Das verkaufte Glück - Manfred Mai - E-Book

Das verkaufte Glück E-Book

Manfred Mai

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Beschreibung

Armut und Not sind einfach zu groß: Jakob und sein Bruder Kilian müssen wie andere Kinder fort, um auf den Höfen in der Fremde ein wenig Geld und Essen zu verdienen. Ein bewegender Roman über das Schicksal der Schwabenkinder.

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Seitenzahl: 217

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Inhalt

Titel

Impressum

Es muss etwas geschehen

Ins Schwabenland

Durch tiefen Schnee

Die Zeiten sind schlecht

Ein Sack Kartoffeln

Am Bodensee

Jakob zweifelt

Verkauft

Ankunft auf dem Hartmann-Hof

Zähne zusammenbeißen

Hermann

Besuch bei Kilian

Zu Hilfe!

Ein schlimmer Verdacht

Noch mehr Arbeit

Verschwunden

Jakob hilft Anna

Fragen über Fragen

Heuernte

Brüderlich geteilt

Regentage

Knochenarbeit

Glück gehabt!

Ein stiller Schwur

Die Hauptsache

Nachwort

Autoreninformation

Als Ravensburger E-Book erschienen 2013 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH. © 2013 Ravensburger Verlag GmbH Umschlag- und Innenillustrationen: Henriette Sauvant Lektorat: Emily Huggins Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN978-3-473-47254-3www.ravensburger.de

Es muss etwas geschehen

Es dämmerte schon, als Jakob und sein Bruder Kilian auf ihrem Schlitten noch einmal den Hang am Waldrand hinunterfuhren. Sie überholten Leonhard, der sich auf den Bauch gelegt hatte, um schneller zu sein. Im Vorbeifahren johlte Kilian begeistert und klatschte vor Freude in die Hände.

„Festhalten!“, rief Jakob.

Schon schanzten sie über einen Hubbel, landeten schräg auf einer Kufe und schafften es nur dank Jakobs Geschick, nicht im Schnee zu landen. Doch sie verloren so viel Schwung, dass Leonhard an ihnen vorbeisauste und vor ihnen unten ankam.

„Gewonnen!“, rief er ihnen entgegen. „Ich war allein schneller als ihr zu zweit!“

„Dafür sind wir prima geschanzt“, erwiderte Kilian.

„Das zählt nicht“, sagte Leonhard.

„Doch!“

Jakob schwieg. Er ärgerte sich, dass Leonhard gewonnen hatte. Ausgerechnet dieser Angeber. Am liebsten hätte er den Schlitten noch mal den Hang hinaufgezogen und Leonhard zu einem Rennen herausgefordert. Diesmal ohne Kilian. Doch es war schon spät.

„Los, wir müssen heim und dem Vater helfen“, sagte er zu seinem Bruder.

„Wenn ihr euch traut, können wir morgen wieder ein Rennen machen“, stichelte Leonhard.

Kilian streckte ihm die Zunge raus. Das wagte er nur, weil Jakob dabei war.

Leonhard hob drohend die Faust. „Warte nur, bis ich dich allein erwische!“

„Wenn du ihm etwas tust, bekommst du es zurück“, warnte ihn Jakob.

„Vor dir hab ich keine Angst“, sagte Leonhard und machte zwei Schritte auf Jakob zu.

Sie standen sich gegenüber und einen Augenblick lang sah es aus, als würden sie sich gleich aufeinanderstürzen. Doch nachdem sie ihre Schlitten an diesem Nachmittag so oft den Hang hinaufgezogen hatten, fühlten sich beide zu müde für einen Kampf. Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf den Heimweg.

Unterwegs knurrte Jakobs Magen heftig.

„Hast du auch so Hunger?“, fragte Kilian.

Jakob nickte nur.

Daheim stand die Mutter am Herd und rührte in einem Topf. „Wo bleibt ihr denn?“, fragte sie vorwurfsvoll.

Kilian machte den Hals lang, um in den Topf zu schauen. „Ich hab Hunger“, sagte er.

Die Mutter schob ihn weg. „Jetzt gibt’s noch nichts. Erst geht ihr in den Stall und helft dem Vater.“

„Aber ich …“

„Komm!“, sagte Jakob, packte seinen Bruder am Arm und zog ihn mit.

„Lass mich los!“

Jakob ließ ihn los, und Kilian trottete murrend hinter seinem Bruder in den Stall.

Dort hatte Franz Ambross schon mit dem Ausmisten begonnen. Wortlos drückte er Jakob die Mistgabel in die Hand. Kilian ging ohne Aufforderung in die Scheune und holte in einem Korb Heu für die beiden Kühe. Der Vater setzte sich auf den Melkschemel, klemmte den Eimer zwischen die Knie und molk die erste Kuh.

Nachdem die Kühe versorgt waren, musste Jakob noch das Ferkel füttern. Als es ihn kommen sah, streckte es die Schnauze durch das Gatter und grunzte freudig. Jakob zögerte, bevor er den Eimer mit dem Schweinefutter, den ihm die Mutter gegeben hatte, in den Trog leerte. Er überlegte, ob er hineingreifen und eine Handvoll nehmen sollte. Doch als er die Nase über den Eimer hielt, wurde ihm von dem säuerlichen Geruch übel. Schnell kippte er alles in den Trog. Das Ferkel begann sofort schmatzend zu fressen. Jakob lehnte sich an die Wand, schluckte ein paarmal und atmete tief durch. Dann ging er mit weichen Knien zurück in die Küche und setzte sich schnell hin.

Kilian und Vroni warteten schon am Tisch. Theresia hob den kleinen Johannes auf die Bank und setzte sich neben ihn. Die Mutter stellte den Suppentopf auf den Tisch, richtete sich auf, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und drückte den Rücken durch, dass ihr Bauch noch dicker wurde. In diesem Augenblick kam Franz Ambross herein. Er blieb kurz in der Tür stehen und sah seine Frau an. „Ist was?“

„Nein, nein“, antwortete sie.

Schweigend setzte er sich an den Kopf des Tisches. Hermine Ambross schnitt von einem Kanten Brot drei dünne Scheiben ab und legte ihrem Mann und den beiden ältesten Buben je eine neben den Teller.

Die Eltern und die Kinder falteten die Hände. Nur Johannes griff gleich nach Theresias Löffel. Da nahm Theresia seine Hände und drückte sie zusammen.

„Wir beten jetzt“, sagte die Mutter zu Johannes und hielt ihre gefalteten Hände hoch. „Schau, so musst du die Hände falten, wie wir alle. Das weißt du doch.“

„Hannes essen“, babbelte der Kleine.

„Johannes!“, mahnte die Mutter.

Der Ton ließ ihn innehalten.

„Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, oh Gott, von dir. Wir danken dir dafür. Amen“, betete Franz Ambross.

„Amen“, wiederholten alle und bekreuzigten sich.

Hermine Ambross schöpfte Suppe in die Teller, die stillschweigend geleert wurden. Johannes, der noch nicht selbst essen konnte, wurde von Theresia gefüttert.

„Hannes noch!“, sagte er, als der Teller leer war.

Die Mutter verteilte die restliche Suppe in die Teller der Kinder. Den letzten Schöpfer wollte sie ihrem Mann geben. Doch der wehrte ab: „Iss du, du brauchst es nötiger als ich.“

Hermine Ambross schüttelte den Kopf. „Ich hab schon vorher davon gekostet“, erwiderte sie und kippte den Schöpfer.

Ihr Mann zögerte kurz, aß die Suppe dann aber doch.

„Hannes noch!“, babbelte Johannes wieder.

„Ich hab auch noch Hunger“, murmelte Vroni.

„Und ich“, sagte Kilian.

„Du hast ja ein Stück Brot bekommen und ich nicht“, beschwerte sich Vroni.

„Schluss jetzt!“ Franz Ambross sprang auf, nahm den Rest Brot und griff nach dem Messer.

„Nein, nicht! Das Brot ist für morgen“, bremste ihn seine Frau.

„Aber ich … ich kann … ich muss … Herrgott im Himmel, was soll ich nur tun?“ Es klang mehr nach einer Anklage als nach einer Frage.

Seine Frau legte ihm die Hand auf den Arm.

Er ließ das Messer sinken und stand mit hängenden Schultern vor seiner Familie. „So kann’s nicht weitergehen“, murmelte er. „Es muss etwas geschehen!“

Ins Schwabenland

Bis auf Kilian und Severin saßen alle Kinder an ihren Plätzen, als Anton Reisinger das Schulzimmer im Untergeschoss des Pfarrhauses betrat. Der kleine vollbärtige Mann mit dem steifen linken Bein unterrichtete die Galtürer Kinder schon seit vielen Jahren in der Winterzeit. Er warf den beiden Buben einen strengen Blick zu, ging zum Pult und legte seine abgewetzte Ledertasche drauf. Dann schaute er in den Raum und überprüfte, ob jemand fehlte, wobei er mit der Hand mehrmals über seinen Bart strich.

„Guten Morgen, Kinder!“

Die Kinder sprangen auf und antworteten im Chor: „Guten Morgen, Herr Lehrer!“

Er faltete die Hände, die Kinder ebenso. Dann beteten sie gemeinsam das Vaterunser.

„Setzt euch!“

Die Kinder gehorchten und warteten auf die Anweisungen des Lehrers.

Die Kleinen, die vorn saßen, mussten drei Reihen große G und drei Reihen kleine g auf ihre Schiefertafeln schreiben. Der Lehrer malte die Buchstaben mit Kreide sorgfältig an die Tafel, damit die Kinder wussten, wie sie auszusehen hatten.

Die Mittleren, zu denen Kilian und sein Freund Severin gehörten, mussten das Rechenbuch Seite 18 aufschlagen und die erste Aufgabe ausrechnen.

„Zu euch komme ich gleich“, sagte Anton Reisinger zu den Großen. Dann ging er langsam an den Kindern vorbei, schaute ihnen über die Schultern, half den Kleinen beim Schreiben der Buchstaben und den Mittleren beim Rechnen.

„Wer fertig ist, rechnet die zweite Aufgabe“, sagte der Lehrer. „Und ich will keinen Mucks hören!“

Dann hängte er eine Landkarte auf und wandte sich an die Großen. „Morgen gehen einige von euch ins Schwabenland. Wer war denn schon einmal dort?“

Sieben Hände wurden hochgestreckt. Auch von den Mittleren meldeten sich drei.

„Wer kann mir auf der Karte zeigen, wo das Schwabenland liegt?“

Schnell verschwanden alle Hände.

„Schaut euch die Karte genau an!“, forderte der Lehrer die Kinder auf.

Zögernd hob Jakob die Hand.

„Jakob!“

Er stand auf. „Das Blaue ist ein See, glaube ich.“

„Richtig. Und was für ein See ist das?“

Xaver, der schon letztes Jahr im Schwabenland gewesen war, gab die Antwort: „Der Bodensee.“

„Genau“, sagte der Lehrer. „Merkt euch das endlich!“ Er nahm den Zeigestock und umkreiste damit ein helles Gebiet auf der Karte. „Das hier ist das Paznauntal und hier etwa befindet sich Galtür.“ Er tippte mit dem Stock gegen die Karte. „Unser Dorf ist nicht eingezeichnet, weil es dafür zu klein ist. Von hier geht’s durch das Montafon nach Bludenz und Feldkirch.“ Er zeigte den Weg mit dem Stock. „Dann über Dornbirn und Bregenz ins Schwabenland, das sich hier befindet.“ Er zog einen großen Kreis nordöstlich vom Bodensee. Während er das tat, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er drehte den Kopf und sah, wie Kilian seinem Nebensitzer Severin ins Ohr flüsterte, dass der hinter vorgehaltenen Händen kicherte.

„Ihr zwei!“, rief er und stieß den Zeigestock in ihre Richtung. „Kommt sofort nach vorn!“

Die beiden erschraken so, dass sie sich im ersten Moment nicht rühren konnten.

„Wird’s bald!“

Kilian und Severin erhoben sich und schlichen mit eingezogenem Kopf nach vorn, schon ahnend, was sie erwartete.

„Zuerst sitzt ihr nicht an eurem Platz, wenn ich hereinkomme“, begann der Lehrer. „Dann hört ihr nicht zu. Was habe ich vorhin gesagt?“, fragte er und gab selbst die Antwort. „Ich will keinen Mucks hören! Aber ihr flüstert und lacht, anstatt zu rechnen. Deine linke Hand!“, befahl er Severin.

Langsam hob Severin die Linke und streckte sie so weit wie möglich von sich, als ob die Schläge dann weniger schmerzen würden. Der Zeigestock sauste zweimal auf die Innenseite seiner Hand. Der brennende Schmerz trieb Severin Tränen in die Augen.

„Jetzt du!“, sagte der Lehrer zu Kilian.

Der zögerte und wäre am liebsten hinausgerannt. Aber er wusste, dass er damit alles nur noch schlimmer machen und mehr als zwei Tatzen bekommen würde. Also hob er die Hand und kniff die Augen zu.

Jakob zuckte bei jedem Schlag zusammen, denn er litt mit seinem Bruder.

„Wer nicht hören will, muss fühlen“, sagte der Lehrer. „Habt ihr mich verstanden?“

Severin und Kilian nickten.

„Dann setzt euch und rechnet die Aufgabe!“

Als Kilian und Severin an ihren Plätzen waren, wandte sich der Lehrer wieder an die Großen. „Mir wäre es lieber, ihr könntet alle hierbleiben und lernen, anstatt ins Schwabenland zu ziehen und zu arbeiten. Denn in die Schule lässt man euch dort nicht. Aber mich fragt ja niemand“, sagte er mehr zu sich selbst als zu den Kindern.

Nach dem Unterricht gab es auf dem Heimweg eine wilde Schneeballschlacht. Dabei zielte Jakob auf Leonhard und traf ihn einmal an der linken Backe, worüber er sich diebisch freute.

„Warte nur! Das bekommst du zurück!“, drohte Leonhard und schleuderte wütend mehrere Schneebälle nach Jakob.

Doch der wich allen geschickt aus und rief: „Nix getroffen, Schnaps gesoffen!“

Fast gleichzeitig klatschte ihm ein Schneeball, den Maria geworfen hatte, gegen die Brust.

„Doch getroffen, Schnaps gesoffen!“, rief sie.

Leonhard lachte.

Jakob, Xaver, Luggi, Bonifaz, Theresia, Kilian und Severin gaben sich Zeichen, formten mehrere Schneebälle, warfen sie gleichzeitig ab und schlugen ihre Gegner damit in die Flucht.

„Gewonnen!“, riefen sie und freuten sich.

Dann gingen alle nach Hause zum Mittagessen.

Hermine Ambross stellte eine Schüssel mit Haferbrei auf den Tisch und füllte die Teller, so weit es reichte. Während sie aßen, war es still wie immer. Nur Johannes babbelte vor sich hin.

Kilian schlang seine Portion schnell hinunter und saß dann vor seinem leeren Teller. Er hoffte, er würde als Erster Nachschlag bekommen, wenn noch etwas in der Schüssel war. Jakob dagegen aß langsam, um länger etwas von dem Essen zu haben. Heute ließ er sich besonders viel Zeit, weil er spürte, dass die Eltern anders waren als sonst.

Nachdem alle ihre Teller geleert hatten, blieben sie sitzen, als warteten sie auf etwas. Schließlich hielt Jakob die Stille nicht mehr aus und sagte: „Der Lehrer hat heute …“

Da bekam er unter dem Tisch einen Tritt.

„Au!“

„Was ist los?“, fragte die Mutter.

Jakob sah, wie Kilian leicht den Kopf schüttelte, als wollte er sagen: Bitte nichts verraten!

„Äh … ja … er hat uns gezeigt, wo das Schwabenland ist, weil morgen einige dort hingehen“, redete Jakob weiter.

Kilian sah erleichtert aus. Doch die Eltern wechselten eigenartige Blicke. Die Mutter schluckte und beugte sich über ihren leeren Teller.

Der Vater räusperte sich, wusste aber anscheinend nicht, wie er anfangen sollte.

„Ja … also … Jakob und Kilian, hört mir mal zu.“ Er stockte noch einmal und sagte dann leise: „Ihr seid alt genug, um zu verstehen, was ich jetzt sage.“ Er schaute Jakob und Kilian an.

Beide nickten.

„Ihr wisst, dass es bei uns hinten und vorne nicht reicht. Nach jedem Essen steht ihr hungrig vom Tisch auf. Und ihr braucht dringend wärmere Kleidung und bessere Schuhe. Das alles können wir euch nicht geben. Selbst wenn wir noch so fleißig arbeiten, reicht es einfach nicht für alle. Und wenn das neue Geschwisterchen kommt, reicht es noch weniger. Eure Mutter und ich haben lange hin und her überlegt, was wir tun können. Wir sehen keine andere Möglichkeit, als euch dieses Jahr ins Schwabenland zu schicken.“ Er machte eine Pause.

Die Worte des Vaters kamen so überraschend, dass es Jakob und Kilian schwerfiel, sie zu begreifen.

„Es ist ja nicht für immer und ihr seid auch nicht allein“, fügte der Vater hinzu. „Im Herbst kommt ihr wieder heim und habt die ganze Zeit gut gegessen und Geld verdient.“

„Wenn wir ins Schwabenland gehen, kann mich der Lehrer wenigstens nicht mehr schlagen“, rutschte es Kilian heraus, und fast gleichzeitig drückte er eine Hand auf den Mund, weil er sich verplappert hatte.

Normalerweise hätte der Vater gefragt, wofür er die Schläge denn bekommen habe. Und dann konnte es sein, dass es von ihm auch noch ein paar auf den Hintern gab. Aber heute fragte der Vater nicht. Stattdessen bemerkte er: „Jakob, du sagst ja gar nichts.“

„Müssen wir schon morgen gehen wie die anderen?“, fragte Jakob.

Der Vater nickte.

„Ihr könnt euch heute Nachmittag von euren Kameraden verabschieden“, sagte die Mutter. „Aber einige gehen morgen auch mit, zum Beispiel Xaver, Bonifaz …“

„Und Severin“, unterbrach Kilian die Mutter.

„Ja, der auch.“

Über Kilians Gesicht zog ein Lächeln.

„Du siehst“, wandte sich die Mutter an Jakob, „deine besten Kameraden sind mit dabei. Und Xaver war schon letztes Jahr im Schwabenland. Der kennt sich also aus.“

Jakob nickte nur.

Durch tiefen Schnee

Es war noch dunkel, als aus etlichen Häusern und Hütten Kinder traten und sich auf den Weg zur Kirche machten. Die meisten wurden vom Vater oder von der Mutter begleitet, einige von beiden.

Hermine Ambross verabschiedete sich noch im Haus von Jakob und Kilian. Sie drückte beide so fest an sich, dass sie ihren dicken Bauch deutlich spürten. „Pass auf deinen Bruder auf“, sagte sie zu Jakob. „Und auf dich auch.“

Jakob nickte stumm.

Franz Ambross hatte die Rucksäcke, die seine Frau aus zwei alten Kartoffelsäcken geschneidert hatte, über die Schulter gehängt und stand schon vor der Tür. „Wir müssen gehen.“

„Behüt euch Gott“, sagte die Mutter, ließ ihre Buben los, drehte sich schnell um und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Jakob und Kilian folgten ihrem Vater zur Kirche. Der fast volle Mond leuchtete am sternklaren Himmel und wies ihnen den Weg. Nach und nach trafen die zwölf Galtürer Kinder, die dieses Jahr ins Schwabenland mussten, vor der Kirche ein. Dort wurden sie von Josef Gruber erwartet. Der große hagere Mann war Mesmer und Totengräber in einem. Er hatte die Kinder aus dem Dorf schon in den vergangenen drei Jahren ins Schwabenland geführt.

Neben ihm stand der Pfarrer. „Ihr habt einen langen Weg vor euch“, sagte er zu den Kindern. „Damit ihn alle schaffen, müsst ihr auf das hören, was der Sepp sagt. Und ihr müsst euch gegenseitig helfen. Das ist ganz wichtig! Und noch etwas: Im Schwabenland gibt’s Leute, die evangelisch sind. Ihr wisst, das sind keine richtigen Christen. Zu solchen Leuten dürft ihr nicht gehen. Ihr dürft nur für gute Katholiken arbeiten und ihr müsst auch im Schwabenland am Sonntag immer in die Kirche …“

Während der Pfarrer redete, kam ein Pferdefuhrwerk angefahren. Auf dem Leiterwagen saßen sechs Kinder aus dem Nachbardorf Tschafein.

„Brrr!“, rief der Fuhrmann und zog an den Zügeln.

Die zwei Pferde blieben stehen und schnaubten.

„Alle auf den Wagen, die mitwollen! Ich fahre euch noch ein Stück weit“, sagte der Fuhrmann.

„Ihr habt ein gutes Herz“, lobte ihn der Pfarrer.

Die Erwachsenen halfen den Kindern auf den Leiterwagen, wo sich alle ein Plätzchen suchten. Es war ziemlich eng, aber durch die Nähe spürten sie die Kälte weniger.

Dann nahm Josef Gruber ein Blatt Papier aus der Tasche und las im Schein einer Laterne die Namen der Kinder vor. „Wer seinen Namen hört, ruft: Hier!“

Achtzehn Kinder standen auf seiner Liste, achtzehn Kinder saßen auf dem Wagen.

Der Mesmer nickte zufrieden, stieg auf und setzte sich neben den Fuhrmann. Der Pfarrer sprach noch ein Gebet und segnete alle. Dann rief der Fuhrmann „Hü!“, lockerte die Zügel und los ging’s.

Die Kinder schauten zurück, einige winkten. Verzweifelte Rufe, leises Schluchzen und lautes Weinen waren zu hören.

„Ich will nicht ins Schwabenland, ich will daheim bleiben“, nuschelte Toni. Er war mit seinen achteinhalb Jahren der Jüngste und Kleinste. Schon wollte er aufstehen und vom Wagen springen.

„Bleib sitzen!“, sagte Anna, packte ihn am Arm und zog ihn zurück auf den Hintern. „Im Schwabenland ist es besser als daheim.“ Das sagte sie so laut, dass es alle hören konnten.

Josef Gruber drehte sich um und stimmte zu: „Anna hat Recht, und deshalb bleiben alle sitzen!“

Anna war zwölf Jahre alt, wirkte jedoch älter. Das lag nicht nur an ihrer Größe, sondern auch an ihrer ernsten Art. Vor drei Jahren war ihr Vater beim Holzfällen von einem Baum erschlagen worden. Seither hatte sich Anna sehr verändert. Nicht nur, dass ihr der Vater fehlte, sie musste auch schon zum zweiten Mal ins Schwabenland, weil es daheim nicht mehr für alle reichte.

Auf dem schneebedeckten Weg wurden die Kinder längst nicht so durchgeschüttelt wie sonst auf einem eisenbereiften Leiterwagen. Das gleichmäßige Holpern und Rütteln war angenehm, und es dauerte nicht lange, bis den Ersten die Augen zufielen.

„Das ist schon mal besser als letztes Jahr“, sagte Xaver. „Da mussten wir von Anfang an laufen.“

Jakob saß zwischen ihm und Kilian und hatte Annas Satz im Ohr: „Im Schwabenland ist es besser als daheim.“ Obwohl Xaver und andere ältere Kinder manchmal vom Schwabenland erzählt hatten, konnte er sich nicht so richtig vorstellen, was ihn dort erwartete. Und bis gestern hatte er sich darüber auch keine Gedanken gemacht. Eines war Jakob allerdings klar: Wenn die Eltern ihn und Kilian ins Schwabenland schickten, musste es dort besser sein als daheim. Sonst hätten sie das doch nicht getan. Mit diesem Gedanken döste er ein.

„Aufwachen und absteigen!“, rief Josef Gruber.

Die Kinder blinzelten im hellen Morgenlicht und gähnten. Einige begriffen nicht gleich, wo sie waren.

„Weiter kann ich nicht fahren“, sagte der Fuhrmann. „Der Weg ist zu schmal. Jetzt müsst ihr zu Fuß weitergehen.“

„Vergelt’s Gott“, sagte der Mesmer.

Die Kinder stiegen vom Wagen, schulterten ihre Rucksäcke und standen um ihn herum. Im Tageslicht sah Josef Gruber nun erst genauer, wen er dabeihatte. Zwei Buben und ein Mädchen waren kaum größer als Toni, der immer noch schniefte.

Ob die den Weg überhaupt schaffen?, fragte er sich. Es ist schlimm, dass man so kleine Kinder schon ins Schwabenland schickt. Wenn ich die nur nicht wieder mit heimnehmen muss.

Ludwig, Franz und Johannes waren mit ihren dreizehn Jahren die Ältesten und Größten. Josef Gruber warf einen Blick auf ihre Schuhe und seufzte. „Neu sind sie nicht gerade“, brummte er. „Ihr drei geht mit mir voraus, damit die Kleinen es in unseren Spuren wenigstens ein bisschen leichter haben.“ Dann wandte er sich an Anna und Xaver. „Ihr zwei geht als Letzte. Und passt mir ja auf, dass keiner hinter euch zurückbleibt! Die andern gehen dazwischen. Und jetzt los, damit wir hier nicht festfrieren! Wenn wir den Weg hinaufgehen, wird euch wärmer.“

Der Zug setzte sich in Bewegung. Jakob, Kilian und Severin gingen mit Xaver und Anna am Schluss. Anfangs stieg der Weg durch einen Wald noch langsam an, doch bald wurde er steiler. Und je höher sie kamen, desto schwerer wurde es, durch den Schnee zu stapfen. Die Größeren nahmen die Kleineren an der Hand und zogen sie mit.

Oben war der Wald lichter. Der Wind pfiff eisig in die Gesichter und durch die Kleidung der Kinder.

„Mich friert“, klagte Toni, der eine zu kurze Hose und nur eine Strickjacke anhatte.

„Mich auch“, sagte Traudl, die in einem dünnen Mäntelchen neben ihm ging und bibberte.

Josef Gruber drehte sich um. „Dann müssen wir schneller gehen, dass der Wind uns nicht so gut erwischt.“

Er zog das Tempo an und die Kleinsten hatten Mühe, ihm und den Großen zu folgen.

„Los, weiter! Nicht schlappmachen!“, trieb Xaver sie an. „Wer zurückbleibt, den fressen die Wölfe!“

Ein paar Kinder blieben stehen und starrten ihn an.

„Gibt’s hier Wölfe?“, fragten sie ängstlich.

„Klar“, antwortete Xaver. „Deswegen müssen wir weitermarschieren, damit wir schnell über den Berg kommen.“

Für einige Zeit vergaßen die Kinder vor Schreck sogar die Kälte und stolperten schneller als zuvor durch den Schnee.

„So hättest du ihnen nicht Angst zu machen brauchen“, flüsterte Anna.

Xaver grinste. „Du siehst doch, wie das wirkt.“

„Ja, schon …“

„Gibt’s hier wirklich Wölfe?“, fragte Kilian leise.

Xaver zog die Schultern hoch. „Mich hat letztes Jahr jedenfalls keiner gefressen.“

Gegen Mittag klagten immer mehr Kinder über Müdigkeit und Hunger.

„Es dauert nicht mehr lang, dann haben wir den Pass geschafft und es geht wieder abwärts“, vertröstete Josef Gruber sie. „Weiter unten bläst der Wind nicht mehr so eisig. Ich kenne da eine Hütte, wo ihr etwas essen und euch ein wenig ausruhen könnt.“

Nach einer knappen Stunde rief Johannes: „Da vorne ist sie!“

Alle freuten sich und liefen schneller, denn die Aussicht auf eine Rast machte die Schritte etwas leichter.

Die Tür war mit Schnee halb zugeweht. Ludwig, Franz und Johannes schaufelten mit den Händen so viel davon weg, bis sie sich endlich öffnen ließ. Innen waren an drei Wänden Bänke angebracht, auf die sich die Kinder setzten. Mitten im Raum gab es eine Feuerstelle, in der noch verkohlte Holzreste lagen. Links neben der Tür waren ein paar Holzscheite gestapelt.

Die Kinder kramten aus ihren Rucksäcken, was die Eltern ihnen zum Essen mitgegeben hatten.

Josef Gruber ermahnte sie: „Ich weiß, dass ihr hungrig seid, aber esst trotzdem langsam, damit ihr mehr davon habt. Und denkt daran, wir sind noch einige Tage unterwegs, an denen ihr auch noch etwas davon braucht.“

„Hast du gehört?“, sagte Jakob zu seinem Bruder, weil der daheim das Essen immer schnell hinunterschlang.

„Ja“, brummte Kilian und kaute extralang auf einem Bissen Brot herum.

„Ich werde ein Feuer machen, damit uns warm wird“, sagte Josef Gruber. Mit einiger Mühe und viel Geschick schaffte er es schließlich. Dann setzte er sich zwischen die Kinder und aß auch etwas. Dabei schaute er sich die Schuhe der Kinder genauer an. „Hm“, sagte er zu Toni, Jakob, Severin und Maria aus Tschafein, „da müssen wir etwas tun, sonst halten die nicht mehr lange.“ Er holte eine Schnur aus seinem Rucksack, schnitt mit dem Taschenmesser mehrere Stücke ab und schnürte die Schuhe damit zusammen, so gut es eben ging.

Das brennende Holz knackte und knisterte, und die Wärme tat den Kindern gut; doch weil der Rauch nicht richtig abziehen konnte, biss er in den Augen.

„Ich krieg kaum Luft“, klagte Bonifaz und hustete kräftig.

„Tja, Wärme und gute Luft ist hier drinnen nicht zu haben“, entgegnete Josef Gruber. „Aber wir müssen sowieso weiter, damit wir St. Gallenkirch erreichen, bevor es dunkel wird.“

„Nicht gleich“, bat die kleine Traudl. „Lass uns noch ein bisschen sitzen.“

Josef Gruber schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, sonst werdet ihr müde und nachher fällt euch jeder Schritt doppelt schwer. Also packt eure Sachen zusammen!“

Einige murrten leise, aber Josef Gruber beachtete sie nicht. Er ging hinaus, holte Schnee und warf ihn auf das Feuer, dass es gewaltig zischte und rauchte. Das machte er dreimal, dann war er sicher, dass die Glut vollständig erloschen war.

„Also weiter!“, sagte er draußen. „Jetzt geht’s meistens abwärts, das ist leichter als heute Morgen den Pass hinauf.“

Wie Josef Gruber befürchtet hatte, taten sich die meisten nach der Rast schwer, in Schwung zu kommen. Nach einiger Zeit setzten sie aber wieder mechanisch Fuß vor Fuß.

Als sie aus einem Wald kamen, sahen sie in der Dämmerung die ersten Häuser von St. Gallenkirch.

„Gleich haben wir’s geschafft!“, rief Josef Gruber nach hinten, um die erschöpften Kinder zu einer letzten Anstrengung zu ermuntern.

Er marschierte voraus auf einen Bauernhof zu. Der Hofhund schoss aus seiner Hütte und zerrte laut bellend an der Kette. Wenig später öffnete sich die Haustür und ein Mann trat heraus. „Was ist los, Hasso?“, fragte er und schaute sich um.

„Ich bin’s, Anton!“, rief Josef Gruber. „Der Gruber-Sepp mit den Tiroler Kindern.“

„Der Gruber-Sepp“, wiederholte der Bauer, der Anton Lechleitner hieß. Dann wandte er sich an den Hund: „Hasso, aus! Marsch in die Hütte!“

Der Hund zog den Schwanz ein und wich zurück, blieb aber leise knurrend vor der Hütte stehen.

„Kommt ruhig näher!“, rief der Bauer. „Der Hasso ist angebunden und kann euch nichts tun.“

Während sich die Männer freundschaftlich begrüßten, schielten die Kinder nach dem Hund, der noch immer knurrte.

„Wie viele hast du denn diesmal dabei?“, fragte der Bauer.

„Achtzehn. Vierzehn Buben und vier Mädchen.“

„Ein paar sind ja recht jung“, bemerkte der Bauer und schüttelte den Kopf. „Dass die Eltern so kleine Kinder schon ins Schwabenland schicken, ist eine Schande und eine Sünde obendrein.“

„Gern tun sie das bestimmt nicht, das kannst du mir glauben“, erwiderte Josef Gruber. „Aber die Umstände lassen ihnen keine Wahl.“