Das verborgene Leben des Waldes - David G. Haskell - E-Book

Das verborgene Leben des Waldes E-Book

David G. Haskell

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Beschreibung

Die Welt in einer Nussschale: Über ein Jahr hat der amerikanische Biologe David Haskell einen Quadratmeter altgewachsenen Wald immer wieder besucht und bis ins Detail studiert. Ausgerüstet nur mit Objektiv, Lupe und Notizbuch, Zeit und Geduld, richtet der Biologe seinen Blick auf das Allerkleinste: Flechten und Moose, Tierspuren oder einen vorbeihuschenden Salamander, Eiskristalle oder die ersten Frühlingsblüten. Und entfaltet mit dem Wissen des Naturforschers und der Beschreibungskunst eines Dichters ein umfassendes Panorama des Lebens im Wald, des feingewobenen Zusammenlebens in einem jahrhundertealten Ökosystem. Eine Grand Tour zwischen Wissenschaft und Poesie, die die Natur in ihrer ganzen Komplexität und Schönheit erfahrbar macht. »David Haskell führt den Leser zu einer neuen Form der Naturbetrachtung, in der das Unsichtbare zum Vorschein kommt, das Kleine zu großen Fragen führt und die unendliche Komplexität und Schönheit alles Lebendigen sich immer deutlicher entfaltet.« E.O.Wilson

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Seitenzahl: 411

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David George Haskell

DAS VERBORGENELEBEN DES WALDES

Ein Jahr Naturbeobachtung

Aus dem Englischen vonChristine Ammann

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Sarah

Inhalt

 

Vorwort

1. Januar

Partnerschaften

17. Januar

Keplers Geschenk

21. Januar

Das Experiment

30. Januar

Winterpflanzen

2. Februar

Spuren

16. Februar

Moos

28. Februar

Salamander

13. März

Leberblümchen

13. März

Schnecken

25. März

Frühblüher

2. April

Kettensägen

2. April

Blumen

8. April

Xylem

14. April

Nachtfalter

16. April

Vogelerwachen

22. April

Wandernde Samenkörner

29. April

Erdbeben

7. Mai

Wind

18. Mai

Pflanzenfresser

25. Mai

Leise Wellen

2. Juni

Suche

10. Juni

Farn

20. Juni

Ein Knäuel

2. Juli

Pilze

13. Juli

Glühwürmchen

27. Juli

Sonnenflecken

1. August

Molch und Kojote

8. August

Erdstern

26. August

Laubheuschrecken

21. September

Medizin

23. September

Raupen

23. September

Geier

26. September

Zugvögel

5. Oktober

Alarmwellen

14. Oktober

Flügelnüsse

29. Oktober

Gesichter

5. November

Licht

15. November

Eckschwanzsperber

21. November

Zweige

3. Dezember

Laubboden

6. Dezember

Unterirdisches Bestiarium

26. Dezember

Baumwipfel

31. Dezember

Beobachtung

 

Epilog

 

Dank

 

Literatur

Vorwort

ZWEI TIBETISCHE MÖNCHE beugen sich über einen Tisch, behutsam umfassen ihre Hände ein trichterförmiges Messingröhrchen. Aus dem Röhrchen rieselt farbiger Sand auf den Tisch. Die feinen Sandströme fügen dem Mandala neue Linien hinzu, lassen es langsam wachsen. Die Mönche gehen von der Mitte aus kreisförmig vor, folgen der Kreidezeichnung, die die Mandalagrundform bestimmt, und füllen diese dann aus der Erinnerung mit Hunderten von Details.

In der Mitte befindet sich eine Lotusblüte, ein Symbol Buddhas, umrahmt von einem reich verzierten Palast. Die vier Palasttore öffnen sich zu konzentrischen, farbenfrohen und symbolträchtigen Kreisen, die für die Stufen auf dem Weg zur Erleuchtung stehen. In einigen Tagen wird das Mandala vollendet sein, dann wird es zusammengefegt und das Häufchen Sand in ein fließendes Gewässer gestreut. Das Mandala ist vielschichtig: Es verweist auf die Konzentration, die zu seiner Erschaffung erforderlich ist, auf die Balance aus Komplexität und Kohärenz, auf seine Symbole und seine Flüchtigkeit. Doch all das ist nicht der eigentliche Sinn des Sandmandalas. Das Mandala steht für den Lauf des Lebens, den Kosmos und die Erleuchtung Buddhas. In dem kleinen Sandrund offenbart sich die ganze Welt.

Einige nordamerikanische Studenten drängen sich hinter einem Seil und recken die Hälse wie Reiher, um die Entstehung des Mandalas zu verfolgen. Sie verhalten sich ungewöhnlich ruhig. Vielleicht sind sie vom Mandala gefesselt, oder die Andersartigkeit der Mönche hat sie verstummen lassen. Mit dem Besuch des Mandalas beginnt für die Studenten das erste Laborseminar in Ökologie. Danach werden sie in einem nahen Wald ihr eigenes Mandala erschaffen: Sie werfen einen Reifen auf den Waldboden, untersuchen einen Nachmittag lang ihren kleinen Erdkreis und beobachten, wie die Waldgemeinschaft arbeitet. »Mandala«, aus dem Sanskrit, kann man als »Gemeinschaft« übersetzen: Mönche und Studenten vertiefen sich also in dasselbe: Sie betrachten ein Mandala und schärfen dadurch ihren Geist. Doch die Parallele reicht noch weiter als die zufällige sprachliche Übereinstimmung oder Symbolik. Ich glaube, dass eine Mandala-große Waldfläche uns alle ökologischen Geschichten des Waldes erzählen kann. Vielleicht zeigt sich die Wahrheit des Waldes sogar klarer und eindringlicher, wenn wir nur einen einzigen Fleck betrachten, als in Siebenmeilenstiefeln ganze Kontinente zu durchqueren, von denen wir eigentlich nichts sehen.

Die Suche nach dem Universellen im unendlich Kleinen zieht sich als Grundmotiv durch die meisten Kulturen. In diesem Buch soll das tibetische Mandala unsere Leitmetapher sein, doch auch in den westlichen Kulturen gibt es manchen Anknüpfungspunkt. Mit seinem Gedicht »Weissagungen der Unschuld« hat sich William Blake weit vorgewagt: Das Mandala ist bei ihm auf ein Sandkorn oder eine Blume zusammengeschrumpft: »Die Welt zu sehen im Korn aus Sand / das Firmament im Blumenbunde.« Blakes Vorstellung geht auf den westlichen Mystizismus zurück, der vor allem von kontemplativen Christen gepflegt wurde. Für Johannes vom Kreuz, den heiligen Franz von Assisi oder Juliana von Norwich waren ein Verlies, eine Höhle oder eine winzige Haselnuss die Lupe, durch die sie die letzten Dinge erschauten.

Mit dem vorliegenden Buch versucht ein Biologe, es mit tibetischem Mandala, Blakes Gedichten oder der Haselnuss einer Juliana von Norwich aufzunehmen. Können wir durch ein kleines, beschauliches Fenster aus Laub, Felsen und Wasser den ganzen Wald sehen? Ich habe versucht, eine Antwort oder vielmehr eine vorläufige Antwort auf diese Frage in einem Mandala in den Bergen von Tennessee, in urwüchsigem Wald, zu finden. Mein Wald-Mandala ist ein Kreis von etwa einem Meter Durchmesser, so groß wie das Mandala, das die Mönche erschaffen und zusammengefegt haben. Auf der Suche nach einem geeigneten Mandala bin ich aufs Blaue durch den Wald gestreift, bis ich schließlich einen geeigneten Stein fand, auf dem ich sitzen konnte. Der Fleck vor dem Stein wurde mein Mandala: ein mir bislang vollkommen unbekannter Ort, der unter seinem nüchternen Winterkleid verheißungsvoll verborgen lag.

Das Mandala liegt an einem bewaldeten Hang im Südosten von Tennessee. Hundert Meter bergan ragt ein großer Sandsteinfels empor; er markiert den westlichen Rand des Cumberland-Plateaus. Unter halb des Felsens fällt der Hang terrassenförmig – teils eben, teils steil – ab, bis er 300 Höhenmeter weiter unten die Talsohle erreicht. Das Mandala kauert zwischen Felsbrocken auf der obersten Terrasse. Der Hang ist vollständig bewaldet: mit reifen, laufabwerfenden Bäumen, Eiche, Ahorn, Linde, Hickory, Tulpenbaum und vielen anderen. Der Waldboden ist mit knöchelgefährdenden Gesteinsbrocken übersät, die von der erodierenden Felswand herabgerollt sind, und vielerorts besteht der Boden aus nichts als vorstehenden, zerklüfteten Steinen, von dichtem Laub bedeckt.

Das steile, unwegsame Gelände hat den Waldhang geschützt. Im fruchtbaren, ebenen Tal weiter unten sind steinige Hindernisse selten. Sie wurden von Hirten und Bauern entfernt, erst von amerikanischen Ureinwohnern, dann von europäischen Siedlern. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert haben einige Bauern versucht, den Hang zu bewirtschaften, eine ebenso mühselige wie unergiebige Angelegenheit. Ein zusätzliches Einkommen verschaffte ihnen die Schwarzbrennerei: Seinen Namen »Shakerag Hollow« – Tuchwedeltal – verdankt der Ort Städtern, die eifrig mit dem Tuch wedelten, um die Schwarzbrenner auf ein paar Münzen aufmerksam zu machen, die sie dann auf dem Tuch hinterlegten. Ein paar Stunden später stand an der Stelle dann ein Krug mit starkem Schnaps. Der Wald hat sich die kleinen landwirtschaftlich und als Brennereien genutzten Lichtungen inzwischen zurückgeholt, sieht man von Spuren der Vergangenheit wie Steinhaufen, alten Rohren, verrosteten Badezubern oder Narzissengruppen ab. Große Teile des verbliebenen Waldes wurden, vor allem an der Wende zum 20. Jahrhundert, zum Bauen und Heizen abgeholzt. Nur kleinere Waldstücke blieben unberührt; Unzugänglichkeit, Zufall oder die Laune eines Waldbesitzers schirmten sie von den Zeitläuften ab. Dort liegt das Mandala: in einem ungefähr zehn Morgen großen Urwaldgebiet – einem Gebiet mit urwüchsigem Wald –, eingebettet in Tausende von Morgen Wald, der zwar einst gerodet wurde, doch mittlerweile reif genug ist, um die ökologische und biologische Vielfalt zu gewährleisten, die die Bergwälder von Tennessee auszeichnen.

Urwälder sind das reinste Chaos. Rund um das Mandala, nur einen Steinwurf entfernt, entdecke ich ein Dutzend umgestürzte Bäume in verschiedenen Fäulnisstadien. Die verrottenden Stämme geben Zigtausenden Arten Nahrung – Tieren, Pilzen und Mikroben. Umgefallene Bäume hinterlassen Lücken im Blätterdach und sorgen so für das zweite Merkmal urwüchsiger Wälder: Sie bilden ein Mosaik aus allen Baumaltern; Gruppen junger Pflanzen wachsen dort unmittelbar neben dickstämmigen alten. Westlich vom Mandala steht ein Ferkelnuss-Hickory, dessen Stamm unten ein Meter dick ist; unmittelbar daneben drängeln sich dagegen junge Ahornbäumchen, in einer Lücke, die ein umgestürzter massiver Hickory hinterlassen hat. Und hinter dem Stein, auf dem ich sitze, ragt ein mittelalter Zuckerahorn in die Höhe, mit einem Stamm so dick wie mein Oberkörper. In dem Wald hier wachsen Bäume jeden Alters und zeugen damit von der historischen Kontinuität der Pflanzengemeinschaft.

Ich sitze direkt neben dem Mandala, auf einer flachen Sandsteinplatte. Die Regeln, die ich mir auferlegt habe, sind einfach: das Mandala häufig besuchen, einen vollständigen Jahreskreislauf beobachten, sich ruhig verhalten, Störungen vermeiden, keine Lebewesen töten oder wegnehmen, nicht graben und nicht über das Mandala kriechen. Eine behutsame Berührung ab und an muss reichen. Ich habe keine festen Besuchszeiten, aber beobachte das Mandala mehrmals die Woche. In dem vorliegenden Buch berichte ich über die Ereignisse im Mandala so, wie ich sie erlebt habe.

1. JANUAR

Partnerschaften

DAS NEUE JAHR BEGINNT MIT TAUWETTER: Schwerer, feuchter Waldgeruch steigt mir in die Nase. Der Laubteppich, der den Boden bedeckt, ist in der Nässe aufgequollen, die Luft mit deftigen Laubaromen getränkt. Ich verlasse den Pfad, der sich den Waldhang hinabschlängelt, und umklettere einen hausgroßen Brocken aus moosigem, erodiertem Gestein. Hinter einer flachen Senke am Berghang erkenne ich mein Wahrzeichen: einen länglichen Findling, der wie ein Kleinwal aus dem Laubboden auftaucht. Der Sandsteinblock markiert die eine Seite meines Mandalas.

Nur wenige Minuten später habe ich Geröll und Gestein überquert und den Findling erreicht. Ich trete neben einem großen Hicko rybaum hervor, mich an seinen grauen Rindenschuppen abstützend – und das Mandala liegt direkt zu meinen Füßen. Ich umrunde es und setze mich gegenüber auf den flachen Stein. Ich halte einen Moment inne, atme die würzige Luft ein, dann mache ich es mir auf meinem Beobachtungsposten bequem.

Der Laubboden ist braun marmoriert. Einige kahle Gewürzbuschstängel und ein Eschenbäumchen ragen hüfthoch aus der Mandalamitte empor. Die stumpfen, ledrigen Farben der verrottenden Blätter und schlummernden Pflanzen werden vom Leuchten der Felsen, die das Mandala umrahmen, in den Schatten gestellt. Die Felsen, verstreute Relikte des erodierenden Sandsteinhangs, sind von der Jahrtausende währenden Erosion zu unregelmäßigen Brocken verschliffen. Ihre Größe reicht vom Waldmurmeltier bis zum Elefanten; die meisten sind so groß wie ein kauernder Mensch. Die Strahlkraft der Felsen rührt nicht vom Gestein selbst, sondern von ihrem Flechtengewand, das smaragdgrün, jadegelb oder perlmuttfarben in der feuchten Luft leuchtet.

Die Flechten bilden Berge en miniature, Sandsteinhänge mit vielfältigen feuchten und sonnigen Flecken. Die Felsrücken sind mit harthäutigen grauen Schuppen besprenkelt. Schattige Rillen im Fels schimmern purpurrot. Auf senkrechten Wänden glitzert es türkis, und über sanfte Abhänge ergießen sich konzentrische Kreise in Lindgrün. Die Farben der Flechten wirken wie frisch gestrichen. Ihre Leuchtkraft steht in lebhaftem Kontrast zur wintermüden Lethargie des übrigen Waldes; sogar die Moose sind stumpf und frostbleich.

Im Winter, wenn sich die meisten anderen Geschöpfe zurückziehen, sind Flechten das strahlende Leben – dank einer geschmeidigen Physiologie. In den kalten Monaten überleben sie durch die Kunst des Loslassens. Sie verbrennen keine unnötige Energie auf der verzweifelten Suche nach Wärme, sondern passen ihre Lebenskurve dem steigenden und fallenden Thermometer an. Flechten hängen nicht am Wasser – wie Pflanzen und Tiere. Sie quellen an feuchten Tagen auf und schrumpeln, wenn es trockener wird. Pflanzen schrecken vor Kälte zurück und verpacken ihre Zellen so lange, bis der Frühling sie wieder hervorlockt. Flechten haben einen leichten Schlaf. Wenn der Winter eine kurze Pause einlegt, kehren sie einfach ins Leben zurück.

Auch andere haben, unabhängig von den Flechten, diese Lebenseinstellung für sich entdeckt. Im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit erzählte der chinesische Taoist Zhuangzi die Geschichte eines alten Mannes, der in den Strudel zu Füßen eines tosenden Wasserfalls stürzte. Noch bevor Beistehende erschrocken zu Hilfe eilen konnten, verließ der alte Mann, unverletzt und vollkommen ruhig, das Wasser. Als man ihn fragte, wie er in der Wasserhölle überleben konnte, sagte er: »Duldsamkeit … Ich habe mich ans Wasser angepasst, nicht das Wasser an mich.« Schon 400 Millionen Jahre vor dem Taoismus sind die Flechten zu derselben Weisheit gelangt. Die wahren Meister in Zhuangzis Allegorie vom Sieg durch Unterwerfung sind die Flechten, die an den Felswänden des Wasserfalls wuchsen.

Die friedlichen, scheinbar simplen Flechten besitzen ein komplexes Innenleben. Flechten sind ein Amalgam aus zwei Lebewesen: Pilz und entweder Alge oder Bakterie. Der Pilz breitet seine Fäden auf dem Untergrund aus und bereitet so die Lagerstatt vor. Alge oder Bakterie nisten sich in seinen Fäden ein und bilden mithilfe von Sonnenenergie Zucker und andere nahrhafte Moleküle. Doch wie in jeder Ehe verändert das Zusammenleben die Partner: Der Pilz macht sich breit und erhält eine baumblattähnliche Struktur, mit schützender oberer Kruste, einer Schicht für lichtsammelnde Algen und winzigen Atemporen. Der Algenpartner verliert dagegen seine Zellwand, überlässt es ganz dem Pilz, ihn zu beschützen, und gibt alle sexuellen Aktivitäten zugunsten des zügigen, aber genetisch wenig aufregenden Selbstklonens auf. Im Labor lassen sich flechtenartige Pilze auch ohne Partner züchten: als unförmige, kränkliche Witwer. Auch Algen und Bakterien sind ohne ihre pilzigen Partner lebensfähig, aber nur in bestimmten Lebensräumen. Die Flechten haben die Fesseln der Individualität abgestreift und konnten so vereint die Welt erobern: Sie bedecken ungefähr zehn Prozent der Landfläche unseres Planeten; im äußersten waldlosen Norden, wo meistens Winter herrscht, sind sie geradezu übermächtig. Doch auch in meinem Waldmandala in Tennessee ist jeder Stein, Stamm und Zweig mit Flechten überzogen.

Manche Biologen halten die Pilze für Ausbeuter, die ihre Algenopfer hinterrücks umgarnen. Doch diese Interpretation vergisst, dass die Flechtenpartner keine Individuen mehr sind und sich von der Vorstellung einer Grenze zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem vollkommen gelöst haben. Wenn sich das Individuum auflöst, verlieren Kategorien wie Sieger und Besiegte ihren Sinn. Wenn eine Bäuerin ihre Apfelbäume oder Getreidefelder hegt und pflegt, wird das Getreide dann unterdrückt? Wird die Bäuerin durch die Abhängigkeit vom Getreide zum Opfer? Solche Fragen gehen von einer Trennlinie aus, die es nicht gibt. Im menschlichen Herzschlag und der Blüte der Nutzpflanzen offenbart sich ein und dasselbe Leben. »Allein« ist keine Option mehr: Bäuerliches Leben ist davon geprägt, dass tierisches Leben seit Hunderten von Millionen Jahren – seit dem ersten wurmähnlichen Tier – von Nahrungspflanzen abhängig ist. Domestizierte Pflanzen leben zwar erst seit zehntausend Jahren mit dem Menschen zusammen, doch auch sie haben ihre Unabhängigkeit verloren. Bei Flechten kommt zur gegenseitigen Abhängigkeit noch die körperliche Nähe: die beiden Körper sind verschmolzen, die Zellmembranen ineinander verwoben.

Die unterschiedlichen Farben der Flechten im Mandala zeugen von der Vielfalt der Algen, Bakterien und Pilze, die an der Flechtengemeinschaft beteiligt sind. Blaue und violette Flechten enthalten blaugrüne Bakterien, Cyanobakterien; grüne Flechten Algen. Die Pilze mischen noch eigene Farben dazu, wenn sie gelbe oder silberne Sonnenschutzpigmente absondern. Bakterien, Algen, Pilze: drei altehrwürdige Stämme des Lebensbaums, die ihre pigmentierten Zweige miteinander verflechten.

Das Grün der Algen verweist auf eine noch ältere Lebensgemeinschaft. Im Algeninneren tief verborgen liegen wahre Pigmentschätze. Sie absorbieren Sonnenenergie, die dann über chemische Kaskaden in die Verbindungen verwandelt wird, die aus Luftmolekülen Zucker und andere Nahrung machen: Der Zucker befeuert nicht nur die Algenzelle, sondern auch ihren Bettgenossen, den Pilz. Die Sonnenfänger-Pigmente sind sicher in winzigen Schmuckkästchen verwahrt, in Chloroplasten, die, von einer Membran umschlossen, ihr eigenes Genmaterial mitbringen. Die flaschengrünen Chloroplaste sind Bakterienabkömmlinge, die schon vor einundeinhalb Milliarden Jahren Unterschlupf in Algenzellen fanden. Die bakteriellen Untermieter gaben dafür ihre harte Außenschicht, ihre Sexualität und ihre Unabhängigkeit auf – so wie die Algenzellen, die sich mit Pilzen zu Flechten vereinigen. Doch Chloroplaste sind nicht die einzigen Bakterien, die in anderen Geschöpfen leben. Alle Pflanzen-, Tier- und Pilzzellen werden von den torpedoförmigen Mitochondrien bewohnt: Miniaturkraftwerken, die die Nahrung der Zelle verbrennen und so Energie freisetzen. Mitochondrien waren einst ebenfalls frei lebende Bakterien und haben, wie die Chloroplasten, zugunsten einer Partnerschaft auf Freiheit und Sex verzichtet.

Die chemischen Windungen des Lebens, die DNA, tragen Zeichen einer noch älteren Gemeinschaft. Unsere Bakterienvorfahren rüttelten und schüttelten ihre Gene artübergreifend; wie Köche, die aus fremden Rezeptbüchern kopieren, vermischten sie genetische Anleitungen. Wenn sich zwei Küchenchefs dann zur Fusion entschlossen, verschmolzen zwei Arten zu einer. Die DNA moderner Organismen, auch unserer eigenen, enthält noch Spuren solcher Fusionen. Obwohl unsere Gene als Einheit fungieren, weisen sie zwei oder mehr leicht abweichende Schriftbilder auf: Überbleibsel verschiedener Arten, die sich Milliarden Jahre zuvor vereinigt haben. Der »Baum« des Lebens ist eine mangelhafte Metapher. In ihren tiefsten Schichten ähnelt unsere Genealogie einem eng verwobenen Geflecht oder einem Delta, in dem sich unzählige Flussläufe kreuzen.

Wir sind Matroschkas: Unser Leben wurde durch anderes Leben in uns ermöglicht. Doch während man die russischen Puppen auseinandernehmen kann, sind unsere Zell- und Genhelfer untrennbar mit uns verbunden – und wir mit ihnen. Wir sind Flechten im Großformat.

Vereinigung. Verschmelzung. Die Mandalabewohner haben siegreiche Partnerschaften geknüpft. Doch Kooperation ist nicht die einzige Beziehungsform im Wald. Auch hier gibt es Piraterie und Ausbeutung. Ein mahnendes Zeichen solch schmerzhafter Verbindungen liegt in der Mandalamitte zusammengerollt auf dem Laubboden, umrahmt von flechtenüberzogenen Felsen.

Das Zeichen hat sich mir nur zögernd offenbart, meine Beobachtungsgabe war von der Kälte betäubt. Zuerst wurde ich auf zwei bernsteinfarbene Ameisen aufmerksam, die auf dem nassen Laub hektisch hin und her eilten. Ich hatte ihr Gewusel schon eine halbe Stunde beobachtet, als ich bemerkte, dass sie sich offenbar für einen zusammengerollten Faden interessierten. Der Faden war so lang wie meine Hand und genauso regennassbraun wie das Hickoryblatt, auf dem er lag. Ich hielt das Knäuel erst für eine alte Weinranke oder einen Blattstiel. Doch als ich mich gerade Spannenderem zuwenden wollte, bearbeitete eine Ameise die Ranke mit den Fühlern, und das Knäuel streckte sich und schlingerte. Langsam erkannte mein Hirn, was es war: ein Saitenwurm. Ein befremdliches Lebewesen mit starkem Hang zur Ausbeutung.

Es war das Schlängeln, was den Wurm verriet. Saitenwürmer stehen innerlich unter Druck: Durch das Gegenspiel von Muskeln und aufgepumptem Körper krümmt und windet sich der Wurm wie kein anderes Tier. Der Wurm hat kein Bedürfnis nach differenzierten oder anmutigen Bewegungen, denn in dieser Lebensphase bleibt ihm nur noch zweierlei zu tun: sich zum Partner hinzuwinden und dann Eier zu legen. Doch auch in seiner vorigen Lebensphase hatte er keine raffinierte Fortbewegung nötig: als er sich noch im Körper einer Grille kringelte. Fortbewegung und Ernährung übernahm die Grille für ihn. Der Saitenwurm lebte als ihr innerer Pirat: Er raubte die Grille erst aus, dann tötete er sie.

Der Lebenskreislauf des Wurms begann damit, dass er aus einem Ei schlüpfte, das in einem Tümpel oder Bach abgelegt worden war. Als mikroskopisch kleine Larve kroch er im Bachbett umher, bis er von einer Wasserschnecke oder einem kleinen Insekt gefressen wurde. In seinem neuen Heim hüllte er sich in einen schützenden Mantel, bildete eine Zyste und wartete ab. Das Leben der meisten Wurmlarven ist damit vorbei: als Zyste, die ihren Lebenskreislauf niemals vollendet. Der Wurm im Mandala gehört also zu den wenigen, die es bis in die nächste Lebensphase geschafft haben. Sein Wirt krabbelte an Land, starb und wurde von einer allesfressenden Grille verspeist. Eine solche Abfolge der Ereignisse ist so unwahrscheinlich, dass die Elternwürmer zur Arterhaltung Dutzende Millionen Eier legen, von denen im Durchschnitt nur ein oder zwei das Erwachsenenalter erreichen. Der stachelköpfige Larvenpirat in der Grille bohrte sich durch die Darmwand, nistete sich in der Festung ein und wuchs von einer kommagroßen Larve zum handlangen Wurm heran – der im Grillenkörper nur noch eingekringelt Platz hatte. Als er nicht mehr weiterwachsen konnte, sonderte er chemische Stoffe ab, um das Gehirn der Grille zu entern. Die Chemie machte aus der wasserscheuen Grille einen Kamikazetaucher, den es zu Tümpeln und Bächen zog. Als die Grille das Wasser berührte, dehnte der Saitenwurm seine kräftigen Muskeln, zerriss die Körperhülle der Grille und schlängelte sich nach draußen. Das ausgeraubte Wirtsschiff aber sank und starb.

Wenn sich Saitenwürmer ihrem Wirt entwunden haben, sehnen sie sich nach Gesellschaft und paaren sich in unentwirrbaren Knäueln aus Dutzenden oder Hunderten Würmern. Diese Gewohnheit trug ihnen den lateinischen Namen Gordiacea ein – nach der Sage von König Gordios und seinem monströsen Knoten aus dem achten Jahrhundert vor Christus. Wer den gordischen Knoten lösen konnte, sollte demnach Gordios’ Nachfolger werden, doch alle Möchtegern-Herrscher scheiterten kläglich. Erst Jahrhunderte später sollte ein anderer Pirat, Alexander der Große, die Aufgabe lösen. Er betrog, wie die Würmer, seine Gastgeber, durchschlug den Knoten mit dem Schwert und beanspruchte fürderhin die Krone des Reichs für sich.

Hat das gordische Paarungsknäuel seine Sehnsucht schließlich befriedigt, entwirren sich die Würmer, schlängeln sich davon und legen dann ihre Eier an glitschigen Teichrändern oder auf feuchtem Waldboden ab. Die Larven schlüpfen und befallen, von Alexanders Piratengeist beseelt, zunächst eine Schnecke, und tauchen erst wieder auf, um eine Grille zu entern.

Die Beziehung des Saitenwurms zu seinen Wirtsleuten ist ganz und gar ausbeuterisch. Das Opfer profitiert von keinem versteckten Vorteil oder wird irgendwie für seine Leiden entschädigt. Der parasitäre Wurm dagegen wird durch jede Menge Mitochondrien in seinem Innern unterstützt. Piraterie braucht Kollaboration.

Taoistische Verschmelzung. Bäuerliche Abhängigkeit. Alexanders Raub. Die Beziehungen im Mandala sind facettenreich und vielfarbig. Die Grenze zwischen Bandit und ehrlichem Bürger ist nicht so leicht zu ziehen, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Evolution hat keine Grenzen gezogen. Piraterie und Solidarität mischen sich in allem Leben. Parasitäre Räuber werden von kooperativen Mitochondrien in ihrem Innern genährt. Algen leuchten dank ehemaliger Bakterien smaragdgrün und ergeben sich zwischen grauen Pilzwänden. Selbst das chemische Fundament des Lebens, die DNA, ist ein bunter Regenbogen, ein gordischer Beziehungsknoten.

17. JANUAR

Keplers Geschenk

KNÖCHELTIEFER SCHNEE HAT den unebenen, zerklüfteten Waldboden in eine sanfte Wellenlandschaft verwandelt. Unter der Schneedecke verbergen sich tückische Spalten, Lücken zwischen den Steinen. Ich gehe langsam und vorsichtig, schlittere und klettere, mich an Baumstämmen festhaltend, in Richtung Mandala. Ich wische den Schnee von meinem Stein, setze mich und hülle mich fester in meine Jacke. Ungefähr alle zehn Minuten hallt ein lauter Knall, wie ein Schuss, durchs Tal: An den nackten, grauen Bäumen sind wieder Fasern der eiserstarrten Äste gerissen. Die Temperatur ist auf minus zehn Grad gefallen. Kein harter Frost, aber der erste Kälteeinbruch des Jahres strapaziert das Holz der Bäume.

Die Sonne kommt hervor, und die weiche, weiße Schneeschicht wird zu unzähligen glitzernden Punkten. Ich entwende dem Mandala eine Fingerspitze des funkelnden Etwas. Aus der Nähe betrachtet, ist der Schnee ein Gewirr aus Spiegelsternen: Wenn sie sich im richtigen Winkel zur Sonne und meinem Auge befinden, blitzen die Sterne auf. Das Sonnenlicht bringt die minutiösen Ornamente der Schneeflocken an den Tag: Zacken, Nadeln und Sechsecke in perfekter Symmetrie. Hunderte zarter Flocken drängen sich auf meiner Fingerkuppe.

Wie entsteht so viel Schönheit?

Im Jahr 1611 opferte Johannes Kepler ein wenig seiner kostbaren Zeit, die er gewöhnlich der Erhellung der Planetenbewegungen widmete, um über Schneeflocken zu sinnieren. Ihn faszinierte besonders die Regelmäßigkeit der sechseckigen Schneeflocken: »Da jedes Mal, sooft es zu schneien beginnt, jene ersten Elemente des Schnees die Form sechsstrahliger Sternchen aufweisen, so muß eine bestimmte Ursache vorhanden sein.« Kepler suchte in den Gesetzen der Mathematik und in naturgeschichtlichen Formen nach einer Antwort auf seine Frage. Er stellte fest, dass Bienenwaben und Granatapfelkerne ebenfalls eine sechseckige Form aufweisen. Doch da Wasserdampf, anders als Granatapfelkerne, weder in Schalen gepresst noch von Insekten geformt wird, kam er zu dem Schluss, dass uns diese Naturbeispiele nichts über die Ursache der Schneeflockenarchitektur verraten können. Und weil viele Blüten und Mineralien ebenfalls der Sechseckregel widersprechen, lief seine Suche auch dort ins Leere. Selbst die Geometrie musste Kepler von der Liste der Möglichkeiten streichen, denn Drei-, Vier- und Fünfecke bilden genauso hübsche geometrische Muster.

Kepler schrieb schließlich, dass sich in den Schneeflocken die Kraft der Natur und Gottes offenbare, die »gestaltende Seele«, die allem Sein innewohne. Doch die mittelalterliche Lösung befriedigte ihn letztendlich nicht. Er suchte eine wissenschaftliche Erklärung, keinen Fingerzeig Gottes. Sein Aufsatz endet mit Worten der Enttäuschung; es war ihm nicht gelungen, einen Blick in den eisigen Palast des Wissens zu erhaschen.

Seine Enttäuschung wäre geringer ausgefallen, hätte er die Lehre von den Atomen ernst genommen. Doch die Atomlehre, die auf die klassische griechische Philosophie zurückging, war bei Kepler und den meisten Wissenschaftlern des frühen 17. Jahrhunderts in Ungnade gefallen. Allerdings näherte sich das zweitausendjährige Exil der Atome seinem Ende. Zum Ausgang des 17. Jahrhunderts waren Atome wieder en vogue: Triumphierend tänzelten Kugeln und Stäbe über Bücher und Tafeln. Heute setzen wir die Eiskristalle Röntgenstrahlen aus, um ihre Atome aufzuspüren, und durch die Form der austretenden Strahlung offenbart sich uns eine Welt, die eine Billiarde Mal kleiner ist als der übliche Maßstab menschlichen Lebens. Wir entdecken die gezackten Linien der Sauerstoffatome, die jeweils an zwei ruhe lose Wasserstoffatome, herumflitzende Elektronen, gekettet sind. Wir umkreisen die Wassermoleküle, prüfen ihre Regelmäßigkeit von allen Seiten und erkennen erstaunt Atome, die wie Keplers Granatapfelkerne angeordnet sind. Wir haben damit die Ursache der Schneeflockensymmetrie gefunden: Die sich anlagernden sechseckigen Wassermolekülringe wiederholen ihren Sechseckrhythmus unermüdlich und vergrößern die Anordnung der Sauerstoffatome dadurch so stark, dass sie für das menschliche Auge sichtbar wird.

Wenn Eiskristalle wachsen, entwickelt sich die grundlegende Sechseckform der Schneeflocken weiter. Für ihre endgültige Form spielen Temperatur und Luftfeuchtigkeit eine entscheidende Rolle. So bilden sich in sehr kalter, trockener Luft sechseckige Prismen. Der Südpol ist mit solch einfachen Formen übersät. Mit steigender Temperatur wird das streng sechseckige Wachstum der Eiskristalle dagegen instabiler. Die Ursache der Instabilität ist noch nicht endgültig erforscht, aber offenbar gefriert Wasserdampf an manchen Eiskristallkanten schneller als an anderen, und schon geringe Veränderungen in den Luftbedingungen können die Anlagerungsgeschwindigkeit wesentlich beeinflussen. In sehr feuchter Luft wachsen den sechs Schneeflockenecken daher »Arme«, die sich wieder in neue sechseckige Plättchen verwandeln oder, bei ausreichend warmer Temperatur, weitere Anhängsel hervorbringen und die Arme der wachsenden Sterne vervielfachen. Bei anderen Temperatur- und Feuchtigkeitskombinationen bilden sich dagegen Hohlprismen, Nadeln oder zerfurchte Plättchen. Wenn es schneit, schleudert der Wind die Schneeflocken durch die Luft und damit durch unzählige winzig unterschiedliche Temperatur- und Feuchtigkeitsbereiche. Nicht zwei Schneeflocken erleben dasselbe, und ihre Geschichte spiegelt sich in den einzigartigen Eiskristallen wieder, aus denen sie bestehen. Der Zufall der Geschichte spielt mit den Gesetzen der Eiskristallbildung und erzeugt eine Spannung aus Ordnung und Abweichung, die unserem Schönheitsempfinden ungemein schmeichelt.

Könnte uns Kepler heute besuchen, würde ihm unsere Lösung des Rätsels von der schönen Schneeflocke vermutlich gefallen. Denn er war mit seiner Beobachtung der sorgfältig angeordneten Granatapfelkerne und Bienenwaben auf der richtigen Spur. Die Ursache für die sechseckigen Schneeflocken liegt letztendlich in der Geometrie dicht gepackter Kugeln. Aber weil Kepler nichts über Atome und ihre Bedeutung für die materielle Welt wusste, konnte er sich keine winzigen Sauerstoffatome vorstellen, aus denen Eisgeometrien erwachsen. Über einen Umweg trug Kepler allerdings doch zur Lösung des Problems bei. Seine Schneeflocken-Grübelei bewog andere Wissenschaftler dazu, der Geometrie von Kugelpackungen nachzugehen, und ihre Studien wiederum leisteten einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der modernen Atomlehre. Keplers Aufsatz gilt heute als eine der Grundlagen des modernen Atomismus – eine Weltsicht, die Kepler allerdings ausdrücklich ablehnte, als er einem Kollegen gegenüber äußerte, er könne sich nicht ad atomos et vacua, »mit Atomen und leeren Räumen« gemeinmachen. Doch Keplers Erkenntnisse halfen anderen, das zu sehen, was ihm zu sehen verwehrt blieb.

Ich wende mich wieder den Glassternen auf meinem Finger zu. Dank Kepler und anderen, die ihm nachfolgten, sehe ich nun nicht nur Schneeflocken, sondern Atomskulpturen – ein Atomium. Nirgendwo sonst im Mandala ist die Beziehung zwischen der klitzekleinen Welt der Atome und dem groben Reich meiner Sinne so einfach. Alles andere wie Gestein, Borke, meine Haut oder meine Kleidung besteht aus einem so komplexen Molekülgewirr, dass mir der äußere Anblick nichts über die minutiöse innere Struktur verrät. Die sechseckigen Eiskristalle geben mir einen unmittelbaren Einblick in das, was normalerweise unsichtbar ist: die Geometrie der Atome. Ich schüttle die Flocken vom Finger, und sie fallen zurück in das große Meer aus geballtem Weiß.

21. JANUAR

Das Experiment

EISIGER WIND PEITSCHT ÜBER das Mandala, dringt durch meinen Schal, am Kiefer spüre ich einen stechenden Schmerz. Es ist windig und zwanzig Grad unter null. Solche Temperaturen sind in den süd lichen Wäldern der USA ungewöhnlich. Im Winter wechseln sich hier meistens Tauwetter und leichter Frost ab, nur wenige Tage im Jahr sinkt die Temperatur tiefer. Die derzeitige Kälte bringt das Leben im Mandala an seine physischen Grenzen.

Ich möchte die Kälte spüren wie die Tiere im Wald, ohne schützende Kleidung. Aus einer Laune heraus werfe ich Handschuhe und Mütze auf den gefrorenen Boden, lasse den Schal folgen. Dann ziehe ich blitzschnell den kälteisolierenden Overall sowie Hemd, T-Shirt und Hose aus.

Die ersten zwei Sekunden ist das Experiment überraschend erfrischend; ohne die stickige Kleidung ist es angenehm kühl. Doch dann fegt der Wind alle Illusionen hinweg, und mein Kopf ist schmerzbenebelt. Die Wärme strömt aus meinem Körper, meine Haut brennt.

Ein Carolinameisenchor liefert die Begleitmusik zu meinem grotesken Striptease. Die Vögel tanzen wie Funken durch die Bäume, huschen durch die Zweige. Sie verharren nirgends länger als eine Sekunde, dann zischen sie davon. Dass die Meisen so lebhaft sind, ich aber in der Kälte physisch versage, scheint den Naturgesetzen zu widersprechen. Kleine Tiere sollten mit der Kälte schlechter zurechtkommen als ihre großen Verwandten! Das Volumen von Objekten, auch von tierischen Körpern, nimmt mit der Objektlänge kubisch zu. Und da sich die Wärmemenge, die ein Tier erzeugen kann, proportional zum Körpervolumen verhält, erhöht sich die erzeugte Wärmemenge mit der Körpergröße kubisch. Die Oberfläche, über die Wärme verloren geht, wächst dagegen mit zunehmender Länge nur im Quadrat. Kleine Tiere kühlen schneller aus, weil ihr Körper im Verhältnis viel mehr Oberfläche als Volumen besitzt.

Das Verhältnis zwischen Größe und Wärmeverlust eines Tiers hat bestimmte geografische Gesetzmäßigkeiten in puncto Körpergröße hervorgebracht. Wenn eine Tierart weite Landstriche besiedelt, sind ihre nördlichen Vertreter gewöhnlich größer als ihre südlichen. Das nennt man – nach dem Anatom, der das Phänomen im 19. Jahrhundert zuerst beschrieb – die Bergmann’sche Regel. So sind die Carolina meisen in Tennessee, die im äußersten Norden ihres Verbreitungsgebiets leben, zehn bis zwanzig Prozent größer als die Exemplare in Florida, im südlichsten Verbreitungsgebiet. Bei den Vögeln in Tennessee hat sich das Verhältnis zwischen Körperoberfläche und Körpervolumen verschoben, um die Anpassung an den kalten Winter zu verbessern. Noch weiter im Norden nimmt dann eine enge Verwandte, die Schwarzkopfmeise, den Platz der Carolinameise ein: Sie ist noch einmal zehn Prozent größer.

Die Bergmann’sche Regel scheint mir ziemlich fern, als ich nackt im Wald stehe. Es geht ein scharfer Wind, und das Brennen auf der Haut verstärkt sich rasch. Dann spüre ich plötzlich einen tiefer gehenden Schmerz. Irgendetwas außerhalb meines Bewusstseins sitzt in der Falle und schlägt Alarm. Nach nur einer Minute in winterlicher Kälte hat mein Körper vollständig versagt. Dabei wiege ich zehntausend Mal mehr als eine Meise. Eigentlich müssten diese Vögel in Sekundenschnelle tot sein.

Ihr Überleben verdanken die Meisen zum Teil ihrem kälteisolierenden Gefieder, das ihnen gegenüber meiner nackten Haut einen klaren Vorteil verschafft. Ihr glattes, oberes Federkleid wird durch versteckte Daunenfedern aufgebauscht. Daunenfedern bestehen aus Tausenden dünner Proteinstränge. Die winzigen Härchen bilden einen federleichten Flaum, der Wärme zehn Mal besser speichert als ein Styroporbecher. Im Winter verdoppeln die Vögel die Zahl ihrer Federn und verbessern so die Isolierfähigkeit ihres Gefieders. An kalten Tagen spannen Vögel zudem die Muskeln unter dem Gefieder an, sie plustern sich auf, sodass ihre Isolierung doppelt so dick wird. Doch auch ihr eindrucksvoller Kälteschutz kann das Unvermeidliche nur ein wenig hinausschieben. Die Haut der Meisen brennt nicht wie meine in der Kälte, gibt aber trotzdem Wärme ab. Ein oder zwei Zentimeter Daunengepluster zögern den Kältetod höchstens ein paar Stunden hinaus.

Ich lehne mich in den Wind. Das Gefühl der Bedrohung wächst. Mein Körper zuckt und zittert unkontrollierbar.

Die chemischen Reaktionen, mit denen ich normalerweise Wärme erzeuge, erweisen sich als vollkommen unzureichend, und die anfallsartigen Muskelzuckungen sind der letzte Versuch, das Absinken der Kerntemperatur noch aufzuhalten. Meine Muskeln feuern scheinbar wahllos, ziehen sich gegenseitig zusammen, ich schlottere am ganzen Körper. Im Muskelinneren werden Nahrungsmoleküle und Sauerstoff verbrannt, als würde ich laufen oder schwer heben, doch die Verbrennung erzeugt jetzt einen Wärmerausch: Durch das zwanghafte Schlottern in Beinen, Brust und Armen wird das Blut erwärmt und die Wärme zum Gehirn und Herzen transportiert.

Zittern ist auch die wichtigste Strategie, mit der sich Meisen gegen Kälte verteidigen. Im Winter nutzen die Vögel ihre Muskeln als Wärmepumpen. Wenn sie in der Kälte nicht aktiv sind, erzittern ihre Muskeln. Ihre wichtigste Wärmequelle sind dabei Flugmuskelpakete in der Brust. Die Flugmuskeln machen ungefähr ein Viertel des Meisengewichts aus; wenn sie zittern, wird also warmes Blut in Hülle und Fülle erzeugt. Menschen besitzen keine vergleichbar großen Muskeln, unser Zittern und Bibbern fällt daher eher bescheiden aus.

Als ich so zitternd dastehe, steigt Angst in mir auf. Ich gerate in Panik und kleide mich so schnell wie möglich an. Meine Hände sind klamm, nur mit Mühe halten meine Finger die Kleidung, ich friemele an Reißverschlüssen und Knöpfen herum. Mein Kopf schmerzt, als hätte ich unversehens Bluthochdruck. Ich verspüre nur einen Wunsch: mich zu bewegen. Ich renne, springe und rudere mit den Armen. Mein Gehirn signalisiert mir: Sorg für Wärme, aber schnell.

Das Experiment war nach einer Minute beendet; das entspricht etwa einem Zehntausendstel der Zeit, die diese arktische Woche dauert. Dennoch, mein Körper ist aus dem Takt. Mein Kopf hämmert, meine Lungen lechzen nach Luft, meine Gliedmaßen sind förmlich gelähmt. Wenige Minuten später wäre mein Körper unterkühlt gewesen, jede noch so flüchtige Muskelkoordination vergeblich; Benommenheit und Halluzinationen hätten von mir Besitz ergriffen. Normalerweise hält der menschliche Körper eine Temperatur von ungefähr siebenunddreißig Grad Celsius aufrecht. Wenn die Körperkerntemperatur nur um ein wenig, auf vierunddreißig Grad sinkt, kommt es zu geistiger Verwirrung. Bei dreißig Grad schalten sich die ersten Organe ab. Damit die Temperatur so weit abfällt, muss man bei eisigem Wind wie heute nur eine Stunde nackt der Kälte ausgesetzt sein. Meiner klugen kulturellen Kälteanpassung entkleidet, entpuppe ich mich als tropischer Affe, der im Winterwald vollkommen fehl am Platz ist. Die mühelose Überlegenheit der Meisen ist geradezu demütigend.

Nachdem ich fünf Minuten lang Arme und Beine wie der Teufel bewegt habe, verkrieche ich mich noch tiefer in meine Kleidung: Ich fröstele noch, bin aber nicht mehr in Panik. Meine Muskeln sind ermüdet, ich fühle mich erschöpft wie nach einem Sprint. Erst jetzt spüre ich, welche Strapaze die Wärmeerzeugung für meinen Körper bedeutet. Wenn ein Tier länger als ein paar Minuten zittert, können seine Energiereserven schnell verbraucht sein. Darum ist Hunger bei Forschern der Spezies Mensch und wilden Tieren häufig ein Vorbote des Todes. Solange wir genügend Nahrungsvorräte besitzen, können wir uns zitternd und bibbernd am Leben erhalten, doch mit leerem Magen und verbrauchten Fettreserven gibt es keine Rettung mehr.

Ich kann meine Reserven wieder auffüllen, wenn ich in meiner warmen Küche bin, wo ich dem Winter dank Nahrungskonservierungs- und Transporttechnologien erfolgreich trotze. Doch Meisen verfügen weder über Trockengetreide noch Nutztierhaltung oder importiertes Gemüse. Wenn sie im Winter überleben wollen, müssen sie genügend Futter finden, um ihren Minibrennofen in Gang zu halten.

Der Energieverbrauch von Meisen wurde im Labor und bei frei lebenden Vögeln gemessen. An einem Wintertag wie diesem brauchen Vögel fünfzehntausend Kilokalorien, um sich am Leben zu erhalten. Die Hälfte der benötigten Energie fällt für das Zittern an. Die abstrakten Zahlen werden ein wenig konkreter, wenn wir sie in die Währung »Vogelnahrung« umrechnen. Eine Spinne, so groß wie ein Komma auf dieser Seite, enthält gerade einmal 0,25 Kilokalorien. Eine Spinne in Großbuchstabengröße entspricht fünfundzwanzig Kilokalorien und ein wortgroßer Käfer 60 Kilokalorien. Ein öliger Sonnenblumenkern hat fast zweihundertfünfzig Kalorien, doch die Vögel hier müssen ohne körnergefüllte Futterspender auskommen. Um ihren Energiebedarf zu decken, müssen die Meisen täglich Hunderte von Futterbröckchen finden. Aber in der Mandalaspeisekammer herrscht Ödnis und Leere. Ich sehe im frostgeplagten Wald keine Käfer, Spinnen oder anderes Essbares.

Meisen können dem scheinbar wertlosen Wald noch Nährstoffe abgewinnen, vor allem, weil sie hervorragend sehen. Auf der Netzhaut ihrer Augen sind die Rezeptoren doppelt so dicht gepackt wie meine. Vögel sehen schärfer und detaillierter als ich. Wo ich die glatte Oberfläche eines Zweiges erblicke, sehen sie Risse und raue Zerklüftungen, in denen sich möglicherweise Nahrung verbirgt. Viele Insekten überwintern in winzigen Rindenritzen, aber Meisen stöbern die Insektenverstecke mit scharfem Blick auf. Den Reichtum ihrer visuellen Welt zu erleben ist uns verwehrt, doch wenn wir durch eine Lupe schauen, erhalten wir eine kleine Vorstellung davon: Details, die sonst unsichtbar sind, geraten plötzlich in den Blick. Ihre Wintertage verbringen Meisen großteils damit, ihren messerscharfen Blick über Zweige, Stämme und Laubboden schweifen zu lassen und Futterverstecke aufzuspüren.

Meisen sehen zudem mehr Farben als ich. Wenn ich das Mandala betrachte, müssen meine Augen mit drei Farbrezeptoren, den Zapfen, auskommen, mit denen ich drei Primärfarben und vier Hauptkombinationen der Primärfarben erkenne. Meisen besitzen einen zusätzlichen Zapfen für ultraviolettes Licht. Sie sehen vier Primärfarben und elf Hauptkombinationen, und ihr sichtbares Spektrum ist damit wesentlich größer als alles, was wir sehen oder uns auch nur vorstellen können. Die Zapfen der Vögel sind zudem mit farbigen Öltröpfchen ausgestattet, die als Lichtfilter fungieren und dafür sorgen, dass jeder Zapfen nur von einem schmalen Farbspektrum stimuliert wird. Ihr Farbsehen ist daher präziser. Wir besitzen keine derartigen Filter, daher sehen Vögel auch in unserem sichtbaren Lichtspektrum Farbnuancen, die uns verborgen bleiben. Die Meisen leben in einer farbenprächtigen Hyperrealität, zu der unsere trüben Augen keinen Zugang haben. Und hier im Mandala nutzen sie ihre Fähigkeiten zur Futtersuche. Die spärlichen vertrockneten Beeren, die hie und da auf dem Waldboden liegen, reflektieren das ultraviolette Licht, und auch die Flügel mancher Käfer und Nachtfalter oder manche Raupen sind ultraviolett gefärbt. Doch die Vögel würden Insekten auch enttarnen, ohne ultraviolett zu sehen, weil sie durch ihr präzises Farbsehen noch geringste Unregelmäßigkeiten aufspüren.

Das Sehvermögen von Vögeln und Säugetieren hat sich bereits in der Jurazeit, vor hundertfünfzig Millionen Jahren auseinanderentwickelt. Damals spaltete sich die Abstammungslinie, die die neuzeitlichen Vögel hervorbrachte, von den Reptilien ab. Und die urzeitlichen Vögel erbten dabei von ihren Vorfahren, den Reptilien, vier Zapfen. Auch die Säugetiere haben sich aus den Reptilien entwickelt, aber ihre Linie spaltete sich früher ab als die der Vögel. Anders als Vögel verbrachten unsere Vorfahren, die Proto-Säugetiere, das Jurazeitalter als nachtaktive, spitzmausähnliche Geschöpfe – und die natürliche Zuchtwahl mit ihrem kurzsichtigen Nützlichkeitsgedanken hielt prächtige Farben bei solchen Nachtgeschöpfen offenbar für überflüssig. Zwei der vier Zapfen, die die Säugetiere von ihren Vorfahren geerbt hatten, gingen verloren: Die meisten Säugetiere besitzen bis heute nur zwei Zapfen. Lediglich einige Primaten, darunter unsere Ahnen, entwickelten später einen dritten.

Die Carolinameisen können ihr gutes Sehvermögen auch dank körperlicher Geschicklichkeit hervorragend nutzen. Mit einem einzigen Flügelschlag huscht ein Vogel von einem Ast zum nächsten. Füße umkrallen einen Zweig, schon lässt sich der Vogel fallen und hängt schaukelnd am Astende. Der Schnabel pickt, der Körper, noch immer kopfüber, dreht sich dahin und dorthin, dann öffnen sich blitzschnell die Flügel, und der Vogel fliegt zum nächsten Zweig. Nirgendwo bleibt etwas ungeprüft. Die Vögel verbringen genauso viel Zeit kopfüber und spähen unter Zweige, wie sie auf den Zweigen sitzen.

Doch trotz engagierter Suche finden die Meisen keine Beute, solange ich sie beobachte. Wie die meisten Vögel rucken Meisen beim Schlucken auffällig mit dem Köpfchen oder krallen größere Beute mit den Füßen fest, wenn sie sie mit dem Schnabel zerhacken. Der Schwarm bleibt ungefähr eine Viertelstunde in Sichtweite, ohne Nahrung zu finden. Die Meisen werden wohl auf ihre Fettreserven zurückgreifen müssen, um die Kälte zu überstehen. Im Winter sind Fettreserven lebenswichtig, und sie erlauben den Meisen zudem, die wechselhafte Winterwitterung für sich zu nutzen. Wenn es ein wenig wärmer wird oder sie ganzen Spinnenhaufen oder Beerenbüscheln begegnen, wird aus der Futterflut ein Fettpolster, das sie durch kältere und kargere Winterzeiten bringt.

Die einzelnen Meisen besitzen unterschiedlich dicke Fettpolster. Meisen gehen in hierarchischen Schwärmen auf Futtersuche, zu denen normalerweise ein dominantes Paar und mehrere Rangniedere gehören. Die dominanten Vögel können von allem fressen, was der Schwarm findet, sind also allgemein bei jeder Witterung gut genährt. Herrschermeisen besitzen einen gepflegten Körper. Niedere Vögel dagegen bekommen die volle Härte des Winters zu spüren, sie können nur zeitweilig gut fressen. Die rangniederen Vögel, häufig Jungtiere oder erfolglose Brüter, kompensieren die unregelmäßige Nahrungsaufnahme durch Fettpolster: ihre Versicherung für magere Zeiten. Doch Fettpolster haben ihren Preis. Rundliche Vögel werden leichter zur Beute von Habichten. Das Fettpolster einer Meise ist also eine reine Abwägungssache: zwischen der Bedrohung durch Hunger und der Bedrohung durch Fressfeinde.

Meisen runden ihr Fettpolster zudem durch Insekten und Körner ab, die sie als Vorrat unter Rindenschuppen stopfen. Die Carolinameisen verstecken ihr Futter gern in den Unterseiten dünner Äste, vermutlich um es vor diebischen, aber weniger wendigen Vogelarten zu schützen. Dennoch sind ihre Verstecke vor Plünderern nicht sicher, weshalb die Meisenschwärme im Wald ihr Winterrevier rigoros gegen Eindringlinge verteidigen. In anderen Gegenden der Welt leben Meisen, die keine Vorräte anlegen, längst nicht so territorial gebunden.

Im Winter gesellen sich zu den Schwärmen der Carolinameisen häufig größere Vogelarten. Heute sucht ein Dunenspecht erst trommelnd nach Larven im Eichenstamm, dann schließt er sich den Meisen an und saust mit ihnen ostwärts. Auch eine Indianermeise fliegt dem Schwarm hinterher. Indianermeisen schwirren wie Carolinameisen durch die Zweige, sind dabei aber weniger geschickt: Sie hocken vor allem auf den Zweigen und hängen nicht kopfüber. Alle Vögel im Schwarm rufen unentwegt, um den Trupp zusammenzuhalten. Carolina- und Indianermeisen pfeifen und zwitschern, der Specht lässt hohe pik-Laute ertönen. Im Schwarm sind die Vögel besser vor Habichten geschützt: Viele Augen sehen mehr als zwei. Doch die Carolinameisen müssen für die Sicherheit in der Menge bezahlen. Die Indianermeisen sind doppelt so schwer wie sie und beherrschen das Feld: Sie schubsen die Carolinameisen von toten Ästen, hohen Zweigen und anderen beliebten Futterplätzen. Der winzige Ortswechsel verringert die Futterchancen der Carolinameisen beträchtlich. In Schwärmen ohne Indianermeisen sind Carolinameisen besser genährt. Das Überleben im Wintermandala erfordert also nicht nur exzellente körperliche Fähigkeiten, sondern auch geschickte soziale Verhandlungen.

Langsam schwindet das Tageslicht. Ich recke und strecke meine ausgekühlten Gliedmaßen, befreie meine Augen von Eiskrusten und mache mich auf den Heimweg. Die Vögel werden noch ein paar Minuten nach Futter suchen und sich dann zu ihrem Schlafplatz begeben. Wenn das Licht nachlässt und es kühler wird, sammeln sich die Carolinameisen in Astlöchern, wo sie vor der wärmezehrenden Macht des Windes geschützt sind. Dort drängen sie sich zusammen, und die einnickende Vogelkugel, mit großem Volumen und relativ kleiner Oberfläche, bestätigt die Bergmann’sche Regel. In der Nacht wird die Körpertemperatur der Meisen um zehn Grad sinken: Sie verfallen in eine energiesparende Winterstarre. Weil die Vögel Verhalten und Physiologie der Witterung angepasst haben, bieten sie dem Winter nicht nur tagsüber Paroli. Winterstarre und Vogelkugel halbieren ihren Energiebedarf in der Nacht.

Die Anpassung der Carolinameisen an die klirrende Kälte ist beeindruckend, aber dennoch nicht unbedingt ausreichend: Morgen werden weniger Meisen als heute den Wald beleben. Väterchen Frost wird zahllose Meisen hinabziehen und in eine noch erschreckendere Leere stoßen als die, die ich in der Kälte erlebt habe. Nur die Hälfte der Meisen, die im herbstlichen Blätterwald nach Futter gesucht hat, wird im Frühling die Eichenknospen aufspringen sehen. Nächte wie diese sind die Hauptursache der hohen Wintersterblichkeit der Vögel.

Die frostigen Temperaturen werden nur wenige Tage anhalten, aber die erhöhte Vogelsterblichkeit wird sich noch das ganze Jahr bemerkbar machen. Der kalte Wintertod drängt die Meisenpopulation zurück und verringert sie um alle Vögel, deren Bedarf die knappe Futterversorgung übersteigt. Jede Carolinameise benötigt zu ihrem Selbsterhalt drei und mehr Hektar Wald. Das nur ein Quadratmeter große Mandala kann also lediglich ein paar Hunderttausendstel einer Meise ernähren. Die heutige Nacht wird mit kalter Hand alle überzähligen Meisen aussortieren.

Im Sommer kann das Mandala wesentlich mehr Vögel ernähren, aber weil die Hülle und Fülle von Standvögeln wie den Carolinameisen durch die kärgliche Winternahrung ausgedünnt ist, übersteigt das sommerliche Futterangebot ihren Appetit bei Weitem. Die saisonale Futterflut machen sich die Zugvögel zunutze, wenn sie lange Flüge von Mittel- und Südamerika auf sich nehmen, um am Überfluss der nordamerikanischen Wälder teilzuhaben. Die Winterkälte ist somit für den jährlichen Vogelzug von Millionen von Tangaren, Waldsängern und Vireos verantwortlich.

Der nächtliche Tod fördert außerdem die Feinanpassung der Carolinameisen an ihre Umwelt: Kleine Carolinameisen sterben eher als rundlichere Familienangehörige, wodurch sich das Bergmann’sche Breitengradmuster verstärkt. Extreme Kälte sortiert ferner alle Vögel einer Population aus, deren Zittern, Federflaum oder Energiereserven mangelhaft sind. Am nächsten Morgen wird die Meisenpopulation im Wald noch besser an die winterlichen Bedingungen angepasst sein. Das ist das Paradox der natürlichen Selektion: Das zunehmend perfektere Leben erwächst aus dem Tod.

Meine eigene Unzulänglichkeit bei Kälte hat ihren Grund ebenfalls in der natürlichen Selektion. Ich bin im Schneemandala fehl am Platz, weil meine Vorfahren, was Kälte und Abhärtung betraf, einen großen Bogen um die Selektion gemacht haben. Der Mensch stammt bekanntlich vom Affen ab – der Aberdutzende Jahrmillionen im tropischen Afrika lebte. Und da dort die größere Herausforderung darin bestand, den Körper kühl zu halten, besitzt unser Körper wenig, was ihn vor Kälte schützen könnte. Als meine Vorfahren Afrika verließen und nach Nordeuropa einwanderten, hatten sie Feuer und Kleidung dabei: Sie versetzten die Tropen einfach in die gemäßigten Zonen und Polargebiete. Durch ihr kluges Vorgehen konnten sie viel Leid und Tod verhindern – zweifellos ein wünschenswerter Erfolg. Doch der Komfort schlug der natürlichen Selektion ein Schnippchen. Feuer und Kleidung haben uns auf ewig dazu verdammt, in der Welt des Winters fehl am Platz zu sein.

Es wird dunkel, ich kehre zum Erbe meiner Vorfahren, dem warmen Ofen zurück und überlasse das Mandala den Vögeln, den Meistern der Kälte. Ihre Meisterschaft haben sie auf die harte Tour gelernt: im Kampf, geführt von Tausenden von Generationen. Ich wollte die Kälte genauso erleben wie die Tiere im Mandala, muss aber einsehen, dass das nicht geht. Mein Körper hat sich evolutionär anders entwickelt als der der Meisen; dasselbe zu erleben ist uns darum verwehrt. Dennoch: Seitdem ich mich in meiner Nacktheit dem eisigen Wind ausgesetzt habe, ist meine Bewunderung für jene anderen Wesen noch gestiegen. Ich kann nur staunen.

30. JANUAR

Winterpflanzen

DAS ENDLOSE DUMPFE BRÜLLEN kommt vom Wind, der an den Bäumen zerrt, die oberhalb des Mandalas auf dem hohen Sandsteinfels stehen. Anders als der Nordwind Anfang der Woche weht der stürmische Wind jetzt von Süden, doch weil das Mandala im Windschatten des Felsens liegt, sind hier nur leichte Wirbel und Windböen zu spüren. Der Südwind hat angenehmere Temperaturen gebracht. Es ist nur knapp unter null, warm genug, um in Winterkleidung eine Stunde oder länger bequem dazusitzen. Die erbarmungslose, physisch schmerzende Kälte ist vorbei: In der milden Luft durchströmt meinen Körper ein leises Wohlbehagen.

Ein vorbeikommender Vogelschwarm ist – erlöst vom arktischen Todesgriff – offenbar in ausgelassener Stimmung. Fünf Vogelarten sind gemeinsam unterwegs: fünf Indianermeisen, ein Carolinameisenpaar, ein Carolinazaunkönig, ein Indianergoldhähnchen und ein Carolinaspecht. Der Schwarm scheint wie durch ein unsichtbares Gummiband zusammengehalten: Wenn ein Vogel zurückbleibt oder weiter streunert, als es der Zehnmeterradius des Schwarms erlaubt, wird er unweigerlich ins Zentrum zurückgezogen. Wie ein flirrender Kugelblitz schwirrt der Schwarm durch den erstarrten Winterwald.

Am singfreudigsten sind die Indianermeisen: Sie geben unentwegt Töne von sich. In unregelmäßigem Rhythmus stoßen sie ein hohes siet aus, das ihre anderen Rufe, ein heiseres Pfeifen und Fiepen, dann umspielen. Einige Vögel zwitschern pi-ta pi-ta, ein Ruf, der in ihrem Repertoire am eisigen Wochenanfang noch fehlte. Die helle zweitönige Melodie ist ihr Brutgesang. Trotz Schnee denken die Vögel schon an den Frühling. Bis sie Eier legen, wird es noch einige Monate dauern, doch ihr Liebeswerben mit schwierigen sozialen Verhandlungen hat schon begonnen.

Die überschwängliche Lebensfreude der Vögel steht in starkem Kontrast zum Pflanzenleben im Mandala. Die grauen Äste und kahlen Zweige bieten ein trostloses Bild. Aus dem Schnee stakt der Tod: niedergestürzte, teils verfaulte Ahornäste, zerfaserte Stümpfe von Leaf cupstängeln und um die Stängel angetauter Schnee, durch den verrottendes Laub hindurchscheint. Scheinbar hat der Winter die Pflanzen vollständig besiegt.

Doch das Leben geht weiter.

Die kahlen Büsche und Bäume sind nicht bloß Gerippe, auch wenn es so aussieht. Zweige und Stämme sind von lebendem Gewebe umhüllt. Während die Vögel dem harten Winter trotzen, indem sie selbst der klirrendsten Kälte noch Nahrung abringen, harren die Pflanzen aus, ohne sich ihren eigenen Sommer zu schaffen. Dass Vögel in der Kälte überleben, mag erstaunen, doch dass Pflanzen nach der vollständigen Kapitulation wiederauferstehen, ist so weit von jeder menschlichen Vorstellung entfernt, dass es beinah unanständig scheint. Nach dem Tod, noch dazu dem Erfrierungstod, dürfte es keine Wiederkehr mehr geben.

Doch sie kehren wieder. Pflanzen überleben ähnlich wie Schwertschlucker: durch sorgfältige Vorbereitung und höchste Vorsicht vor scharfen Kanten. Pflanzen kommen mit bloßer Kälte normalerweise gut zurecht. Im Gegensatz zu den chemischen Reaktionen, die den Menschen am Leben erhalten, funktioniert die pflanzliche Biochemie bei verschiedenen Temperaturen und versagt auch nicht, wenn es kälter ist. Doch wenn aus Kälte Frost wird, fangen die Probleme an: Die wachsenden Eiskristalle zerstechen, zerreißen und zerstören die zarte innere Zellarchitektur. Im Winter müssen Pflanzen Zehntausende von Schwertern schlucken und ständig aufpassen, dass keins ihrer verletzlichen Seele zu nahe kommt.

Die Pflanzen beginnen schon Wochen vor dem ersten Frost mit den notwendigen Vorbereitungen. Sie befördern DNA und andere empfindliche Strukturen ins Zellzentrum und umhüllen sie mit einem Polster. Die Zellen werden fettiger, und die chemischen Fettverbindungen verändern sich so, dass sie bei Kälte flüssig bleiben. Die Zellmembranen werden löchrig und biegsam. Die verwandelten Zellen sind nun gut gepolstert und geschmeidig. Sie erdulden selbst grausame Kälte, ohne Schaden zu nehmen.

Die Wintervorbereitungen der Pflanzen nehmen Tage oder Wochen in Anspruch. Darum kann ein überraschender Frosteinbruch Äste sterben lassen, die sonst, bei geeigneter Akklimatisierung, kälteste Winternächte überstehen. Heimische Pflanzenarten werden selten vom Frost überrumpelt; die natürliche Selektion hat sie den Jahreszeitenrhythmus ihrer Heimat gelehrt. Doch exotische Pflanzen kennen sich vor Ort nicht aus und werden vom Winter oft zurechtgestutzt.

Die Zellen verändern nicht nur ihre physische Struktur, sondern saugen sich auch voll Zucker und senken so den Gefrierpunkt – wie das Salz auf unseren vereisten Straßen. Doch nur das Zellinnere wird gezuckert, das Wasser um die Zellen bleibt ungesüßt. Dank dieser Asymmetrie können sich die Pflanzen das absehbare Geschenk der Naturgesetze zunutze machen: Bei Eisbildung wird Wärme freigesetzt. Wenn Zellen von gefrierendem Wasser umgeben sind, steigt ihre Temperatur um mehrere Grad an. Beim ersten Frost ist das zuckrige Zellinnere daher durch das ungezuckerte Wasser geschützt, das die Zellen umhüllt. Auch Landwirte machen sich diese Wärmeerzeugung übrigens zunutze, wenn sie ihre Getreidepflänzchen in Frostnächten benebeln und so eine weitere Schicht wärmespendendes Wasser hinzugeben.

Wenn das Wasser zwischen den Zellen vollständig gefroren ist, wird keine Wärme mehr freigesetzt. Doch das Wasser im Zellinneren ist noch immer flüssig. Es sickert nun durch die löchrige Zellmembran nach außen und lässt den Zucker im Zellinneren zurück – dessen