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Ein temporeicher Roman über die wenig schmeichelhafte Rolle des Menschen im Anthropozän. Sommer 2025: Auf dem Gelände einer hochgradig verschmutzten Nickelfabrik im Norden Sibiriens taucht eine neuartige Krankheit auf, die sich rasch zu einer Pandemie ausweitet. Die Medien nennen sie schlicht «Bluthusten». Zur selben Zeit absolviert der indigene Sprachforscher Jamie aus dem kanadischen Yellowknife ein Austauschprogramm an der Universität Irkutsk am Baikalsee im südlichen Sibirien. Er lernt die ambitionierte Paläontologin Vera kennen, welche die riesigen Krater erforscht, die in ganz Russland durch das Auftauen des Permafrostbodens entstehen. Einer dieser Krater gibt eine seit Jahrtausenden verborgene Höhle frei, die neben einer weiblichen Eismumie auch lateinische Glyphen enthält, für deren Existenz es keine rationale Erklärung zu geben scheint. Als die beiden realisieren, dass sie sowohl dem Ursprung als auch der Heilung des Bluthustens auf die Spur kommen, interessieren sich rasch auch bedrohliche Mächte für ihre Entdeckung und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Es geht um Themen wie Umweltverschmutzung, Klimawandel, Seuchen und Krankheiten, Ausbreitung des modernen Menschen, Genforschung, Linguistik, Sonnenstürme und Magnetosphäre, Schamanismus und Zeitreisen.
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Seitenzahl: 235
Veröffentlichungsjahr: 2023
PATRICK KIRCHHOFER
DAS VERMÄCHTNIS AUS DEM PERMAFROST
THRILLER
© 2023 Patrick Kirchhofer
Text und Satz: Patrick Kirchhofer
Umschlaggestaltung: Patrick Kirchhofer unter Verwendung von
Motiven von Roxana Bashyrova/Shutterstock.com
Korrektorat: Barbara Wenz – textsyndikat.de
ISBN Softcover: 978-3-347-88227-0
ISBN E-Book: 978-3-347-88231-7
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
»Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.«
Albert Einstein
»Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.«
Mark Twain
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
20. Juli 2040, Grossraum London
26. Juli 2025, Norilsk
26. Juli 2025, Potsdam
26. Juli 2025, Kysyl
27. Juli 2040, Grossraum London
26. Juli 2025, Universität Irkutsk
27. Juli 2025, Universität Irkutsk
27. Juli 2040, Schweizer Alpen
27. Juli 2025, DesignBar, Irkutsk
27. Juli 2025, Potsdam
28. Juli 2025, Irkutsk nach Kysyl
28. Juli 2025, Universität Irkutsk
27. Juli 2040, Grossraum London
28. Juli 2025, Kysyl
28. Juli 2025, Listwjanka
28. Juli 2025, Universität Irkutsk
28. Juli 2025, Potsdam
28. Juli 2040, Schweizer Alpen
28. Juli 2025, Kysyl
28. Juli 2025, Universität Irkutsk
28. Juli 2025, Irkutsk
28. Juli 2025, Umgebung Kysyl
28. Juli 2025, Kysyl
28. Juli 2025, Umgebung Kysyl
28. Juli 2040, Schweizer Alpen
Der See
28. Juli 2025, Umgebung Kysyl
28. Juli 2025, Kysyl
28. Juli 2025, Universität Irkutsk
28. Juli 2025, Kysyl
Der Angriff
28. Juli 2025, Kysyl
28. Juli 2025, Kysyl
28. Juli 2025, Kysyl
28. Juli 2025, Kysyl
4. August 2025, Potsdam
21. Juli 2025, Altaigebirge
Der Wolf
28. Juli 2040, Schweizer Alpen
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Umgebung Kysyl
Die Schamanin
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
Die Nachricht
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
28. Juli 2025, Telezker See
Das Vermächtnis
5. August 2025, Kysyl
5. August 2040, Schweizer Alpen
15, Altaigebirge
2040, Russland
Anmerkungen des Autors
Danksagung
Über den Autor
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Epigraph
20. Juli 2040, Grossraum London
Über den Autor
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20. Juli 2040, Grossraum London
Maxim starrte durch das holografische Display hindurch an die trostlose Betonwand. Er versuchte, sich zu konzentrieren, doch sein Geist entzog sich seinem Zugriff wie ein nasses Stück Seife. Als verantwortlicher Physiker hatte er dank seiner Kaderfunktion einen Wissensvorsprung gegenüber dem Rest seiner Organisation. Er wusste deshalb, dass sie noch knapp zwei Wochen zur Verfügung hatten, bevor sie aufgrund der anhaltenden Rationierung ihrer Nahrungsmittel verhungern würden.
Bis vor wenigen Monaten hatte er sich immer wieder gefragt, weshalb er sich das antat und nicht eine der Euthanasiestationen aufsuchte, wie es die meisten in seiner schwarzen Community getan hatten. Einfach eine Pille schlucken und dem Leiden ein Ende setzen. Er hatte eine genaue Vorstellung davon, wo und wie er die warme und süsse Auflösung seines Selbst zelebrieren würde. Doch jedes Mal, wenn er der Verlockung nachgeben wollte, regte sich etwas Trotziges tief in seiner Brust. Gab ihm Mut und Zuversicht.
Diese Kraft hatte schon immer in ihm gesteckt, doch erst kürzlich hatte sich ihm eine tiefere Bestimmung, ein grösseres Ganzes offenbart. Ein Ziel, wofür es sich – angesichts des drohenden Untergangs des Menschengeschlechts – zu leben lohnte. Mehr noch: Ein Ziel, wofür es sich zu sterben lohnte.
Rund fünfzehn Jahre war es her, im Rekordsommer 2025, dass das neuartige Pathogen die Menschheit zuerst ins Chaos gestürzt und anschliessend an den Rand des Aussterbens gedrängt hatte. Zur genauen Zusammensetzung und Funktionsweise gab es die unterschiedlichsten Theorien, die den ständigen Mutationen laufend hinterherhinkten.
Den geografischen Ursprung vermutete man Norilsk, damals eine wichtige Industriestadt im Norden Sibiriens. Das hatte niemanden ernsthaft überrascht. Die zunehmende Erwärmung des Klimas hatte im arktischen Raum zum Auftauen von Permafrost geführt. Böden, die seit Jahrtausenden hart wie Stein waren, verwandelten sich in Sumpf und rissen ganze Gebäude ein. In Sibirien führte dies in den letzten Jahren immer wieder zu Katastrophen, von denen der Rest der Welt jedoch nur Bruchstücke wahrnahm.
Norilsk war damals bekannt aufgrund seiner NickelProduktion: Einer der am schlimmsten belasteten Orte und grösster Einzelluftverschmutzer der Erde. Kombiniert mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen und politischer Kurzsichtigkeit der ideale Nährboden für eine neue Krankheit: Bluthusten hatten sie es in den Medien genannt.
In den folgenden Monaten und Jahren hatte das Pathogen grosse Teile der Weltbevölkerung ausgelöscht. Namentlich die eher warmen und strukturell schwachen Regionen wie Afrika, Südostasien, Naher Osten und Südamerika waren nahezu menschenleer. Hingegen gelang es in Teilen von Europa, Nordamerika und Asien, insbesondere nördlich des 45. Breitengrades, die Krankheit einigermassen in Schach zu halten und zu überleben.
Maxim war vor rund fünf Jahren von der Extinction Prevention, kurz EP, angeheuert worden. Wie er, glaubte die aus dem Verborgenen agierende EP schon lange nicht mehr an ein Heilmittel oder eine Impfung. Das war der Grund, weshalb er hier in diesem Bunker sass und verzweifelt versuchte, eine funktionsfähige Maschine zu entwickeln, dank derer sie in der Zeit zurückreisen konnten. Wäre die Lage nicht so verdammt prekär gewesen, er hätte das Ganze für einen gut inszenierten Witz gehalten. Denn wenn Zeitreisen eine ernst zu nehmende Option war, dann schien die Sache wahrhaftig aussichtslos zu sein. Er hoffte damals inständig, dass die anderen EP-Standorte realistischere Szenarien verfolgten. Obwohl es im Endeffekt keine Rolle spielen würde, sollte er mit seinem persönlichen Vorhaben Erfolg haben.
Denn es war ja völlig widersprüchlich: Wenn sie einen Weg finden würden, durch die Zeit zurückzureisen, und diese Katastrophe ungeschehen machen könnten, wenn das tatsächlich funktionieren würde, dann sähe die Welt da draussen ja ganz anders aus und er sässe jetzt nicht hier und müsste sich nicht das Gehirn zermartern.
Je länger Maxim über die scheinbar unauflösbaren Paradoxien nachdachte, desto stärker kamen Zweifel in ihm auf: Was, wenn diese geplante Zeitreise der Auslöser für das ganze Fiasko war? Wenn sie das Pathogen durch die Zeit schleppen und damit überhaupt erst das Ende der Menschheit besiegelten? War er Teil der Lösung oder Teil des Problems? Maxims ambivalente Gedanken und Gefühle hatten ihn phasenweise beinahe aufgeben lassen.
Die stärkste Verfechterin der Option Zeitreise war eine rätselhafte Dame um die Sechzig namens Grace, eine der Gründerinnen von EP. Sie war überzeugt davon, dass es ein Multiversum gab, welches ständig mehrere Realitäten nebeneinander zuliess und das somit die Grundlage für Zeitreisen darstellte. Es sei ‹wie ein Abbiegen auf eine andere Fahrbahn›, hatte sie ihm versichert.
Sie schien aus tiefster Seele von dieser Theorie überzeugt zu sein, er konnte ihren Standpunkt fast physisch spüren. Für Maxim grenzte es an religiösen Fanatismus, wie sie an diesem im Grunde genommen völlig irrationalen Konzept festhielt. Das Ganze kam ihm vor wie eine Durchhalteparole für einen Ausweg, den es nie geben würde.
Überhaupt waren sie hier bei EP ein verzweifelter Haufen aus Restbeständen internationaler Forschungsverbände: Da war zum Beispiel die Global Earth Commission, welche einen sicheren und gerechten Korridor für die Menschheit und den Planeten wissenschaftlich zu definieren und zu quantifizieren versucht hatte. Oder die EAT-Lancet Commission on Food, die der Frage nachgegangen war, ob und wie die Ernährung von zehn Milliarden Menschen ohne Kollaps hätte gelingen können. Nicht zu vergessen der Intergovernmental Panel on Climate Change, welcher mit zu wenig Erfolg auf die Auswirkungen der Klimaveränderungen aufmerksam gemacht hatte.
Alle hatten sie seit Jahren, nein, Jahrzehnten auf die anstehenden Probleme hingewiesen. Hatten die Zusammenhänge zwischen Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, Rückgang der Biodiversität oder Antibiotikaresistenz aufgezeigt. Hatten versucht, zu erklären, dass der Mensch auf eine gesunde, intakte Erde für sein Überleben angewiesen war, wollte er sich nicht selbst ausrotten. Dass die Klimakrise und die Biodiversitätskrise einen gemeinsamen Ursprung hatten: das aus der Balance geratene Verhältnis des Homo sapiens zum Planeten Erde.
Die moralische Erlösung erreichte Maxim in einer Nacht in diesem Frühling in Form von vier Buchstaben: FHEM. Wie so oft hatte er abends Mühe, sein Gedankenkarussell zur Ruhe zu bringen und den Schlaf zu finden, den er für seine abgedrehte Arbeit so dringend benötigte. In der Hoffnung auf Ablenkung suchte er mit seiner alten Funkstation nach anderen Menschen, nach Stimmen, die ihm Zerstreuung brachten. In aller Regel hörte er nur zu und verzichtete darauf, sich zu erkennen zu geben. Leider blieb seine Suche in letzter Zeit immer häufiger erfolglos, doch hie und da entdeckte er eine Frequenz, die er belauschen konnte.
In einer lauen Frühlingsnacht wurde seine Geduld endlich wieder belohnt. Er stiess auf eine unverschlüsselte Unterhaltung zwischen vier bis fünf Mitgliedern einer Gruppe. Obwohl er rasch realisierte, dass es kein echtes Gespräch war; eher eine fingierte Diskussion über die wenig schmeichelhafte Rolle des Menschen im Anthropozän. Es dauerte allerdings einen Moment, bis er die Tragweite und die Absichten hinter den Worten verstand. Es ging um das bewusste und gezielte Aussterben der Menschheit, da man überzeugt war: Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, die Spezies Homo sapiens wird niemals fähig sein, ein Gleichgewicht mit seiner Umgebung zu finden. Vielmehr sei es das Wesen des Menschen, seinen Lebensraum auszubeuten, bis dieser zerstört sei, und im Gegenzug die Biosphäre als Verteidigungsmassnahme den Menschen ausrotte. Einem Virus ähnlicher als einem Tier sei er die Krankheit des Planeten und gehöre deshalb ausgelöscht. Aus der vormals geistigen Strömung Voluntary Human Extinction Movement, kurz VHEMT, war über die Jahre die terroristische Gruppe FHEM hervorgegangen: das Forced Human Extinction Movement.
Dieses pessimistische Gedankengut fiel bei Maxim auf fruchtbaren Boden und wenige Tage später hatte er seinen Entschluss gefasst. Er war nicht entweder Teil der Lösung oder Teil des Problems. Er war beides.
Als gegen Ende des Jahres 2025 klar wurde, dass das Pathogen die überwiegende Mehrheit der Menschen auslöschen würde, implodierten zuerst Nationalstaaten und anschliessend internationale Organisationen. Damit schufen sie ein Machtvakuum, das militante und terroristische Gruppen konsequent zu nutzen wussten. Sie entführten die meisten Forscher und Wissenschaftler und zwangen sie, ein Heilmittel zu finden. Deshalb erwies sich für EP der Schritt in den Untergrund schon bald als einziger Ausweg. Sie hatten sogar eine eigene, künstliche Sprache entwickelt, um sich gegen aussen zu tarnen und vor Saboteuren zu schützen.
Bisher waren sie unentdeckt geblieben. Ihr aktueller Standort in England im Umfeld der Hauptstadt war zweckmässig erschlossen dank der Nähe zum Flughafen London Heathrow, dem letzten funktionsfähigen im ganzen Land. In den Kellerräumen einer lokalen Universität hatten sie eines ihrer Quartiere aufgebaut, und hier sass er nun …
Dieser Gedanke schreckte ihn aus seinem Tagtraum und zwang seine Aufmerksamkeit zurück an seinen Rechner. Er wusste, dass er kurz vor dem Durchbruch stand, davon war er mittlerweile überzeugt. Als er von EP angeheuert wurde, hatte ihn die geistige Herausforderung gereizt, der Austausch mit anderen schlauen Köpfen, die Ablenkung von den tragischen Ereignissen rund um ihn herum. Doch persönlich hatte er nie ernsthaft an die Umsetzbarkeit von Zeitreisen geglaubt. Im Gegenteil, er hatte insgeheim Witze gerissen über Menschen, die der Meinung waren, mit genügend Kreativität liessen sich jegliche physikalischen Probleme mir nichts dir nichts lösen und alles sei möglich.
Doch vor wenigen Wochen hatte er seiner Organisation bekanntgegeben, dass er das Rätsel gelöst habe und ihnen eine Reise durch Raum und Zeit versprochen. Bisher glaubten offenbar eine Mehrheit von EP, seine engsten Mitarbeitenden eingeschlossen, dass es klappen würde. Dabei hatte er die Simulation schlicht und ergreifend erfunden und um das Hundertfache mächtiger aussehen lassen, als sie in Tat und Wahrheit war. Was nur Maxim wusste: Eine Reise würde tatsächlich stattfinden. Doch sie würde völlig anders verlaufen, als sich seine Auftraggeber dies vorstellten.
26. Juli 2025, Norilsk
»Nicolai, wir müssen uns beeilen, es ist schon wieder ein Militärhubschrauber auf dem Fabrikgelände gelandet. Und dieses Mal tragen alle Schutzanzüge.« Alexei senkte sein Fernglas und nahm einen Transportkoffer mit Erdproben entgegen, den ihm sein Arbeitskollege vom Umweltschutzteam der Universität Irkutsk aus der Grube vor ihm emporstreckte. Sie erhofften sich aufgrund der Bodenanalysen wertvolle Erkenntnisse zu der seit Jahren auffälligen Häufung von Krankheitsausbrüchen auf dem weitläufigen Fabrikgelände. Und dieses Mal schien etwas mordsmässig in die Hosen gegangen zu sein.
Bisher hatte der Hitzesommer des Jahres 2020 den Tiefpunkt markiert: Im Juni liefen hier rund 21 000 Kubikmeter Diesel aus, als das Fundament eines Treibstofftanks im Boden einsank. Nur wenige Wochen später barst eine Pipeline und verseuchte die ansonsten unberührte Landschaft mit über 44 000 Kilogramm Kerosin. Diese traurigen Ereignisse festigten Norilsks zweifelhaften Ruhm als dreckigster Ort der Welt. Doch Nickel und Palladium, zwei der Exportschlager der Region, hatten sich zu wichtigen Bausteinen vieler Industrieprodukte gemausert und die internationale Nachfrage war ungebremst.
Als Alexei die Stadt damals zum ersten Mal besuchte, musste er an Pfahlbauer-Hütten denken. Oder an Venedig. Oder an Amsterdam. Wohin er auch schaute, sah er Gebäude auf Pfählen. Tanks auf Pfählen. Leitungen auf Pfählen. Das Auftauen des Permafrostes in der 175 000 Einwohner zählenden Stadt Norilsk war zu einer tickenden Zeitbombe angewachsen. Mittlerweile brach alle paar Monate irgendwo ein Stück Infrastruktur auseinander und verschmutzte die Umwelt mit Öl oder anderen Umweltgiften.
»Los, lasst uns verschwinden«, keuchte Nicolai durch seine feuchte Atemschutzmaske. Er war mittlerweile aus der Erdgrube gekraxelt und strich sich die schmierigen Hände an seiner tarnfarbenen Cargohose sauber. Sie marschierten zügig zur Landstrasse, auf der ihr Fahrer Vladimir auf sie wartete, um sie zurück zum Flughafen zu bringen.
»Da seid ihr ja«, stiess ihr junger Helfer müde unter seiner Maske hervor. »Ich erhielt soeben einen Anruf von meinem Kontakt in der Fabrik. Das Militär hat die Zone abgeriegelt, niemand darf das Areal verlassen.«
Der Ausbruch der Krankheit schien doch gravierender zu sein als angenommen. Bisher wussten sie bloss, dass sich ein hartnäckiger Husten mit blutigem Auswurf erschreckend rasch ausbreitete.
»Kannst du nicht schneller fahren?«, wetterte Nicolai wenige Minuten später den schwitzenden Vladimir an. »Ich will so schnell wie möglich aus diesem Drecksloch verschwinden.« Doch ihr junger Kontaktmann aus Norilsk schien es nicht allzu eilig zu haben. Stoisch steuerte er den Geländewagen über die Schotterstrasse in Richtung Flughafen.
»Nicolai hat recht«, wandte sich Alexei jetzt ebenfalls an Vladimir. »Ich schätze deine verantwortungsvolle Art, aber wir müssen hier so schnell wie möglich weg, also beeil dich.«
»Na gut, wenn es unbedingt sein muss«, quittierte ihr junger Fahrer gleichgültig und beschleunigte die Fahrt.
Nicolai warf Alexei einen wütenden Blick zu. Alexei war sich bewusst, dass sein langjähriger Arbeitskollege die Feldarbeit in massiv verschmutzen Regionen nicht ausstehen konnte, und sich lieber seinen Aufforstungsprojekten widmete. Nicolai schien sich dazu berufen zu fühlen, Sibirien mit Bäumen zu überziehen, um ‹der Welt ihre Lunge zurückzugeben›, wie er es Alexei gegenüber einmal formuliert hatte. Zudem schützten die Wälder die Permafrostböden vor dem Auftauen, weshalb ihr Team mittlerweile ebenfalls einige dieser Projekte unterstützte. Aber in seiner Rolle als sein direkter Vorgesetzter sah er es als seine Pflicht an, seine Mitarbeitenden ab und zu aus ihrer Komfortzone zu schubsen. Und Nicolai war der Einzige in seinem Team, der eine Pilotenlizenz für Kleinflugzeuge besass. Und die Verwegenheit, auch mal einen Forschungstrip ohne Bewilligung durchzuziehen.
Aber dieses Mal hatten sie es möglicherweise übertrieben. Wenn ihre alte Pilatus PC-12 am Flughafen vom Militär festgesetzt worden war, würden sie bis auf weiteres in Norilsk bleiben müssen. Das bedeutete im Minimum zwei Wochen harte Quarantäne. Und die Gefahr, sich mit der unbekannten Krankheit anzustecken. Nicolai und seine Frau erwarteten in wenigen Tagen ihr erstes Kind. Obwohl, streng genommen war es bereits ihr zweites Kind, denn ihr Erstgeborenes war mit nur sechs Wochen an einer heimtückischen Atemwegserkrankung namens Respiratorisches-Synzytial-Virus, kurz RSV, gestorben. Alexei wusste: Nicolai würde es ihm nie verzeihen, wenn er die Geburt verpassen würde.
Endlich tauchte durch die insektenverschmierte Windschutzscheibe vor ihnen das Flughafengelände auf. Vladimir schaltete die Scheinwerfer aus und steuerte seinen Geländewagen ans südliche Ende, wo sie ihre Maschine zurückgelassen hatten.
Die Ebene schien verlassener als üblich, obwohl der Flugbetrieb vierundzwanzig Stunden am Tag lief. Hatte das Militär den Flughafen dichtgemacht? Das wären äusserst unerfreuliche Neuigkeiten. Beunruhigt hielten sie Ausschau nach Bodenpersonal oder Soldaten, derweil Vladimir den Wagen für Alexeis Geschmack viel zu fahrlässig in die Richtung ihres Flugzeuges lenkte. Sie näherten sich bis auf zehn Meter und brachten daraufhin zügig ihre Ausrüstung an Bord.
Noch immer war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Nicolai glitt in den Pilotensitz und verschaffte sich einen Überblick. »Das mit dem Tanken hat noch geklappt, wir werden die 2000 Kilometer runter nach Irkutsk also ohne Zwischenlandung hinter uns bringen können«, rief er Alexei zu, der in der Einstiegsluke kauerte und beunruhigt zu Vladimir hinausschaute, den eine heftige Hustenattacke soeben in die Knie gezwungen hatte.
»Alles in Ordnung bei dir? Du wirkst ziemlich angeschlagen«, rief Alexei dem jungen Umweltschützer zu. »Bist du sicher, dass du dich nicht angesteckt hast?«
»Ach hör schon auf, ich habe aufgepasst«, entgegnete Vladimir, der mittlerweile etwas zu Luft gekommen war. »Ein paar Stunden Schlaf und ich bin wieder wie neu.«
»Na gut, wenn du meinst«, antwortete Alexei und hob zur Verabschiedung die Hand. Er schloss die Luke, setzte sich nach vorne neben seinen Kollegen und warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Der Tower gibt keine Antwort«, liess Nicolai ihn wissen. »Aber scheiss drauf, wir starten jetzt einfach, ich will nach Hause.«
»Alles klar, gib Stoff. Die Bodenproben müssen so rasch wie möglich zu Tasha ins Labor.« Nicolai beschleunigte die Maschine auf Startgeschwindigkeit und erhob sich in den nächtlichen Himmel in Richtung Süden nach Irkutsk, an ihren Stützpunkt am Südende des imposanten Baikalsees.
*****
Kaum war Vladimir in den Sitz seines Geländewagens gesunken, wurde er erneut von einem heftigen Hustenanfall durchgeschüttelt. Erschrocken spürte er, wie in seiner linken Lunge Gewebe aufriss und Flüssigkeit in seine Brust eintrat. Wenige Sekunden später japste er nur noch flach nach Luft und seine Augen weiteten sich panisch, als er begriff, dass er an seinem eigenen Blut ertrank.
26. Juli 2025, Potsdam
38 Grad Celsius. Nicht die Temperatur in Kairo um zehn Uhr morgens. Sondern die Angabe des Thermometers im Juni 2020 in Werchojansk, am Kältepol der bewohnten Erde! Es war der himmelschreiende Höhepunkt einer beispiellosen Hitzewelle in Sibirien gewesen. Damals, vor mittlerweile fünf Jahren, hatte Lene ihren Entschluss gefasst, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um diese Entwicklung zu bremsen.
Lene und ihre Kolleginnen und Kollegen am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung schätzten, dass ein dermassen massives Ereignis selbst unter Berücksichtigung des Klimawandels nur alle 130 Jahre auftreten würde. Ohne die aktuellen klimatischen Veränderungen käme es sogar nur etwa alle 80 000 Jahre zu einer entsprechenden Extremwetterlage. Für die Klimaforscherin war klar: Der Mensch erhöhte durch die Treibhausgas-Emissionen die Wahrscheinlichkeit für solche Hitzewellen um das Hundert-, wenn nicht gar Tausendfache.
Der aktuelle Hitzesommer im Jahr 2025 reihte sich nahtlos ein in die zahlreichen Folgen der Erwärmung der Arktis. Gebetsmühlenartig erläuterte Lene die Zusammenhänge immer und immer wieder: Die Lufttemperaturen stiegen im hohen Norden deutlich stärker an als im weltweiten Durchschnitt, die Gletscher wichen zurück, der Permafrostboden taute auf und das Meereis schmolz. Aus ihrer Sicht klare Anzeichen des Anthropozäns, der Tatsache, dass der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde aufgestiegen war.
Insbesondere der Rückgang des Permafrosts führte im Bodenbereich zu Thermokarstvertiefungen, oder kurz gesagt: Kratern. Lene war überzeugt: Diese Entwicklung würde sich die nächsten Jahre und Jahrzehnte zu einer hochbrisanten Thematik entwickeln. Denn durch das Auftauen des Bodens wurden Pflanzenreste, die seit Jahrtausenden im Permafrost konserviert waren, wieder für die Zersetzung freigegeben. Dadurch wiederum wurden die Treibhausgase Methan und Kohlendioxid freigesetzt, welche das Klima weiter aufheizten. Solche selbstverstärkenden Zerstörungsprozesse wären auf kurzen Zeitskalen von wenigen Jahrhunderten nicht wieder umkehrbar, da sich die ursprüngliche Einlagerung über viele Jahrmillionen hingezogen hatte. Es handelte sich hier um einen der sogenannten Kipppunkte der Erderwärmung.
Das Schwierige mit dem Permafrost war die Tatsache, dass er dem menschlichen Auge verborgen blieb, da er im Erdboden und teilweise sogar unter dem Wasserspiegel lag. Das grösste zusammenhängende Permafrostgebiet befand sich in Sibirien und erstreckte sich über eine Fläche so gross wie Australien. Die unberührten Weiten wurden zusehends durch zerklüftete Kraterlandschaften und überschwemmte Sumpfgebiete dominiert. Aus ihrer Sicht war es eine organische Zeitbombe.
Abgesehen davon bedrohte die Bildung von Thermokarst ganz konkret die Infrastruktur in arktischen Gebieten wie Pipelines, Gebäude oder Landebahnen. Lene fragte sich, ob sich die gierigen Öl- und Gaskonzerne überhaupt bewusst waren, dass sie mit der Ausbeutung der fossilen Brennstoffe zu ihren eigenen Opfern wurden. Denn oft lagen die Felder im hohen Norden und die Firmen waren auf intakte Pipelines angewiesen.
Leider gab es nach wie vor zu viele Skeptiker, die sich über die Phänomene lustig machten und gegen ein paar Grad zusätzlich nichts einzuwenden hatten. Und ja, in seltenen Fällen profitierte die Wissenschaft sogar vom Rückgang des Permafrosts, etwa wenn dieser Zehntausende von Jahren alte, ausgestorbene Fossilien von Pflanzen und Tieren freigab. Trotz allem forschte Lene weiter hartnäckig, um internationale Forschungsverbände wie den Intergovernmental Panel on Climate Change mit argumentativer Munition zu versorgen.
Solche Wechselwirkungen hatten sie schon immer fasziniert. Sie beobachtete diese nicht nur beim Permafrost, der ganze Landschaften umgestaltete, sondern ebenso bei der Sonneneinstrahlung, und wie diese von der Planetenoberfläche reflektiert wurde. Dabei konnte man die Stärke dieses Phänomens, das Eis-Albedo-Rückkopplung genannt wurde, problemlos erkennen. Beispielsweise daran, dass in polaren Breiten sogar im Sommer niedrige Temperaturen vorherrschen, obwohl die in dieser Zeit über vierundzwanzig Stunden eingestrahlte Energiemenge grösser war als am Äquator, da die Sonne fast nicht unterging.
Der Grund lag, neben dem flacheren Einfallswinkel der Strahlen, in der unterschiedlichen Fähigkeit von Oberflächen, Sonnenlicht zu reflektieren. Während Schnee und Eis ein hohes Rückstrahlvermögen aufweisen und rund 90 Prozent der einfallenden Sonnenenergie zurückstrahlen, ist es bei Wasseroberflächen umgekehrt: Sie absorbieren rund 94 Prozent der Einstrahlung und wirken damit wie globale Wärmespeicher. Der Rückgang des Eises würde sich in den kommenden Jahren zu einem weiteren gefährlichen Kipppunkt entwickeln.
Immerhin hatte sich die Europäische Union mittlerweile neue Prioritäten gesetzt, um ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Verstärkt durch die geopolitischen Entwicklungen, insbesondere die Erpressung durch Russland in Bezug auf die Lieferung fossiler Brennstoffe, hatten erneuerbare Energien und das Thema Kreislaufwirtschaft einen massiven Boom erlebt. Auch auf anderen Kontinenten schien sich das Bewusstsein für die Dringlichkeit des Themas zu verstärken. Doch Lene war sich der bitteren Wahrheit durchaus bewusst: Die Einhaltung der Vorgaben aus dem Übereinkommen von Paris lag nach wie vor in weiter Ferne. Entsprechend pessimistisch sah sie in die Zukunft.
Doch heute war ein guter Tag. Sie würde in Begleitung ihres wissenschaftlichen Assistenten Thorben in Sibiriens Süden reisen, an die Grenze zur Mongolei, genauer nach Kysyl. Sie sollte dort die zunehmend rasche Ausbildung von Kratern im Permafrost erforschen, um sie besser vorhersagen zu können. Kysyl war die Hauptstadt der abgelegenen russischen Teilrepublik Tuwa, wo sich erst vor wenigen Wochen eine Vertiefung von über fünfhundert Metern Durchmesser aufgetan hatte. Bisher wuchsen solche Megaslumps innert Jahrzehnten. In Sibirien oftmals begünstigt durch die Rodung von Waldflächen, welche Jahrtausende lang als Isolationsschicht für den Permafrost gedient hatten. Doch der Fall in Kysyl war komplett anders. Nichts hatte die Bildung dieses Kraters vorhersehen lassen. Es war ein Wunder, Glück oder schlicht Zufall, dass der Krater etwas ausserhalb und nicht mitten in der 110 000 Einwohner zählenden Stadt aufgebrochen war.
Entsprechend nervös waren die lokalen Behörden. Ihre Forschungsreise war ursprünglich erst für das nächste Jahr angesetzt gewesen. Doch eine grosszügige Spende der Regierung an ihr Forschungsprogramm hatte Lene spontan ihre Ferienpläne absagen und stattdessen die Reise in den fernen Süden Russlands planen lassen.
»Lene, es gibt schlechte Nachrichten«, vernahm sie auf einmal die Stimme Thorbens, der soeben ihr Büro betrat. »Ich habe vorhin mit der Fluglinie telefoniert: Alle Flüge von und nach Russland sind bis auf Weiteres ersatzlos gestrichen.«
»Was soll das heissen, alle Flüge gestrichen? Das können die doch nicht einfach machen. Was ist es dieses Mal?«
»Du weisst genau, wann sie das letzte Mal solch drastische Massnahmen ergriffen haben«, entgegnete Thorben frustriert. Die Erinnerungen an die vielen, teilweise weltweiten Lockdowns aufgrund der wiederholten Coronapandemien waren ihnen noch allzu gegenwärtig.
»Verdammt, nicht schon wieder eine Scheisspandemie!«
26. Juli 2025, Kysyl
Obwohl sich die Sonne längst dem Horizont näherte, rannen Vera salzige Schweisstropfen in die Augen. Die meisten Leute hielten Sibirien pauschal für einen unbarmherzigen Kühlschrank, doch das Klima im südsibirischen Tuwa war typisch kontinental geprägt und schwankte zwischen -45 °C im Januar und +30 °C im Juli. Und heute war das Thermometer sogar erneut auf 40 °C geklettert.
Ihre Kollegen hatten den Krater mittlerweile verlassen und marschierten erschöpft zurück zum Zeltlager. Doch Vera war eine ehrgeizige Paläontologin. Sie wollte nicht schon wieder mit leeren Händen zurückkehren. Sie lockerte ihr Sicherungsseil, stiess sich von der steilen Kraterwand ab und glitt tiefer in den Erdschlund hinab.
Es war der letzte Tag ihrer Forschungsreise, denn die Geologen hatten aufgrund ihrer Messungen die Einsturzgefahr dieser Thermokarstvertiefung, die erst vor wenigen Tagen entstanden war, schon wieder auf die maximale Stufe angehoben. Das wiederum bedeutete, dass der Krater spätestens morgen früh komplett gesperrt sein würde.
Mir läuft die Zeit davon. 2018 war in einem ähnlichen Schlund nahe Batagai im Nordosten Russlands die vollständig erhaltene, rund 40 000 Jahre alte Eismumie eines Fohlens der ausgestorbenen Wildpferdart