden Metallteile schnell hin und her. Seine Finger waren ölverschmiert. Die Muskeln in seinen Armen bewegten sich sichtbar unter seiner Haut; die Teile in seinen Händen mussten ein ordentliches Gewicht haben.

»Ich meine«, sagte er, »sie sollten doch bloß ein Wunderding basteln, irgendein Teufelszeug für die biologische Rettung der Menschheit, wie es genannt wurde, das Ende des Hungers auf der Welt ... und dann kommt so was dabei heraus. Ist doch idiotisch. Das Ende des Hungers auf ewig, ha, ha, ha.«

Er zeigte mit dem Schraubenschlüssel – oder wie auch immer dieses stählerne Dingens genannt wurde – auf den aus allen Nähten platzenden Pflanzenhaufen, den man selbst mit dem besten Willen keinen Wald mehr nennen konnte. Es war ein Ozean aus verschiedenen Grünschattierungen, so hoch wie ein fünfstöckiges Haus. In unregelmäßigen Abständen ragten rankenbehangene Säulen daraus in den Himmel, die man wohl als Bäume bezeichnen musste, obwohl sie hoch waren wie Kirchtürme, barock mit allerlei Flechten und Epiphyten besetzt. Ein langsamer Tsunami aus Flora.

Hin und wieder erklang das Tröten des Zuges mitten daraus hervor. Das gewaltige Herkuleskraut, das inmitten der Siedlung seine giftnadelstrotzenden Dolden in die Sonne streckte, beachtete Schmitz nicht. Wie üblich.

»Eigentlich schimpft jeder«, sagte er. »Auf die Weißkittel natürlich, auf die Eierköpfe. So im Allgemeinen. Auf alle.«

Mattis vertauschte die beiden Werkzeuge in seinen Händen, ohne hinzusehen.

»Auf den alten Ole im Besonderen schimpft eigentlich niemand. Na ja, Torbjörn hin und wieder. Wenn er die Zähne denn mal auseinander kriegt.«

Metall stieß klingend auf Metall, als der Mechaniker damit herumspielte, ohne es zu bemerken.

»Und Max natürlich. Der hätte heute einen schönen Posten in der Forschung. Und eine Karriere. Wenn nicht alles aus dem Ruder gelaufen wäre.«

Eva Talman erinnerte sich. Maximilian war Student gewesen und hatte kurz vor dem Abschluss gestanden, als das Komplex-Gibberellin die Welt mehr oder weniger über Nacht in ein pflanzliches Tollhaus verwandelt hatte. Der Junge hat sich seine Zukunft bestimmt anders vorgestellt, dachte sie, deutlich weniger Rasenmäher, und deutlich mehr Labor.

Der Mäher, den manche den Dienstagsdrachen nannten, beendete die angeregte kleine Plauderei ..., die Mattis so gut wie allein bestritten hatte. Der Zug brach aus dem Dickicht heraus wie ein Lindwurm, der sich verfahren hatte.

Ein Untier, das den Wald fraß, um sich durch ihn hindurch und vorwärts zu bewegen. Mit lautem Krachen und Knacken kippten die überdimensionierten Stauden des ausgeflippten Waldes um, als ihnen schneidenbewehrte Ausleger mit raschen Schnitten dicht über dem Boden die Haupttriebe kappten. Greifzangen wirbelten unaufhörlich durch die Luft wie die Scheren eines wahnsinnig gewordenen Gliedertieres. Sie zerrten all die pflanzliche Substanz, die der Zug sich selbst aus dem Weg räumte, in die rotierenden Walzen einer breiten Reißwolfbatterie. Die wiederum fütterte unaufhörlich die Aufbereitungsanlage, die den größten Teil des Fahrzeuges ausmachte. All das Grünzeug, das seit der letzten Fahrt auf und zwischen den Gleisen emporgeschossen war, wurde in den heißen Reaktionstanks des Dienstagsmähers in Treibstoff umgewandelt.

Der Drache ließ die letzte Kurve hinter sich, so dass man die Dampfstöße sah, die am Ende des Zuges von der alten, umgebauten Lokomotive in den Himmel geblasen wurden und im gleißend blauen Himmel vergingen. Jedes Mal, wenn der Dienstagsmäher bremste, vergeudete er seinen Dampf auf diese Weise. Normalerweise wurden die heißen Gase benutzt, um die feuchte Biomasse zu erhitzen und auszutrocknen, so dass sie in den Kesseln verheizt werden konnte und die Gärtanks auf Temperatur hielt.

Wenn es seit dem Gibberellin irgendetwas im Überfluss gab, dann war es Sauerstoff, mit dem man Sachen verbrennen konnte.

Hinter dem Zug zog sich eine breite Schneise hin, in der abgerissene und zerschnittene Triebe lagen, zerfetzte Blätter und zerbrochene Äste. Die Ränder der Schneise waren saft- und harztropfender, zersägter Wald, eine einzige Wunde. Exakt in der Mitte dieser Schneise verliefen die Schienen, auf denen der Zug fuhr. Nachdem all die Waggons auf ihnen entlanggerumpelt waren, funkelten sie frisch entrostet in der Sonne.

Das Nebelhorn brüllte allen in die Ohren, die in der Nähe waren, und unter großem Getöse, Gequietsche und dem Ausstoß mächtiger Wolken aus Rauch und Dampf fuhr der Dienstagsmäher in den Bahnhof ein. Flammensäulen zischten in den Himmel: Das aus dem Aufbereitungsprozess der zermalmten Biomasse stammende Methan nahm innerhalb der stampfenden Maschinerie für kurze Zeit überhand und wurde aus den Sicherheitsventilen heraus abgefackelt. Dabei verbrannten all die Schmutz- und Pflanzenteilchen, die von den Fresswerkzeugen der Maschinerie ringsherum aufgewirbelt worden waren.

Eine Hitzewelle strich über den Bahnhof hinweg, als hätte jemand die Luke eines gigantischen Backofens geöffnet, und das fauchende Geräusch passte bestens dazu. Weiterer überschüssiger Dampf schoss aus den Flanken der Maschine.

Der Drache war gelandet.

Mattis Schmitz pfefferte die beiden Werkzeuge in den geöffneten Bauch des Rasentraktors und sprang auf den stählernen Bahnsteig, um den Dienstagsmäher zu vertäuen. Weil die unaufhörlich brodelnden Prozesse in den Reaktionsgefäßen und Rohrleitungen des Zuges für lange Zeit weiterlaufen würden, war es einfach sicherer so. Derartige Drachen hatten sich hier und da schon mal selbstständig gemacht und ihrem System menschliche Biomasse einverleibt, meistens unvorsichtige Maschinisten.

Eva Talman kletterte auf den Bahnsteig und blickte zur Spitze des Zuges, wo die sichelbewehrten Ausleger langsam zur Ruhe kamen wie die Fangarme eines ermattenden Insekts. Es würde niemand aussteigen, solange diese gefährlichen Waffen sich bewegten. Der Mechaniker hatte seine Gründe, mit dem Vertäuen am Ende des Zuges zu beginnen. Auch wenn es dort heiß war und unangenehm nach den halbvergorenen Substanzen in den Tanks müffelte – es war sicherer als in der Reichweite von rasierklingenscharfen, weit ausladenden Greifzangen, die sich nach wie vor bewegen konnten.

Die Flanken des Zuges waren mit all den Fetzen und Flüssigkeiten verschmiert, die ein emsiger Mäher so aufwirbeln konnte. Das Klappern und Zischen der Maschinen, die langsam abkühlten, mischte sich mit feuchten Klatschgeräuschen, wenn sich Fladen aus Pflanzenbrei vom Metall lösten und den Bahnsteig besudelten. Mattis würde all das Zeug später zusammenkehren und in einen der Trichter am Bug schaufeln. Als Starthilfe sozusagen. Im vierten Waggon wurde eine Tür aufgestoßen. Die weiter vorn gelegenen Türen würde man erst freilegen müssen, um sie benutzen zu können. Das hatte schon lange niemand mehr getan – dort klebte eine faustdicke Schicht festgebackener Biomasse auf dem Metall wie ein zusätzlicher Panzer.

Maria sprang auf den Bahnsteig hinunter, ohne die Stufen zu benutzen.

»Da wären wir!«, rief sie. »Und? Alles frisch bei euch?«

Sie schob sich die Schutzbrille in die Stirn. Ohne so ein Ding würde man im Inneren eines Zuges, der sich durch den Wald hindurchhäckselte, vor Tränen kaum etwas sehen können. Die saubere, rosige Haut rings um ihre Augen hob sich deutlich gegen die schmutzverkrusteten Wangen ab.

»Nein«, sagte Eva. »Nichts ist frisch. Es gibt Arbeit, Polizist.«

Maria zog die dicken Lederhandschuhe ab, rieb sich die trotz der ledernen Brille tränenden Augen und klatschte in die Hände.

»Oh. Viel Arbeit?«

Sie ging zu dem Ausguss am Ende des Bahnsteigs, drehte den Wasserhahn voll auf und wusch sich prustend den Schmutz der Reise aus dem Gesicht.

»Wie man’s nimmt. Jemand hat dem alten Ole Bernsen den Hals durchgeschnitten«, sagte die Bürgermeisterin.

Mattis hatte einen Meißel gepackt, um eine zu Stein verhärtete Welle zerhackten Pflanzenbreis von der Flanke des Drachens zu schlagen, dann aber innegehalten und auf alles gelauscht, was die beiden sprachen. Nun beobachtete er argwöhnisch, wie viel Wasser die Polizistin verbrauchte.

»Jede Menge Arbeit also«, stellte sie fest.

Sie grinsten einander an und verließen den stählernen Bahnsteig, ohne Mattis Schmitz eines weiteren Blickes zu würdigen.

Die Bürgermeisterin führte Maria den langen Umweg entlang zu der Stelle, an der Ole mit der unendlichen Geduld des Todes auf seine Besucher wartete.

Maria spähte wie üblich umher, um herauszufinden, was es so Neues gab ... abgesehen von einem Mord.

»Ihr müsst euch mal um den Riesenbärenklau kümmern, Leute.«

»Um was?«

»Das da.«

Die Polizistin wies auf die titanische Giftpflanze.

»Das Herkuleskraut, ein anderer Name des Mistdings. Das den Doktor umgebracht hat. Als er diesen Mechaniker retten musste. Oder wollte.«

»Ach, dieses Biest«, erwiderte Eva. »Ja, wenn die Kanister voll genug sind, um dem Ungeheuer den Rest zu geben.«

Maria warf der Bürgermeisterin der kleinen, vom brodelnden Urwald eingeschlossenen Siedlung einen raschen Seitenblick zu.

»Kanister? Ach ja. Eure berühmten Flammenwerfer. Aha.«

Talman zuckte mit den Achseln.

»Anders ist dem Biest nicht beizukommen. Wir produzieren so einen bis zwei Liter Napalm in der Woche. Wenn wir das Mistding denn eines Tages verbrennen, dann richtig. Und gründlich. Wir werden denselben Fehler nicht zweimal machen.«

Maria spähte zu den Dolden empor, die in der einsetzenden Hitze flimmerten, als würden sich die giftgefüllten Nesselhaare heimlich bewegen.

»Tut mir den Gefallen und fackelt es nicht ab, wenn alles trocken ist«, sagte sie.

»Ja ja«, murmelte Eva und fuhr sich mit der Hand durch die weißen Haare, »ich erinnere mich. Waldbrandwarnstufen.«

Ole starrte ins Firmament. Natürlich. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm die Augen zu schließen. Bernsens Hautfarbe hatte sich ein bisschen verändert. Sein Gesicht war schmal geworden. Die im Körper verbliebenen Wurzelgeflechte hatten in ihrem Überlebenskampf sehr viel Flüssigkeit aus seinem Fleisch gesogen, ehe das Gras dann doch vertrocknet war. So schnell es wachsen konnte, so schnell konnte es sterben. Nun bedeckte es gelb und welk den Körper des toten Wissenschaftlers, ein mattes Fell.

Maria untersuchte den Leichnam schnell und professionell, nachdem sie ihm mit einiger Mühe die Lider zugedrückt hatte.

Die Bürgermeisterin beobachtete sie dabei.

»Du warst früher wirklich Polizistin, oder?«, fragte sie dann, und ärgerte sich im selben Moment, gefragt zu haben.

Man sprach nicht über das, was früher gewesen war. Nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Als die Zivilisation unter dem Ansturm der wahnsinnig gewordenen Flora kollabiert war, hatte es die üblichen Begleiterscheinungen gegeben – Heldentum, Feigheit, Aufopferung, Verrat, sinnlos großherzige Gesten, Selbstmord, Mord und Totschlag, das komplette Programm menschlicher Extremreaktionen. Die Überlebenden hatten zu der stillen Übereinkunft gefunden, nicht zu fragen. Und nicht zu wissen. Es nützte einem nichts, darüber Bescheid zu wissen, dass das Gegenüber überlebt hatte, weil ein paar Hundert weniger Glückliche gestorben waren.

Bloß als Beispiel; Anwesende sind nicht gemeint, versteht sich.

Es würde nur belasten, zu viel zu wissen.

Deswegen wunderte sich Eva Talman nicht über die Antwort.

»Wirklich Polizistin?«, fragte Maria zurück, und es klang, als würde sie mittels irgendeines raffinierten sprachlichen Tricks die Gänsefüßchen betonen, in denen diese Frage stand. »Nein. So was Ähnliches.«

Die Bürgermeisterin schwieg.

»Das kleine Geheimnis Oles ist nach wie vor ein kleines Geheimnis, oder?«, wollte die Polizistin wissen.

»Soweit ich es weiß, ja.«

»Dann sollten wir uns als Nächstes einmal in seinem Kabuff umsehen.«

»Natürlich. Ich wollte dort nicht alleine auftauchen. Und mit einem meiner vielen Verdächtigen schon gar nicht.«

Die Polizistin warf ihr einen scharfen Blick zu. »Verdächtige? Du hast Verdächtige?«

Eva Talman grinste. »Ein ganzes Dorf, wenn du so willst.«

»Tatsächlich?«

Maria blieb skeptisch.

Während sie zum Rand der Siedlung marschierten, umwehten sie die Abgase der Rasenmäher, vermischt mit den üblen Aromen aus undichten Leitungen, und vom Himmel kam ein dumpfes Brummen. Die Bürgermeisterin erzählte davon, was Mattis Schmitz gesagt hatte, und dass selbst so unscheinbare Leute wie Maximilian und Torbjörn womöglich Dinge unter Verschluss hielten.

»Und die alle hatten wirklich keine Ahnung von Oles ... äh ... Nebenbeschäftigung?«, fragte Maria und spähte zum Himmel empor.

»Hauptbeschäftigung, um genau zu sein«, verbesserte Eva Talman und schaute ebenfalls in den blitzblau strahlenden Himmel. Nach all den Jahrzehnten, in denen man praktisch zu jeder Tageszeit irgendeinen Passagier-Jet weiße Streifen ins Firmament hatte zeichnen sehen, wirkte dieser geleerte Himmel unwirklich.

Und er war nicht völlig leer.

Das tiefe Dröhnen war lauter geworden, und die beiden Frauen zeigten einander den gedrungenen Leib des Zeppelins, der in kaum fünfhundert Metern Höhe seine Bahn zog. Viel zu niedrig, um Kondensstreifen zu verursachen. Allerdings benötigte ein Luftschiff keine kilometerlangen Start- und Landebahnen, wie es sie seit dem Gibberellin nicht mehr gab. Solche riesigen Flächen vom Grünzeug freizuhalten, war praktisch unmöglich geworden; die unüberblickbaren Betonflächen von Orly, Charles-de-Gaulle und Heathrow waren unter dem Ansturm von Milliarden kleiner Triebe zerbröselt und heute, wenn man den Berichten glauben konnte, von neumodischem Wald überwuchert.

»Diese Linienflüge sind halbwegs pünktlich. Ein Lichtblick, einer von verdammt wenigen. Seit Wochen verlieren wir den Kontakt zu immer mehr Siedlungen«, meinte die Bürgermeisterin und sperrte die Tür zu Bernsens Haus auf. Seine Nachbarn hatten sein Stück heute mit gemäht, sonst wäre es schwierig geworden, bis zum Eingang des kleinen Reihenhauses zu kommen.

»Wer weiß, was noch kommt«, murmelte die Polizistin und folgte ins Haus.

Eva Talman ignorierte diese defätistische Bemerkung, schob ein Bild in dem dämmrigen Flur beiseite und griff in die Höhlung dahinter, verbog den Arm.

»Wie lange noch?«, erkundigte sie sich.

Maria sah zu, wie der Schlüssel aus dem trickreich gewundenen Hohlraum gefischt wurde, und gab mit ein paar knappen Worten zu, dass der verlustreiche Sieg der Menschheit über die von den Komplex-Gibberellinen entfesselte Pflanzenwelt offensichtlich nicht von Dauer gewesen war. Seit ein paar Wochen, vielleicht Monaten, war alles wieder schlimmer geworden. Viel schlimmer. Alle paar Tage verstummten Sender, brachen Leitungen zusammen oder fanden Suchtrupps nurmehr undurchdringliches Dickicht, wo vor kurzem blühende Siedlungen oder Fabriken gestanden hatten. Und was am unheimlichsten war: Alle diese Areale hatten als gut organisierte Widerstandskerne gegen den floralen Wahnsinn gegolten. Tapfere Grasverbrenner, unermüdliche Rasenmäher, raffinierte Drachenkonstrukteure. Und dennoch: Im Wochenrhythmus hörten Orte, Städte, Gegenden auf. Sie existierten plötzlich nicht mehr.

»Erfolgreiche kleine Mistviecher«, sagte Eva, öffnete die gut versteckte Kellertür und stieg die Treppe dahinter hinab.

Die Polizistin holte Luft und wollte erklären, dass Gibberelline ja nun eben keine Viecher waren, sondern so etwas wie Hormone für Pflanzen, und dass dieses Komplexzeugs bei seiner Aufgabe, durch Riesen- und Schnellwuchs den Hunger in der Welt abzuschaffen, erheblich zu effektiv gewesen war ... Sie schluckte das alles hinunter. Dann folgte sie wortlos der weißhaarigen Frau, die sich unter der niedrigen Decke ducken musste, die Treppe hinunter, und dachte an die Bilder aus dem amerikanischen Mittelwesten, dem ehemaligen Brotkorb der Nation. Dort hatten riesenhafte, dreißig Meter hoch aufragende Getreidehalme alles zwischen ihren Wurzeln zerrieben, was von Menschenhand geschaffen worden war. Iowa und Illinois waren heute eine einzige goldfarbene, ährentragende Wüstenei, ausgenommen die Gegend um Moline, wo die dort produzierten dunkelgrünen Maschinen von John Deere standhielten und ohne Unterlass die wuchernde vegetative Bedrohung in Schach hielten.

Nach allem, was man so hörte.

In dem geheimen Kellerraum Ole Bernsens herrschte peinliche Sauberkeit und Ordnung. Der alte Mann hatte hier unten keine einzige Wollmaus und keinen Staubflusen geduldet; irgendein pflanzlicher Organismus hätte darin Nährstoffe finden können.

Maria hatte gewusst, dass es diesen Raum gab, aber ihr war nicht klar gewesen, dass er genau so aussah wie ein Arbeitsraum aus der Ära vor dem Wachstum – ohne jede Pflanze. Rechner, Anzeigen, Mikroskope, eine Zentrifuge, ein unter Panzerglas eingekapselter Arbeitsplatz mit Waldos, damit man hineingreifen konnte. So etwas hatte sie seit langer Zeit nicht mehr in der Wirklichkeit gesehen. Nur in Filmen, die man immer seltener anschauen konnte, seitdem es verrückte Pilze gab, die gerne auf Leiterplatten wuchsen. Und Farne, die sich von irgendetwas ernährten, das in BluRay-Verpackungen steckte, und die Datenträger gleich mit zerstörten.

Eva Talman ließ sich im harten Arbeitssessel Bernsens nieder, damit sie nicht mehr mit dem Kopf an die Decke stoßen konnte, und startete Oles Rechner. Unverzüglich erwachten all die Geräte in dem Kellerraum zum Leben und zeigten Bereitschaftslichter oder Anmeldefenster.

»Kennst du sein Passwort?«, fragte Maria.

»Nein. Wo denkst du hin? Aber er hat eines für mich eingerichtet. Damit kann ich sehen, was ich sehen soll. Mehr nicht.«

Listen von Nachrichten erschienen, daneben schematisch dargestellte Netzwerke, die wie Spinnennetze aussahen – seltsam löchrige allerdings, die unfertig wirkten.

»Das sieht irgendwie kaputt aus«, bemerkte die Polizistin.

»Oh, natürlich. Weil es kaputt ist«, antwortete Eva Talman abgelenkt; sie durchforstete irgendwelche Tabellen. »Das Internet ist nicht mehr das, was es mal war. Wenn die vermaledeiten Wurzeln ein Kabel beschädigen, kommt immer seltener jemand, der es repariert. Und wenn diese Moose einen Serverraum mit ihrem feuchten Geflecht ausfüllen, ohne gejätet zu werden, fällt der ganze Knoten irgendwann aus.«

Maria schaute zu, wie die Bürgermeisterin mit ihren langen Fingern Muster auf die berührungsempfindlichen Glasflächen tippte, unter denen einander abwechselnde grafische Symbole aufleuchteten, manchmal eine altmodische Tastatur, manchmal vielfach verzweigte Diagramme. Du machst das hier nicht zum ersten Mal, dachte sie, und als Bürgermeisterin dieser Siedlung dürftest du wohl ein bisschen überqualifiziert sein.

»Wieder weniger geworden. Seit drei Wochen geht das so«, murmelte Eva, »jeden Tag weniger Netz, jeden Tag weniger Teilnehmer. Wenn doch nicht so viele so paranoid wären ...«

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, fragte die Polizistin.

Eva blickte nicht auf.

»Seit der Freisetzung des verdammten Gibberellins sind die meisten verbliebenen Wissenschaftler im Netz peinlichst darauf aus, ihre Identität geheimzuhalten. Eigentlich fast alle. Nur so Prominente wie dieser berühmte Physiker Landau benutzen ihren eigenen Namen. Nun ja, der immerhin kann sich das leisten. Ansonsten sind da unter anderem diejenigen aktiv, die an dem Zeug mitgearbeitet haben. Die Schuldigen, sozusagen.«

Jetzt löste sie ihren Blick doch von den Anzeigen und grinste Maria an.

»So etwas wie das Gibberellin rührt ja kein Wahnsinniger in einem staubigen Hobbykeller zusammen. Selbst wenn das so einfach gestrickte Gemüter wie Mattis Schmitz vielleicht glauben. Der hat sowieso zu viele Roger-Corman-Filme gesehen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, erwiderte die Polizistin. »Ich gucke keine Pornos.«

Eva zuckte zusammen, sagte aber nichts.

»Mich interessiert, ob du in all dem Kram etwas finden kannst, das uns auf die Spur des Mörders bringt.«

»Vielleicht, sicherlich, schaunmermal«, sagte die als Eva Talman getarnte Netzwerkexpertin und ließ die Listen und Protokolle schneller vorbeihuschen.

»Aha«, machte sie dann. »Das ist ja interessant ...«

Maria verdrehte die Augen. »Was ist interessant?«, fragte sie ungeduldig. »Steht da der Name des Täters? Hast du ein Bild von ihm?«

»So einfach macht es uns das Netz dann doch nicht«, erwiderte Eva und lächelte grimmig. »Aber hier ist jemand, der offenbar ein paar Schlüsse gezogen hat. Und herausgefunden, dass hinter einem ganz bestimmten Nutzernamen – der zu einem der Schöpfer des Gibberellins gehört – ein gewisser Ole Bernsen steckt. Voilà!«

Sie verwandelte sich zurück in die Bürgermeisterin und zog einen fingernagelgroßen Speicher aus einem Steckplatz. Dann ließ sie die komplette Anlage in ihren Dornröschenschlaf zurücksinken und hob den kleinen Datenknopf hoch. »Da ist alles drauf, was ich finden konnte. Alle Antworten. Aber das können wir nicht hier auswerten. Mit diesen Daten kann ich über meinen eigenen Zugang herausfinden, welche Einträge von welcher IP-Adresse stammen ... und dann haben wir unseren Mann. Oder unsere Frau.« Sie grinste. »Manchmal hat ein bisschen paranoide Vorratsdatenspeicherung doch ihr Gutes«, setzte sie finster hinzu und sprang auf. »Ich will ohnehin weg. Man kann uns jeden Moment entdecken.«

»Der Mörder kann uns jeden Moment entdecken, meinst du«, knurrte Maria und folgte der Frau mit den schlohweißen Haaren, die gebückt aus dem geheimen Laboratorium hinaus hastete, die schmale Treppe hinauf. Was auch immer sie entdeckt hatte, es trieb sie zu großer Eile an. Als die Polizistin den Flur erreichte, war die große Gestalt bereits aus der Haustür gestürmt.

»Soviel Zeit muss sein«, murmelte Maria und schloss sorgsam die verborgene Kellertür hinter sich. Dann steckte sie den Schlüssel ein und ließ sein Versteck wieder hinter dem Bild verschwinden. Alles sah aus, als wäre nie jemand eingedrungen.

Von draußen hörte sie einen Schrei. Einen Schmerzensschrei, vermischt mit etwas Wut.

Ich habe keine Waffe dabei, dachte Maria, verdammt, verdammt, verdammt! Sie hinderte sich mit einiger Anstrengung daran, einfach draufloszurennen, ging zur Haustür und spähte um die Ecke.

Die kleine, stille Wohnstraße hatte sich verändert. Jemand hatte ein paar Zweige darin abgelegt, ach was, ein großes Gebüsch, das hier nicht hingehörte. Und es waren nicht irgendwelche Zweige: Frisch abgeschlagene, mehrere Meter lange Triebe von Heracleum mantegazzianum, die mit giftgefüllten Nadeln gespickt waren; die Spitzen saßen dicht an dicht auf den Zweigen selbst und säumten jede einzelne Blattader. Mattis Schmitz würde wissen, wie sich diese Dinger anfühlten; sein Rücken war von ihren Spuren gezeichnet.

Eva Talman hatte offenbar dem grünen und potenziell tödlichen Bollwerk nicht ausweichen können. Sie kroch vor den bedrohlichen Blättern zurück, wimmerte leise und hielt ihren Arm umklammert.

Sie ist in den Bärenklau hineingefallen, dachte Maria. Wer, zum Teufel, wirft uns denn dieses Mistzeug vor die Füße? Ihre professionelle Kühle lieferte ihr eine sachliche Antwort: der Mörder, wer sonst?

Sie suchte nach ihm und blieb in Deckung.

Obwohl die Bürgermeisterin nun Meter um Meter zur Tür des Reihenhauses zurückkrabbelte, verringerte sich ihr Abstand zu den Wedeln des Herkuleskrautes nicht.

Das Zeug bewegte sich. Konnte so etwas sein? Konnte das Komplex-Gibberellin den Gewächsen nicht nur den Riesenwuchs, sondern zusätzlich die Gabe der Fortbewegung beschert haben?

Die Polizistin wollte daran nicht glauben. So verrückt konnte die Welt nicht sein.

Es raschelte.

Es raschelte jedesmal, wenn die Zweige näher rückten.

Jemand schob die Giftpflanze den Weg entlang; jemand hinter dem Kraut.

Der Mörder, der das Kraut irgendwie in die Siedlung geschafft hatte, war immer noch da. Und er wollte zu Ende bringen, was er angefangen hatte.

Maria warf sich auf den Boden, robbte die wenigen Schritte auf die Straße hinaus, packte Eva Talman am Kragen und zerrte sie in den Hauseingang. Dabei konnte sie einen flüchtigen Blick auf den Menschen erhaschen, der sie beide hier mit den ätzenden Furanocumarinen der stachligen Pflanze umbringen wollte. Weiß. Er trug einen schneeweißen Schutzanzug mit einem verspiegelten Helm. Der Anzug war von der Sorte, wie sie Erkundungstrupps in wirklich gefährlichem Gelände trugen, bei Vulkanausbrüchen beispielsweise, aus dickem Kunststoff und mit mehrfach verstärkten Handschuhen, die den Riesenbärenklau für den Mann so ungefährlich machten wie einen vertrockneten Weihnachtsbaum im Januar.

»Bist du in Ordnung?«

Die Bürgermeisterin schüttelte den Kopf und starrte ihren Arm an. Vom Handrücken aus lief eine breite Spur knallroter Pusteln bis zum Ellenbogen und ein Stück den Oberarm hinauf. Die Haut zwischen den prallen Pusteln war tiefrot und spielte beinahe ins Violette, straff gespannt, als wollte sie jeden Moment aufplatzen. Während die Polizistin darauf starrte, wölbten sich neue, flüssigkeitsgefüllte Bläschen neben und in der Verbrennungsspur auf, brachten einander zum Bersten und sonderten eine sonderbare, gelbliche Lauge ab.

Eva Talman sog zischend die Luft zwischen den Zähnen hindurch ein. Das war offenbar eine schmerzhafte Angelegenheit.

»Er ist da draußen«, sagte Maria. »Gibt es eine Waffe in diesem Haus?«

Kopfschütteln.

»Irgendwas«, bat Maria. »Meinetwegen eine Steinschleuder. Ich muss doch irgendwas machen, ehe er uns diese Scheißpflanze durch die Fenster schiebt und direkt ins Gesicht.«