Das Vermächtnis der Seidenraupen - Rafael Cardoso - E-Book

Das Vermächtnis der Seidenraupen E-Book

Rafael Cardoso

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Internettext/ONIX 139943 Die faszinierende Lebensgeschichte von Hugo Simon, Wegbegleiter von Samuel Fischer und Thomas Mann! Als Rafael Cardoso zufällig auf Briefe und Dokumente seines Urgroßvaters stößt, ist seine Neugierde geweckt. Wer war Hugo Simon? Seine Nachforschungen führen ihn von São Paulo nach Berlin, wo er dem Familiengeheimnis auf die Spur kommt: Hugo Simon war nicht nur Bankier in der Weimarer Republik, er war auch enger Berater von Samuel Fischer, Besitzer von Munchs »Der Schrei«; Albert Einstein ging bei ihm ein und aus, Alfred Döblin verewigte den Freund in einem Roman. Rafael Cardoso verfolgt die schillernde Biographie seines Urgroßvaters bis zu dessen Exil in Brasilien und lässt – ganz nah an der Geschichte und ihren Protagonisten – jüdisch-europäisches Leben im 20. Jahrhundert auferstehen. Eine faszinierend reiche Familienchronik, eine behutsame Erkundung von Besitz, Verlust und Identität, vor allem aber vom Wert der Erinnerung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 684

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rafael Cardoso

Das Vermächtnis der Seidenraupen

Geschichte einer Familie

 

Aus dem Englischen von Luis Ruby

 

Über dieses Buch

 

 

Als Rafael Cardoso zufällig auf Briefe und Dokumente seines Urgroßvaters stößt, ist seine Neugierde geweckt. Wer war dieser Hugo Simon? Seine Nachforschungen führen ihn von São Paulo nach Berlin, wo er dem Familiengeheimnis ganz allmählich auf die Spur kommt: Hugo Simon war nicht nur Bankier in der Weimarer Republik und kurzzeitig Finanzminister, er war auch enger Berater des Verlegers Samuel Fischer, Kunst- und Literaturmäzen, Besitzer von Edvard Munchs Gemälde Der Schrei; Albert Einstein und Thomas Mann gingen bei ihm ein und aus, Alfred Döblin verewigte ihn in einem Roman, Kurt Tucholsky war sein Privatsekretär.

In seinem Roman verfolgt Cardoso die schillernde Biographie seines Urgroßvaters und dessen Familie über die abenteuerliche Flucht mit gefälschten Pässen via Frankreich und Spanien bis ins Exil in Brasilien. Ganz nah an der Geschichte und ihren Protagonisten lässt er jüdisch-europäisches Leben im 20. Jahrhundert auferstehen. Eine faszinierende, unendlich reiche Lebensgeschichte, die Identitäten, Kontinente und Jahrzehnte umspannt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Rafael Cardoso lebt derzeit in Berlin, wo er an einem Buch über seine Familie arbeitet. Sein Urgroßvater war der Kunstsammler, Bankier und Politiker Hugo Simon, der mit Albert Einstein und Thomas Mann befreundet war und Gemälde von Oskar Kokoschka, Max Pechstein und Edvard Munch sammelte. Cardoso, geboren 1964 in Rio, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Motti

Widmung

Stammbaum der Familie

Vorbemerkung

Teil I Sie schauen und schwanken

Juli 1930

Dezember 1931

September 1932

März 1933

August 1934

September 1935

Zwischenspiel (1)

Teil II Sie zerstreuen sich und fliehen

Mai 1937

Juni 1940 (I)

Juni 1940 (II)

September 1940

Dezember 1940

Januar – Februar 1941

Zwischenspiel (2)

Teil III Sie schiffen sich ein und landen

März 1941

August 1941

September 1941

Dezember 1941

Januar 1942

März 1942

Zwischenspiel (3)

Teil IV Sie vergraben sich und verschwinden

Dezember 1942

Januar 1943

Februar 1943

November 1943

März 1945

April 1945

Register historischer Figuren

Bibliographie

Online-Quellen

Archive und Bibliotheken

Danksagung

»Ich will aber einige von euch übrig lassen, die dem Schwert entgehen, unter den Völkern, wenn ich euch in die Länder zerstreut habe.«

 

Hesekiel 6:8

»Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen – ihn auszustreuen, wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen, wie man Erdreich umwühlt. Denn ›Sachverhalte‹ sind nicht mehr als Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, um dessentwillen sich die Grabung lohnt.«

 

Walter Benjamin, »Ausgraben und Erinnern«

Für meinen Bruder, im Gedenken an unseren Vater

Stammbaum der Familie

Vorbemerkung

Mein Urgroßvater, Hugo Simon, war eine prominente Figur in der Weimarer Republik. Bankier von Beruf, Pazifist und Sozialist aus Überzeugung, beteiligte er sich aktiv an den Bestrebungen, in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs die deutsche Gesellschaft neu zu gestalten. Nach der Novemberrevolution 1918 hatte er während des kurzen Zeitraums, in dem die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) die Regierung beherrschten, das Amt des preußischen Finanzministers inne. Danach zog er sich, enttäuscht vom Ausgang der Revolution und vom Verrat an ihren Zielen, aus der Politik zurück und widmete sich stattdessen gesellschaftlichen und kulturellen Reformvorhaben, insbesondere auf einem landwirtschaftlichen Mustergut, das er in der Kleinstadt Seelow etablierte, etwa eine Stunde östlich von Berlin. Auch war Hugo Simon ein leidenschaftlicher Kunstförderer und Mäzen, der sich im Beirat von Museen und Verlagshäusern engagierte. Seine Sammlung enthielt Werke einiger der größten Künstler der Zeit: Lyonel Feininger, George Grosz, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Oskar Kokoschka, Franz Marc, Otto Mueller, Edvard Munch, Max Pechstein und viele andere. Die Pastellversion von Munchs Schrei, die vor wenigen Jahren als eines der teuersten jemals versteigerten Kunstwerke Furore machte, befand sich zwischen 1926 und 1937 in seinem Besitz.

Aufgrund seiner linken Überzeugungen und seiner jüdischen Herkunft sah Hugo Simon sich 1933 gezwungen, aus Berlin zu fliehen, unmittelbar nach Hitlers Aufstieg an die Macht. Seine Frau Gertrud und er zogen nach Paris, wo sie bis Juni 1940 bleiben sollten, bis zur Kapitulation der Stadt und dem bevorstehenden Einmarsch der nationalsozialistischen Truppen. Ihre beiden Töchter und ihr Schwiegersohn lebten zu diesem Zeitpunkt bereits in Frankreich; mein Vater war 1931 in Paris zur Welt gekommen. Mein Großvater, der Künstler Wolf Demeter, war dorthin gezogen, um mit Aristide Maillol zusammenzuarbeiten, einem der führenden Bildhauer seiner Zeit. Wie viele deutsche Künstler, die in Frankreich lebten, ließ er sich später im Süden nieder – zunächst in Villefranche-sur-Mer und dann in Grasse.

 

Während der sieben Jahre, die Hugo Simon in Paris verbrachte, war er in deutschen Exilkreisen aktiv. Er engagierte sich in Komitees für Flüchtlingshilfe, trug dazu bei, die wichtigste anti-nationalsozialistische Zeitung zu finanzieren – die Pariser Tageszeitung – und unterstützte literarische und künstlerische Projekte, darunter die beiden Ausstellungen ›Freie Deutsche Kunst‹, die 1938 in London und Paris stattfanden, als Antwort auf die von den Nazis im Vorjahr inszenierte Ausstellung Entartete Kunst. 1937 wurde ihm von der Regierung in Berlin die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.

Nach dem Zusammenbruch Frankreichs sah sich die Familie erneut genötigt weiterzuziehen, zunächst nach Marseille und von dort aus fluchtartig über die Grenze nach Spanien. Sowohl Hugo Simon als auch Wolf Demeter standen auf der Fahndungsliste der Gestapo – Ersterer wegen seines vergangenen, Letzterer wegen seines gegenwärtigen Engagements gegen den Nationalsozialismus. Kurz nach Beginn des Jahres 1941 kamen meine Urgroßeltern, Großeltern und mein damals zehnjähriger Vater in Brasilien an. Sie hatten Europa gerade noch rechtzeitig verlassen, so dass ihnen die schlimmsten Schrecken erspart blieben, die die dort Zurückgebliebenen trafen. Der Preis bestand nicht nur darin, ihren gesamten Besitz aufzugeben, sondern auch ihre Identität. Um die Flucht zu ermöglichen, verschafften sich Hugo und Gertrud Simon falsche tschechische Reisepässe und nannten sich fortan Hubert und Garina Studenic. Meine Großeltern erhielten falsche französische Papiere und nahmen noms de guerre an, unter denen sie nahezu dreißig Jahre lang leben sollten. Keiner von ihnen kehrte je nach Europa zurück. Hugo Simon starb 1950 in São Paulo weitgehend vergessen, trotz aller Bemühungen, seine Identität zurückzugewinnen, die unter anderem durch Briefe von Albert Einstein und Thomas Mann bezeugt sind. Gertrud Simon starb 1964, gerade einmal zwei Wochen nach meiner Geburt. Meinen Großeltern glückte es schließlich im Jahr 1972, ihre wahre Identität wiederzuerlangen. Drei Jahre davor war mein Vater ein weiteres Mal emigriert, diesmal aus Brasilien in die Vereinigten Staaten, wo er bis ans Ende seines Lebens bleiben sollte.

Dies ist die Geschichte der Familie meines Vaters und insbesondere ihrer Flucht aus Europa sowie der ersten Exiljahre in Brasilien. Und es ist die Geschichte davon, wie diese Geschichte zu mir fand. Wie für viele Abkömmlinge von Familien, die die Wirrnisse von 1933 bis 1945 überlebt hatten, war das Thema in unserem Haus tabu. Meine Großeltern sprachen fast nie davon, mit Ausnahme gelegentlicher Anekdoten, die strategisch von kompromittierenden Einzelheiten bereinigt worden waren. Sooft jemand in Anwesenheit meines Vaters den Zweiten Weltkrieg erwähnte oder Deutsch sprach, stand er auf und verließ unauffällig den Raum. Das hatte zur Folge, dass ich als Heranwachsender kaum etwas über die Vergangenheit meiner Familie wusste. Tatsächlich war ich sechzehn, als ich von meinen deutschen und jüdischen Wurzeln erfuhr. Bis dorthin hatte man mich glauben lassen, dass die Familie meines Vaters aus Frankreich stamme. Als mein Großvater und meine Großmutter starben, war ich vierzehn beziehungsweise neunzehn. Meine Großtante und mein Vater folgten ihnen mit nur einem Monat Abstand voneinander, als ich 23 war. Als ich im Gefolge dieser Verluste das Haus meiner Großeltern in São Paulo ausräumte, stieß ich auf einen wahren Schatz an Fotografien, Briefen und anderen historischen Dokumenten. Sie wurden zu Teilen eines Puzzles, das ich seither zusammenzusetzen suche.

Dieses Buch hat also eine Geschichte, aber es ist kein Werk der Geschichtsschreibung. Eingehende Recherchen waren erforderlich, um es schreiben zu können, doch ich erhebe damit keinen Anspruch auf Objektivität oder Exaktheit. Vielmehr fühle ich mich dem außergewöhnlichen Charakter der Menschen verpflichtet, die es inspirierten. Sehr häufig weisen die dargestellten Figuren Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen auf, von denen die meisten tot sind, in den Erinnerungen anderer freilich weiterleben. Manche der Namen wurden geändert, die meisten jedoch nicht. Was ich erzähle, ist real und gründet auf Tatsachen. Nur dass sich einiges davon nicht unbedingt so abgespielt hat, wie es hier beschrieben wird. Dies ist ein Werk der Fiktion. Es ist daher sich selber treu. Ausdrücke mögen bildhaft gemeint sein. Bilder mögen mehreres gleichzeitig bedeuten. Einiges ist möglicherweise nicht, was es zu sein scheint. Seien Sie gewarnt.

Teil ISie schauen und schwanken

Juli 1930

Gertrud warf den Kopf in den Nacken und lachte ungezügelt. Nicht dass Graf Kesslers Anekdote vom Papagei und dem Affen so außergewöhnlich lustig gewesen wäre. Es war einfach ein willkommener Vorwand, um laut herauszulachen. Sie waren endlich angekommen. Daran konnte es keinen Zweifel geben. Gertrud ging im Geiste die Gästeliste durch. Die Crème de la Crème Berlins war da, im Innenhof ihres Hauses versammelt. Am Brunnen stand Sammy Fischer und beschirmte seine Augen vor der strahlenden Julisonne. Neben ihm erblickte sie Albert Einstein, den vielleicht namhaftesten unter den Gästen. Aber natürlich ging es nicht um Prominenz. Einstein und Fischer waren hochgeschätzte Freunde, und das war der Hauptgrund für ihre Einladung. Um ein fröhliches Miteinander ging es natürlich auch, was gewiss für Harry Kessler sprach. Der war ein ausgesprochen geistreicher Mann und zudem einer, der über jeden in Europa wusste, was es zu wissen gab. Als Ehrengast war der Bildhauer Aristide Maillol gekommen, dessen Anwesenheit in Berlin den Anlass für diese grandiose Gesellschaft geboten hatte. Und wie ungeniert Monsieur Maillol seine blutjunge Geliebte zu dem Mittagessen mitgebracht hatte. Eigentlich hätte sie es Kessler übelnehmen müssen, dass er einem solchen Treiben Vorschub leistete. Welch ein unangenehmer Gedanke, eines Tages Madame Maillol vorgestellt zu werden, die den alten Schwerenöter angeblich mit krankhafter Eifersucht überwachte. Andererseits war Mademoiselle Lucile Passavant nicht nur irgendeine Geliebte, sondern selbst Künstlerin und durchaus von Rang, so hatte man ihr jedenfalls versichert. Bei Künstlern durfte man nicht die üblichen Maßstäbe anlegen. Man brauchte nur Renée Sintenis dort drüben anzuschauen. In welchen Kreisen hätte man eine derartige Gestalt sonst antreffen können? Männliche Gesichtszüge, Herrenfrisur, größer als sämtliche anwesenden Männer und doch so reizend in ihrem hübschen ärmellosen Kleid und diesen allerliebsten Schuhen. Quelque chose de risqué. Dergleichen trug dazu bei, dass ein Fest nicht langweilig wurde.

»›Charmante soirée!‹ Wie witzig, Harry! Das musst du unbedingt auch Hugo zu hören geben. Ich glaube nicht, dass er die Geschichte schon kennt.«

»Oh doch, das tut er. Ich habe sie ihm erst gestern erzählt.«

Einstein kicherte in sich hinein, unter kurzen Zügen an seiner Zigarette. Gertrud ließ den Blick durch den Innenhof schweifen, doch Hugo war nirgends zu sehen. Wo hatte er sich bloß wieder versteckt, ausgerechnet jetzt, auf dem Höhepunkt der Gesellschaft? Hoffentlich hatte er sich nicht in sein Studierzimmer zurückgezogen, um mit einem seiner Gesinnungsgenossen von der Liga für Menschenrechte über die Wahlen zu debattieren. Sie entschuldigte sich bei dem Grüppchen und machte sich auf die Suche nach ihrem Mann.

Sie fand ihn neben den Rhododendren, den Fuß voller Besitzerstolz auf einen Blumentopf gestützt und von einer Gruppe umringt, zu der Max und Martha Liebermann zählten, Julius und Annemarie Meier-Graefe, Ludwig Justi, Herr Gropius und seine Ise. Ausgezeichnet, genau dort gehörte er hin: ins Herz der Kunstwelt, und das schlug in diesem Augenblick in ihrem Haus in der Drakestraße. In dieser Ecke von Gertrude Simons Innenhof war die Preußische Akademie vertreten, die Nationalgalerie, das Kaiser-Friedrich-Museum, das Pergamonmuseum, das Bauhaus, und im Mittelpunkt stand Hugo als Gastgeber und Förderer. Ihre Genugtuung hätte nicht größer sein können. Sie war so froh, dass er sich dieser Tage überwiegend der Kunst widmete und weniger Zeit mit Politik und Finanzen verbrachte. Das war, was ihn wirklich glücklich machte. Im September würde er seinen fünfzigsten Geburtstag feiern, und es wurde Zeit, die Dinge ruhiger anzugehen. Mochte sein Bruder Dagobert sich um die Bankangelegenheiten kümmern, dem schien das Freude zu bereiten. Gertrud sagte immer, sie würden nicht ewig leben, und das Leben sei zu kurz, um es mit Gremiensitzungen zu verschwenden. Schade nur, dass Herr von Bode seit vergangenem Jahr nicht mehr unter ihnen war. Er hätte sich hervorragend auf der Gästeliste gemacht. Ein Jammer, dass man mit solchen Veränderungen leben musste.

»Nun, Simon, was sagen Sie zu Feilchenfeldt? Er scheint seine Sache bei Cassirer recht ordentlich zu machen, nicht wahr?«

Gertrud trat zu Hugo und ergriff das Wort, bevor er Herrn Liebermanns Frage beantworten konnte. Dabei legte sie ihm sanft die Hand auf den Arm, um ihm zu signalisieren, dass sie das Gespräch hier kurz unterbrechen wollte.

»Liebe Gäste, ich möchte Ihre Unterhaltung ungern stören, aber es wird gleich aufgetragen. Ich lade Sie alle ein, sich hinüber ins Speisezimmer zu begeben.«

»Das kommt gerade noch rechtzeitig! Ich fragte mich bereits, ob ich mich vielleicht selbst an den Herd stellen müsste.«

Gertrud funkelte ihren Mann wortlos an. Wenn er doch nicht ständig versucht hätte, witzig zu sein. Es misslang ihm doch immer wieder, und er klang einfach nur flegelhaft.

»In der Tat machen Sie als Koch eine ausgezeichnete Figur, Herr Simon. Ihre Verkleidung damals auf dem Hessenfest ist uns unvergessen. Wann war das noch, vor zwei Jahren?«

Mit einem schelmischen Lächeln gelang es Martha Liebermann, von Hugos unpassender Bemerkung abzulenken. Martha war einfach ein Schatz!

Auf ihrem Weg durchs Speisezimmer wurde Gertrud von Ursula abgefangen. Offensichtlich wollte ihre Tochter wieder dort ansetzen, wo sie am Morgen aufgehört hatte – beim Thema Paris. Gertrud beschloss, ihr mit einer strategischen Frage zuvorzukommen.

»Hast du deine Schwester gesehen?«

»Die wird auf ihrem Zimmer sein und lesen, wie üblich.«

»Dann geh und sag ihr, dass man sie hier unten erwartet.«

»Hast du schon mit Papa gesprochen?«

»Ich war noch keine Sekunde mit ihm allein.«

»Wolf und ich können kaum erwarten, endlich umzuziehen. Er hat mit Monsieur Maillol schon alles arrangiert. Aber dafür muss Papa uns in Paris ein Bankkonto eröffnen.«

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, der weniger bittend als fordernd war, förderte eine Erinnerung daran zutage, wie Ursula als Neunjährige alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um ein Pony zu bekommen.

»Ich weiß, mein Schatz, ich weiß. Wir diskutieren das jetzt schon zum dritten Mal. Ich rede mit ihm, sobald es irgend möglich ist.«

»Deshalb bin ich ja so ungeduldig, weil wir die Sache schon drei Mal diskutiert haben. Wie oft soll ich dich noch daran erinnern?«

Gertrud konnte nicht umhin, den barschen Ton in Zusammenhang mit der neuen Frisur ihrer Tochter zu bringen. Sie wurde allmählich zu einer dieser durch und durch modernen, streng rationalen Frauen, die von Zeitungskommentatoren teils bejubelt, teils gebrandmarkt wurden. Es war zum Aus-der-Haut-fahren.

»Geh einfach und sag deiner Schwester, dass sie herunterkommen soll. Deinen Vater überlässt du am besten mir.«

Die beiden stürmten in entgegengesetzter Richtung davon, und ihre Schritte hallten durch den leeren Raum. Also wirklich! So langsam begann sie, sich mit dem Vorhaben anzufreunden. Wenigstens wäre sie dann das fortgesetzte Gemaule ihrer Tochter los. Seit der Hochzeit mit Wolf Demeter wurde Ursula immer dreister, ihr Verhalten grenzte schon an Unverschämtheit. Nicht dass das seine Schuld gewesen wäre. Der Junge war zu einfältig, um an etwas anderes zu denken als an sein gutes Aussehen. Kein Ehrgeiz, keine Antriebskraft. Zu viel Hermann Hesse im Kopf – das war das Problem mit den jungen Männern heutzutage. Ein Wunder, dass sie nicht allesamt loszogen und sich auf dem Monte Verità niederließen. Wenigstens stammte er aus guter Familie. Und vielleicht würde Paris den beiden guttun. Womöglich brachte er unter Monsieur Maillols Anleitung tatsächlich etwas Nennenswertes zustande. Außerdem war eine Tochter, die in Paris wohnte, ein perfekter Vorwand, nach Herzenslust dorthin zu reisen.

Als sie sich bei Maillol unterhakte und ihn ins Speisezimmer führte, bemerkte Graf Kessler schadenfroh, der Ehrengast habe noch nie von Einstein gehört, bis zu ihrer persönlichen Begegnung heute. Beeindruckt von der auffälligen Physiognomie des großen Wissenschaftlers, hatte der greise Bildhauer sich erkundigt, ob das ein Dichter sei.

»Das kann doch nicht sein, Monsieur Maillol! Ist es wirklich möglich, dass Sie noch nie von Albert Einstein gehört haben? Er ist der angesehenste Wissenschaftler der Welt.«

Maillol lachte mit den anderen mit, ein wenig aus dem Konzept gebracht, doch augenscheinlich wenig überzeugt, dass der genannte Umstand für ihn von irgendeiner Bedeutung sein sollte. Gertrud strahlte. Es war genau die richtige Art von Anekdote, und sie ereignete sich jetzt, auf ihrem Empfang. Die Szene musste sich einfach herumsprechen. Auch die Tafel sah fabelhaft aus, mit einem Tischtuch aus feinem portugiesischem Leinen und einem Läufer mit geometrischem Muster von Josef Hoffmann in Blütenweiß und Hellgrau mit roten Querstreifen, dem idealen Kontrast zur abgerundeten Eleganz des Bestecks, das Herr Van de Velde für die Simons gestaltet hatte. Perfekt! Alles war fast schon zu perfekt. Während sie das makellose Arrangement ein letztes Mal in Augenschein nahm, empfand sie unwillkürlich einen Stich des Bedauerns darüber, dass etwas so Vollkommenes nun durch Gebrauch in Unordnung geraten sollte. In wenigen Minuten würde ihr ausgesuchtes Arrangement der Regellosigkeit des Lebens erliegen. Hätte sie diesen Augenblick doch für immer festhalten können. Wo war der Fotograf, wenn man ihn brauchte?

In dem Durchgang am hinteren Ende des Raums erschien Ursula, Annette an der Hand, und Demeter gleich dahinter. Sie trieben das Mädchen wie ein Herdentier mit – halb von der Schwester gezogen, halb vom Schwager, der unmittelbar folgte, daran gehindert, kehrtzumachen und wieder die Treppe hoch zu flitzen. Gertrud winkte die drei zu sich und übersah geflissentlich die Bemühungen ihrer jüngeren Tochter, durch dumme Grimassen ihren Protest auszudrücken. Das sollte sie sich wirklich abgewöhnen. Wenn sie die Wangen aufblies, sah sie aus wie ein Frosch. Es war schon schlimm genug, dass das Mädchen den Mund seines Vaters und die Glupschaugen seiner Tanten geerbt hatte. Gertrud konnte sich genau vorstellen, wie jemand den böswilligen Einfall aufbrachte: Fräulein Annette Simon, die Tochter des Berliner Bankiers Hugo Simon, inszeniert das Märchen von der Prinzessin und dem Frosch, aber mit umgekehrten Rollen – der erste Frosch, der es darauf anlegt, Prinzessin zu werden. Das konnte sich leicht zu einer dieser antisemitischen Schmähzeichnungen in Kladderadatsch ausweiten. Nein, es war ausgeschlossen, sie im zarten Alter von zwölf zur Zielscheibe des Spotts werden zu lassen. Sie musste der Sache Einhalt gebieten. Als die drei den Raum durchquert hatten, sprach Gertrud Maillol an:

»Monsieur Maillol, ich glaube, Sie sind bereits mit meinem Schwiegersohn, Wolf Demeter, bekannt?«

»Oh, ja, natürlich! Wir hatten vor zwei Wochen bei Weimar ein überaus amüsantes Mondscheinpicknick, nicht wahr, Demeter?«

Der Bericht erwischte Gertrud auf dem falschen Fuß. Sie warf ihrem Schwiegersohn einen fragenden Blick zu.

»Ein Mondscheinpicknick? Davon höre ich zum ersten Mal.«

»Das geht auf Graf Kesslers Rechnung.«

Demeter grinste dämlich. Die Augen des alten Mannes blitzten vor Boshaftigkeit.

»Ja, wir haben wie die Heiden im Wald getanzt, nur zu einer Tangoschallplatte.«

»Und Sie haben mitgetanzt, Monsieur Maillol?«

»Ja, selbstverständlich! Normalerweise beschränke ich mich auf Walzer, aber die Nacht war so warm und dufterfüllt, das war mir eine Ausnahme wert.«

Annette blickte gelangweilt drein, als hätte sie die Geschichte schon ein Dutzend Mal gehört. Gertrud sah von Gesicht zu Gesicht, für kurze Zeit unschlüssig, ob sie nun Beifall oder Ablehnung bekunden sollte. Der starre Blick ihrer älteren Tochter brachte sie wieder zu sich.

»Wurden Ihnen auch meine Töchter vorgestellt? Das hier ist Ursula, Madame Demeter.«

»Enchanté, Madame. So jung und schon verheiratet! Sie vergeuden keine Zeit, was, Demeter? Na, das konnte ich schon daran erkennen, wie Sie an dem besagten Abend mit Lucile getanzt haben.«

Ursula durchbohrte ihren Ehemann mit einem Blick, aber Demeter tat, als hätte er die Bemerkung nicht gehört, und starrte nur müßig auf den Finger, mit dem der alte Mann in seine Richtung wedelte.

»Und das ist meine kleine Annette, das Küken im Hause und bereits ein aufstrebendes künstlerisches Talent.«

»Aha, enchanté, ma petite. Sie möchten also Künstlerin werden, ja?«

»Nein, ich werde Dichterin.«

Annettes herausfordernde Antwort in ihrem Schulmädchenfranzösisch entlockte dem Bildhauer ein lautes Lachen, und sein langer Bart bauschte sich mit dem Heben und Senken seiner Brust. Gertrud zog sich innerlich alles zusammen. Sie wusste nur zu gut, dass ihre jüngere Tochter es nicht ausstehen konnte, wenn man über sie lachte. Doch bevor sie einschreiten konnte, stieß Annette auf Deutsch hervor:

»Wissen Sie eigentlich, dass Sie beim Lachen aussehen wie ein meckernder Ziegenbock?«

»Das ist jetzt aber genug!«

Ursula packte ihre Schwester am Arm und zog sie mit sich fort, nicht ohne zuvor ein paar geflüsterte Worte mit der Mutter zu wechseln. Aus dem Augenwinkel warf sie Maillol einen Blick zu. Der alte Mann lachte noch immer, fragte jetzt Demeter, was das Mädchen denn gesagt habe.

»Hast du uns neben ihm platziert?«

»Nein, noch besser. Ich habe euch beide zu dieser Passavant gesetzt. Da hat er euch garantiert im Blickfeld. Gebt euch Mühe und seid nett zu ihr.«

Ursula führte ihre Schwester in den Innenhof hinaus, und sie verschwanden in der Flut von Gästen, die in die entgegengesetzte Richtung strömten. Demeter blieb zurück und unterhielt sich weiter mit Maillol und Kessler, der sich zwischenzeitlich wieder der Gruppe angeschlossen hatte. Gertrud nahm sich vor, etwas wegen Annette zu unternehmen, bevor es zu spät war. Das Mädchen machte sich unmöglich. Wenn sie nur keine Juden gewesen wären, dann hätte sie sie in eines dieser Schweizer Internate schicken können. Sie schalt sich sofort für diesen herzlosen Gedanken.

Gertrud drehte eine Runde durch das Speisezimmer, plauderte mit den Gästen und vergewisserte sich, dass jeder seinen Platz gefunden hatte. Es war ein wenig eng, aber sie war froh, alle an einer Tafel untergebracht zu haben. Sie hielt nichts von dieser Buffetmode, die aus Amerika zu ihnen herübergeschwappt war. Ihre verstorbene Großmutter hätte gesagt, eine Mahlzeit, bei der die Gäste nicht zusammensäßen, sei keine Mahlzeit, sondern eine Fütterung. Erst als ein jeder seinen Platz eingenommen hatte und der erste Gang aufgetragen worden war, begann sie sich zu entspannen. Sie gestattete sich einen kurzen Blick aus dem Fenster. Die Brise fuhr durchs belaubte Dunkel der Bäume, in denen der Sommer hing, und das Sonnenlicht ließ die sandfarbenen Wände in einem frischen Weiß erstrahlen, dessen Intensität kaum zu ertragen war. So plötzlich wie unerwartet spürte sie, dass sie am liebsten geweint hätte. Aber warum nur, warum, weshalb sollte sie weinen, wo doch alles so glänzend verlief? War es die Erinnerung an ihre Großmutter? Oder lag es an der Kälte ihrer Tochter? Ihr war nur zu bewusst, was zwischen ihnen alles im Argen lag. Hugo und sie hatten Ursula von klein auf verwöhnt. Es wäre sinnlos gewesen, die Zügel jetzt straffen zu wollen, nachdem man sie so lange hatte schleifen lassen. Dr. Simmel hatte das vertreten. Vielleicht war es tatsächlich das Beste, sie nach Paris ziehen zu lassen. Der räumliche Abstand würde ihnen Gelegenheit bieten, die Veränderung ihrer Lebensumstände zu bedenken. Ursula war nun eine Frau. Vermutlich würde sie auch bald Mutter werden wollen. Aber sie war doch nicht einmal neunzehn! Das arme Ding wusste in seiner Überheblichkeit kaum, worauf es sich da einließ. Mit fünfundvierzig Großmutter – nein, dafür fühlte Gertrud sich zu jung.

Sie zwang sich, diesen Gedankengang abzubrechen, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Gästen zu. Lange konnte sie nicht abgeschweift sein, aber es hatte ausgereicht, damit jemand Gelegenheit fand, jenes grässliche Gespräch zu erwähnen, bei dem Alfred Kerr vor ein paar Jahren im Hause der Fischers auf die taktloseste Art nach Einsteins religiösen Überzeugungen gefragt hatte. Monsieur Maillol schien an den Einzelheiten interessiert, und Kessler war bereitwillig dabei, sie ihm zu hinterbringen. Einstein selbst, der auf der gegenüberliegenden Tischseite zwischen Martha Liebermann und Mademoiselle Passavant saß, gab vor, nichts von der Konversation mitzubekommen, Gertrud ertappte ihn allerdings dabei, wie er hin und wieder zu Kessler hinüberlinste. Sam Fischer wurde hinzugezogen, um zu bestätigen, ob Gerhart Hauptmann damals wirklich dabei gewesen sei. Schließlich wandte Maillol sich zu Einstein um und fragte ihn über die Tafel hinweg, was denn nun seine Meinung zum Thema sei. Fast auf der Stelle verstummte das Geplauder, und alle schickten sich an, die Antwort des großen Physikers zu hören. Einer oder zwei der Anwesenden, die entweder die Frage nicht mitbekommen hatten oder zu wenig Französisch sprachen, um sie zu verstehen, brauchten ein paar Sekunden länger, doch bald herrschte Schweigen am ganzen Tisch. Leicht unangenehm berührt, brachte Einstein seine Position vor:

»Mir ist nicht ganz klar, warum meine Sicht auf Religion ein wiederkehrendes Gesprächsthema sein sollte, aber ich möchte das wiederholen, was ich bereits bei jener anderen Gelegenheit sagte. Ich empfinde tiefen Respekt – Ehrfurcht, wenn Sie so wollen – im Angesicht all dessen, was wir am Universum nicht begreifen. Wenn Sie das Religion zu nennen wünschen, bitte sehr. Mein Gott ist derselbe wie derjenige Spinozas.«

Der Ton seiner Antwort war ruhig und besonnen. Auf den Gesichtern der Gäste breitete sich Zustimmung aus, und es schien, als könnte das heikle Thema ad acta gelegt werden. Da Einstein sich dazu entschlossen hatte, auf Deutsch zu antworten, lauschte Maillol noch konzentriert Kesslers Übersetzung. Des genauen Wortlauts gewiss, drang er noch einmal in den Wissenschaftler:

»Aber Sie glauben nicht an einen Gott mit einem Rauschebart wie dem meinen, der auf seinem Thron im Himmel sitzt und das Leben der Menschen bestimmt?«

Einstein erwiderte den provokanten Blick des greisen Bildhauers und zwang sich dann mit unerschütterlicher Geduld zu einer Antwort auf Französisch.

»Bei allem Respekt vor Ihrem prachtvollen Bart, nein, natürlich nicht.«

Alle lachten, einschließlich Maillol, der das Thema mit der Bemerkung abschloss, da würden sie beide an dasselbe glauben: das Rätsel der Natur.

Gertrud warf ihrem Mann einen besorgten Blick zu. Eine derartige Episode mochte eine hübsche Anekdote für die Geschichtsbücher abgeben, aber sie brachte doch auch das Risiko mit sich, dass die festliche Stimmung des Mittagessens gestört würde. Hugo bemerkte den Wink und wandte sich sogleich mit der Frage an Fischer, ob es denn stimme, dass Hauptmann an einem neuen Stück arbeite. Der Themenwechsel wurde dankbar aufgenommen, und bald setzte sich die Konversation an verschiedenen Enden der Tafel fort. Die Fragen der Religion lagen hinter ihnen, als der zweite Gang serviert wurde – Seezungenfilet in Meerrettichsauce. Wäre es nur ebenso einfach gewesen, das ewige Gezänk über Politik auszuräumen. Selbst auf den amüsantesten Feiern schien es unmöglich, diese verzehrende Leidenschaft einzudämmen, zumal jetzt, da in wenigen Monaten Wahlen bevorstanden. Gertruds kühnste Hoffnung war, sich dem Strom bis nach dem Dessert entgegenzustellen. Und das würde keine leichte Aufgabe sein. Am anderen Ende der Tafel hatte sich das Gespräch Herrn Brechts Prozess gegen die Filmproduktion seiner Dreigroschenoper zugewandt. Die Diskussion drohte, sich zu einer Brecht-versus-Pabst-Kontroverse auszuwachsen, mit Herrn Gropius und Herrn Justi als Antagonisten und Herrn Meier-Graefe als widerstrebendem Schiedsrichter. Gertrud bedauerte es, die Herren nicht weiter auseinander platziert zu haben. Kunsthistoriker neben Architekten zu setzen war nie eine gute Idee.

Zum Glück nahm Ursula ein Zeichen ihrer Mutter auf und verwickelte Mademoiselle Passavant in ein Gespräch über die Vorzüge unbekleideter Sonnenbäder, an dem sich sofort auch Annemarie Meier-Graefe beteiligte. Der Anblick dreier junger Frauen, die sich über ihre Nacktheit unterhielten, genügte, um die Vorstellungskraft aller anwesenden Männer anzuheizen, und bald schon befand sich die gesamte Tafel in einer leidenschaftlichen Debatte über Nacktkultur. Monsieur Maillol war der enthusiastischste Verfechter des modernen Körperkults und erklärte, was er in Deutschland gesehen habe, würde ihn ans antike Griechenland erinnern. Kessler und Einstein pflichteten ihm bei, wenn auch mit der gebotenen Zurückhaltung. Renée Sintenis befragte die Jüngeren zu dem Zusammenhang zwischen unbekleideten Körpern und sexueller Ungehemmtheit. Sie finde ja ein Übermaß an Nacktheit entschieden unerotisch, sagte sie und senkte auf eine Weise den Blick, die etwas gleichzeitig Blasiertes und Provokantes hatte. Nacktheit und Sex – endlich ein unverfänglicher Gesprächsstoff! Gertrud ließ die Deckung sinken und widmete sich mit beifälliger Hingabe der Kirschmandeltorte. Das Gespräch verlagerte sich vom Ablegen der Kleider auf Verkleidungen, von Travestie auf die neuesten und skandalösesten Cabaret-Aufführungen. Der Wein floss in Strömen, und die allgemeine Heiterkeit erreichte für diesen Nachmittag ihren Höhepunkt. Als Kaffee und Likör gereicht wurden, hatten noch die streitlustigsten Gemüter sich ein wenig beruhigt, und eine gemütliche Zufriedenheit ergriff von allen Anwesenden Besitz. Gertrud empfand Genugtuung und Erleichterung. Das Essen hatte sich als Erfolg erwiesen. Obwohl ihr klar war, dass das nach dem Champagner nicht zu empfehlen war, beschloss sie, sich ein Gläschen Chartreuse zu gönnen. Das war ihr Lieblingslikör, und an einem leichten Schwips im eigenen Haus würde niemand Anstoß nehmen. Sie sah über die lange Tafel hinweg ihren Mann an, der in ein Gespräch mit Elsa Einstein vertieft war, und er fing ihren Blick auf. Gertrud erhob den kleinen grünen Kelch zu einem wortlosen Toast, und Hugo lächelte und hob seinerseits sein Glas. Sie waren endlich angekommen. Daran konnte es keinen Zweifel geben. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und badete in der trägen Wärme des Sommers.

Dezember 1931

Wolf Demeter begutachtete sich im Dielenspiegel, in der Hand eine unangezündete Zigarette, mit der er verschiedene Posen einnahm. Einen Spiegel von der Größe hätte er in Paris auch gerne gehabt, aber die Wohnung war dafür zu klein. Außerdem hätte Ursula bestimmt Einwände erhoben. Sie missbilligte alles in dem gemeinsamen Heim, was an ihr Elternhaus hätte erinnern können. Und doch fand sie stets neue Gründe, um nach Berlin zu reisen und sich dort ausgiebig aufzuhalten. Das war nun schon der dritte Berlinbesuch seit Rogers Geburt. Und jedes Mal schob Ursula die Rückkehr ein wenig länger hinaus. Aus zwei Wochen waren unversehens drei geworden; aus drei Wochen ein Monat; nun hatte sie ihn überredet, dass es sinnlos wäre, vor Weihnachten zurückzureisen. Na gut. Maillol war sowieso unten in Banyuls-sur-Mer und arbeitete an seinem hochwichtigen Kriegerdenkmal. Demeter hob die linke Hand und hielt sie etwa eine Handbreit von der Brust entfernt, die Zigarette locker zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ja, das sah schon schneidig aus. Genau das richtige Maß an gezielter Nonchalance, und seine neue Armbanduhr und der Platin-Ehering kamen wunderbar zur Geltung.

»Wolf, kannst du mal kurz kommen?«

Als er ins Schlafzimmer trat, fand er seine Frau noch immer nicht ausgehfertig, zwei Abendkleider ausgebreitet vor sich auf dem Bett – das eine blau und ärmellos, das andere schwarz mit einem tiefen Rückenausschnitt. Auf dem Fußboden kauerte Annette, die Knie mit den Armen umschlungen, das Gesicht in einem von Ursulas Pelzkragen vergraben.

»Welches von beiden soll ich anziehen?«

»Was ist denn mit deiner Schwester los?«

»Ach, nichts. Die schmollt nur, weil sie zu jung ist, um mitzukommen.«

Aus dem Pelz stieg ein ersticktes Schluchzen.

»Ich bin nicht zu jung. Ich bin schon vierzehn!«

»Und das ist nicht zu jung?«

»Greta Landauer ist vierzehn, und die war schon überall.«

»Greta Landauer ist eine billige kleine Göre. Du nicht. Also halt den Mund und hör auf, meinen Pelzkragen vollzuschniefen.«

Demeter trat zu seiner Schwägerin und strich ihr übers Haar. Er fand unmöglich, wie gehässig Ursula zu dem Mädchen sein konnte, aber ihm stand der Sinn nicht schon wieder nach Streit.

»So, welches soll ich nun anziehen?«

»Die sind beide in Ordnung.«

Er wusste, dass das die letzte Antwort war, die sie hören wollte. Geschah ihr ganz recht.

»Könntest du mir wenigstens verraten, wo wir die zwei treffen? Das würde mir beim Entscheiden helfen, wenn du schon nichts dazu beitragen kannst.«

Ursulas halbwegs beherrschter Ton vermochte ihre wachsende Gereiztheit nicht zu kaschieren.

»Wir sind um 21 Uhr 30 im Wintergarten verabredet, oben auf der Galerie.«

»Ach nein, nicht im Wintergarten!«

»Warum denn nicht?«

»Das ist vielleicht etwas für meine Eltern. Sonst geht doch da kein Mensch mehr hin.«

Demeter konnte kaum verbergen, welches Vergnügen ihr Unwille ihm bereitete. Ursula war zur Zeit extrem patzig, und er machte sich einen Spaß daraus, sie auf die Palme zu bringen. Er warf einen liebevollen Blick auf die Armbanduhr.

»Ich wünschte, du würdest dich etwas beeilen. Wir sind sowieso schon spät dran.«

»Georg und Ilse können verdammt nochmal warten. Und außerdem kommen wir nicht zu spät. Ich habe Mama gebeten, uns den Wagen und Heinz zu überlassen.«

Annettes gerötete Augen linsten unter dem Pelz hervor. Demeter streckte ihr eine manikürte Hand entgegen. Sie nahm sie und streckte auch ihre andere aus. Er zog das Mädchen sanft in seine Arme.

* * *

»Ist das da nicht Max Beckmann?«

Demeter folgte Ursulas Blick zu dem Bereich vor der Bühne. Er versuchte, seine Aufregung zu zügeln, doch Beckmanns Erwähnung ließ sein Herz schneller schlagen. Er bewunderte den großen Maler so sehr, dass er sogar einmal erwogen hatte, nach Frankfurt zu ziehen, um bei ihm studieren zu können. Das war in seiner Jugend gewesen, bevor er den Entschluss gefasst hatte, Bildhauer zu werden. Jetzt ließ er seinen Blick über die verschiedenen Tischgesellschaften schweifen und hielt Ausschau nach dem Stirnrunzeln und den funkelnden Augen, die er von so vielen Porträts kannte, doch vergebens. Nirgends in der Menge gelangweilter Männer im Smoking und kichernder, Champagner trinkender Frauen konnte er Beckmanns Gesicht entdecken.

»Wo? Ich sehe ihn nicht.«

»Wen? Ach so, dann war es wohl jemand anderes.«

Demeter fühlte Wut in sich aufsteigen, als ihm einfiel, dass Beckmann wohl sowieso in Paris war. Bestimmt hatte Ursula ihn mit Absicht irregeführt, als Retourkutsche dafür, dass er ihr nicht bei der Kleiderwahl behilflich gewesen war. So eine Zicke.

»Ach, da sind sie ja.«

Ursula drängte sich nach hinten durch, wo Ilse Tietz mit unnötiger Beharrlichkeit ihren pummeligen Arm schwenkte. Er hielt nicht viel von Ilse, hätte aber nicht zu sagen gewusst, ob es daran lag, dass er sie zu feist fand oder zu vulgär, oder an einer Mischung von beidem. Aber er musste mit ihr auskommen, da sie mit Georg zusammen war, einem der wenigen Künstlerfreunde, die ihm in Berlin geblieben waren. Die beiden Frauen waren zusammen zur Schule gegangen, und so bot es sich an, sich zu viert zu verabreden. Ilse nahm Ursula – ihr Idol aus Teenagerjahren, in deren Rang sie nun erhoben worden war – völlig in Beschlag, was Georg und ihm den Freiraum verschaffte, sich über Kunst zu unterhalten.

»Ich verstehe wirklich nicht, wie du freiwillig in diesen Schuppen gehen kannst.«

»Wieso nur, Ursula? Warum denn nicht?«

»Der Wintergarten ist so bürgerlich.«

»Wo wärst du denn lieber?«

»Natürlich in der Katakombe. Das ist der einzige Ort in Berlin, wo man heute noch hingehen kann.«

Demeter tat, als bekäme er von dem aufgeblasenen Gehabe seiner Frau nichts mit. Sie war erst einmal in der Katakombe gewesen und hatte die ganze Zeit darüber gejammert, auf einem Holzstuhl sitzen zu müssen.

»Oh, da war ich noch nie. Schauen wir doch nachher noch hin. Oder wir brechen jetzt gleich auf. Georg, wollen wir gehen?«

»Ich habe gerade eine Flasche Champagner bestellt, Schatz. Lass uns den trinken und losziehen, bevor die Vorführung anfängt.«

»Oh, ja, bitte. Bestimmt ist das so eine dilettantische Claire-Waldoff-Imitatorin. Die meisten von denen können noch nicht mal richtig berlinern.«

Auch ohne sie anzusehen, konnte Demeter sich vorstellen, wie Ursula die Augen verdrehte, wie sie mit den Lidern flatterte, um ihre Geringschätzung auszudrücken. Er hielt den Kopf weiter zur Seite geneigt und konzentrierte sich auf den Tisch hinter Georg, wo zwei Frauen einander recht ungeniert mit Zärtlichkeiten und Küssen bedeckten. Die eine war eine überaus verführerische Blondine in einem eleganten silberfarbenen Kleid, das lose von ihren nackten Schultern floss und die Weißheit der Arme und der langen, fein geformten Finger betonte, mit denen sie ihrer Gespielin über die Wange strich. Die wiederum war dunkel und wie ein Mann gekleidet, mit einem Smoking, dessen Schnitt gekonnt die Brüste verbarg, und kurzen, glattfrisierten Haaren, ein auffälliger Kontrast zu dem übertriebenen Lidstrich, der ihr das Profil einer ägyptischen Göttin verlieh. Als sie sich von der Blonden löste, war ihr Mund mit deren tiefrotem Lippenstift verschmiert, und sie kostete für einen Moment dessen wächserne Konsistenz, um dann ein Lächeln erstrahlen zu lassen, das nur für ihre Begleiterin bestimmt war. Verlockend. Demeter, dem bewusst wurde, dass er vielleicht allzu unverblümt hingestarrt hatte, wandte sich befangen ab. Dabei bemerkte er einen nervös aussehenden, in einen schlechten Anzug gezwängten Burschen, der am Tresen lehnte und die Frauen ebenfalls anstarrte, auf halbem Wege zwischen Faszination und Abscheu. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke, und sie teilten das Geheimnis ihres Voyeurismus. Der junge Mann am Tresen errötete und sah zu Boden.

»Georg erzählte mir gerade, wie ihr beiden euch kennengelernt habt. Stimmt das, Wolf, dass Ursula dir auf einer Party buchstäblich in den Schoß gefallen ist?«

Widerstrebend wandte er sich wieder den anderen zu, um Ilses fast herausgeprustete Frage zu beantworten.

»Ja, ich sitze da und denke mir nichts Böses, da landet sie plötzlich auf mir. Ein schöner Zufall.«

Er deutete mit einem fast unmerklichen Nicken auf Ursula, während er eine Zigarette aus dem Silberetui mit seinen Initialen zog, das sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.

»Von wegen Zufall. Ich sage dir, ich musste mein ganzes choreographisches Geschick zusammennehmen, um mich in eine geeignete Position zu bringen.«

Ilse lachte so heftig über Ursulas Bemerkung, dass ihr der Champagner in die Nase stieg. Kleine Bläschen blubberten heraus und blieben an den Nasenlöchern hängen. Es war atemberaubend, dass eine Frau, die seit Geburt steinreich war, so ordinär auftreten konnte.

»Wolf Demeter! Bist du das?«

Demeter wandte langsam den Kopf, und sein Blick fiel auf Otto Sprengel. Sie hatten vor Jahren zusammen in Hasemanns Atelier gelernt, aber Sprengel hatte die Bildhauerei letztlich aufgegeben, um sich als Bühnenbildner am Agitprop-Theater zu verdingen. Das war auch gut so, denn er war so untalentiert wie bierernst. An der pseudo-proletarischen Schäbigkeit seiner Kleidung ließ sich ablesen, dass er keine dieser beiden Eigenschaften abgelegt hatte.

»Seit wann bist du wieder in Berlin? Scherst du nicht mehr um deine alten Freunde, du bourgeoiser Lump?«

Sprengel war ziemlich betrunken. Er machte Anstalten, Demeter um den Hals zu fallen, doch dieser entzog sich der Geste, indem er einfach sitzen blieb. Leider musste sich Sprengel dadurch vorbeugen, um ihn zu begrüßen, wobei er das Gleichgewicht verlor und strauchelte. Ein irritierend beflissener Kellner erschien und brachte einen Stuhl. Wenn man die Kerle wirklich mal brauchte, waren sie nirgends zu sehen. Sprengel nahm unaufgefordert Platz und adressierte die Tischgenossen, ohne sich auch nur vorgestellt zu haben, in kumpelhaftem Ton:

»Sie müssen wissen, dieser bourgeoise Haderlump und ich kennen uns schon eine Ewigkeit. Schon lange bevor er zu Geld kam und nach Paris ging. Sag mal, ich habe gehört, du hättest demnächst eine Ausstellung in der Galerie Ferdinand Möller. Ist das wahr?«

Er legte Demeter einen verschwitzten Arm um die Schultern und zog ihn an sich. Mit der freien Hand befühlte er das Revers seines Smokings. Demeter war unschlüssig, ob er vorgeben sollte, Sprengel nicht zu kennen, oder ihn den anderen vorstellen müsse. Am Ende entschied er sich für keines von beidem. Er nahm das Silberetui und bot seinem alten Bekannten eine Zigarette an, schon allein, um sich aus der unerwünschten Umarmung zu befreien. Sprengel griff freudig zu, beschnupperte die Zigarette und betatschte mit fettigem Finger das Etui. Dann nahm er sich noch eine zweite und ließ sie in die Innentasche seines Jacketts wandern.

»Im Ernst jetzt, Sie haben einen der begabtesten jungen Bildhauer Deutschlands vor sich. Und dazu auch noch einen Fachmann für das antike Griechenland. Stimmt doch, oder, Demeter? Du warst doch ’ne Zeitlang in Griechenland?«

In seinem Lallen klang eindeutig Bewunderung an. Sprengel war ein fürchterlicher Langweiler, aber es bestand keine Aussicht, ihm aus dem Weg zu gehen. Demeter würde sich wohl oder übel mit ihm unterhalten müssen.

»Und wie sieht’s bei dir aus, Sprengel? Ich bin überrascht, dich hier zu sehen.«

»Da hast du schon recht, alter Junge. Von mir aus würden mich keine zehn Pferde in so einen bürgerlichen Mistladen bringen, aber ich arbeite zur Zeit hier … Mache das Bühnenbild für die neue Show. Von etwas muss der Mensch ja leben, nicht wahr. So ist das im Kapitalismus.«

Die Worte kamen halbwegs zusammenhängend aus seinem Mund. Vielleicht war er gar nicht so betrunken, wie er tat, obwohl er gewiss so ermüdend wirkte wie eh und je. Bühnenbildner im Wintergarten: eine überaus passende Strafe für jemanden, der einst davon geträumt hatte, revolutionäre Kunst für die Massen zu machen. Plötzlich riss Sprengel die Augen weit auf, und ein unmäßiges Grinsen huschte über sein Gesicht. Offensichtlich war ihm ein Gedanke gekommen, und jetzt verspürte er einen ebenso offensichtlichen Drang, ihn zu verkünden. Mit der Zigarette, die er unangezündet zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, wedelte er in Demeters Richtung, als handelte es sich um einen Taktstock.

»Pass auf, Demeter! Wetten, ich weiß was über das antike Griechenland, was du nicht weißt.«

Demeter wappnete sich für den todsicheren Schwachsinn, der gleich von Sprengels Lippen kommen musste. Gewiss konnte der Mann nichts vorbringen, was im Entferntesten interessant war.

»Oder hast du schon mal gehört, dass der Fries im Pergamonmuseum … du weißt schon, welches, das mit der Schlacht zwischen Riesen und Göttern … Wie nennt man das noch mal? Da gibt’s doch ’ne Bezeichnung …«

Er kniff die Augen zusammen und verzog angestrengt das Gesicht, während er nach dem fehlenden Wort suchte. Demeter warf einen raschen Blick auf die anderen. Ursula, die genervt, und Ilse, die entsetzt wirkte, verharrten in frostigem Schweigen. Georg hingegen gab amüsiert zur Antwort:

»Gigantomachie?«

»Das isses! Das isses! Gigantoma… Giganto…«

Seine Zunge verhedderte sich beim Versuch, das Fremdwort auszusprechen, wobei er wahrscheinlich nur schauspielerte. Das Getue war Teil seiner Bemühungen, als einfacher Arbeiter durchzugehen, und damit pure Heuchelei. Demeter wusste genau, dass sein Vater ein Karlsruher Notar war.

»Das, was Sie grade gesagt haben, genau. Also, wusstest du, dass sich der Fries in Wirklichkeit um den Klassenkampf dreht? Die Riesen gegen die Götter, das ist wie das Proletariat im Kampf gegen die Bourgeoisie.«

Ah, die große Schlusspointe. Natürlich. Wie sollte es auch nicht um den Klassenkampf gehen? War der nicht überhaupt alles? Sprengel zog eine Augenbraue hoch und warf einen triumphierenden Blick in die Runde. Georg grinste sarkastisch und zwinkerte Demeter zu, offenbar bereit, den ungebetenen Gast als Sparringspartner herzunehmen.

»Wer ist da wer?«

»Wie meinen Sie?«

»Sind die Riesen das Proletariat oder die Bourgeoisie?«

»Keine Ahnung. Ich schätze, die Riesen sind das Proletariat.«

»Ihnen ist schon klar, dass am Ende die Götter gewinnen?«

Auf Sprengels Gesicht malte sich tiefer Ernst. Ruckartig zeigte er mit dem linken Daumen auf Georg.

»Ich glaube, dein Freund hier macht sich über mich lustig. Das ist aber nicht nett. Was sagst du, Demeter? War dir bewusst, dass es auf dem Pergamonfries um den Klassenkampf geht? Ich beuge mich deinem überlegenen Wissen. Du bist hier schließlich der Fachmann für das antike Griechenland.«

Er verfiel endlich darauf, sich die Zigarette zwischen die Lippen zu stecken, und ließ sie dort baumeln. In den wässrigen Augen stand nun etwas Flehentliches, ein Wunsch nach Anerkennung. Demeter tat Sprengel ein wenig leid, aber er konnte auch kaum erwarten, ihn loszusein. Wenn er ihm jetzt eine barmherzige Hand reichte, so würde ihn das nur noch weiter ermuntern, den ganzen Abend an ihrem Tisch zu bleiben. Außerdem war er Georg zu Loyalität verpflichtet, der tatsächlich ein Freund war, im Unterschied zu diesem bierseligen Clown mit seinem Gefasel vom Klassenkampf. Da fiel die Entscheidung nicht schwer. Er zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus und gab seine Antwort im gleichgültigsten Ton, zu dem er in der Lage war.

»Pergamon lag nicht im antiken Griechenland, sondern in Kleinasien. Wobei mich das Thema nicht allzu brennend interessiert.«

Seine gespielte Nachlässigkeit war wenig geeignet, die Brüskheit dieser Antwort zu übertünchen. Sprengel ließ enttäuscht die Schultern hängen. Dann schüttelte er leicht den Kopf, so dass man kaum umhin konnte, die Schuppen um seinen Scheitel zu bemerken. Demeter starrte ins Leere und versuchte beiläufig, die küssenden Frauen noch einmal in den Blick zu bekommen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Georg mit süffisanter Miene sein Feuerzeug zückte, Sprengel ergeben akzeptierte und mit dem ersten Zug an der Zigarette das ganze Ausmaß seiner Kränkung in sich aufsog.

»Weißt du, Demeter, es ist schade, dass du nicht in der Partei bist.«

»So, warum?«

»Dann könnte man dich jetzt ausschließen.«

Für einen Augenblick herrschte am Tisch verblüfftes Schweigen, dann brachen alle in Gelächter aus. Am meisten war Demeter davon überrumpelt, mit was für einer grimmigen Gewandtheit Sprengel seinen Witz an den Mann gebracht hatte. Die Wahl des Zeitpunkts war perfekt gewesen, und Demeter war ihm voll auf den Leim gegangen. Die Tatsache, dass es sich um eine bekannte Pointe aus einer Satire Kurt Tucholskys handelte, machte das alles nur noch komischer – ein antikommunistischer Witz, selbstironisch serviert von einem Kommunisten. Ilse Tietz unterstrich diesen Aspekt, falls er irgendwem entgangen wäre.

»Das ist von Tucholsky, oder?«

Sprengel saß da und grinste hämisch, während er seelenruhig Demeters Zigarette paffte, die Augen leicht verengt und nun nüchtern vor Bosheit.

Demeter sah zerstreut durch den Raum und tarnte seine Verlegenheit als Langeweile. Als sein Blick wieder auf die sich küssenden Frauen fiel, wandte er ihnen nur allzu gerne seine Aufmerksamkeit zu. Die kleine Dunkle stand inzwischen neben der weiterhin sitzenden Blondine und küsste sie leidenschaftlich auf den ihr zugewandten Mund. Ihre Zungen umspielten einander in einem langsamen Rhythmus, der etwas unverkennbar Erotisches hatte. Demeter betrachtete das herrliche Tableau mit wachsender Erregung. Fast war er Sprengel dankbar dafür, ihm einen Vorwand zum Wegsehen geboten zu haben. Sein Blick glitt von den ineinander verschlungenen Zungen nach unten, über die kraftvollen, bloßen Formen von Hals und Schultern bis hin zu den Brüsten, die sich unter dem silbernen Stoff hoben und senkten. Plötzlich schoss ein Bierglas durch die Luft und zerschellte mit einem lauten Knall an der Säule hinter der Stehenden, nur knapp neben deren Kopf. Sie schreckte hoch und sah noch, wie Glassplitter in alle Richtungen flogen, während das Bier die Säule hinunterrann und ihr Weiß mit einem uringelben Rinnsal besudelte. Die Blondine ließ einen durchdringenden Schrei los und sprang von ihrem Sitz auf, um zu sehen, ob ihrer Begleiterin etwas fehlte. Im Raum wurde es schlagartig still. Nur Stühlerücken war zu hören, als sich die Gäste dem Ort des Geschehens zuwandten. Dann folgten aller Augen dem Blick der zwei Frauen in die Richtung, aus der das Glas gekommen war, und verweilten schließlich auf dem jungen Mann am Tresen. Er wirkte jetzt nicht mehr nervös, sondern herausfordernd. Mit rotem Gesicht und leicht irrer Miene starrte er die Frau an, die wie ein Mann gekleidet war. Dabei ballte er die Fäuste so fest, dass die Knöchel hervortraten.

Scheinbar endlose Sekunden lang tat oder sagte niemand etwas. Die Stille auf der Galerie des Wintergartens kontrastierte seltsam mit dem Gemurmel, das aus dem Hauptraum nach oben drang. Die Widersacher befanden sich in einer Pattsituation, und alle Beteiligten warteten darauf, dass die andere Seite etwas unternahm. Von überall her kamen gewisperte Bemerkungen, und auch Sprengel hatte zu der steigenden Flut etwas beizusteuern:

»Den Typ kenne ich. Ich glaube, das ist ein Nazi.«

Jemand sollte etwas tun, dachte Demeter. Er wechselte über den Tisch hinweg einen fragenden Blick mit Georg. Sie waren kräftige Männer und tendierten wie viele Künstler zu vage linken Ansichten. Waren sie nicht in der Pflicht, für die beiden Frauen einzutreten? Für wen hielt sich dieser Rabauke, dass er einen solchen Aufruhr veranstaltete, nur weil ihm das Auftreten fremder Leute nicht passte? Der Kerl hatte eine Lektion verdient. Man war schließlich in Berlin. Da ging es um die Rechte und Freiheiten der Republik! Demeter hatte mit Politik denkbar wenig am Hut, aber das hier ging zu weit. Im Saal sah er wachsende Aufregung auf den Gesichtern, die Leute gestikulierten, aber noch reagierte niemand. Was war jetzt gefragt? Er zögerte noch einen Moment, wartete auf eine Eingebung. Zu seinem Erstaunen kam der Impuls von direkt hinter ihm. Ursula stand auf und rief in ihrem gebieterischsten Ton:

»Herr Ober! Bringen Sie unserem Freund dort drüben Besen und Kehrblech. Dann kann er das Malheur beseitigen, das er angerichtet hat.«

Sie streckte den Arm aus und deutete auf den Nazi in dem schlechten Anzug. Die ganze Autorität ihres Blickes aber blieb auf den entsetzt dreinblickenden Kellner gerichtet, der gehorsam davoneilte, um ihrer Anweisung Folge zu leisten. Ihr Befehl hallte durch die nachfolgende Stille, als von überall auf der Galerie wilder Beifall erscholl. Mehrere Leute bekundeten lauthals Zustimmung, und von den umliegenden Tischen erhoben sich einige junge Männer, um den Glaswerfer zu umstellen. Demeter und Georg schlossen sich ihnen an und versperrten ihm zusammen mit drei anderen den Fluchtweg nach rechts. Der Nazi machte Anstalten, hierhin und dorthin auszubrechen, fand sich jedoch in der Falle. Da nahm er eine Boxerhaltung ein, bereit, den ersten abzuwehren, der ihm noch näherkäme. In diesem Augenblick kehrte der Kellner mit Besen und Kehrblech zurück. Er trat damit vor Ursula, die ihn anwies, sie dem Mann zu übergeben, und diesem gebot, die Sauerei zu beseitigen.

»Ich soll aufputzen? Ganz bestimmt nicht!«

»Oh doch, Sie machen das jetzt sauber und entschuldigen sich. Anderenfalls sorgen wir dafür, dass der Geschäftsführer die Polizei ruft.«

Demeter musterte seine Frau voll staunender Bewunderung. Sie schien zu einer Überlebensgröße gewachsen zu sein. Hier war sie in ihrem Element, nicht mehr nur ein reiches Mädchen, das stets seinen Willen bekam. Sie hatte sich in eine Heldin verwandelt, die ihr Dorf gegen die anstürmenden Barbaren verteidigte, eine Jeanne d’Arc vom Kurfürstendamm. Er empfand Stolz und sogar eine gewisse Sprachlosigkeit. Vielleicht war es ungerecht von ihm, wenn er sie als verzogene Göre sah.

Der Kreis der Männer schloss sich enger um den Nazi. Eine Frau in mittleren Jahren mit einer doppelten Perlenkette um den Hals schob ihren Kopf hindurch und spie dem Nazi ins Gesicht. Eine beträchtliche Menge tabakbraunen Speichels traf ihn fast ins Auge. Er ließ verblüfft die Fäuste sinken und zog ein Taschentuch hervor, um sich die Wange abzuwischen. Alles Herausfordernde war von ihm abgefallen, er wirkte nun in sein Schicksal ergeben. Er nahm Besen und Kehrblech vom Kellner entgegen und trottete stumm zu der Säule, durch den Kreis der Männer hindurch, der sich in einen schwarzen Korridor aus Abendanzügen verwandelte. Als alles zusammengekehrt war, warf er die Scherben in einen Eimer, den ein weiterer Kellner ihm hinhielt. Eine ganze Armee von Bediensteten hatte sich hinter dem Geschäftsführer versammelt, der sich nun, da keine Gewalttätigkeiten mehr drohten, seinen Weg nach vorne bahnte. Er sah Ursula an, und sein schmaler Schnurrbart sträubte sich vor Entrüstung.

»Was geht hier vor?«

Demeter spürte, dass es an ihm war, dazwischenzugehen und für seine Frau einzutreten. Sie hätte es sicherlich unangebracht gefunden, sich erklären zu müssen, gar noch gegenüber einem Angestellten des Wintergartens. Mit seiner leutseligsten Miene trat er auf den Geschäftsführer zu, die linke Hand, an der seine teure neue Uhr und der Ehering aus Platin glänzten, gut sichtbar nach vorne gestreckt.

»Der Tollpatsch hat ein Glas zerschlagen und beseitigt jetzt das Malheur. Wir warten noch darauf, dass er sich bei den Damen hier entschuldigt, die er durch seine Ungeschicklichkeit gefährdet hat.«

Der Geschäftsführer sah Demeter an und warf dann einen Blick auf die Umstehenden, die seine Darstellung mit unterstützenden Worten und zustimmenden Gesten quittierten. Dann beäugte er den schlechten Anzug des Nazis und gab sich schließlich mit der Erklärung zufrieden.

»Na schön, was haben Sie vorzubringen?«

»Ich … Ich bedauere.«

»Sie entschuldigen sich jetzt auf der Stelle bei den Damen.«

Demeter deutete auf die zwei Frauen, die sich während des Aufruhrs im Hintergrund gehalten hatten. Die kleinere Dunkle umklammerte die geschlossene Faust der Blondine, den Kopf an ihre Brust gelehnt. Der Nazi starrte zu Boden, puterrot vor Zorn und Scham, und murmelte eine Entschuldigung. Da löste sich die Dunkle von ihrer Begleiterin, reckte herausfordernd das Kinn und funkelte ihn von unten an.

»Das hoffe ich, dass dir das leid tut, du krankes Schwein.«

Der Mann, der sie vor wenigen Minuten attackiert hatte, erwiderte wütend ihren Blick, antwortete jedoch nicht. Der Geschäftsführer bedeutete einem Aufgebot von Kellnern, den in Ungnade Gefallenen zur Tür zu begleiten. Damit war der Vorgang offiziell abgeschlossen. An verschiedenen Tischen wurde Ursula zugeprostet, auch Demeter und dem lesbischen Paar. Die zwei Frauen küssten sich noch einmal zaghaft und besiegelten damit ihren Sieg. Es gab Hochrufe und weiteren Applaus.

Als sie an ihren Tisch zurückkehrten, sah Demeter, dass Sprengel noch genau dort saß, wo sie ihn verlassen hatten.

»Ach, du bist ja immer noch da, Sprengel. Hat dich das alles denn gar nicht interessiert?«

»Im Gegenteil, mein lieber Demeter. Ich war sehr beeindruckt vom Auftritt deiner Frau. So jemanden könnten wir für unseren Kampf gebrauchen, ganz ehrlich.«

»Und von mir warst du kein bisschen beeindruckt?«

»Aber ja doch. Du beeindruckst mich immer. Aber du wirst schon zugeben müssen, wer bei euch beiden das Sagen hat, das sieht man auf den ersten Blick.«

Er wollte ihn ärgern, keine Frage. Wahrscheinlich grollte er ihm noch wegen der Sache mit dem Pergamonfries. Was für ein fader Geselle. Die versöhnliche Wirkung des Tucholsky-Witzes war verflogen. Demeter entschied sich, ihm den Laufpass zu geben.

»Ach, wirklich? Ich habe nicht gesehen, dass du tatkräftig eingeschritten wärst.«

»Wir Kommunisten handeln nicht aufgrund romantischer Impulse und bürgerlicher Hirngespinste von Ritterlichkeit. Unser Kampf gründet auf rationaler Überzeugung und politischer Berechnung.«

Demeter leerte den Rest Champagner in seinem Glas. Er war warm und schal geworden. Dann wandte er sich an Georg, bevor die anderen Platz nehmen konnten.

»Sollen wir gehen? Ich glaube, hier hat der Abend seinen Höhepunkt überschritten.«

»Wohin denn?«

»In die Katakombe?«

»Wunderbar! Ich kann es kaum erwarten, hier rauszukommen.«

Ursula stand hastig auf und zog Ilse hinter sich her. Georg folgte ihnen nach draußen. Demeter verweilte noch für einen Moment, um sich von Sprengel zu verabschieden.

»Dann viel Glück mit deinen Bühnenbildern, alter Knabe. Vielleicht sehen wir uns ja bei meinem nächsten Berlinbesuch. Ich schicke dir eine Einladung zu meiner Ausstellung.«

September 1932

Georg Bernhard erhob sich vom Tisch und blickte mürrisch ins Leere, als sei er dabei, seine Gedanken zu ordnen. Seine Augen wirkten müde hinter der runden Schildpattbrille. Gewiss, es war ein langes Diner gewesen, und das Rebhuhn lag allen schwer im Magen. Doch ihm schien auch noch etwas anderes auf der Seele zu lasten. Er stand reglos da, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, wie um sich gegen einen nicht vorhandenen Wind zu stemmen. Doch weder entschuldigte er sich und verließ den Tisch, noch nahm er wieder Platz. Einem natürlichen Bedürfnis wollte er offensichtlich nicht nachkommen, dachte Hugo. Die meisten Gäste fuhren mit ihren Unterhaltungen fort, mit Ausnahme der Gastgeberin Fritze Bernhard, die sich auf ihrem Stuhl aufrichtete und ihren Mann in starrer Bewunderung ansah. Hugo blickte zwischen den beiden hin und her und versuchte, sich einen Reim auf ihr merkwürdiges Verhalten zu machen. Bernhard räusperte sich laut. Bemerkenswert, dachte Hugo, als er begriff, dass gleich eine Rede gehalten werden sollte. Abschlussreden nach einem Diner, war das nicht ein wenig aus der Mode? Wobei sich hier kaum jemand daran stören würde. Sah man von einem Trio junger Journalisten ab, die sich um Bernhard versammelt hatten, lag das Durchschnittsalter über fünfzig.

Hugo ließ seinen Blick über die Tischgesellschaft schweifen. Mehrere der Männer kannte er seit über zwanzig Jahren. Die meisten gehörten der Liga für Menschenrechte an, darunter der gegenwärtige Generalsekretär, Kurt Grossmann, und sein Vorgänger, Lehmann-Rußbüldt. Bei einigen – ihm selbst, Harry Kessler und Heinrich Mann – ging die Mitgliedschaft bis 1914 zurück, als die Liga noch Bund Neues Vaterland hieß. Die meisten waren auch ehemalige Mitglieder der Unabhängigen Sozialdemokraten oder hatten die Partei in ihrer Glanzzeit zumindest offen unterstützt. Hugo lehnte sich zurück und lächelte Bernhard ermutigend zu. Der alte Journalist nahm eine Zigarre aus der Tasche und drehte sie zwischen den Fingern. Nachdem er sie sehnsüchtig betrachtet hatte, legte er sie unangezündet in einen silbernen Aschenbecher. Die Plaudereien an verschiedenen Enden der Tafel waren erstorben und einem erwartungsvollen Schweigen gewichen. Bernhard begann schwungvoll seine Ausführungen. Sein Gesicht wurde lebhaft, während er sprach, und die heisere Stimme senkte sich fast zu einem Grollen, wenn er an wichtigen Stellen in Wut oder Erregung geriet. Es war eine wirkungsvolle Rede, rasch und zügig vorgetragen, obwohl Bernhard nichts sagte, das sonderlich überrascht hätte. Im Wesentlichen ging es darum, dass sie etwas gegen die antidemokratische Stimmung unternehmen mussten, die sich immer weiter durchsetzte. Seit Papen im Juli ohne viel Federlesen die preußische Regierung abgesetzt hatte, angeblich um die öffentliche Ordnung zu verteidigen, lief alles immer weiter aus dem Ruder. Bernhard machte eine Handbewegung in die Richtung von Otto Klepper, eine Reverenz an dessen Status als kürzlich abgesetzter Finanzminister. Nun hatte Papen den Reichstag wieder kurzerhand aufgelöst, hauptsächlich um einem Misstrauensantrag gegen ihn zuvorzukommen. Die Nazis waren mittlerweile die stärkste Partei, und ihre Terrorkampagne schien unaufhaltsam. Je länger die Regierung zögerte einzuschreiten, desto dreister wurden sie. Bernhard rückte seinen Krawattenknoten zurecht, um diese Aussage zu unterstreichen, und beschloss seine kritische Analyse mit einer angewiderten Grimasse.

Sobald er sich wieder gesetzt hatte, schlug Fritze Bernhard den Frauen vor, sich in den Salon zurückzuziehen und die Männer ihren Beratungen zu überlassen. Erst jetzt erschloss sich Hugo, warum erheblich mehr männliche als weibliche Gäste gekommen waren. Ihm dämmerte, dass Bernhard die Zusammenkunft als politische Versammlung konzipiert hatte, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen – ihm zumindest hatte er nichts davon gesagt. Er wechselte einen fragenden Blick mit Kessler, der ebenso verwundert wirkte. Unter den zwölf Männern am Tisch befanden sich zwei ehemalige Finanzminister, ein vormaliger Staatsrat und ein halbes Dutzend führender Berliner Journalisten, darunter Carl Misch und Rudolf Olden, sowie natürlich Bernhard selbst, der mit Theodor Wolff um den Rang des Hohepriesters dieser Sekte wetteiferte. Die Abendeinladung war also nur ein Vorwand gewesen, um einen inoffiziellen Rat von Sozialdemokraten und Pazifisten einzuberufen. Es war klug von Bernhard, sie nicht vorgewarnt zu haben. Sonst hätten einige der Gäste vermutlich abgesagt, darunter auch Hugo selbst.

Bernhard steckte sich seine Zigarre an, und mehrere andere taten es ihm gleich. Bald füllte intensiver Tabakduft den Raum.

»Was wir brauchen, meine Herren, ist eine Lobby. Eine Gruppe, die klein genug ist, um rasch und entschlossen zu handeln, ohne endloses Gezerre um die Vorgehensweise und protokollarische Rücksichten, und doch einflussreich genug, um schlagkräftig zu sein und ihre Position weithin hörbar zu machen. Aus diesem Grunde war ich so frei, diese Versammlung einzuberufen. Zusammen haben wir entscheidenden Einfluss auf die Redaktionslinie der Voss und des Tageblatts sowie erhebliche Mitsprachemöglichkeiten bei der Weltbühne und dem Tage-Buch. Wenn wir unsere Kräfte bündeln, kann es uns gelingen, einen Umschwung der öffentlichen Meinung herbeizuführen.«

Bernhard war wirklich ein kühner Bursche, allzu aggressiv bisweilen und ehrgeiziger, als es der Sache diente, aber sein Feuer hatte etwas Ansteckendes. Er konnte etwas auf die Beine stellen, und seine Entschlossenheit war in ihrem übervorsichtigen Kreis eine rare Qualität. Während die Radikalen auf der Rechten wie auf der Linken verrückt spielten, verloren sich diejenigen, die über Urteilskraft verfügten, in einem Wirrwarr doktrinärer Differenzen und einer allgemeinen Geringschätzung für Politik. Bernhard hatte recht: Sie mussten sich besser organisieren. Hugo verzweifelte inzwischen an der Schwäche und dem wirkungslosen Gehabe der SPD-Führungsriege, die anscheinend glaubte, mit Revolverhelden über die Feinheiten der parlamentarischen Geschäftsordnung diskutieren zu müssen. Er wusste, dass Kessler und Mann seine Ansichten teilten.

»Was schlagen Sie denn nun vor?«

Rußbüldts Frage beschäftigte auch alle anderen, und von seinen Lippen klang sie umso bedeutungsvoller. Bernhard wechselte Blicke mit seinen jüngeren Kollegen am Tisch, insbesondere Grossmann, Misch und Heinz Pol, die still lächelten und die Köpfe neigten. In ihren Augen hatte er allein das Recht, die Beratungen zu leiten. Das war hier eine lupenreine Journalistenverschwörung.

»Einige von uns haben sich schon darüber ausgetauscht, und wir denken, dass die Liga nicht die geeignete Organisation ist, um mit der gegenwärtigen Notlage umzugehen. Wir brauchen ein größeres Maß an Wendigkeit.«

Bernhard nickte Grossmann theatralisch zu, der sein Nicken erwiderte, vermutlich um dem Einwand zu begegnen, dass doch der angemessene Ort für diese Diskussion eine förmliche Versammlung der Liga für Menschenrechte wäre. Bevor die anderen Zeit hatten zu widersprechen, fuhr er fort:

»Wir wollen also eine Organisation ins Leben rufen, die sich der Verteidigung der Redefreiheit verschreibt und Schriftsteller, Künstler, Journalisten und alle anderen zusammenführt, die mit unserer Causa sympathisieren.«

Er hob die Hand und legte eine Kunstpause ein:

»Und wir wollen Heinrich Mann vorschlagen, dieser Organisation vorzustehen.«