Das unsichtbare Band - Haneen Al-Sayegh - E-Book + Hörbuch

Das unsichtbare Band Hörbuch

Haneen Al-Sayegh

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Beschreibung

Ein einzigartiges Frauenschicksal aus der arabischen Welt In den Bergen des Libanon wächst die junge Amal in der strengen, patriarchalischen Religionsgemeinschaft der Drusen auf. Sie will nur eines: die Schule besuchen und studieren, doch Mädchen haben dort keine Rechte. Der Großvater lässt zwischen sich und seiner Frau eine Mauer errichten, aber die Mutter darf immerhin Brot backen, und damit bezahlt sie das Schulgeld ihrer Töchter. Als Amal, die jüngste, mit fünfzehn verheiratet wird und das Elternhaus verlässt, schweigt die Mutter. Unbeirrt, wenn auch gegen viele Widerstände, geht die junge Frau ihren Weg und beginnt zu begreifen, was es heißt, selbstbestimmt zu leben und wahrhaftig zu lieben. Ein poetischer, anrührender Text über Freiheit, Tradition, die Ambivalenz der Gefühle und das Band, das die Frauen der arabischen Welt verbindet und für eine gerechtere Gesellschaft kämpfen lässt. In ihrem Debütroman beschreibt Haneen Al-Sayegh eine Kindheit und Jugend in der ultrastrengen Religionsgemeinschaft der Drusen in den Bergen des Libanon. Eine Frau begehrt auf und geht ihren eigenen Weg. »Die Protagonistin dieses Romans ist ein inspirierendes Vorbild für alle, die einen Neuanfang suchen.« Ahmed Magdy Hammam, Akhbar al-Adab Magazin

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Zeit:9 Std. 53 min

Sprecher:Alexandra Sagurna

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Über das Buch

In den Bergen des Libanon wächst die junge Amal in der strengen, patriarchalischen Religionsgemeinschaft der Drusen auf. Sie will nur eines: die Schule besuchen und studieren, doch Mädchen haben dort keine Rechte. Der Großvater lässt im Haus zwischen sich und seiner Frau eine Mauer errichten, aber die Mutter darf immerhin Brot backen, und damit bezahlt sie das Schulgeld ihrer Töchter. Als Amal, die jüngste, mit fünfzehn verheiratet wird und das Elternhaus verlässt, schweigt die Mutter. Unbeirrt, wenn auch gegen viele Widerstände, geht die junge Frau ihren Weg und beginnt zu begreifen, was es heißt, selbstbestimmt zu leben und wahrhaftig zu lieben.

 

Ein poetischer, anrührender Text über Freiheit, Tradition, die Ambivalenz der Gefühle und das Band, das die Frauen der arabischen Welt verbindet und für eine gerechtere Gesellschaft kämpfen lässt.

Haneen Al-Sayegh

Das unsichtbare Band

Roman

Aus dem Arabischen von Hamed Abdel-Samad

Für meine Tochter

 

Verzeih mir, Liebes, denn ich konnte nie ganz bei dir sein. Ich erziehe dich und mich zur gleichen Zeit.

1Die Mauer

Während sich die Überreste des Winters noch an die Bergdörfer klammerten, schlich sich ein neuer Frühling in die Städte, und ich tat es ihm auf meine Weise nach. Der Bus kam um neun Uhr morgens an der kleinen Haltestelle neben dem Rathaus von Aley an. Als ich ausstieg, war ich sehr aufgeregt. Für einen Moment dachte ich, ich hätte meine Mappe mit den Unterlagen auf dem Nachbarsitz liegen lassen, dabei hielt ich sie in der Hand. Ich atmete tief durch und ging auf den Platz zu, auf dem sich der Taxistand befand.

Auf der Kreuzung war viel los. Einwohner aus den umliegenden Dörfern suchten das Bürgeramt auf, um Dokumente und Papiere abzuholen, es herrschte ein reges Treiben. Verkäufer von Käsesandwiches und Saj-Brot boten ihre Ware an, und da und dort waren schwer bewaffnete Polizisten zu sehen, mit müden Augen und gebeugten Rücken. Weiter hinten standen ein paar Kleinbusse und Taxis. Ich wollte mir ein Taxi nehmen, denn für mein Vorhaben brauchte ich einen Fahrer nur für mich. Mit schnellen Schritten ging ich an den Wagen vorbei und versuchte, das richtige Fahrzeug und den richtigen Fahrer zu finden. »Taxi, Taxi!«, riefen mir die Fahrer zu, als wären sie darauf programmiert, jeden anzuschreien, der vorbeikam. Einige von ihnen waren drusische Scheichs mit langen Schnurrbärten, weißen Kapuzen und schwarzen, weiten Hosen. Irgendetwas bewog mich, mich von ihnen fernzuhalten.

Am Ende des Platzes entdeckte ich einen alten weißen Mercedes, dessen etwa sechzigjähriger Fahrer bei geöffneter Wagentür quer auf seinem Sitz saß. Die Stimme der Sängerin Fairouz drang aus dem Autoradio, und er rauchte. Das alles gefiel mir, und ich hatte das Gefühl, dass ich mit so einem entspannt wirkenden Menschen fahren musste, um meine eigene Anspannung zu überwinden.

»Guten Morgen! Ich würde gern zur American University of Beirut fahren.«

»Nach al-Hamra?«, fragte er.

Ich musste mir schnell eine kluge Antwort überlegen, um mir die Peinlichkeit zu ersparen, ihm zu sagen, dass ich nicht wusste, wo sich die American University befand. Also tat ich so, als hätte ich ihn wegen des Straßenlärms nicht gehört.

»Lassen Sie mich am Haupteingang der American University raus«, antwortete ich.

»Die Fahrt wird Sie dreißigtausend Lira kosten. Warum nehmen Sie nicht einfach den Bus? Der fährt in zehn Minuten.«

»Nein, Geld ist vorhanden, keine Sorge.«

Noch bevor ich den Satz beendet hatte, öffnete ich die Hintertür, um einer weiteren Diskussion zu entgehen. Ich hatte Angst und war unsicher, aber ich gab mich selbstbewusst, und das kostete mich einiges an Kraft: Kraft, die ich eigentlich für mein Vorhaben brauchen würde.

Mit den Worten »Auf Gott vertrauen wir« drehte der Fahrer den Zündschlüssel um. Der alte Motor sprang an, der Geruch von Auspuffgasen stieg mir in die Nase. Ich fühlte leichten Schwindel und lehnte meinen Kopf an die Scheibe.

Wir fuhren am Hauptmarkt der Bergstadt Aley vorbei. Wenn ich aus dem Fenster schaute, kam es mir vor, als würde die Stadt auf einem Bildschirm an mir vorbeiziehen. Ich kannte sie gut. Diese Vertrautheit mit einem Ort, der sich im Laufe meines Lebens kaum veränderte, gab mir das Gefühl, dass die Stadt tot sei. Nur Tote ändern sich nicht.

Als wir am Ende des Marktes am Kreisverkehr ankamen und das Auto in Richtung Küste abbog, spürte ich, wie sich mein Magen zusammenzog und der Schwindel zunahm. Kurven über Kurven, die der Unruhe meiner Gedanken und Ängste entsprachen: O mein Gott, wie konnte ich es wagen? Ich werde mich lächerlich machen! Wie komme ich dazu, von einem Studium an der American University zu träumen? Dann änderte meine innere Stimme ihren Ton und begann, mich zu beruhigen: Du bist eben eine junge Frau, die einen Traum hat. Niemand weiß von deinen Ängsten. Niemand weiß, dass du dir nicht sicher bist, ob es richtig ist, was du tust, und dass dies deine erste Reise nach Beirut ohne deinen Mann ist.

Der Taxifahrer unterbrach meine Gedanken: »Woher kommen Sie, junge Frau?« Seine Worte mischten sich mit dem Rauschen des Radios, in dem inzwischen die Nachrichten liefen.

»Ich komme aus dem Dorf Ainsura«, antwortete ich zögerlich.

»Ach, wirklich? Das ist ein gesegnetes Dorf, denn die meisten seiner Bewohner sind Scheichs. Und wer ist Ihr Vater?«

Wie Furcht erregend waren diese Fragen! Ich wusste nicht, warum sie mir so viel Angst machten – Angst, den Ruf meines Vaters zu ruinieren, Angst, verleumdet zu werden, oder waren da noch andere Gründe, Angst zu haben, die ich noch nicht kannte?

Er bemerkte, dass mein Schweigen länger dauerte, als es sollte. »Tut mir leid, dass ich so aufdringlich bin. Ich wollte Sie auf dem langen Weg nur unterhalten«, sagte er entschuldigend.

»Mein Vater ist Scheich Ali Bou Nimer«, antwortete ich in der Hoffnung, das unangenehme Gespräch zu beenden.

»Sehen Sie. Wir sind ja direkt verwandt. Die Drusen sind eine Kette!«

Diesen Satz habe ich schon oft gehört, wenn Drusen sich zum ersten Mal begegnen. Aber ich habe lange nicht verstanden, was er bedeutet und wofür diese Kette steht.

 

Nie habe ich eine größere Angst gehabt als die, die aus einem Gefühl der Minderwertigkeit hervorgeht. Ich spürte, dass das, wonach ich strebte, mich und meine Fähigkeiten überstieg. Aber etwas in mir bestand darauf, diesen Weg zu gehen. In meiner Vorstellung war die American University viel mehr als eine Bildungseinrichtung. Sie war eine Welt, in die man nur eintrat, wenn man besonders intelligent war, und ich stellte mir vor, dass jeder, der dort studierte, nicht nur außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten, sondern auch gesellschaftliches Ansehen besaß. Ich hatte nichts von alledem, nur meinen Fleiß. Dennoch nahm ich Kontakt mit der Universität auf, besorgte mir die erforderlichen Unterlagen und beschloss, mich um ein Bachelor-Studium zu bewerben. Jahrelang war ich von meinem Mann daran gehindert worden zu studieren. Deshalb wollte ich die Bewerbungsunterlagen einreichen, ohne ihm davon zu erzählen.

Das Taxi fuhr weiter in Richtung Beirut, und die Zahl der Autos und Lastwagen auf den Straßen wurde immer größer, auch die der Augen, die mich aus den Bussen anstarrten. Alle Fahrgäste schienen mich und meinen Traum zu verhöhnen. Ich hatte das Gefühl, einen großen Fehler zu begehen. Ich wollte diesen Fehler in Worte fassen, aber ich konnte keine finden. Also suchte ich nach der Wurzel des Gefühls. Meine Erinnerungen führten mich fünf Jahre zurück, zu dem Tag, an dem ich meinem späteren Mann zum ersten Mal an unserer Haustür begegnet bin. Er war ein Fremder, und er hielt eine alte Bronzestatuette in der Hand, einen Krieger mit einem zerbrochenen Schwert.

»Ist Scheich Ali hier?«, fragte er lächelnd.

»Ja, er ist in seiner Werkstatt. Bitte folgen Sie mir!«

Wir mussten das ganze Haus durchqueren, um zur Werkstatt meines Vaters zu gelangen, die er auch anders hätte erreichen können, direkt vom Hinterhof aus, ohne durch unseren Flur, den Gästesalon und die Küche zu gehen. Als mein Vater uns sah, stand er auf und begrüßte ihn.

»Willkommen. Mein Freund Esmat hat mir gesagt, dass Sie kommen würden, und mich gebeten, mich um Sie zu kümmern. Bitte, nehmen Sie Platz!«

Später erfuhr ich, dass der junge Mann Salem hieß und dass sein Besuch nichts mit dem Reparieren einer Statuette zu tun hatte.

 

Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, denn ich war gerade aus der Schule mit dem Jahreszeugnis zurückgekehrt, in dem stand, dass ich die zehnte Klasse des Gymnasiums mit Auszeichnung bestanden hatte. Ich war derart guter Dinge, dass ich meiner Mutter trotz meiner Abneigung gegen Gäste ausnahmsweise helfen wollte.

Mein Vater und der junge Mann unterhielten sich gerade über Antiquitäten und deren Preise, als ich hereinkam. Ich bot dem Gast ein Glas Saft an und drehte mich um, um auch meinem Vater ein Getränk zu reichen. Da bemerkte ich, wie mir die Blicke des Gastes folgten und meinen Körper musterten. Aber ich verstand die Bedeutung dieser Blicke erst, als meine Mutter mich eine Woche später fragte:

»Erinnerst du dich an den jungen Mann, der uns letzte Woche besucht hat?«

»Nein. Welcher junge Mann?«

»Der junge Mann, dem du ein Getränk angeboten hast.«

»Ach ja. Was ist mit ihm?«

»Er ist gerade gegangen. Er war mit seiner Mutter hier. Sie wollten dich kennenlernen, er sagte, er sucht eine Braut.«

»Eine Braut?«, fragte ich entsetzt. »Aber ich kenne ihn doch gar nicht. Und ich bin erst fünfzehn. Wie alt ist er denn überhaupt?«

»Fünfundzwanzig.«

»Was hast du ihnen gesagt?«

Ich hörte die Stimme meines Vaters hinter mir:

»Salem kommt aus gutem Haus, und der Ruf seiner Familie ist fein wie Moschus. Esmat sagte mir, dass sie zu den Würdenträgern ihres Dorfes gehören und Salems Vater viele gute Taten vollbringt. Er ist zwar kein Scheich, aber er ließ im Dorf einen Gebetsraum für die Scheichs bauen.«

»Aber ich kenne ihn nicht.«

»Du wirst ihn kennenlernen«, antwortete mein Vater und fügte hinzu: »Die Ehe ist Schicksalsbestimmung, und es gibt keinen Zwang darin. Du weißt sehr gut, dass ich mich freuen würde, wenn du weiterhin bei uns bleibst. Aber lass den jungen Mann wiederkommen, sodass ihr euch eine Weile zusammensetzen könnt. Danach kannst du ihm deine Entscheidung mitteilen, aber es wäre nicht angemessen, das Gespräch mit ihm zu verweigern. Das wäre unhöflich!«

Ich nahm den Rat meines Vaters nur widerwillig an und wartete darauf, dass meine Mutter etwas sagen würde, bevor er den Raum verließ, aber sie sagte kein Wort.

Zwei Tage vor dem zweiten Besuch des Bewerbers fand mich mein Vater mit einem Buch in der Hand unter der Weinlaube auf dem Dach. Dort verbrachte ich die meiste Zeit mit Lesen und sah auf die Landschaft vor unserem Haus, die hohen Berge, die unser Dorf von allen Seiten umgeben. Dieselben Berge, die unsere Geheimnisse schützen, trennen uns von einer Welt, die ich in meinem Kopf immer wieder erdacht, erbaut und zerstört habe. Aber ich habe mich mit der Majestät der nahen Berge angefreundet, die mir zeigt, wie unbedeutend und vergänglich wir sind.

»Du liest gern, genau wie ich.«

Ich blickte zu meinem Vater hoch, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen hinter mir stand. Er trug sein schwarzes Scheichgewand, das er immer trägt, wenn er in die khalwa geht, wo sich die Scheichs jeden Donnerstagabend zum Gottesdienst treffen.

»Aber ich sehe dich nie lesen«, antwortete ich.

»Als ich jung war, habe ich viele alte Bücher auf dem Flohmarkt gekauft und las sie nachts unter der Petroleumlampe.«

»Und wo sind diese Bücher?«, fragte ich.

»Deine Großmutter und deine Tante Salima haben sie weggeworfen. Als ich schwimmen ging, fand ich einige von ihnen nass und verschmiert am Fluss. Seitdem habe ich meine Bibliothek nicht mehr erneuert.«

»Es ist traurig, wenn deine Familie nicht weiß, was dir wichtig ist«, sagte ich in einem bedrückten Ton.

Er hielt inne und wählte seine Worte mit Bedacht: »Ich weiß, dass du eine gute Schülerin bist, aber du musst auch wissen, dass ich dich nicht auf die Universität schicken kann. Du darfst das Gymnasium abschließen, aber das ist es dann auch. Ein religiöser Mann wie ich muss sich an den Rat der Scheichs halten, und in unserem Dorf ist es Mädchen nicht erlaubt, Universitäten zu besuchen und allein in die Stadt zu gehen.« Er machte eine Pause und sprach dann leise weiter: »Das sage ich dir nicht, um dich zum Heiraten zu drängen. Ich hätte nichts dagegen, wenn du dich dafür entscheidest, dein ganzes Leben mit uns zu verbringen. Schließlich ist dies dein Zuhause, und du kannst hier wohnen und deiner Mutter im Haushalt helfen. Aber ein Studium kannst du vergessen.«

Ich nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich ihn gehört hatte, und fügte kein weiteres Wort hinzu. Schon drehte er sich um und ging. Er wartete eine Antwort von mir gar nicht erst ab, weil er mit keiner Antwort oder Diskussion rechnete.

Ich kann nicht behaupten, dass mich das, was er sagte, bestürzt hat; schließlich war es nichts Neues für mich. Vielmehr war ich zutiefst dankbar, dass er zugestimmt hatte, meine Sekundarschulausbildung fortzusetzen; und diese Dankbarkeit ist das Ergebnis eines alten Vorfalls, der seinen Weg in mein Langzeitgedächtnis fand und dort geblieben ist. Immer werde ich mich an den Abend erinnern, als ich nach Hause kam und meine ältere Schwester Nermin im Hof war und schluchzte, während mein Vater aus der Küche schrie:

»Genug! Ich kann’s mir nicht mehr leisten!«

Er beklagte den Mangel an Arbeit in seiner Werkstatt und das Fehlen eines Sohnes, der einen Teil der Arbeitslast und der Kosten übernehmen würde.

»Wozu soll die Schule gut sein? Am Ende werden sie sowieso alle heiraten und zu Hause bleiben.«

Mal wurde seine Stimme lauter, mal leiser, als ob er versuchte, seine Scham mit Wut zu überspielen. Die sanfte Stimme meiner Mutter, die ihn beruhigen wollte, beruhigte schließlich auch uns:

»Bildung ist für Mädchen eine Waffe; niemand weiß, was die Zukunft bringt, Ali.«

»Aber woher soll ich das Geld nehmen, um das Schulgeld für vier Mädchen zu bezahlen?«

»Lass das meine Sorge sein! Ermögliche ihnen einfach, dass sie sich auf ihre Hausaufgaben konzentrieren«, sagte meine Mutter bestimmt.

 

Plötzlich sah ich das Meer. Normalerweise bringt mich mein Mann in die Stadt, und immer wenn er das Meer sieht, macht er mich darauf aufmerksam, dass wir fast da sind. Diesmal war meine Fahrt hinunter nach Beirut wie ein Fallschirmsprung, begleitet von einem schnellen Herzschlag und der Angst vor einem Aufprall, den meine Beine nicht verkraften würden. Wie schön Beirut war. Ich fand es schöner denn je. Mir war, als würde ich es zum ersten Mal sehen, während ich die alten Gebäude mit den Kriegsspuren in Form von Einschusslöchern betrachtete, durch die Vögel ein und aus flogen; als ob sie auf der Suche nach etwas wären und gleichzeitig vor etwas anderem Reißaus nähmen.

»Wir werden bald da sein«, sagte der Taxifahrer.

Ich versuchte, mir die American University vorzustellen, aber ich hielt meine Erwartungen im Zaum, um nicht zu sehr überrascht zu werden. Das Auto blieb vor einem Tor in der Mitte einer langen weißen Steinmauer stehen.

»Steigen Sie bitte rechts aus. Hinter uns sind Autos«, sagte der Taxifahrer.

Ich packte schnell meine Sachen zusammen, zahlte und stieg aus. Nun stand ich vor dem offenen Tor, das die Form eines Bogens hatte, und oben auf dem Bogen befanden sich schwarze Eisenstäbe. Die Angst, die ich aus den Bergen mitgebracht hatte, verstärkte sich, als ich die Stadtpolizei und drei Sicherheitskräfte sah, die das Tor bewachten. Rechts neben dem Tor war eine Tafel in Stein gemeißelt, auf der geschrieben stand: That they may have life and have it more abundantly.

Ich wollte durch das Tor gehen, aber ein Sicherheitsbeamter versperrte mir den Weg:

»Ausweis, bitte!«

»Ich möchte zur Zulassungsstelle«, sagte ich stockend.

Er wusste jetzt, dass ich keine Studentin war, und wies auf die Tür zu seiner Rechten. In dem kleinen Raum fragte mich der Angestellte nach dem Grund meines Besuchs, nahm meinen Ausweis, gab mir einen Zettel mit einer Nummer darauf und zeigte mir den Weg.

Als ich in den Haupthof der Universität trat, war ich erstaunt. Das Gelände war riesig, und die steinernen Gebäude und breiten Treppen leuchteten im Licht der orangefarbenen Sonne, ich fühlte mich wie in einer antiken Festung. Wieder überkam mich der Gedanke, klein und unbedeutend zu sein, ja, dass ich Schmuggelware war und nicht hierhergehörte. Ich schüttelte den Kopf, um die negativen Gedanken loszuwerden und meinem Fluchtimpuls zu widerstehen.

Vor dem Zulassungs- und Immatrikulationsamt hatte sich eine lange Schlange gebildet. Wir bewegten uns von einem Schalter zum anderen und kommunizierten mit dem Personal durch Öffnungen im Glas. Sie fragten nach bestimmten Papieren, ordneten sie, stempelten sie ab und schickten uns zu anderen Schaltern. Einige der Angestellten waren ungeduldig, andere wiederum freundlich und verständnisvoll. Ich wurde durch eine schwere Tür geschickt, die die externe Zulassungsstelle von den internen Büros trennte. Dort waren die Gänge eng und die Büros klein; die Studierenden hatten im Gang zu warten, bis sie an der Reihe waren.

Je weiter ich in der Schlange vorankam, desto nervöser wurde ich. Ich fühlte mich gefangen zwischen dem Wunsch, angenommen zu werden, und dem tiefer sitzenden Wunsch, eine Ablehnung zu erfahren, loszulassen, aus dem Gebäude zu rennen und in meine alte Verzweiflung zurückzukehren.

»Der Nächste, bitte«, ertönte eine Stimme aus dem Büro, und als mich der hinter mir stehende Student anstupste, wusste ich, dass ich an der Reihe war.

Im Büro waren alle Angestellten mit Bewerbungsunterlagen und Papieren beschäftigt. Ich legte meine Mappe vor die Mitarbeiterin. Meine Kehle begann sich zuzuschnüren, als sie darin blätterte.

»In dieser Abteilung macht niemand seine Arbeit richtig. Ihre Unterlagen sind nicht vollständig, Demoiselle. Wer hat Sie hier reingelassen?«

»Ich habe die erforderlichen Papiere doch alle zusammengestellt. Bitte sagen Sie mir, was ich jetzt tun soll«, sagte ich stotternd und mit leiser Stimme.

Bevor ich meinen Satz beendet hatte, rief sie schon: »Der Nächste!«

In diesem Moment hörte ich einen älteren Mitarbeiter nach mir rufen:

»Junge Frau, kommen Sie hierher!«

Ich weiß nicht, ob er gespürt hatte, wie geknickt ich war, aber er nahm mir die Mappe ab und murmelte leise vor sich hin:

»Die lieben es, Studierende hier zu überfordern.«

Dann schrieb er einen Satz auf ein kleines Stück Papier, heftete es an die Mappe und forderte mich auf, die Treppe am Ende des Ganges zum zweiten Stock hinaufzusteigen und das Büro von Mahmoud Nasser aufzusuchen. Ich merkte mir den Namen, als wäre er in ein Amulett graviert.

Wenig später stand ich am Schluss einer langen Reihe junger Männer und Frauen vor dem Büro von Mahmoud Nasser und schaute sie mir genau an. Mir fiel ein Wort ein, das fast alle von ihnen beschrieb: gelassen. Die Art, wie sie gekleidet waren und sprachen, wie sie dastanden oder auf dem Boden saßen oder welche Frisuren und Kopfhörer sie hatten, das alles zeugte von Spontaneität und Gelassenheit. Ich war die Einzige, die ängstlich war, mein Körper war hart wie ein Huhn, das man gerade aus der Tiefkühltruhe geholt hatte. Die Kälte der zentralen Klimaanlage färbte meine Hände blau und untermauerte das Bild des gefrorenen Huhns in meinem Kopf. Warum kann ich nicht gelassen sein wie sie, dachte ich. Warum fühle ich mich wie auf einem Schlachtfeld?

Direkt vor mir sah ich einen jungen Mann, der seinen Arm um ein Mädchen gelegt hatte, das besorgt schien. Es lag viel Intimität in ihrer Haltung und der Harmonie ihrer Körper. Seine Hand streichelte ihre Schultern und ihr Haar, und er sagte mit einem amerikanischen Akzent:

»Don’t worry! Everything will be alright. I’m sure you’ll be admitted, cause you deserve it.«

Ich dachte an mich selbst, dachte daran, dass mir nie jemand eine Hand auf die Schulter legt, dass mir nie eine barmherzige Stimme sagt, dass ich Gutes verdiene. Und ich begann, die Wurzeln meiner Angst in meiner Familiengeschichte zu suchen.

 

Gewalt und Geschrei waren bei uns zu Hause keine Seltenheit, aber meiner inneren Welt blieben sie fremd. Als Kind verstummte ich, wenn mein Vater anfing, meine Schwestern zu schlagen. Meine Hände wurden zu Fäusten, und meine Fingernägel bohrten sich ins Fleisch, während ich meinen Rücken an eine Wand drückte, um mit ihr eins zu werden und zu verschwinden. Mein Vater war Schmied. Feuer und Hammer waren seine wichtigsten Werkzeuge, um Schäden zu reparieren und Entzweigebrochenes in Ordnung zu bringen. Ich beobachtete seine Gewaltausbrüche durch das Schlüsselloch verschlossener Türen. Einmal sah ich, wie er meine Schwester Nermin mit seinem Gürtel schlug. Ihre Augen starrten ihn an, trotzten ihm, und ihr Mund erwiderte seine Gewalt mit Schimpfworten. Immer habe ich mich gefragt, was das Geheimnis der Feindseligkeit zwischen den beiden ist. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, sie zu verteidigen, und so setzte ich an, um ihm zu sagen: »Hör bitte auf« oder: »Sie hat es nicht so gemeint« oder: »Vergib ihr, großherziger Vater.« Aber diese Worte kamen nie heraus. Die Angst lehrte mich zu schweigen. Ich tauschte meine Stimme gegen den Frieden ein, und so gab ich sie nach und nach auf, Streit für Streit, ein Schweigen nach dem anderen.

»Du stellst dich tot, um Schmerz zu vermeiden«, sagte mir einmal ein Freund. Aber kann man einem Schmerz wirklich ausweichen?

Meine Mutter kam an diesem Abend mit dem Geld nach Hause, das sie ausgeliehen hatte, damit Nermin die Schulgebühr bezahlen konnte. Als sie ihr das Geld überreichte, sagte sie:

»Alles, was du tun musst, ist zu lernen und das Schuljahr zu bestehen. Ich werde die Schulden mit dem Geld, das ich mit meinem Brot verdiene, abtragen.«

Jedes Mal, wenn meine Mutter mit meinem Vater oder einer von uns Schwestern über Geld stritt, zog sie das Wort Brot aus dem Hut und schwang es wie ein Schwert vor unseren Gesichtern. Meine Mutter hat den Beruf des Brotbackens auf dem Saj-Ofen von meiner Großmutter geerbt. Backen ist ein Beruf, der den religiösen Frauen oder Scheichas ein halales Einkommen sichert, da sie ihn von zu Hause aus ausüben können. Es sichert die Lebensgrundlage, denn Bedarf an Brot wird es immer geben.

So kam es, dass sich die Frauen in meiner Familie ohne die Hilfe von Männern selbst versorgen konnten, indem sie Brot gebacken und verkauft haben. Einige sammelten Tannennadeln und Holz, um damit das Feuer unter dem Ofen zu schüren, und die älteren stellten junge Männer ein, die diese Aufgabe gegen einen geringen Lohn übernahmen.

Dank des Geldes, das sie mit ihrem Brotverkauf verdiente, konnte sich meine Mutter in der Familie einen Platz als Entscheidungsträgerin erobern. Der Anbau eines neuen Zimmers an das Haus ging genauso auf sie zurück wie die Zustimmung meines Vaters, dass wir zum Arzt gehen durften, wenn wir ernsthaft krank waren. Meine Mutter setzte ihr eigenes Geld für Arztbesuche und Medikamente nicht nur deshalb ein, weil mein Vater es sich nicht leisten konnte, sondern auch, weil er nicht an die moderne Medizin glaubte und den Ärzten nicht vertraute. Die meisten Ärzte in den Nachbardörfern waren Christen. Es fiel meinem Vater schwer zu glauben, dass ein christlicher Arzt einen drusischen Patienten heilen würde. Das Gespenst des Bürgerkriegs, die schrecklichen Verbrechen, die von beiden Seiten begangen worden waren, und die tragischen Vorfälle in der Familie meines Vaters hatten ausgereicht, um die Saat des Hasses in sein Herz zu pflanzen.

Mein Vater erhielt den Leichnam seines Bruders Imad mit Folterspuren in einer Kiste. Er musste in einem geschlossenen Sarg begraben werden, und seiner Mutter war es nicht erlaubt, den geschändeten jungen Körper ihres Sohnes zu sehen. Das war für meinen Vater Grund genug, Christen, insbesondere wenn es Ärzte waren, so weit es ging zu meiden. Stattdessen sammelte er Kräuter, destillierte Pflanzen zu Pflanzenwässern und verwendete arabische Rezepte. Aber wenn jemand von uns ernsthaft krank wurde, stand meine Mutter auf, rückte ihren langen Schleier zurecht und sagte:

»Ich will das Mädchen nicht verlieren. Wir gehen zum Arzt, Ali, und ich werde ihn mit meinem Brotgeld bezahlen.«

Dieser Satz bedeutete: Wir gehen, ob du einverstanden bist oder nicht.

 

Mein Vater hatte die Ängste von seiner Mutter, die noch Jahre nach Kriegsende vom Krieg sprach, als wäre er auf seinem Höhepunkt. Immer wenn ein Besucher kam, sprang sie nervös von ihrem Stuhl auf, hob die sathah – das ist der Teil des Schleiers, der Mund, Kinn und Hals bedeckt – bis zur Nase hoch und sagte:

»Er könnte vom israelischen Geheimdienst sein … niemand verliert ein Wort!«

Als Kind verstand ich nicht, was der israelische Geheimdienst von einer alten Frau wollen sollte, die mit ihrer Tochter, meiner Tante Salima, in einem Zimmer lebte; und welche wertvollen Informationen sollten wir geheim halten? Später, als ich älter war, begriff ich, dass ihre Angst Wurzeln in der fernen Vergangenheit hatte und sich längst nicht nur auf den Verlust ihres Sohnes während des Bürgerkriegs bezog.

Sie bewohnte ein Zimmer im Haus ihres Mannes, meines Großvaters Abu Ali. Als mein Vater mit meiner Mutter seine eigene Familie gründete, baute er sein Haus direkt neben ihrem Zimmer. Das Zimmer ging auf den Hof, der von einem langen Zaun mit Beeten umgeben war, in denen Majoran, Basilikum, Hibiskus und andere Pflanzen wuchsen. Meine Schwestern und ich spielten gerne in dem weitläufigen Hof und leisteten im Gegenzug Dienste wie Hühnerfüttern, Obstpflücken oder Wasserholen aus dem Brunnen. Als Kinder haben wir Großmutters übertriebene Angst mit Humor genommen. Zum Beispiel glaubte sie, das Plastik-Walkie-Talkie, mit dem wir spielten, sei vom israelischen Geheimdienst mit einem Chip ausgestattet worden, um uns auszuspionieren. Und jedes Mal, wenn sie dieses kleine Walkie-Talkie sah, fing sie an, die Israelis mit lauter Stimme zu loben, während wir uns bemühten, unser Lachen zu unterdrücken.

Je ängstlicher sie wurde, desto einfallsreicher wurden wir. Wir haben Radionachrichten aus dem Zusammenhang gerissen und sie meiner Großmutter als Fakten präsentiert. Einmal erzählten wir ihr, dass ein Arzt aus der Gegend Patienten unter Drogen setze und sie hypnotisiere, um ihre Organe zu stehlen. Die Nachricht stammte aber aus Südamerika. Sie veranlasste meine Großmutter, von ihrem niedrigen Holzstuhl aufzuspringen, ihn hinter sich herzuschleifen und für mehrere Tage in ihrem Zimmer zu verschwinden.

So war die Angst, die für meine Großmutter zur Fessel geworden war, für uns Kinder ein Witz. Wir lebten Tür an Tür, aber in getrennten Welten. Der Krieg war immer noch im Kopf meiner Großmutter, und die Feindschaft der Christen war immer noch im Kopf meines Vaters, während meine Schwestern und ich wie Hühner herumliefen und parallele Wirklichkeiten konstruierten, die aus dem bestanden, was wir erlebt hatten und erfuhren und was in die dunklen Tiefen unseres Unterbewusstseins gesickert war. Wir klammerten uns daran, wie an einen Talisman zum Überleben.

 

Ich kann mich nicht erinnern, geweint zu haben, als meine Großmutter starb. Ich war acht Jahre alt und hatte keine guten Erinnerungen an sie, weil sie nicht zärtlich war und keine Mädchen mochte.

»Mädchen machen nur Ärger, Nabila. Du hast Ali vier Probleme eingebracht«, sagte sie zu meiner Mutter und meinte damit mich und meine drei älteren Schwestern.

Am Tag meiner Geburt erzählte meine Schwester Asmahan meiner Großmutter hinterlistig, dass meine Mutter einen Jungen zur Welt gebracht habe, woraufhin meine Großmutter aus dem Bett sprang, ihren Schleier anlegte und zu unserem Haus lief. Als sie im Gästezimmer ankam, wo ich auf einer rosa Strickdecke lag, war ihr klar, dass sie getäuscht worden war. Enttäuscht drehte sie sich um und kehrte mit Tränen in den Augen in ihr Zimmer zurück.

Der Wunsch meiner Großmutter, einen Enkel zu haben, hatte nichts damit zu tun, dass die anderen Dorfbewohner Jungen gegenüber Mädchen bevorzugten. Vielmehr hoffte meine Großmutter, dass ihr Sohn Imad, der im Bürgerkrieg gefallen war, als Alis Sohn wiedergeboren und damit in die Familie zurückkehren würde. Die Drusen glauben an die Seelenwanderung und dass ein Mann nur im Körper eines Jungen wiedergeboren werden kann, und so wurden meine Schwestern und ich für meine Großmutter zu vier Enttäuschungen.

Das vielleicht einzige Mal, an dem ich mich ihr nahe fühlte, war am Tag der Beerdigung meines Großvaters. Sie saß auf der Schwelle ihrer alten blauen Tür, mit ihrem gelblichen Schleier, der einmal weiß gewesen war, und so fand ich sie. Ihr Kopf ruhte auf ihrer rechten Handfläche, und ihre Augen quollen über vor Tränen.

»Was ist denn los, Großmutter? Warum bist du nicht bei der Trauerfeier?«, fragte ich und deutete auf einen anderen Hof, in dem ein Zelt aufgebaut war und die Frauen am Sarg Klagelieder sangen. »Soll ich dir beim Gehen helfen und dich hinbringen?«

»Nein, Amal, ich darf nicht dabei sein. Es gehört sich nicht.«

Ich verstand nicht, was sie mir sagen wollte, aber während dieses kurzen Wortwechsels fühlte ich mich dieser Frau zum ersten Mal nahe. In diesem Moment hatte sie vor nichts Angst und erwartete auch nichts. Sie dachte nicht darüber nach, ob Jungen besser sind als Mädchen. Sie war einfach nur traurig. Und Traurigkeit macht Menschen oft weicher und nahbarer. Ich ging weg und betrachtete sie aus der Ferne: Sie sah aus wie eine Frau auf einem Gemälde vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Welt hatte sie vergessen, denn alle anderen waren damit beschäftigt, meinen Großvater zu betrauern, den frommen Scheich, für den in unserem Haus ein Schrein errichtet wurde, was ihm ermöglichen sollte, weiterhin unter uns zu leben – ein Leben, das mit seinem Tod beginnt.

Mein Großvater hatte sein ganzes Leben in dem Dorf Ainsura verbracht, das er nur selten verließ, weil die Straßen schlammig und holprig waren und der Transport mit Eseln Mühe machte. Dann kam der Bürgerkrieg, und die Drusen mussten sich in ihren Dörfern verstecken. Er stammte aus einer alteingesessenen Familie drusischer Scheichs, und keiner aus seiner Großfamilie wagte es, sich über die traditionelle religiöse Kleidung und Lebensweise hinwegzusetzen. Er heiratete meine Großmutter, als er noch sehr jung war, und hatte drei Kinder mit ihr: meinen Vater, Onkel Imad und meine Tante Salima.

Mein Großvater war schon immer religiös gewesen, wurde aber erst in seinen Vierzigern zu einem Hardliner. Er begann, das Land, das er geerbt hatte, für den Bau drusischer Andachtsräume wegzugeben, und verkaufte den Rest, um den Erlös an die Scheichs zu verteilen. Dann hörte er auf, sein Feld zu bestellen, weil er glaubte, dass die Stunde des Eintritts ins Jenseits nahe sei und er sich um seine Erlösung kümmern müsse. Mein Großvater wollte sich nicht allein um seine eigene Erlösung kümmern, sondern auch um die seiner beiden Söhne. Mein Vater und mein Onkel Imad waren im besten Alter und hatten ihre religiösen Bindungen gekappt, weil sie in den christlichen Städten Arbeit gefunden hatten, nachdem mein Großvater sein Vermögen weggegeben hatte. Ihre Freunde hatten ihnen geraten, ihre traditionellen Gewänder abzulegen, ihren langen Schnurrbart abzurasieren und sich auf dem kahlen Kopf Haare wachsen zu lassen, um ihre religiöse Identität am Arbeitsplatz zu verbergen. Angehörige religiöser Minderheiten wie die Drusen waren schon vor Beginn des Bürgerkriegs immer vorsichtig gewesen, denn es wurden Menschen nur aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit getötet. Meinem Großvater gefiel das, was seine Söhne taten, gar nicht, und er verwies sie, wenn auch zunächst nur für eine Zeitlang, aus dem Haus.

Das religiöse Fieber, von dem er befallen war, veranlasste ihn jedoch, die Akte bald wieder zu öffnen. An einem Donnerstagabend kehrte er von einer drusischen Versammlung zurück, in der die Scheichs das heilige Buch der Weisheit und dessen Exegese lasen. Er war ergriffen von den Predigten, die vom Leben nach dem Tod und der ewigen Glückseligkeit handelten, und von den Geschichten der Vorfahren, die gefoltert und verfolgt worden waren und dennoch nie ihre Religion aufgegeben hatten. Wie in einem Rausch öffnete er die Tür des Hauses, die direkt in den großen Gästesalon führte. Seine beiden Söhne saßen nach einem langen Arbeitstag zusammen mit ihrer Mutter um den holzbefeuerten Kamin. Im fahlen Licht der Petroleumlampe wirkte er mit seinem schwarzen Überhang und dem langen weißen Turban wie ein Fabelwesen. Niemand sagte ein Wort, er nahm seinen Überhang ab und hielt ihn am ausgestreckten Arm, meine Tante Salima sprang auf, um ihn ihm abzunehmen und an den Wandnagel zu hängen. Einige Minuten lang herrschte eine tiefe Stille, bevor mein Großvater den Mund öffnete und sprach:

»Wer zur Wahrheit schweigt, ist ein stummer Teufel: Ich werde nicht akzeptieren, mit Sündern unter einem Dach zu leben. Ich habe euch nicht dazu erzogen, der Religion zu entsagen. Von jetzt an werde ich weder Geld für euch ausgeben noch eine einzige Lira von euch annehmen. Es ist die Stunde der Wahrheit: Entweder ihr kehrt zur Religion zurück, oder ihr verlasst mein Haus für immer!«

Mein Onkel Imad stand auf, legte eine Decke über seine Schulter und verließ den Raum, bevor mein Großvater seine Rede beendet hatte. Der ging darüber hinweg, sah meine Großmutter an und sagte mit erhobenem Finger:

»Und du, Afifa, begehst auch eine große Sünde, wenn du deinen Kindern weiterhin dienst, obwohl sie Sünder bleiben, und all deine guten Taten wären umsonst. Dränge sie, auf den geraden Weg zurückzukehren!«

»Deine Kinder verdienen Halal-Geld im Schweiße ihres Angesichts, und sie sind noch jung, warum bist du so streng mit ihnen?«, sagte meine Großmutter.

»Hör zu, Afifa … Ich schwöre beim allmächtigen Gott, ich werde mich von dir scheiden lassen, wenn deine Kinder ihre Meinung nicht ändern! Gott ist mein Zeuge, dass ich mich von euch Sündern trennen werde, wenn ihr so weitermacht!«

Mein Vater, der offenbar wusste (wie ich später erfahren sollte), dass es in der Beziehung zu seinem Vater keinen Platz für Diskussionen gab, schwieg. Mein Großvater beendete seine Rede, schlug die Tür zu und ging zum Lesen des heiligen Buches in den Raum, in dem später sein Grabmal stehen sollte.

Die Scheichs versuchten zu intervenieren, um die Situation zu bereinigen, aber der Stolz meines Großvaters und seine Religiosität, die ihm vorschrieb, seinen Eid nicht zu widerrufen, ließen ihn an der Entscheidung festhalten, sich von seiner Frau nur deshalb scheiden zu lassen, weil sie sich weiterhin um ihre Söhne kümmerte, für sie kochte und ihre Kleider nähte. Meine Großmutter weinte bis zum Morgengrauen, weil sie sich ungerecht behandelt fühlte, oder vielleicht auch, weil sie ihn liebte. Er war ein fürsorglicher Ehemann gewesen, bis ihn das Fieber der Religion befallen hatte. Er hatte Trauben und Beeren vom Feld gesammelt und seine Frau damit gefüttert. Er hatte gerne mit ihr und seinen Kindern am Kamin gesessen und ihnen Anekdoten und Witze erzählt. Aber was er dachte und tat, war immer unberechenbar gewesen. Zwischen seiner Intelligenz und seinem Wahnsinn verlief ein schmaler Grat. Manchmal war er sympathisch und tolerant, manchmal hart und ungerecht.

Als mein Vater und mein Onkel Großvater Abu Ali in seinem Zimmer aufsuchten, saß er neben dem hohen Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, und las im Buch der Weisheit, das vor ihm auf einem alten Holzständer aufgeschlagen war. Er saß in seiner gewohnten Position, ein Bein angewinkelt (dreißig Jahre später werden sie es brechen müssen, damit sein Körper im Sarg liegen kann). Mein Vater und mein Onkel betraten den Raum mit einer Gruppe von Scheichs, die sie aufgefordert hatten, mit ihnen zusammen die Angelegenheit zu regeln, die zu einer religiösen Affäre geworden war.

Mein Großvater blieb aus Respekt vor den Scheichs ruhig. Mit ernstem, aber trotzigem Ton sagte mein Vater:

»Wir sind nicht damit einverstanden, dass unsere Mutter in ihr Elternhaus zurückkehrt.« Er räusperte sich, um seine Anspannung abzubauen, und fuhr fort: »Du hast entschieden, dich von ihr scheiden zu lassen, und diese Entscheidung liegt bei dir, aber Imad, Salima und ich werden alle gehen, wenn unsere Mutter geht, und niemand wird hierbleiben, um sich um dich zu kümmern.«

Mein Onkel beeilte sich, meinem Vater beizuspringen, und vollendete den Gedanken: »Wir haben beschlossen, in der Mitte des großen Schlafzimmers eine Wand zu errichten, um es in zwei Zimmer zu teilen: eines für dich mit einem Eingang im Osten und eines für unsere Mutter mit einer Tür zum Hof. Die kleine Küche würde dir gehören, weil Salima die ganze Küchenarbeit macht und unsere Mutter sie nicht braucht.« Hier hörte Imad auf zu sprechen, weil er in Gegenwart der Scheichs eine Eskalation vermeiden wollte.

Mein Großvater strich sich mit der Hand über den Bart, ließ seinen Blick über die anwesenden Scheichs schweifen und fragte: »Was haltet ihr davon, Scheichs?«

Der älteste Scheich, der einen langen weißen Bart und weiße Augenbrauen hatte, antwortete ihm: »Du brauchst unseren Rat nicht, Scheich Abu Ali. Du kennst die Regeln für solche Fälle: Wenn du dich von ihr scheiden lässt, darfst du sie nicht wieder heiraten. Außerdem ist es dir dann verboten, ihr Gesicht zu sehen oder auch nur ihre Schuhe an der Türschwelle zu betrachten, und du dürftest ihre Stimme nie wieder hören. Kannst du das durchhalten?«

Mein Großvater schwieg eine Weile, als ihm klar wurde, dass er sich in einem großen Dilemma befand. Seine Zustimmung würde aus seinem Leben ein ständiges Versteckspiel machen. Aber wenn er sein Wort zurückzöge, würde das seine Glaubwürdigkeit und sein religiöses Ansehen beschädigen, denn er hatte einen Eid geschworen. Er nickte und sagte:

»Dann verlassen wir uns auf Gott, meine Scheichs. So soll es sein!«

Mein Onkel und mein Vater nickten ebenfalls, und dann verließen sie den Raum, denn wie es die Tradition verlangt, musste mein Großvater mit den Scheichs erst die drusische Charta rezitieren, bevor auch sie den Raum verlassen konnten, und dafür durften andere, die keine Scheichs sind, nicht anwesend sein.

Als auch die Scheichs gegangen waren, blieb mein Großvater Abu Ali mit seiner Entscheidung hinter dem heiligen Buch allein zurück. Er hatte eine tugendhafte Frau, die ihn liebte und die über seine Anekdoten lachte, seine zerrissenen Socken flickte und ihm Eichensamen röstete, um sein Sodbrennen zu lindern, und nun würde er am Abend heimkommen und die Mauer vorfinden, die sein religiöses Ansehen retten sollte. Sein Kinn zitterte bei dem schmerzhaften Gedanken, aber er schüttelte den Kopf, um nicht zu weinen, fuhr sich mit den Händen über Stirn, Augen und Bart und starrte dann auf sein Buch, das von nun an sein einziger Begleiter sein würde.

Von diesem Tag an lebten mein Großvater und meine Großmutter, getrennt durch eine Mauer, dreißig Jahre lang in demselben Haus. Sie sahen sich nie wieder, und als er starb, durfte sie sich nicht von ihm verabschieden, und nach seinem Tod durfte sie nicht an seiner Beerdigung teilnehmen. Ich weinte, als meine Mutter mir später erzählte, dass er nachts an die Wand geklopft und meiner Großmutter zugerufen hatte:

»Verzeih mir, Afifa, Gott verfluche den Teufel. Es war eine übereilte Entscheidung von mir.«

Sie hatte geschwiegen, weil er ihre Stimme nicht hören durfte, also hatte sie nur dreimal an die Wand geklopft, um ihm zu zeigen, dass sie ihn gehört hatte.

»Das hast du nicht verdient, Afifa, Gott verfluche den Teufel.« Dann war er in Tränen ausgebrochen, aber sie hatte nur leise weinen dürfen, um das Gelübde nicht zu brechen.

Erst Jahre später verstand ich, warum meine Großmutter nicht zur Beerdigung meines Großvaters Abu Ali gegangen war und was sie mit »es gehört sich nicht« gemeint hatte. Sie hatte um ihn geweint, im Leben und im Tod. Ich verstand, warum die Scheichs meinen Großvater für einen Heiligen hielten und ihm in unserem Haus einen Schrein errichtet hatten. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn die beiden in zwei unterschiedlichen Ländern gelebt hätten. Aber unter einem Dach zu leben, durch eine Mauer und eine endlose Liste von Geboten und Verboten von dem getrennt, den man liebt, ist die schwerste aller Trennungen.

Ich weiß nicht, welche Rolle diese Mauer in der Gefühlswelt meines Vaters spielte und wie viele andere Mauern er errichten musste, um seinen Schmerz zu ertragen. Einst stand ich vor dieser Mauer und fragte mich, ob sie ein weiteres Mitglied unserer Familie wurde, ob sie sich in unserer Psyche fortpflanzt und dort im Verborgenen ein eigenes Leben führt.

Die Schlange vor Mahmoud Nassers Büro bewegte sich nun schneller. Ich hörte, wie mich von drinnen jemand rief:

»Amal Bou Nimer!«

Als ich meinen Namen hörte, erschrak ich, denn ich hatte nicht erwartet, meinen Namen an diesem Ort zu hören. Ich betrat das geräumige, ordentlich wirkende Büro. Vor mir stand ein großer Schreibtisch, hinter dem ein gutaussehender Mann in den Vierzigern saß, mit einem breiten Lächeln und einer silbernen Brille, die zu seinem rauen dunklen Teint passte. Er war elegant, trug ein weißes Hemd und eine graue Krawatte, und neben ihm saß eine studentische Hilfskraft, eine junge Frau Anfang Zwanzig. Er sah mich gleichgültig an.

»Setzen Sie sich! Nur zu, wir werden Ihnen für den Stuhl keine Gebühren berechnen!«, scherzte er.

Ich lächelte aus Höflichkeit und setzte mich auf die Kante des Stuhls.

»Erzählen Sie mir, was das Problem ist!«

Ich saß da und stotterte, weil ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. »Es gibt offensichtlich ein Problem, aber ich weiß nicht, was es für eins ist.« Ich legte die Mappe auf den Schreibtisch und schob sie ihm hin. »Die Angestellte teilte mir mit, dass meine Unterlagen unvollständig seien.«

Er nahm mir die Mappe ab und blätterte die Unterlagen durch, während er mit seiner Assistentin herumflachste. Er war ein leichter Mensch, womit ich meine, dass ihn nichts bedrückte, im Gegensatz zu mir. Er scherzte, lachte und schikanierte einen auf kluge Weise. Der Arbeitsdruck, die ständigen Telefonanrufe und die lange Schlange vor seiner Tür taten seiner Stimmung keinen Abbruch. Er war charmant und zugleich überdreht. Er fing an, mir Fragen zu meinem angestrebten Studienfach zu stellen, und wollte wissen, auf welchem Gymnasium ich gewesen sei. Dann führte er ein paar Telefonate, ich konnte nicht jeden Fachbegriff verstehen. Er schob meine Mappe beiseite und zeigte auf die Stühle rechts von seinem Schreibtisch, wo bereits zwei Studenten saßen. Ich verließ meinen Platz und setzte mich dorthin.

Lange Zeit saß ich auf diesem Stuhl und hatte Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen. Immer wieder dachte ich: Aus ganzem Herzen möchte ich hier studieren. Ich betrachtete die Wände und die Gesichter im Raum, und mir war zum Weinen zumute. Ich hatte nie ein Mitspracherecht bei den großen Entscheidungen in meinem Leben gehabt. Weder meine Familie noch meine Schule noch meinen Mann habe ich mir ausgesucht. Aber ich habe es gewagt, mich für ein Studium an der American University zu entscheiden, was für den Durchschnittslibanesen ein unerreichbarer Traum ist, erst recht für eine junge Frau mit meinem bescheidenen Hintergrund.

Die Schlange vor der Tür wurde kürzer. Mahmoud war ein Pragmatiker, er bearbeitete Akten, telefonierte, machte Witze und schaffte es, die Studienbewerber bei Laune zu halten, und das alles gleichzeitig. Besorgt schaute ich auf die Uhr, es war kurz vor vier. Ich hatte etwa vier Stunden vor und in diesem Büro verbracht, alle Probleme waren gelöst worden, aber meine Mappe lag immer noch dort. Schließlich forderte er mich auf, mich wieder auf den Platz vor seinem Schreibtisch zu setzen. Er sah seine Assistentin an und sagte, dass meine Mappe die letzte sei und sie gehen könne. Sie holte ihre Jacke hinter dem Stuhl hervor, gab ihm die Hand und ging.

Da saß ich vor ihm, erschöpft von einem Tag voller Anspannung und Angst. Es war Stunden her, dass ich ein Glas Wasser getrunken hatte, und seit Tagen hatte ich keinen positiven Gedanken mehr gefasst. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Die Arbeitsbelastung hatte seinem Charme nichts anhaben können. Nun sah er mich lächelnd an. Jedes Detail meines Lebens stand in der Mappe, die er in Händen hielt.

»Ich kann deinen Herzschlag von hier aus hören, Bergmädchen«, sagte er und fing an zu lachen.

Ich lächelte zurück wie eine Idiotin, meine Angst belustigte ihn. Die abgrundtiefe Angst, die er nicht kannte.

»Weißt du, dass ich Dorfbewohner sofort erkenne?«, sagte er in einem selbstbewussten Ton. »Ich komme selbst aus einem Dorf.«

Ich sagte nichts und tat, als ob es mich nicht interessierte.

Er fuhr fort: »Ich glaube nicht, dass es für dich einfach sein wird, an dieser Universität zu studieren. Staatliche Gymnasien sind wie Lebensmittelläden, und um an der American University aufgenommen zu werden, braucht man ausgezeichnete Englischkenntnisse, und es kostet hohe Gebühren.«

Ich weiß nicht, wie ich die Kraft dazu gefunden habe zu sagen: »Ich bin nicht hier, um mir die Zulassung zur Universität zu erbetteln, und Sie sind nur hier, um mir zu sagen, welche Unterlagen und Noten erforderlich sind. Die rechtlichen Richtlinien für die Zulassung, die für andere gelten, werden auch für mich gelten!«

Er lächelte und sagte: »Sieh an, wie du auf einmal wild wirst. Schön zu wissen, dass du die Herausforderung annimmst. Zeig mir, was du kannst!«

Trotz seiner Arroganz und der verletzenden Worte wirkte seine Leichtigkeit beruhigend, und seine Zuversicht färbte auf mich ab. Er schaute auf seine Uhr und dann zu mir.

»Spätes Mittagessen, komm schon, ich lade dich zum Essen ein!«

Meine Augen weiteten sich, und ich stotterte wieder.

Er sah mich an und sagte: »Komm schon, ich bitte dich ja nicht, ins Hotel zu kommen.«

Ich begann, seine Absichten zu verstehen. Er musste meine Mappe bis zum Schluss aufbewahrt haben, um die Chance zu haben, mich um eine Verabredung zu bitten. Ich war zu feige, ihm zu sagen, dass ich seine Einladung nicht annehmen könne. Ich schaute auf meine Uhr und sagte:

»Ich bin spät dran, und draußen wartet jemand auf mich.«

Er gab mir seine Visitenkarte, kreiste seine Telefonnummer und E-Mail-Adresse ein und sagte, ich solle ihn anrufen, wenn ich bei etwas Hilfe bräuchte.

Ich verließ sein Büro mit einem Lächeln im Gesicht. Trotz allem hatte ich das Gefühl, dass es in dieser riesigen Einrichtung jemanden gab, der sich um mich kümmerte. Es könnte morgen schon anders aussehen, aber mir war, als hätte ich einen Samen gepflanzt.

2Die Abmachung

Zwei Tage nachdem ich mit meinem Vater auf dem Dach des Hauses gesprochen hatte, sah ich Salem zum zweiten Mal. Ich saß wie so oft unter der Weinlaube, als ich die eiligen Schritte meiner Mutter hörte:

»Amal, beeil dich, wir haben Gäste.«

Salem war allein in unserem Gästesalon. Als er mich kommen sah, stand er auf und reichte mir die Hand. Ich begrüßte ihn und setzte mich ihm gegenüber auf den großen Sessel, der meinen winzigen Körper noch kleiner erscheinen ließ. Salem beendete die unangenehme Stille, indem er sich für die Abwesenheit seiner Mutter entschuldigte, die normalerweise hätte dabei sein sollen.

»Ich hoffe, du lernst sie das nächste Mal kennen«, sagte er höflich.

Wir sprachen über unwichtige Dinge, und in unserem Gespräch gab es viele Pausen. Was will er, dachte ich bei mir, von einem Mädchen wissen, das sein sechzehntes Lebensjahr noch nicht vollendet hat? Ist er gekommen, um mich nach meinen Erfahrungen zu fragen oder nach meinen interessantesten Geschichten?

»Hast du irgendwelche Hobbys?«, fragte ich, um ihn meine Verwirrung nicht merken zu lassen.

Er dachte ein wenig nach und rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Ich sammle Antiquitäten und Waffen, aber ich bin kein Jäger.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Ich schätze, mein Beruf ist mein Hobby.«

Dann begann er, von seiner Arbeit zu erzählen, der Import- und Exportfirma, die sein Vater gegründet hatte und in der die Hälfte der Jugendlichen seines Dorfes beschäftigt waren, die, wie auch er damals, mit vierzehn ohne Führerschein einen Wagen fuhren, um Waren auszuliefern. Dass er sich hatte auf ein Kissen setzen müssen, um über das Lenkrad auf die Straße zu sehen. Er erzählte mit Begeisterung, und ich beobachtete seine Gesten, seine Mimik und seine Art zu sprechen.

Ich fragte mich: Kann es denn sein, dass dieser Fremde bald mein Mann sein wird?

Meine Gedanken wurden durch die Veränderung in seinem Tonfall unterbrochen.

»Verzeihung, was hast du gesagt?«, fragte ich.

Er lächelte. »Ich habe dich nach deinen Hobbys gefragt.«

Ich dachte ein wenig nach. Welches Hobby könnte ein Mädchen haben, das in einem abgelegenen Dorf in einer Scheich-Familie lebt? Nach einer Weile antwortete ich: »Ich gehe gerne zur Schule!«

»Zur Schule?«, sagte er, als hätte er gerade einen Witz gehört.

Ich lehnte mich zurück und antwortete: »Ja. Ich bin sehr gut in der Schule, und ich möchte ein Studium beginnen und einen Universitätsabschluss machen!«

Er lachte wieder. »Ich verstehe nicht … Weißt du, warum ich hier bin?«, fragte er mit fester Stimme.

Seine Frage war mir unangenehm, ich starrte auf den Boden. Er beugte sich ein wenig vor, um mir näher zu kommen, und fügte leiser hinzu:

»Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen, aber du weißt doch, dass ich hier bin, um zu heiraten, oder?«

Ich nickte. Mein Blick war immer noch auf den bunten Salonteppich gerichtet, während ich über eine passende Antwort nachdachte. Er weiß nicht, was in meinem Kopf vor sich geht, und er weiß nicht, dass er meine einzige Chance ist, hier rauszukommen, nachdem mein Vater meine Hoffnungen auf ein Studium durchkreuzt hat. Ich versuchte, meine Kräfte zu sammeln, und betete, dass meine Stimme mich diesmal nicht im Stich ließe. Instinktiv wusste ich, dass dies ein entscheidender Moment war und dass die Strategie des Rückzugs und des Schweigens in dieser besonderen Situation nicht funktionieren würde. Ich schüttelte die Schüchternheit des fünfzehnjährigen Mädchens ab und sah ihm in die Augen.

»Ich finde, es ist kein Problem, wenn eine verheiratete Frau zur Uni geht«, sagte ich.

Ein nervöses Lachen platzte aus ihm heraus, was mich noch mehr verunsicherte. Doch bevor ich weiterreden konnte, kam mein Vater herein und begrüßte den Gast. Dann begann er mit ihm einen Smalltalk über dessen Familie und Geschäft. Ich ließ die beiden reden und ergriff die Gelegenheit, zu meiner Mutter in die Küche zu gehen.

Sie war gerade dabei, die Puddingteller zu dekorieren, als ich eintrat.

»Was meinst du, sollen wir dem Gast Mate-Tee anbieten?«, fragte sie fröhlich.

»Mate-Tee, jetzt schon? Ist das nicht ein bisschen früh?«

Mate-Tee ist das Getränk der drusischen Gemeinschaft. Wir trinken ihn normalerweise mit engen Freunden und Verwandten und nicht mit Besuchern oder Fremden. Im Laufe der Zeit wurde dieses Getränk zu einem Zeichen für die Verbundenheit und Nähe von Menschen, die es zusammen trinken. Meine spontane Antwort bezog sich auf die weit verbreitete Meinung, dass ein Bewerber, der bei seinem ersten Besuch Mate-Tee serviert bekommt, davon ausgehen kann, dass die Frau, die er heiraten möchte, ihn sympathisch findet. Meine Mutter ignorierte meine Bemerkung aber und griff nach der silbernen Mate-Kanne über dem Regal.

Ich ging zurück in den Salon, wo mein Vater die Gesellschaft von Salem offensichtlich genoss. Als ich eintrat, stand er auf.

»Ich lasse euch zwei allein, damit ihr euch unterhalten könnt.«

Das war für einen Scheich ein fortschrittliches Verhalten. Mein Vater hatte seine Lektion gelernt, als die Verlobung meiner ältesten Schwester mit dem Sohn seines Freundes misslang. Schuld daran waren die beiden Väter, die die Verlobung beschlossen hatten, ohne dass das verlobte Paar sich vorher hatte kennenlernen können. Nach dieser geplatzten Verlobung hatten mein Vater und meine Mutter damit begonnen, abwechselnd kurze Besuche im Gästesalon zu machen, wenn ein Mann um die Hand einer ihrer Töchter anhielt.

Salem wirkte ruhig und freundlich, als ich ins Zimmer zurückkehrte – als hätten wir über meine Absicht zu studieren keine kleine Auseinandersetzung gehabt. Er sah mich an und sagte leise:

»Ich habe lange davon geträumt, die Tochter eines Scheichs zu heiraten, und dein Vater hat einen ausgezeichneten Ruf.«

Ich blieb stumm. Salem war nicht der erste Bewerber, der mir in diesem Sommer einen Antrag machte, aber er war der jüngste, und er hatte ein ansprechendes Gesicht. Sein Lachen war auf gewisse Weise einladend, passte aber nicht zum Rest seiner Gesichtszüge. Es war wie ein flüchtiger Moment im Herbst, wenn die Sonne die Wolken, die übers Dorf hinweggaloppieren, kurz durchbricht und gleich wieder verschwindet, und der Herbst bleibt Herbst. Auch meine Mutter mochte Salem, und mein Vater war sehr stolz, dass der Sohn von Abu Salem, dem bekannten, gütigen Mann, seine Tochter heiraten wollte. All diese Aspekte machten diese Ehe akzeptabel. Aber alles, was ich brauchte, um in die Heirat einzuwilligen, war die Zustimmung von Salem, studieren zu dürfen.

Meine Mutter kam mit dem eleganten silbernen Mate-Set herein.

»Wir werden dich nicht wie einen Fremden behandeln. Wenn du länger als eine Stunde in diesem Haus bleibst, bekommst du einen Mate-Trunk«, sagte sie und lächelte.

»Oh, es gibt nichts Besseres als Mate«, erwiderte Salem enthusiastisch.

Ich wollte weiter über mein Studium sprechen, um mir eine Meinung über diesen Heiratsantrag zu bilden, aber das Gespräch ging in eine andere Richtung, seit meine Mutter dabei war. Am Ende des Besuchs stand Salem auf und verabschiedete sich von uns. An der Türschwelle sah er mich an und sagte:

»Lass mich wissen, wie du dich entschieden hast. Soll ich wiederkommen?«

Ich zögerte, da ich auf die Frage, die mich am meisten beschäftigte, keine Antwort erhalten hatte. »Komm wieder, dann können wir weiterreden«, murmelte ich schließlich.

Der Satz kam aus mir heraus, als ob ich hypnotisiert worden wäre und jemand anderes durch mich spräche. Das war es, was meine Mutter die folgenden fünfzehn Jahre lang als Schicksalsbestimmung bezeichnen würde.