Das verschlossene Zimmer - Rachel Givney - E-Book
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Das verschlossene Zimmer E-Book

Rachel Givney

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Beschreibung

Wie viele Geheimnisse erträgt eine Familie?


Krakau, im Frühjahr 1939. Alle Zeichen stehen auf Krieg, denn das Deutsche Reich treibt seine Angriffspläne auf Polen unbarmherzig voran. Die junge Marie aber beschäftigen ganz anderen Fragen: Wer ist ihre Mutter? Warum verschwand sie, als Marie ein Kleinkind war? Und warum verweigert ihr Vater, ein renommierter Arzt, jedes Gespräch über sie? Als sie die Ungewissheit nicht mehr aushält, entschließt Marie sich zu einem drastischen Schritt.


Marie zog eine Haarnadel aus ihrem blonden Haar. Bisher verfügte sie über keinerlei Erfahrungen als Einbrecherin, doch Olaf, ein ortsansässiger Tunichtgut, der zusammen mit ihr in der Straßenbahn zur Schule fuhr, hatte sich ihr gegenüber in dieser Woche damit gebrüstet, dass es ein Leichtes sei, ein Schloss mit einem schmalen Metallstück aufzubrechen. "Einfach nur reinschieben und ein bisschen hin und her ruckeln", hatte er geprahlt.

Marie musterte den Messingdraht und lächelte. In der Regel sahen die Leute in einer Haarnadel nur ein Accessoire, mit dem man seine Frisur bändigen konnte. Marie sah darin etwas anderes - einen Schlüssel.


Als Marie das Zimmer ihres Vaters aufbricht und durchsucht, riskiert sie, dadurch sein Vertrauen zu verspielen. Doch sie hat keine andere Wahl: Sie muss wissen, was aus ihrer Mutter wurde ...


Rachel Givney erzählt eindrucksvoll davon, was eine Familie ausmacht. Ein Roman, der zutiefst bewegt und nachhallt.

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Seitenzahl: 695

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1 - Holzdielen2 - Bakterizid3 - Meine Reisen durch Deutschland4 - Der gruseligste Teil der Bibliothek5 - Alte Freunde6 - Ein Tanzvergnügen für gesunde junge Leute7 - Neue Freunde8 - Sieben Sätze gegen Göring9 - Ich hatte mal ein Pferd wie Sie10 - Die Löslichkeit der Produkte11 - Die Dreiecksnaht12 - Ein Abend in Tracht13 - Vom Rudel verstossen14 - Kleine Stiche15 - Das Reptilienhirn16 - Ein Cousin in Dresden17 - Das schönste kommt unerwartet18 - Ein neuer Name19 - Im Archiv20 - Die dreifache Dosis21 - Lass mich dir das Universum zeigen22 - Das Immergrün23 - Elternliebe ist selbstlose Liebe24 - Die Schwiegermutter25 - EIn verpasstes Frühstück26 - Der verlorene Sohn27 - Die beste Chemikerin der Welt28 - Dominiks neue Assistentin29 - Sie haben es geschafft!30 - Komm, wir spielen fangen31 - Der Zugfahrplan nach Lemberg32 - Ein Drama, das Satan höchstpersönlich entsetzen würde33 - Niemand hat größere Liebe …34 - Die Fotografie35 - Der Nordfriedhof36 - Der Schlächter von Lemberg37 - Würde38 - Das schrumpfende Kind39 - Virtuti Militari40 - Das leichteste Opfer41 - Die Geheimnisse ihres VatersDank

 

Über das Buch

Krakau, 1939. Nur ein Raum im Haus der Karskis ist verschlossen, das Zimmer von Maries Vater Dominik. Gibt es hier eine Antwort auf Maries Frage, warum ihre Mutter vor vielen Jahren verschwand? Heimlich bricht sie ein. Was sie findet, weckt ferne Erinnerungen, erklärt aber nicht, warum ihr Vater jedes Gespräch über ihre Mutter verweigert. Dominik ist Arzt und scheut sich nicht, zum Wohle seiner Patienten neue Wege zu gehen. Gleichzeitig drängt er darauf, Marie zu verheiraten. Nur an der Seite eines Ehemannes ist sie sicher, wenn sein Geheimnis offenbar wird. Dass sie meint, ausgerechnet in Ben den Richtigen gefunden zu haben, schockiert ihn. Denn Ben ist Jude, und auch in Krakau grassiert der Antisemitismus …

 

Über die Autorin

Rachel Givney hat als Drehbuchautorin schon an vielen der beliebtesten australischen TV-Serien mitgewirkt, u. a. bei McLeods Töchter. Nach längeren Aufenthalten in den USA, Großbritannien und Deutschland lebt die gebürtig Australierin heute wieder in Sydney. Für Secrets My Father Kept reiste sie aber mehrfach für Recherchen nach Polen. Die Filmrechte ihres ersten Romans, der Jane-Austen-Komödie Jane in Love, wurden von einem großen Streamingdienst optioniert. Derzeit arbeitet Rachel Givney am Drehbuch hierzu – und an ihrem nächsten Roman.

RACHELGIVNEY

DASVERSCHLOSSENEZIMMER

ROMAN

Übersetzung aus dem Englischenvon Ute Leibmann

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Lübbe Audio erschienen.

Titel der australischen Originalausgabe:

»Secrets My Father Kept«

Für die Originalausgabe:

Text Copyright © Rachel Givney, 2021

First published by Penguin Random House Australia Pty Ltd. This edition published by arrangement with Penguin Random House Australia Pty Ltd via Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022/2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, Köln

  

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

  

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Einband-/Umschlagmotive: © Matilda Delves / Trevillion Images; © Kate Mykhailova / shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2084-7

luebbe.de

lesejury.de

 

Allen Müttern und Ärzten gewidmet, die ich kenne

1

HOLZDIELEN

Krakau, Polen, Februar 1939

Als Marie versuchte, ins Schlafzimmer ihres Vaters einzubrechen, plagte sie das schlechte Gewissen. Wie konnte sie ihn nur derart hintergehen! Ihr alter Herr war ein angesehener Bürger der Stadt, der für sich blieb und achtmal in der Woche zur Kirche ging (täglich in der Früh und sonntags sogar zweimal). Neben der Begeisterung für das heilige Sakrament und einem ausgeprägten Interesse am Fortpflanzungsverhalten von Bakterienstämmen besaß er keinerlei ungewöhnliche Neigungen. Ein derart respektloses Verhalten seiner einzigen Tochter hatte er nicht verdient. Doch Marie konnte das brennende Verlangen, etwas – egal, was – über ihre Mutter herauszufinden, nicht länger unterdrücken, und jener Mittwochnachmittag, an dem der Regen auf das Pflaster vor dem Haus prasselte und herrliche Pfützen entstehen ließ, schien ihr für diesen Vertrauensbruch so gut geeignet wie jeder andere Tag.

Man sieht nur, was man sehen will, hatte Maries Vater ihr immer wieder erklärt. Er gab nur selten väterliche Ratschläge; dieser Spruch blieb sein einziger Ausflug in die Welt der Floskeln. Wenn man einem Individuum oder einer Sache nur eine eng begrenzte Bestimmung einräumte, machte das die Welt gleich zu einem sehr viel beschränkteren und weniger interessanten Ort.

Marie war sich nicht ganz sicher, was ihr Vater mit diesem Ausspruch meinte und warum er ihn so gern verwendete, aber sie würde sich die Redewendung heute zunutze machen, um in sein Schlafzimmer einzudringen. Sie zog eine Haarnadel aus ihrem blonden Haar. Bisher verfügte sie über keinerlei Erfahrungen als Einbrecherin, doch Olaf, ein ortsansässiger Tunichtgut, der zusammen mit ihr in der Straßenbahn zur Schule fuhr – wenn er denn mal dorthin fuhr –, hatte sich ihr gegenüber in dieser Woche damit gebrüstet, dass es ein Leichtes sei, ein Schloss mit einem schmalen Metallstück aufzubrechen. »Einfach nur reinschieben und ein bisschen hin und her ruckeln«, hatte er geprahlt und dann von seinem Zigarillo husten müssen. Marie musterte den Messingdraht und lächelte. In der Regel sahen die Leute in einer Haarnadel nur ein Accessoire, mit dem man seine Frisur bändigen konnte. Marie sah darin etwas anderes – einen Schlüssel.

Sie hatte keine genaue Vorstellung, was sie im Schlafzimmer ihres Vaters finden würde, doch ihr war klar, dass dort irgendetwas sein musste. Briefe oder eine Adresse, unter der ihre Mutter jetzt lebte. Ihr Vater schloss kein anderes Zimmer im Haus ab, nicht einmal sein Arbeitszimmer, wo seine wichtigen Forschungsaufzeichnungen lagen. Eine Tür versperrte man nur, wenn sich etwas Wertvolles dahinter befand.

Während sie die Treppe zu den Räumen ihres Vaters hinaufstieg, hörte sie von draußen ein vertrautes Geräusch, das sich wohl am besten als dumpfes Knallen beschreiben ließ. Frau Nowak von nebenan schichtete mal wieder Sandsäcke auf, einen über den anderen. Die beleibte Dame, kaum einen Meter fünfzig groß, war von der fixen Idee besessen, dass Herr Hitler in den nächsten Tagen einmarschieren würde. Seit drei Jahren schon warnte sie Nachbarn, Freunde und jeden, der ihr zuhörte, dass der Besuch des »Führers« jeden Augenblick bevorstehe. Die Leute schüttelten den Kopf und erklärten sie für verrückt, aber sie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen und errichtete einen Wall vor ihrer Haustür, um sich nachts dahinter zu verbarrikadieren – zusammen mit den anderen Mietern des Hauses, egal ob diese es wollten oder nicht. Tag für Tag verrichtete sie dieselbe Zeremonie und türmte neue Sandsäcke auf, sobald sie derer habhaft werden konnte. Selbst der Regen hielt sie nicht davon ab, ebenso wenig wie ein Sturm es würde. Obwohl Marie das Klatschen der Sandsäcke draußen auf die Nerven ging, verlangte nun ein anderes Vorhaben ihre volle Aufmerksamkeit. Sie stand vor dem Schlafzimmer ihres Vaters und bückte sich, um die Tür genauer zu untersuchen.

Das Schloss befand sich im Türknauf selbst, eine technische Neuerung. Kein anderer Türgriff im Haus besaß ein Schloss, daher vermutete sie, dass ihr Vater es nachträglich eingebaut hatte. Sie zog eine weitere Haarnadel aus ihrer Frisur, denn laut dem Nachwuchskriminellen Olaf bedurfte es zweier Drähte, um ein Schloss zu knacken. Eine Haarsträhne, die sich beim Herausziehen der Nadel gelöst hatte, fiel ihr über das linke Auge und störte ihr Blickfeld. Sie pustete sie weg und schob die Haare hinters Ohr. Sie steckte die beiden Nadeln ins Schloss, zunächst eine in den unteren Teil, dann die andere gleich darüber, und ruckelte mit den beiden Nadeln hin und her, wie Olaf es beschrieben hatte.

Sie ruckelte und ruckelte. Sie ruckelte so stark, dass ihr der Ellbogen wehtat. Nichts geschah. Zwar schien sich der Türknauf etwas zu lockern, aber das Schloss selbst gab nicht nach. Was sollte sie tun? Sie schaute zur Standuhr am Ende des Flurs hinüber. Die Zeiger standen auf kurz vor sechs. Bald würde ihr Vater nach Hause kommen. Sie würde ihr Vorhaben aufgeben müssen. Marie verfluchte sich und die Haarnadeln, in die sie so große Hoffnungen gesetzt hatte, sie verfluchte Olaf wegen seiner nutzlosen Anweisungen und Frau Nowak, die draußen immer noch mit ihrem Wall aus Sandsäcken beschäftigt war. Sie würde es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal versuchen, wenn ihr mehr als ein paar Minuten Zeit blieben, um ihr Vorhaben auszuführen. Sie versuchte, die Nadeln wieder aus dem Schloss zu ziehen. Eine löste sich und fiel ihr in die Hand, die andere dagegen bewegte sich nicht. Marie zog noch einmal, doch das Schloss hielt den Metalldraht wie ein Raubtiergebiss umklammert.

Sie stemmte die Füße in den Boden, packte die Haarnadel und zerrte mit aller Kraft daran. Vor lauter Anstrengung fiel sie rücklings zu Boden, und die Nadel kam frei. Leider löste sich auch der Türknauf, und plötzlich lag die ganze Konstruktion samt Schloss und der noch darin steckenden Haarnadel in Maries Hand. Dort, wo vorher der Knauf gewesen war, klaffte nun ein Loch in der Tür.

Sie sah noch einmal zur Uhr hinüber: Die Zeiger standen auf zwei Minuten nach sechs. Um 6.14 Uhr rechnete sie mit der Rückkehr ihres Vaters, und er war ein sehr pünktlicher Mensch.

Marie überlegte kurz, ob eine Chance bestand, dass er die Tat gar nicht bemerken würde. Er arbeitete als Chirurg in der städtischen Klinik, und seine liebste Freizeitbeschäftigung bestand darin, winzige Organismen unter dem Mikroskop zu untersuchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ein zehn Zentimeter großes Loch in seiner Schlafzimmertür nicht bemerken würde, ging gegen null.

Sie hockte sich hin und wollte den Knauf wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückschieben, als sich die Tür knarrend einen Spalt breit öffnete und sie einen Blick in das dahinterliegende Schlafzimmer ihres Vaters werfen konnte. Durch das Fenster am anderen Ende des Raumes fiel ein Streifen nachmittägliches Licht herein. Schon oft hatte sie sich ausgemalt, wie dieses Zimmer wohl aussehen mochte. Wenn sie nachts im Bett lag, hörte sie manchmal die Dielen knarren und stellte sich vor, was ihr Vater wohl gerade dort drinnen tat. Schrieb er heimlich Briefe an ihre Mutter und flehte sie an zurückzukommen? Sie schaute noch einmal auf die Uhr und huschte dann rasch hinein, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte. Sie würde sich nur kurz umschauen und dann die Tür in Ordnung bringen.

Marie schaute sich im Zimmer um. Holzdielen bedeckten den Boden. Die Bettwäsche verströmte den Duft von Karbolseife, und die Laken schienen von einem ganzen Pfund Stärke in Form gehalten zu werden. Am Kopfende des Bettes thronte ein Kissen, das so unbehaglich wirkte, als hätte ihr Vater es mit Steinen gefüllt. Kein Staubkörnchen verunreinigte die Fensterbänke, kein Krumen Dreck die Bodendielen – hier sah es aus wie in einem Krankenhauszimmer, das unter der Aufsicht einer besonders Furcht einflößenden Oberschwester stand. Marie war enttäuscht, zugleich aber auch ein wenig erleichtert. Insgeheim hatte sie sich schon gefragt, ob sie im Schlafzimmer ihres Vaters womöglich eine Lasterhöhle finden würde, ob er dort drinnen vor einem Altar dem Teufel huldigte oder Akten geheimer Missionen als stalinistischer Doppelagent versteckte. Stattdessen stellte sich heraus, dass er sich im ganz privaten Raum ebenso verhielt wie im öffentlichen: als bescheidener, eher asketischer Mann, der wenige Vergnügungen kannte, die Blusen von Maries Schuluniform ausbesserte, Brot für sie buk und hinter verschlossenen Türen genau so war, wie er nach außen erschien – ein beruhigender, stützender Mensch, dessen Art man wohl auch langweilig hätte nennen können. Seine Korrektheit stand in scharfem Kontrast zu dem offenbar liederlichen Verhalten ihrer Mutter, die allem Anschein nach die Familie aus irgendwelchen selbstsüchtigen Beweggründen verlassen hatte, die nur sie allein kannte.

Ihr Vater schlief in einem Einzelbett. Auf dem Nachttisch stand ein einziges Foto in einem braunen Lederrahmen, das Marie als lächelnde Sechsjährige zeigte. Als hätte sie nicht ohnehin schon ein schlechtes Gewissen gehabt, gab ihr dieses Bild nun den Rest. Anscheinend war Marie die einzige Frau im Leben ihres Vaters – und nun hatte sie ihn hintergangen, indem sie sich Zutritt zu seinem Schlafzimmer verschafft hatte.

An der Wand stand eine Kommode aus stumpfem Rotholz. Marie zog die oberste Schublade auf und durchstöberte Socken und Unterwäsche, die in zwei ordentlichen Reihen eingeräumt waren. Es war ein seltsames Gefühl, die Socken ihres Vaters, die sie bisher immer nur an seinen Füßen gesehen hatte, so aufgerollt zu betrachten. Der Kleiderschrank enthielt steif gestärkte Kleidung und ein Ersatzkorsett, das ihr Vater tragen musste, um eine Skoliose zu korrigieren, die er sich in Kindertagen zugezogen hatte. Im Schuhfach standen zwei Paar Lederschuhe, die zu einem bescheidenen Glanz poliert waren.

Marie legte alles, was sie angefasst hatte, wieder an seinen Platz zurück. Das war nicht schwierig, denn ihr Vater hatte die Sachen mit geradezu mathematischer Präzision geordnet. Deshalb konnte sie alles genau so hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatte. Sie fragte sich, weshalb ihr Vater sich überhaupt die Mühe machte, die Tür abzuschließen. Hier gab es nichts, was sich zu verbergen lohnte.

Doch dann berührte ihr Fuß eine Bodendiele, auf die sie zuvor noch nicht getreten war, und es knarrte unangenehm laut. Sie hielt inne. Dann trat sie noch einmal auf die Diele. Sie schien lose zu sein. Marie eilte ins untere Stockwerk und holte ein Buttermesser, um das Brett hochzustemmen. Es ließ sich mühelos anheben. Sie legte es zur Seite und spähte in das Loch, das sich am Boden aufgetan hatte. Unter ihr befand sich ein größerer Hohlraum, aber im Dunkeln war nichts zu erkennen. Ihr Atem ging schneller. Sie fasste mit der Hand hinein, und warme, trockene Luft kribbelte auf ihrer Haut. Sie tastete ungelenk umher und schob den Arm tiefer in das Loch.

Sie ließ den Arm kreisen und befühlte den Untergrund. Ihre Finger zuckten zurück, als sie die watteähnliche Textur von Spinnweben berührte. Angeekelt zog sie den Arm wieder heraus und stellte fest, dass ihre Hand mit weißen Fäden überzogen war.

Sie wischte die Spinnweben an ihrem Rock ab, biss die Zähne zusammen und schob die Hand noch einmal energisch unter die Dielen. Schaudernd malte sie sich aus, dass irgendwo dort unten die Bewohnerin des Spinnennetzes lauerte, und wollte die Hand gerade wieder zurückziehen, als ihre Finger einen rechteckigen Gegenstand berührten. Sie klopfte mehrmals dagegen, vergewisserte sich, dass er nicht lebte, und zog ihn dann aus dem Hohlraum hervor.

Sie betrachtete den Gegenstand in ihrer Hand von allen Seiten. Es war ein kleiner Schmuckkasten, bezogen mit verblichenem kastanienbraunen Samt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals: Diese Schatulle gehörte einer Frau.

Sie wollte sie öffnen, zögerte dann aber. Wollte sie wirklich wissen, was sich darin befand? Die Holzdiele, das Schloss – auf einmal ergab alles einen Sinn. Dann hörte sie plötzlich von unten ein wohlbekanntes Geräusch, das sie zusammenfahren ließ. Ein Schlüssel, ein richtiger Schlüssel, wurde in ein anderes Schloss geschoben. Sie hörte, wie ihr Vater die Vordertür öffnete und das Haus betrat.

»Marie?«, rief er.

Marie schien das Blut in den Adern zu gefrieren. Sie schob das braune Kästchen in die Rocktasche, legte die Bodendiele wieder an ihren ursprünglichen Platz und verließ fluchtartig das Zimmer.

Der Türknauf lag immer noch am Boden. Entsetzt zog sie die Luft ein. Tatsächlich bestand er aus zwei Teilen, was ihr zuvor nicht aufgefallen war. Das eine Teil war der Knauf, der nach außen zeigte, das andere der entsprechende Gegenpart von der Innenseite der Tür.

»Marie?«, rief ihr Vater wieder.

Sie musste irgendetwas antworten. »Ich komme gleich, Papa«, rief sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit.

»Ich will dir etwas zeigen!« Aus der Küche erklang das Klappern von Töpfen. Marie flehte ihren Vater im Stillen an, bloß dort unten zu bleiben.

»Ich bin gleich bei dir, Papa«, versicherte sie. Die Chancen standen nicht gut, dass sie diese Situation unbeschadet überstehen würde. In der Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters klaffte ein Loch. Und dafür gab es keine andere vernünftige Erklärung als die Wahrheit.

Marie fragte sich, was geschehen würde, wenn er bemerkte, dass sie sich Zutritt zu seinem privaten Bereich verschafft hatte. Sie hatte ein so gutes, von Warmherzigkeit geprägtes Verhältnis zu ihrem Vater wie wohl nur wenige Mädchen in der Stadt. Dominik Karski kümmerte sich liebevoll um seine Tochter und umsorgte sie. Er beschäftigte sich in einer Weise mit ihrer Ernährung und ihrem Wohlbefinden, die weit über seine Berufsehre als Arzt hinausging und schon an übertriebene Besorgtheit grenzte. Jedes Mal, wenn sie über Kopfschmerzen klagte oder Krankheit vorschützte, holte er gleich sein Stethoskop hervor und hörte sie ab, untersuchte minutenlang ihre Atemgeräusche und Herztöne, bis es selbst Marie zu langweilig wurde. Wie immer stellte er dann die Diagnose, dass sie bei bester Gesundheit sei, und sammelte die Aufzeichnungen ihrer tadellosen Vitalfunktionen in einer Heftmappe. Sie stellte sich seine Miene vor, wenn er entdeckte, dass sie in sein Schlafzimmer eingedrungen war. Ihr liebenswerter, großherziger Vater. Er würde keinen Zorn zeigen, sondern etwas weitaus Schlimmeres: Er würde enttäuscht aussehen. Der Gedanke ließ sie schaudern – das durfte einfach nicht passieren.

Sie hob die beiden Einzelteile des Türknaufs auf und betrachtete sie. An dem einen Teil hingen zwei lose Schrauben. Sie hatte nicht etwa das Schloss aufgebrochen, sondern die ganze Konstruktion aus der Tür gerissen. Sie schob die beiden Knäufe an ihre ursprüngliche Position zurück, so gut es ging, und schraubte sie mit dem Buttermesser zusammen.

»Der heilige Bartholomäus ist fertig! Das wurde auch langsam Zeit!«, rief ihr Vater aus dem Untergeschoss. Marie fuhr zusammen und ließ das Messer fallen. Das Geklapper der Töpfe unten hörte auf. Sie schluckte. Während er weiter von der Kirche erzählte, wurde seine leise Stimme lauter, die Schallwellen kürzer. Ihr Vater kam die Treppe herauf. Maries Hände schwitzten, und sie fluchte leise, denn sie hatte erst eine Schraube festgedreht. Sie hob das Messer auf und begann die zweite festzuschrauben, aber da tauchte ihr Vater bereits am Ende der Treppe auf. Marie fuhr hoch und stopfte die Schraube in die Tasche.

Doch er schaute gar nicht sie an, sondern nur das Faltblatt in seiner Hand. Er reichte es ihr. »Bitte schön.« Das Blatt informierte über die Fertigstellung eines Fensters in der Kirche, die sie und ihr Vater immer besuchten. Ein Foto zeigte eine kunstvolle Buntglasdarstellung des heiligen Bartholomäus, wie er bei lebendigem Leibe von seinem Henker gehäutet wurde. Obwohl sich die Haut in blutigen Spiralen löste wie Rinde von einem Baum, war das Gesicht des Heiligen heiter und abgeklärt, und er schaute mit verzücktem Lächeln empor zu Gott. Marie bemühte sich, eine ähnliche Gelassenheit auszustrahlen.

»Halleluja«, sagte sie und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. »Die haben sich auch lange genug Zeit gelassen.«

»Es hätte sogar noch länger dauern können«, erwiderte ihr Vater. Er gehörte dem Komitee an, das sich um die Fertigstellung des Fensters kümmerte, und hatte zusammen mit Stadtverwaltung und Priestern an zahlreichen Besprechungen teilgenommen. Marie musterte sein Gesicht, um festzustellen, ob er ihr Vergehen entdeckt hatte, aber sein Blick blieb auf die Abbildung des gehäuteten Heiligen gerichtet, und seine Stimme behielt die übliche ruhige, leise Tonlage. »Was ist denn das?«, fragte er plötzlich und deutete auf Maries Seite. Ihr wurde flau. Der Augenblick war gekommen – er hatte sie ertappt. Doch seine Hand blieb oberhalb ihrer Rocktasche und fasste nach ihrem Blusenärmel.

»Erdbeermarmelade«, erwiderte Marie mit mühsam verhohlener Erleichterung. Sie hatte sich irgendwann vorhin den Mund an der Manschette ihrer Bluse abgewischt. »Tut mir leid, Papa.«

Ihr Vater teilte ihr mit, dass es wie immer um sieben Uhr Abendessen geben würde, und da er sagte, er wolle die Bluse mit dem Erdbeerfleck über Nacht einweichen, ging sie in ihr Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihr gelungen war, ungestraft davonzukommen. Sie wartete immer noch darauf, dass ihr Vater jeden Moment hereinkommen und sie des Einbruchs beschuldigen würde. Bestimmt würde er die fehlende Schraube bemerken. Oder irgendetwas anderes, das sie nicht wieder an den richtigen Platz zurückgelegt hatte. Aber er kam nicht. Mit einem erleichterten Seufzer zog sie die Bluse aus.

Dann holte sie das kastanienbraune Kästchen hervor, das ihr während des Gesprächs mit ihrem Vater die ganze Zeit in der Tasche gebrannt hatte. Sie würde schon eine Möglichkeit finden, es irgendwann wieder in das Zimmer des Vaters zurückzulegen, doch im Augenblick interessierte sie nur, was darin war. Sie betrachtete die kleine Schatulle, drehte und wendete sie und versuchte dann, sie zu öffnen. Der Deckel war fest verschlossen, zwar nicht mit Kleber, aber mit irgendetwas anderem. Sie zog noch einmal, diesmal fester, und der Deckel ließ sich öffnen.

Ihr Blick fiel auf ein Bündel Haare.

Sie nahm es heraus. Das Haar ähnelte in der Farbe ihrem eigenen gelbblonden, es war allerdings viel länger und dicker. Ihre Haare konnten es nicht sein, denn sie waren niemals so lang gewesen. Diese Haare waren nicht auf einem Kinderkopf gewachsen. Es waren keine weichen, dünnen Locken, wie sie Eltern nach dem ersten Haarschnitt eines Kindes aufhoben, sondern dicke blonde Strähnen, die zu einem festen Zopf geflochten waren, schwer wie Tauwerk. Und irgendjemand hatte den Zopf eingerollt und in das Kästchen gestopft. Dieses Haar stammte vom Kopf einer erwachsenen Frau.

Ihr schwindelte bei der Vorstellung, dass sie ein Teil von irgendjemandem versteckt unter den Bodendielen ihres Vaters gefunden hatte. Abgeschnittene Haare ohne den dazugehörigen Kopf – selbst Babyhaare – hatten etwas Abstoßendes. Obwohl sie Ekel empfand, verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, den Zopf zu berühren und daran zu riechen. Sie schwelgte geradezu in ihrem Abscheu – es war ähnlich wie der Drang, sich im Schlamm zu wälzen oder an verdorbener Milch zu riechen, nur um etwas bisher Unbekanntes zu erfühlen. Sie rieb die Haare zwischen ihren Fingern. Die Strähnen gaben nach und teilten sich. Staubkörnchen rieselten ihr in den Schoß. Ein wunderbarer Duft nach Rosenwasser stieg empor und verzauberte die Luft. Der süße, frische Duft von Rosenblättern führte sie zurück in die Zeit, als sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hatte – nun erinnerte sie sich, dass sie nach Rosenwasser gerochen hatte. Eine der wenigen Erinnerungen an sie, die Marie noch hatte. Sie holte tief Luft, als ihr der Zusammenhang klar wurde.

Diese Haare hatten ihrer Mutter gehört.

Marie war, als hielte sie ihre Mutter lebendig in den Händen. Wenn sie noch einmal an den Haaren roch, würde sie sie lachen hören. Plötzlich fühlte sie sich unvollständig, wie ein halber Mensch, dem ein Stück seiner Selbst vom Leib getrennt worden war. Marie war Linkshänderin, ihr Vater schrieb mit der Rechten. Wer war diese Linkshänderin, die die Hälfte ihrer Erbanlagen an Marie weitergegeben, die fünfzig Prozent von ihr erschaffen hatte? Maries Finger waren ganz anders geformt als die ihres Vaters. Ihre Nägel waren länglich und liefen in eleganten Halbmonden aus, während die seinen quadratisch und rechtwinklig im Nagelbett saßen. Hatte sie die Finger ihrer Mutter? Und es gab noch tiefergehende Eigenschaften als Fingernägel und Händigkeit. Marie ähnelte ihrem Vater einfach nicht, weder vom Aussehen noch vom Charakter. Während er niemals laut wurde, verlor Marie rasch die Geduld und schrie. Sie lachte gern und viel, wohingegen ihr gutmütiger, aber freudloser Vater niemals lächelte. Er war ein tiefes Wasser, ein tausendjähriger See, dessen Oberfläche sich niemals kräuselte. Marie lebte wie ein Feuer, das sich seinen Weg durch den Wald brannte. Manchmal betrachtete sie ihn und fragte sich, ob sie ihn überhaupt kannte. Sie sehnte sich danach, den Menschen zu treffen, der ihr sein Feuer verliehen hatte.

Marie war kaum zwei Jahre auf der Welt gewesen, als ihre Mutter fortging. Sechzehn Jahre lang hatte ihr Vater die Geschichte aufrechterhalten, dass die Mutter sie aus unbekannten Gründen verlassen hätte. Mehr Worte verlor er über dieses Thema nicht, und bohrende Fragen führten nur dazu, dass er sich ganz verschloss. Warum hatte er das Haar seiner Frau die ganzen Jahre über aufgehoben? Er war Marie nie als romantisch veranlagter Mensch erschienen. Sehnte er sich insgeheim nach ihrer Mutter? Liebte er sie noch?

Sie wischte die Tränen weg, die sich in einem Auge bilden wollten, rollte den Zopf ein und packte ihn in das Kästchen zurück. Dann drückte sie den Deckel fest zu.

In der folgenden Nacht öffnete sie das Kästchen noch dreimal, roch an den Haaren und befühlte die einzelnen Strähnen. Am nächsten Tag, während ihr Vater noch bei der Arbeit war, brachte sie die Haare an den ursprünglichen Platz unter den Bodendielen zurück und reparierte die Tür zu seinem Zimmer.

Marie war dort in der Hoffnung eingedrungen, irgendwelche Informationshäppchen zu finden, die ihr erlaubten, den Nachbarn mitzuteilen, dass die Mutter sie aus gutem, rechtschaffenem Grund verlassen hatte. Wie gern hätte sie den Makel getilgt, den ihr Verschwinden auch bei Marie selbst hinterlassen hatte. Doch nun hatte sie etwas gefunden, das einmal ihrer Mutter gehört hatte, und das stillte nicht etwa Maries Wunsch, in den Augen der Leute als anständig zu gelten, sondern rief ein neues Verlangen hervor, das hundert Mal stärker war. In ihr hatte sich plötzlich eine tiefe Höhle der Sehnsucht aufgetan, sie hatte ein Ungeheuer freigesetzt. Der überraschende Fund der Haare – eigenartig und makaber zugleich – änderte alles. Nichts konnte je wieder so werden, wie es vorher war. Nun war es für sie nicht mehr so wichtig herauszufinden, warum die Mutter sie verlassen hatte, sondern es ging ihr vor allem darum, sie ausfindig zu machen.

Hätte Marie Karska in diesem Moment geahnt, was sie im Laufe des Jahres 1939 alles erfahren würde, hätte sie es sich womöglich anders überlegt. Aber in diesem Augenblick war sie sich einer Sache sicher: Sie würde nicht eher aufhören zu suchen, bis sie herausgefunden hätte, was mit ihrer Mutter geschehen war.

2

BAKTERIZID

In nahezu sechs Monaten hatte Dominik Karski keinen einzigen Patienten verloren, was in dem Krankenhaus, in dem er arbeitete, einem Rekord gleichkam. Die Stadt Krakau, wo er lebte, war berüchtigt für ihre hohe Zahl an Todesopfern, denn sie wurde von allen verbreiteten Seuchen und Krankheiten ebenso heimgesucht wie von einigen selteneren. Außerdem bestand ein Gutteil der Bevölkerung aus Bauern, die keinen Zweikampf mit ihren Erntegeräten ausließen. Trotzdem hatte es Dominik 174 Tage lang geschafft, nicht eine der Seelen zu verlieren, die sich in seiner Obhut befunden hatten. Das war eine außerordentlich lange Erfolgsserie. Mittlerweile schlossen die Krankenschwestern sogar Wetten ab, wie lange diese Glückssträhne noch anhalten würde, und sammelten Einsätze wie bei einer Lotterie. Als Dominik nun aber das Kind im Bett und die verzweifelte Mutter daneben sah, befürchtete er, dass es bald zu einer Ausschüttung des Wetteinsatzes kommen würde.

Der Junge lag matt im Krankenhausbett, und seine Mutter wischte ihm zitternd mit einem Flanelllappen die Stirn. Schwester Emilia hatte Dominik aus der Visite geholt und ihn zur Kinderstation geschleppt. »Wir dachten, Sie sollten sich das vielleicht mal anschauen, Herr Doktor«, murmelte sie und wich seinem Blick aus, vielleicht weil es ihr unangenehm war, seine Erfolgsserie nun zu beenden.

Dominik trat ans Bett des Jungen und schob sich die Brille auf dem Nasenrücken hoch. Da das Kind flach im Bett lag, hockte er sich hin. »Wie heißt du, junger Mann?«

Schlaff wandte der Junge ihm den Kopf zu und erwiderte mit düsterer Stimme: »Daniel.« Seine Luftröhre war voller Schleim. Beim Sprechen stieg ein fauliger Geruch aus seinem Mund. Doch Dominik wich nicht vor dem Atem zurück, sondern beugte sich näher zu dem kranken Kind und atmete durch die Nase ein, um die Art der Infektion genauer einzugrenzen.

»Darf ich mal deine Lunge abhören, Daniel?« Das Kind nickte. Dominik griff nach dem Stethoskop, das er um den Hals hängen hatte, öffnete das Nachthemd des Jungen und musterte seinen Oberkörper. Eine Gestalt, zart wie ein Vogelgerippe, aus dem sich ein ballonartiger Bauch hervorblähte. Über den vorspringenden Schlüsselbeinen spannte sich dünne Haut, die Rippen ragten gut sichtbar empor wie ein Zeltgewölbe. Ihre Form erinnerte Dominik an eine Zeit in seinem Leben, die er glücklicherweise lange hinter sich gelassen hatte.

Er hauchte gegen das Bruststück des Stethoskops, um es zu erwärmen, dann schob er es unter das Hemd des Jungen und forderte ihn auf, tief einzuatmen. Das tat Daniel ohne große Mühe, aber beim Ausatmen verzog er schmerzvoll das Gesicht. Dominik hörte sich das Geräusch genau an. Der Atem eines gesunden Menschen hallt wider und rauscht, was zeigt, dass die Luft die Atemwege ungestört passieren kann. Die Atmung dieses Kindes klang vollkommen anders: Sie prasselte wie Reifen über einen Schotterweg. Man weiß das Glück einer mühelosen Atmung erst zu würdigen, wenn sie einem genommen wird. Für diesen Jungen musste sich jedes Luftholen anfühlen, als würde er durch ein nasses Tuch atmen.

Jeder Arzt ist auf die Zeichen des nahenden Todes vorbereitet, und es sind stets dieselben: Die Atmung wird schneller und flacher, Gliedmaßen und Eingeweide erschlaffen. Und ein weiteres, weniger greifbares Zeichen, das allein den Säugetieren eigen ist: Der Blick geht ins Leere und zeigt, dass der Körper zur Kapitulation bereit ist – ein Stimmungswechsel, das Eingeständnis, dass das Leben nun gehen will. Anders als gemeinhin angenommen, gehen die meisten Sterbenden leicht. Sie lassen keinen Zorn erkennen, sondern fügen sich ins Unvermeidliche. Dieses Kind hingegen zeigte alle Posten der Einkaufsliste des Todes außer dem einen. Statt ins Leere zu starren und demütig auf den Tod zu warten, wollte dieser kleine Junge offenbar keineswegs gehen. Sein Blick signalisierte keine sanfte Hingabe, vielmehr starrten zwei dunkelblaue Augen, rund wie Murmeln und farbkräftig wie das Gefieder eines Blaukehlchens, Dominik rebellisch an. Seine Augen wanderten wütend und verzweifelt über sein Gesicht und zeigten keinerlei Bereitschaft, ins Jenseits zu gehen. Kurz schaute der Junge trotzig an Dominiks Schulter vorbei, als stünde dort der Tod persönlich in seinem Kapuzenmantel und würde seine Sense schwenken – Nein, heute holst du mich nicht!, dachte er wohl –, dann wandten seine Augen sich wieder in zorniger Verzweiflung an Dominik, als wollte er ihn zu einem Pakt auffordern. Hilf mir, schien er zu sagen. Versuch alles. Dieser bohrende Blick des Kindes, selten genug in einer solchen Situation, brachte Dominik derart aus der Fassung, dass er sich zum Handeln genötigt sah.

»Zeig mir mal, ob du dich aufsetzen kannst, junger Mann«, forderte Dominik ihn auf.

Daniel sah ihn unsicher an.

»Er ist erschöpft, Herr Doktor«, sagte die Mutter.

Ihm war klar, dass es paradox erschien, einen Sterbenden zum Hinsetzen aufzufordern. »Ich weiß, das ist anstrengend. Aber du bist doch ein starker Kerl, oder? Ich wette, du kannst ganz schnell rennen und hoch springen?«

Bei der Anspielung auf seine Sportlichkeit nickte der Junge und versuchte, sich in eine sitzende Position zu bringen. Seine dünnen Ärmchen wackelten und zitterten, er schwitzte vor Anstrengung – es gelang ihm nicht. Er schob die Zunge in den Mundwinkel und versuchte es noch einmal. Mit eiserner Anstrengung stemmte er sich auf seine Ellbogen und richtete sich schließlich auf. Beifall heischend schaute er Dominik an.

»Ein ganzer Kerl!«, sagte Dominik. Die Atmung des Kindes verbesserte sich schlagartig, ein klareres, trockeneres Atemgeräusch löste das schwere, feuchte Rasseln ab. »Schwester, Fowler-Lagerung!« Schwester Emilia eilte ans Bett und brachte das Kopfende in eine 45-Grad-Neigung, sodass der Junge aufrecht sitzen blieb.

Die Mutter des Jungen, die Schwester Emilia als »Ruth« angesprochen hatte, lächelte glücklich.

Angesichts des kleinen Fortschritts erlaubte sich Dominik ein kurzes Nicken, wandte sich dann aber wieder seinem Patienten zu, denn die Lösung würde nicht von Dauer sein. Die infektiöse Flüssigkeit, die sich nun am Grund seiner Lunge sammelte, würde rasch zunehmen und ohne eine weitere Behandlung das ganze Organ überschwemmen. Der Patient würde gleichsam in seinen eigenen Körperflüssigkeiten ertrinken.

»Das hat doch keinen Zweck. Ein aussichtsloser Fall«, verkündete eine Männerstimme hinter ihm. Dominik kannte die Stimme und verkniff sich ein Seufzen. Igor Wolanski näherte sich mit wütendem Gesicht und schwellender Stirnader. »Er hat die Influenza, in fortgeschrittenem Stadium«, sagte er. Bei diesem Wort erschauderte Daniels Mutter, als hätte er geflucht oder Gott gelästert. Eine ganze Generation von Polen war dieser Seuche erlegen. »Das wird ihn umbringen«, fügte Wolanski unnötigerweise hinzu. »Da kann man nichts mehr machen. Warum setzen Sie ihn aufrecht hin? Er sollte liegen, damit er in Frieden sterben kann. Das hier ist meine Station, und das ist mein Patient. Gehen Sie auf Ihre eigene Station zurück, Dominik.«

Dominik arbeitete als Chirurg, aber immer öfter forderte man seine Hilfe bei Infektionen an. Aus einer Wundnaht konnte sich binnen weniger Stunden eine Sepsis entwickeln, wenn sie nicht richtig versorgt wurde. Er hatte sich auf diesem Feld zu einer Art Fachmann entwickelt, und die Schwestern der Infektionsstation – ja, eigentlich von jeder Station – baten ihn häufig, sich ihre Patienten anzuschauen. Oftmals untersuchte er auch die von Staphylokokken oder Streptokokken geplagten Patienten auf der Station für Geschlechtskrankheiten, der Lungenstation und gelegentlich eben auch auf der Kinderstation.

Hier jedoch betrachtete sich Wolanski als ausgewiesener Experte, er war der Kinderarzt, und Dominik war in sein Revier eingedrungen. Ein anderer Arzt hätte sich wahrscheinlich für die Hilfe bedankt. Nicht so Wolanski. Die Situation würde wohl in einem Machtkampf enden.

»Was wurde bisher verabreicht?«, fragte Dominik die Schwester, ohne Notiz von seinem Kollegen zu nehmen.

»Laudanum. Vier Tropfen«, erwiderte sie.

Dominik schwieg. Eine derartige Menge Opiumtinktur hätte selbst einen Erwachsenen niedergestreckt.

»Das Laudanum hat seinen Husten gestillt«, sagte Wolanski scharf. »Und die Schmerzen. Kein Kind sollte leiden müssen. Ich verwehre mich dagegen, meine Entscheidungen zu rechtfertigen«, fügte er hinzu, womit er eben dies tat.

»Schmerz kann sehr nützlich sein«, erwiderte Dominik mit einem Nicken und deutlich sanfterer Stimme. »Er zeigt uns, dass etwas nicht in Ordnung ist. Auch der Husten ist wichtig. Er reinigt den Körper von Giftstoffen.« Er sprach in dem leisen, ruhigen Tonfall, den er gegenüber Wolanski immer an den Tag legte, bemüht, ihn nicht zu verärgern. »Ihrer ersten Aussage stimme ich voll zu, den anderen dagegen nicht, bei allem Respekt.«

Wolanski starrte Dominik wütend an.

»Vielleicht sollten wir diese Unterhaltung unter vier Augen weiterführen«, schlug Dominik mit einem Seitenblick auf die Mutter des Jungen vor, die das Streitgespräch erwartungsvoll beobachtete.

»Auf keinen Fall«, erwiderte der Kinderarzt. »Meine Diagnose und Behandlung sind korrekt. Wenn es Ihnen an Wissen und Erfahrung auf diesem Gebiet mangelt, dann ist das Ihr Problem.«

»Wie Sie möchten.« Dominik rückte seine Brille zurecht und setzte das Gespräch am Krankenbett des Kindes fort. »Ihr kleiner Patient hat eine fortgeschrittene Influenza. Aber es ist nicht die Influenza, die ihn umbringen wird. Und man kann etwas dagegen tun.«

Wolanski lachte. »Sie wollen mir weismachen, dass die Influenza nicht tödlich ist? Dass diese Seuche, die ein Viertel unserer jungen Soldaten – unsere besten und stärksten Männer – im Großen Krieg dahingerafft hat, nicht tödlich ist?« Er hielt häufiger solche Reden und warf dabei mit Statistiken und historischen Anspielungen um sich, als sei er kein Arzt, sondern ein Politiker, der sich ans Volk wandte und für ein öffentliches Amt bewarb.

»Die Influenza allein ist selten tödlich«, entgegnete Dominik. Diese Behauptung löste üblicherweise Hohn und Spott aus, und auch diesmal gab es keine Ausnahme. Dr. Wolanski lachte mit ironischer Missbilligung, während die Mutter des Jungen Dominik anstarrte, als wäre er plötzlich verrückt geworden. Sogar Daniel auf seinem Krankenbett hob fragend eine Augenbraue. »Dieser Junge wird nicht an Influenza sterben. Aber er stirbt.«

Wolanski verschränkte die Arme. »Woran wird er denn dann sterben?«

»An einer Lungenentzündung.« Dominik blickte die anderen Anwesenden an. Da niemand etwas sagte, fuhr er fort: »Das Influenzavirus hat sein Immunsystem angegriffen und geschwächt. Opportunistische Bakterien haben die Gelegenheit genutzt und sich in seiner Lunge angesiedelt.«

Wolanski winkte ab. »Na gut, dann hat er eben auch noch eine Lungenentzündung. Was macht das für einen Unterschied – eine Lungenentzündung ist ebenso tödlich wie die Influenza. Dagegen gibt es keine medikamentöse Behandlung. Bald wird er tot sein.«

Wolanski hatte das deutsche Wort »tot« verwendet, und Dominik ärgerte sich über die Angewohnheit des Kinderarztes, immer mal wieder deutsche Wörter in seine Argumentationen zu streuen. Wolanski bewunderte die gegenwärtige Gesundheitspolitik im Deutschen Reich und ihre Maßnahmen, die man jedoch auch als gesellschaftsfeindlich bezeichnen konnte.

»Ich habe eine Behandlung gegen Lungenentzündung«, erwiderte Dominik.

»Wie bitte?«, fragte Wolanski.

»Ein neues Medikament.« Dominik schaute zu Boden. »Ich habe es selbst entwickelt.«

Nun brüllte Wolanski vor Lachen. »Hier ist Ihr Retter, gnädige Frau!«, sagte er zu Ruth. »Ein verrückter Wissenschaftler, der in seinem Hinterzimmer Zaubertränke anrührt! Hören Sie nicht auf ihn, hier können wir nichts mehr tun. Ersparen Sie Ihrem Jungen lieber unnötige Schmerzen.«

Dominik schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, Doktor, aber wenn wir den bisherigen Kurs weiterverfolgen, wird das Kind sterben.«

Wolanski richtete sich weiter an die Mutter des Kindes. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen, gute Frau. Wollen Sie die Behandlung fortführen, die Ihr behandelnder Arzt eingeleitet hat und die seit Jahrzehnten zur Schmerzlinderung eingesetzt wird? Oder soll dieser Verrückte mit seinem Zaubertrank Ihrem Sohn noch weiteres Leiden zufügen?«

Dominik sah, wie sie unschlüssig von einem Arzt zum anderen blickte. Ginge sie allein nach der äußeren Erscheinung, dann war es wohl keine Frage, wie sie sich entscheiden würde. Dominik hätte als Kinderarzt kaum bestehen können; er kannte keine Witze, und sein ernster Gesichtsausdruck konnte die Milch sauer werden lassen. Er war von kleiner, drahtiger Gestalt und trug ein sperriges Brillengestell mit dicken Gläsern. Außerdem lächelte er nie. Er sah aus wie jemand, vor dem Mütter ihre Kinder warnen – ein Bösewicht aus dem Märchen, ein Kinderfänger.

Sein Kollege dagegen besaß eine oberflächliche Fröhlichkeit. Solange man ihn nicht gut kannte, konnte man ihn ohne Weiteres für einen Retter der Kinder halten. Dr. Wolanskis Wangen leuchteten rosig, sein Gesicht war beinahe kreisrund. Seine Arme und die ganze Statur waren angenehm pummelig und strahlten Gemütlichkeit aus. Ein buschiger blonder Haarschopf zierte seinen Kopf, und hätte er sich den Bart länger wachsen lassen, wäre er eine ideale Besetzung für den heiligen Nikolaus gewesen. Ginge man allein nach dem Äußerlichen, lief es auf eine Entscheidung zwischen einem Kinderfänger und dem Nikolaus hinaus, und Dominik hätte es niemandem ernsthaft verübeln können, sich für Letzteren zu entscheiden. Zum Unglück für die Mutter würde dieser Nikolaus ihr Kind allerdings mit Opium einschläfern, während der Kinderfänger wenigstens versuchen wollte, ihm das Leben zu retten.

Daniels Mutter schaute Wolanski an, dann ging ihr Blick zu Dominik und wieder zurück. »Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte sie schließlich an Wolanski gewandt. Sie sprach mit leiser, bescheidener Stimme. »Wir können Ihnen niemals zurückzahlen, was Sie für uns getan haben.« Dominik erkannte den Tonfall nur zu gut – das war die wohlkalkulierte Bescheidenheit einer Frau, die ein klares Ziel verfolgte. »Ich bin bloß die Tochter eines Flickschusters«, sagte sie. »Ich würde es gern mit dem Zaubertrank versuchen.«

Wolanskis Gesicht lief puterrot an. Er atmete tief ein und wieder aus, dann nickte er. Es war, als sei ein Sturm kurz durch ihn hindurchgefegt und dann genauso schnell vorübergezogen, wie er gekommen war. So verhielt er sich oft, fahrig, in einem Augenblick von einem Thema besessen, im nächsten schon wieder einem neuen zugewandt, als wäre nichts geschehen. »Arme Frau. Sie wissen ja nicht, was Sie tun. Ich bete für die Seele Ihres Kindes.« Er murmelte Dominik missvergnügt zu: »Dann sei es so. Sie werden den Tod des Kindes zu verantworten haben.« An die Schwester gewandt sagte er deutlich lauter: »Schwester, nun, wo dieser Fall nicht mehr unter meine Verantwortung fällt, achten Sie bitte darauf, dass auf dem Totenschein als Ursache eingetragen wird: Mord, verursacht durch Doktor Karski.«

Dominik spielte kurz mit dem Gedanken zu erwähnen, dass auf einem Totenschein normalerweise kein Platz vorgesehen war, wo der Name des Mörders vermerkt wurde, hielt dann aber seine Zunge im Zaum. Wolanski stürmte durch den Flur davon und stieß unterwegs gegen einen Rollwagen mit medizinischem Besteck, woraufhin metallisches Klappern über die ganze Station hallte.

Fairerweise musste man einräumen, dass Dominik gegenüber Wolanski in zweierlei Hinsicht im Vorteil war: Erstens hatte er vor langer Zeit schon viele ähnlich gelagerte Fälle gesehen. Und zweitens hatte Dominik in den letzten elf Jahren eine heimliche Liebschaft mit Bakterien unterhalten, diesen noch gar nicht so lange entdeckten Organismen, die kleiner waren als ein Stecknadelkopf, aber einen Elefanten niederstrecken konnten. Er bewunderte ihre Fähigkeiten und untersuchte ihre eigentümlichen Bewegungen über Gewebegrenzen hinweg, entlang der Arterien und Venen. Manchmal unterhielt er sich sogar in seinem Labor mit ihnen, wenn die Schwestern nach Hause gegangen waren. »Du bist mir ein schlaues Bürschchen«, sagte er dann zu einer grampositiven Staphylokokkenzelle.

Die Schwester beugte sich zu ihm hinüber. »Was haben Sie vor, Doktor Karski?«

»Ich werde ihm eine Medizin geben«, erwiderte Dominik mit zitteriger Stimme.

»Eine, die Sie selbst hergestellt haben?«

Er nickte.

»Woraus haben Sie sie gemacht?«

»Aus Schimmel.« Er räusperte sich.

»Schimmel?«, wiederholte die Schwester, als ob die Äußerung durch bloße Wiederholung rückgängig gemacht werden könnte. »Sie wollen dem Kind Schimmel injizieren?« Sie starrte ihn fassungslos an.

»Holen Sie das Fläschchen mit dem gelben Etikett aus dem Kühlschrank. Ziehen Sie 390 mg auf.« Er prüfte die Größe des Kindes und überlegte kurz. »520 mg. 26 G-Kanüle.«

Schwester Emilia seufzte und machte sich auf den Weg durch den Flur.

Genau wie wohl jeder andere Arzt in Europa hatte Dominik die Abhandlung des Schotten Alexander Fleming gelesen, in der dieser beschrieb, wie man Bakterien mithilfe von Schimmel abtöten konnte. Die meisten hatten den Aufsatz achtlos beiseitegelegt, doch Dominik hatten Flemings Ausführungen in ihren Bann geschlagen. Da er ein Wissenschaftler alter Schule war, der an den Grundsatz nullius in verba glaubte und Annahmen lieber nachprüfte, probierte er Flemings Entdeckung selbst aus. Als Erstes stellte er fest, dass Fleming grundlegende Fertigkeiten in organischer Chemie fehlten. Der Schimmel hatte nach dem Einbringen in die Petrischale die Bakterien nicht getötet, wie es der Arzt vorausgesagt hatte. In einigen Fällen hatte er sogar die Lebensdauer der Bakterien heraufgesetzt. Aber dort, wo Fleming sich beim Zählen der Kohlenstoffmoleküle womöglich vertan hatte, hatte Dominik richtiggelegen.Er hatte die Lösung mehrfach neu angemischt, und beim zwölften Versuch hatte sein Penicillium-Schimmel die Bakterien abgetötet – weniger ein Erfolg moderner Wissenschaft als vielmehr simples Handwerk. Der Schimmelpilz war durch die Zellwand gedrungen, hatte die Zelle geschwächt und abgetötet.

Dominik betrachtete die Mutter des Jungen. Sie trug keine Strümpfe. Dort, wo eigentlich ihr linker Schneidezahn hätte sein sollen, klaffte eine schwarze Lücke. »Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass die Behandlung funktionieren wird, gnädige Frau«, sagte er. »Es könnte auch sein, dass Ihr Sohn dabei stirbt.«

Der fehlende Zahn verlieh ihr eine spröde Härte, wie bei einem kampfesmüden Soldaten, der schon zu viele Freunde hat sterben sehen. »Wird er sonst nicht sowieso sterben?«, fragte sie.

»Ja«, erwiderte er.

Die Frau schwieg und schlang den Mantel fester um sich. Der Stoff erschien ihm zu dünn für Februar. Der Frühling stand bevor, doch nachts hatte es noch Bodenfrost gegeben. Hatte sie etwa den ganzen Winter über nur diesen fadenscheinigen Mantel getragen? Er hörte, wie ihre Zähne klapperten, und stellte sich vor, wie es war, monatelang zu frieren und nie richtig warm zu werden. Sie begegnete Dominiks Blick und schien ihn ebenso prüfend zu betrachten wie zuvor ihr Sohn und tief in sein Inneres zu schauen.

Dominik stellte sich vor, sein eigenes Kind würde dort liegen. Er wusste, wie sich Eltern fühlten, und verstand genau, was die Frau in diesem Augenblick durchmachte: Sie stellte sich der sehr realen Möglichkeit, dass sie bald ihren Sohn verlieren könnte, und ahnte die Sinnlosigkeit, die ihr Leben von da an begleiten würde. Sie wäre dann keine Mutter mehr. Dominik schluckte schwer angesichts der Bürde, das Leben eines anderen Menschen in der Hand zu haben.

»Tun Sie’s«, sagte sie schließlich mit einem Nicken. »Geben Sie ihm die Medizin!«

Schwester Emilia kam mit der Spritze zurück. Sie ging jedoch nicht zum Krankenbett, sondern wartete am Ende des Flurs darauf, dass Dominik Mutter und Sohn am Bett zurückließ und zu ihr kam. »Haben Sie schon mal gesehen, wie das gemacht wird?«, fragte sie leise.

»Ich habe es schon mal ausprobiert. An einem Schwein.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«

Er hüstelte. »Das Tier ist gestorben.« Die Schwester verzog das Gesicht, als bereute sie es, den Patienten an Dominik weitergeleitet zu haben. »Allerdings könnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob wirklich der Schimmel der Grund dafür war«, versuchte er, sie mit fröhlicher Stimme zu beruhigen. »Aus einer Studie, die nur ein einziges Schwein umfasst, würde ich keine wissenschaftlichen Schlüsse ziehen wollen.«

»Meinen Sie nicht, Sie sollten das vielleicht erst einmal an einem Menschen ausprobieren, ehe Sie es einem Kind verabreichen?«

Dominik seufzte. »Eine klinische Studie würde einige Monate dauern, Schwester. Der Junge wird noch heute Nachmittag sterben, ob ich ihm nun die Spritze gebe oder nicht.« Die Schwester schwieg. Er schaute sie eine Zeitlang an und seufzte schließlich.

Er nahm die Spritze, bog um die Ecke in einen Behandlungsraum, machte eine Pobacke frei und stach sich die Nadel ins Fleisch. Er drückte den Kolben nach unten, und sein Präparat verteilte sich im Gewebe, wo die Blutgefäße es aufnahmen und über die Venen zum Herzen befördern würden, welches dann wiederum den giftigen Schimmel durch seinen Körper pumpte, in jedes Organ und jede einzelne Zelle.

Er kehrte zur Schwester zurück.

»Was haben Sie getan?«, fragte sie mit einem Blick auf die leere Spritze.

»Wie verlangt, habe ich die Arznei erst an einem Menschen ausprobiert, ehe ich sie dem Kind gebe.«

Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Und was passiert jetzt?«

»Wir warten eine halbe Stunde.« Dominik sah auf seine Uhr. »Wenn es mich dann nicht umgebracht hat, verabreichen Sie dem Jungen die halbe Dosis.«

Schwester Emilia schaute ebenfalls auf ihre Uhr, die von einer Kette an ihrer Brust hing. »Lassen Sie uns lieber eine Stunde warten. Sie sind größer als er.« Sie lächelte. »Es könnte länger dauern, Sie umzubringen als den Jungen.«

Dominik nickte und verließ die Kinderstation, um seine Visite fortzusetzen. Er sah nach einem Patienten, dem er am Vortag die Galle entfernt hatte, und nach einer Schwangeren, deren Kind sich in Steißlage befand, was möglicherweise einen Kaiserschnitt erforderlich machte. Während er prüfte, ob der Fötus sich inzwischen gedreht hatte, malte er sich aus, wie der injizierte Schimmel durch seinen Körper wanderte und in die Zellen eindrang. Er stellte sich die Art von Schimmel vor, die man vom Brot abkratzte, graugrüne, flaumige Kreise, die nun durch seine Blutbahn schwammen. Als er nach einer Stunde immer noch lebte, kehrte er auf die Kinderstation zurück. Schwester Emilia verabreichte dem Jungen nach seiner Anweisung 260 Milligramm des Penicillium-Pilzes.

»Und jetzt?«, fragte die Schwester wieder.

»Jetzt warten wir ab«, erwiderte Dominik. Beide beobachteten sie den Jungen.

Plötzlich fuhr das Kind in einem fürchterlichen Hustenanfall empor.

»Was ist los?«, rief die Mutter. »Er erstickt!«

»Doktor?«, fragte Schwester Emilia in vorwurfsvollem Ton, als hätte er das Kind bereits umgebracht. »Hat der Schimmel bei dem Jungen womöglich eine Nebenwirkung ausgelöst, die es bei Ihnen nicht gab?«

Der Junge rang qualvoll nach Luft, sein Gesicht war rot angelaufen, und er fasste sich an die Kehle, als wollte er einen Geist abwehren, der ihn strangulierte.

Dominik schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« Er machte die Brust des Jungen frei und hörte ihn nochmals mit dem Stethoskop ab. »Das liegt nicht am Penicillium. Die Wirkung des Laudanums lässt nach – es hat die Bronchospasmen unterdrückt, aber nun kommt der Husten wieder. Das ist auch gut so.« Das Kind hustete schwerfällig. »Wir müssen das Sputum lösen, ehe er daran erstickt.«

Schwester Emilia wusste, was zu tun war. Sie griff nach einer Metallschüssel. »Spuck rein!«, befahl sie. Das Kind richtete sich mit fragendem Blick auf, als wolle es sich vergewissern, ob sie diese Aufforderung zu ungezogenem Verhalten wirklich ernst meinte. Die Schwester nickte, und der kindliche Trieb übertrumpfte den Schmerz. Er spuckte in die Schüssel, einen großen braunen Schleimpfropf. Dann begaffte er den schleimigen Klumpen und grinste.

»Gut gemacht!«, rief Dominik. Stolz reckte das Kind die schwache, gepeinigte Brust. »Mach weiter, bis du alles rausgehustet hast!«

»Los, noch mal!«, befahl nun auch die Schwester dem Jungen, als sei sie ein General, der seinem kampferprobten tapfersten Unteroffizier einen Befehl erteilt.

Sie klopfte ihm mit rhythmischen Bewegungen kräftig auf den Rücken, eine Art Marsch.

Das Kind umklammerte die Schüssel. Noch einmal hustete es sich die Seele aus dem Leib, diesmal noch länger und kräftiger. Wieder klatschte eine Schleimkugel in die Schüssel. Im Laufe der nächsten Stunde produzierte das Kind weitere zehn Klumpen grünlich-braunen Schleims.

Dominik ging nach Hause, um das Abendessen für seine Tochter zu bereiten, und kehrte ins Krankenhaus zurück, sobald sie zu Bett gegangen war. Bei seinem Eintreffen schlief das Kind friedlich, und das Fieber war gesunken. Da die erste Spritze den Jungen nicht umgebracht hatte, verordnete Dominik eine weitere, diesmal mit der doppelten Dosis, die ihm gegen Mitternacht gegeben werden sollte. Dominik holte den ledernen Ohrensessel aus seinem Büro und verbrachte die Nacht im Schwesternzimmer. Um sieben wurde er von der Oberschwester der Frühschicht geweckt.

»Sie sollten mal lieber nach Ihrem Patienten sehen, Herr Doktor«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter. Dominik schluckte schwer, während er in kleinen, aber schnellen Schritten hinüberlief, bemüht, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. Falls der Junge tot war, würde jede Menge Arbeit anfallen. Die Maßnahmen müssten überdacht und verändert werden, und er würde alle seine Schritte rückverfolgen müssen. Als er das Ende des Flurs erreicht hatte, bog er mit so großer Geschwindigkeit um die Ecke, dass er die letzten Meter förmlich auf das Kopfende des Bettes zuglitt. Der Junge saß aufrecht im Bett und trank eine Tasse Brühe. Seine Wangen waren rosig. Dominik schickte ein kleines Dankgebet gen Himmel.

Vier Tage später wurde Daniel aus dem Krankenhaus entlassen. In der Hand hielt er einen glasierten Apfel, den Schwester Emilia ihm zum Abschied geschenkt hatte, und er leckte begeistert daran.

Nur einer von zehntausend Ärzten in ganz Europa hatte Flemings Technik bisher ausprobiert. Die amerikanische Armee entwickelte offenbar etwas Vergleichbares, ebenso die Deutsche Wehrmacht. Im Laufe der Jahrhunderte hatten diese Bakterien etwa eine Milliarde Menschen getötet. Nun hatte Dominik in seinem Ein-Mann-Labor eine Möglichkeit gefunden, sie mithilfe von Küchenschimmel aufzuhalten. Antibiotikum, so nannten die Amerikaner das Mittel.

Als sie sich verabschiedeten, fiel die Mutter vor Dominik auf die Knie wie ein Ritter vor seinem König. Die Patienten in den umliegenden Betten drehten sich zu ihnen um und quittierten das unschickliche Bild mit missbilligendem Tuscheln.

»Bitte stehen Sie doch auf, gnädige Frau«, bat Dominik sie.

Kopfschüttelnd blieb sie vor ihm am Boden knien, dann löste sie einen Anhänger aus Zinnblech von ihrem Hals und drückte Dominik das Schmuckstück in die Hand. Zwei Dreiecke, eines aufrecht, das andere in umgekehrter Richtung darüber, formten den Davidstern. »Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt«, sagte sie. Dominik erkannte das Zitat aus dem Talmud wieder, er hatte es schon einmal gehört.

Er hielt den Stern vorsichtig fest und strich mit dem Daumen darüber. Das billige Blech schimmerte in der Morgensonne, die durch die Bleiglasfenster der Station hereinfiel. Er wollte ihr den Anhänger wieder zurückgeben, aber die Frau wehrte vehement ab. »Meine Bezahlung«, sagte sie. Der Wert des Schmuckstücks würde kaum ein Zehntel der Arztrechnung decken.

Dominik nickte zur Antwort, dann half er der Frau auf. Nach den feinen Falten in ihrem Gesicht zu urteilen, mochte sie etwa dreißig sein, aber wahrscheinlich war sie sehr viel jünger. Ihr spitzer Ellbogen stach ihn wie eine Nadel, als er ihren Arm fasste. Sie wog wahrscheinlich gerade einmal vierzig Kilo. »Den Rest der Schulden werde ich abarbeiten«, sagte sie.

»Alles ist abgegolten, gnädige Frau. Nun bringen Sie Ihren Sohn nach Hause.«

Dominik nahm wohlwollendes Händeschütteln der Ärzteschaft entgegen. Die Schwestern gratulierten ihm euphorisch dazu, dass seine Erfolgsserie andauerte, dann zog er sich in sein Büro zurück, um die Rettung dieses Menschenlebens in aller Stille zu feiern. Er ließ sich in seinen Sessel sinken und genoss eine Weile das gute Gefühl, aber dann wanderten seine Gedanken unweigerlich zu seinem eigenen Kind, zu Marie, wie es früher oder später immer geschah. Wegen seiner Tochter war er in diese Stadt gekommen; was er tat, tat er nur für sie. Und dann schlich sich die Erinnerung an das herein, was er vor so vielen Jahren getan hatte, als er seinem Kind die Mutter nahm. Ein wohlbekanntes düsteres Gefühl überkam ihn, also schob er seine Brille zurecht und trat ans Fenster, um es zu verscheuchen. Es war ihm zutiefst unangenehm, dass die Erinnerung an jenes Ereignis ihn nun wieder heimsuchte. An Tagen wie diesen, wenn er eine gerettete Seele in die Waagschale werfen konnte, sollte ihm doch eigentlich zu sagen erlaubt sein, dass die fragwürdige Tat, die er vor fünfzehn Jahren begangen hatte, es wert gewesen war.

3

MEINE REISEN DURCH DEUTSCHLAND

Zwei Wochen zuvor hatte der Medizinische Leiter – das war der hochtrabende Titel des obersten Flickschneiders des Krankenhauses – Dominik eröffnet, dass er zum Ende des Sommers in den Ruhestand gehen würde. Es war ein wohlverdienter Rückzug. Jerzy Maklewski war fünfundsiebzig und hätte der Stadt keinen besseren Dienst erweisen können als durch seine Arbeit. Der Professor, ein Gentleman und Chirurg der alten Schule, hatte immer noch einen wachen Geist, und seine Hände zitterten nicht, doch er war erschöpft und wollte seinen Lebensabend zu Hause mit Büchern und seiner Frau verbringen, die eine reizende Dame war, wenn man sie erst einmal besser kennengelernt hatte. Dominik hatte miterlebt, wie Maklewski eine Aorta mit lediglich drei Stichen repariert und einen Kaiserschnitt in unter sieben Minuten durchgeführt hatte. Er würde ihn bedenkenlos als herausragenden Arzt bezeichnen.

Der alte Herr hatte Dominik in seinem Büro aufgesucht, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Dominik äußerte sein Bedauern über das Ausscheiden des Mannes, aber auch seinen Dank dafür, dass er unter einem so hervorragenden Chirurgen hatte arbeiten dürfen. Er wünschte ihm alles Gute für seinen wohlverdienten Ruhestand. Danach trödelte Maklewski noch einige Zeit in Dominiks Büro herum, als wollte er ihm etwas sagen. Er studierte Dominiks Bücherregal, ohne ein Buch herauszuziehen, schaute ziellos aus dem Fenster und blätterte durch ein paar Patientenakten, die er aber wohl kaum lesen konnte, da sie verkehrt herum lagen. Dominik bot ihm Tee an, aber er lehnte ab. Schließlich räusperte er sich und holte zu einer Art Ansprache aus.

»Sie sind wie ein Sohn für mich, Dominik«, begann er.

Dominik hob die Augenbrauen. »Das will nicht viel heißen, Herr Professor. Schließlich haben Sie nur Töchter.«

Der Professor zuckte mit den Schultern. »Ja, das stimmt. Aber deshalb ist es nicht weniger wahr. Und ich glaube, Sie freuen sich auch, wenn ich das sage.« Er lächelte. »Ich hätte gern, dass Sie meine Position übernehmen, wenn ich gehe. Den Posten als Chefarzt.«

»Ich fühle mich geschmeichelt«, erwiderte Dominik verblüfft. Er nahm sich einen Moment, um diese Ehre zu genießen, dann jedoch schlug er das Angebot des alten Herrn umgehend aus. »Das kann ich natürlich nicht annehmen. Es wäre gegen jede Gepflogenheit.«

Dominik war die Nummer drei im Krankenhaus. Vor ihm in der Reihe stand noch Igor Wolanski, der Kinderarzt und Laudanumfreund, der dem Nikolaus so ähnelte. Er hatte kürzlich seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Dominiks Personalakte dagegen konnte man entnehmen, dass er erst vierundvierzig war. Außerdem hatte Wolanski schon mehr als zehn Jahre im Krankenhaus gearbeitet, ehe Dominik dort anfing. Wenn der jüngere Arzt den älteren, erfahreneren Mediziner in der Hierarchie einfach übersprang, würde es einen Skandal geben – oder zumindest eine sehr peinliche Situation.

»Ich möchte diese Arbeit ohnehin nicht übernehmen«, fuhr Dominik fort. »Zu viel Verwaltungsarbeit und Teilnahme an Besprechungen. Diese Zeit würde ich lieber mit der Behandlung von Patienten verbringen. Ich bin froh, wenn ein Kollege diese Bürde auf sich nimmt. Und ich werde Doktor Wolanski meine volle Unterstützung anbieten.«

Maklewski nickte. Dominik hatte eigentlich erwartet, dass er die Absage annehmen würde, und war überrascht, als der Professor auf seiner Bitte beharrte. »Ich kann Ihnen versichern, dass Sie keine Zeit für Ihre Patienten verlieren werden. Wir würden Ihnen einen Sekretär für die Verwaltungstätigkeiten zur Verfügung stellen.«

Dominik zog ein finsteres Gesicht. Warum zeigte sich sein Mentor so uneinsichtig und bestand auf seinem Vorschlag? »Das ist sicherlich eher etwas für Doktor Wolanski«, sagte er rundheraus. »Ich käme mir albern dabei vor, ihn aus einer Position zu verdrängen, die ich gar nicht haben will.«

Endlich kam Maklewski zum Punkt. »Wir glauben, dass Sie eine bessere Besetzung für das Krankenhaus wären«, sagte er. Er blickte an seinem Kittel hinab und versuchte, einen gelblichen Fleck vom Aufschlag zu kratzen, Quark vielleicht. Er aß täglich Quark und war davon überzeugt, dass dessen Bekömmlichkeit für den Darm der Schlüssel zu einem langen Leben war. Wenn man sich das Alter und die Behändigkeit des Professors anschaut, kann da durchaus etwas Wahres dran sein, dachte Dominik.

»Sagen Sie, haben Sie sich jemals einen von Wolanskis Vorträgen angehört?«, fragte der alte Herr. »Einmal in der Woche spricht er über medizinische Themen. Im Piłsudski-Auditorium – der Eintritt ist frei.«

»Das Vergnügen hatte ich noch nicht«, erwiderte Dominik. Die Vorstellung, Wolanski dabei zuzuhören, wie er über medizinische Themen aufklärte, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

Maklewski lächelte. »Ich bin ein- oder zweimal da gewesen.«

»Habe ich etwas verpasst?«

»Ja, in der Tat. Aber keine Sorge – Sie werden bald einen dieser Vorträge hören. Ich würde gern etwas mit Ihnen vereinbaren, mein Sohn. Besuchen Sie mit mir diese Veranstaltung – und hinterher sagen Sie mir, ob Sie immer noch meinen, dass Doktor Wolanski für den Posten geeignet ist. Wenn Sie dann immer noch denken, dass er für die Stelle passt, werde ich kein Wort mehr über das Thema verlieren. Sollten Sie ihn hingegen nicht mehr für geeignet halten, dieses Krankenhaus zu leiten, werden Sie sich selbst auf die Position bewerben. Abgemacht?«

Dominik überlegte einen Moment, der Vorschlag machte ihn neugierig. »Also gut.«

Der Professor hielt ihm die Hand hin. »Lassen Sie uns darauf einschlagen.« Dominik zögerte. Der Handschlag verlieh der Absprache eine Verbindlichkeit, mit der er nicht gerechnet hatte. Dann griff er nach Maklewskis Hand und schüttelte sie. Die Handfläche des Professors fühlte sich so schlaff und weich an wie die eines lieben Großvaters, aber sein Griff war fest.

»Kommen Sie mit. Der Vortrag fängt gleich an.«

Dominik folgte ihm ins Piłsudski-Auditorium. An der Tür prangte ein handgeschriebenes Schild: Meine Reisen durch Deutschland.

»Oje«, sagte Dominik. »Müssen wir uns jetzt Doktor Wolanskis Schnappschüsse aus dem Urlaub anschauen? Will er uns etwa Fotos zeigen, auf denen er mit den Flamingos im Tiergarten posiert?«

»So ähnlich«, erwiderte der Professor und schob ihn in den Raum. Das Piłsudski-Auditorium hatte vorn einen Bereich, in dem Operationen oder Autopsien durchgeführt werden konnten. Davor erhob sich ein stufenförmiges halbrundes Auditorium, von wo aus Krankenschwestern und Ärzte dabei zuschauen konnten. Aber diesmal lag kein Patient auf dem Operationstisch, und man sah auch keine Tabletts mit vorbereitetem Präparierbesteck. Die Bühne war leer, bis auf Wolanski und eine Staffelei, die geheimnisvoll mit einer baumwollenen Krankenhausdecke verhüllt war, sodass man nicht sehen konnte, was sich darunter verbarg.

Wolanski strahlte, als er sie das Auditorium betreten sah. »Herzlich willkommen! Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten. Endlich werden meine Forschungen gebührende Anerkennung erfahren! Herr Professor, gleich hier vorn ist ein Platz für Sie, bitte setzen Sie sich doch. Und für Sie ist dort sicher auch noch Platz, Dominik.«

Etliche Menschen hatten bereits etwa ein Drittel der Plätze besetzt. Einige Mitarbeiter des technischen Hauspersonals saßen in einer Reihe gleich neben der Tür.

»Ich habe vorhin mitbekommen, wie Doktor Wolanski sie aufgefordert hat teilzunehmen«, flüsterte Maklewski und nickte zu den Reinigungskräften hinüber. Wolanskis Sekretärin und ein paar Krankenschwestern füllten eine weitere Reihe, nach dem Ausdruck ihrer Gesichter zu schließen offenbar nicht ganz freiwillig.

Alle ließen sich auf ihren Plätzen nieder. Wolanski schloss die Tür und begann mit seinem Vortrag.

»Ich möchte Ihnen ein interessantes Projekt vorstellen, das ich auf meiner Reise nach München kennenlernen durfte«, ließ er die Zuhörer wissen und trat neben die Staffelei. »Im letzten Herbst hatte ich das Glück, eine Ausstellung besuchen zu können, die mir die Augen für eine große Tragödie geöffnet hat. Ich habe die Ausstellung als Ehrengast der Reichskulturkammer besucht – einer meiner Freunde ist dort Mitglied.« Stolz lächelnd warf er sich in die Brust. »Wir haben uns im letzten Jahr bei einer Konferenz kennengelernt, und ich habe den Kontakt gehalten. Er hat mir äußerst interessante Unterlagen gezeigt. Sehen Sie selbst!« Theatralisch zog er die Decke von der Staffelei.

Darunter befand sich ein Plakat.